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     Патрик Зюскинд.  Парфюмер. На немецком языке. 1998
     OCR, Spellcheck: Илья Франк, http://frank.deutschesprache.ru
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     Im achtzehnten Jahrhundert lebte in  Frankreich ein Mann,  der  zu  den
genialsten   und   abscheulichsten   Gestalten  dieser   an   genialen   und
abscheulichen Gestalten nicht armen  Epoche gehurte.  Seine  Geschichte soll
hier  erzuhlt werden. Er hieß Jean-Baptiste Grenouille, und wenn  sein
Name im  Gegensatz  zu  den  Namen  anderer genialer Scheusale,  wie etwa de
Sades, Saint-Justs, Fouches, Bonapartes usw., heute in Vergessenheit geraten
ist,  so   sicher   nicht  deshalb,  weil   Grenouille  diesen   beruhmteren
Finstermunnern an Selbstuberhebung, Menschenverachtung, Immoralitut, kurz an
Gottlosigkeit  nachgestanden hutte, sondern  weil  sich sein Genie und  sein
einziger Ehrgeiz auf ein Gebiet beschrunkte, welches in der Geschichte keine
Spuren hinterlusst: auf das fluchtige Reich der Geruche.

     Zu der  Zeit, von der wir  reden,  herrschte in den Studten ein fur uns
moderne Menschen kaum  vorstellbarer Gestank.  Es stanken die  Straßen
nach Mist, es stanken die Hinterhufe nach Urin, es stanken die Treppenhuuser
nach  fauligem Holz und nach  Rattendreck,  die Kuchen nach verdorbenem Kohl
und  Hammelfett; die ungelufteten Stuben  stanken  nach muffigem Staub,  die
Schlafzimmer  nach fettigen Laken,  nach feuchten Federbetten  und  nach dem
stechend  sußen  Duft  der  Nachttupfe.  Aus  den  Kaminen  stank  der
Schwefel,  aus  den  Gerbereien   stanken  die   utzenden  Laugen,  aus  den
Schlachthufen  stank  das   geronnene  Blut.   Die  Menschen   stanken  nach
Schweiß und nach ungewaschenen Kleidern; aus dem Mund stanken sie nach
verrotteten Zuhnen,  aus  ihren  Mugen nach Zwiebelsaft und  an den Kurpern,
wenn sie nicht mehr  ganz jung waren,  nach altem Kuse und nach saurer Milch
und  nach  Geschwulstkrankheiten.  Es  stanken  die  Flusse, es stanken  die
Plutze, es  stanken die  Kirchen,  es  stank  unter den Brucken und  in  den
Palusten. Der  Bauer stank wie der Priester,  der  Handwerksgeselle  wie die
Meistersfrau, es stank der gesamte  Adel, ja  sogar der Kunig stank, wie ein
Raubtier stank er, und die Kunigin wie eine alte Ziege, sommers wie winters.
Denn der zersetzenden Aktivitut der Bakterien war im achtzehnten Jahrhundert
noch keine Grenze  gesetzt, und so gab es keine menschliche Tutigkeit, keine
aufbauende und keine zersturende, keine uußerung des aufkeimenden oder
verfallenden Lebens, die nicht von Gestank begleitet gewesen wure.

     Und naturlich war in Paris der Gestank am grußten, denn Paris war
die grußte Stadt  Frankreichs. Und innerhalb von Paris wiederum gab es
einen  Ort,  an  dem  der  Gestank  ganz besonders  infernalisch  herrschte,
zwischen  der  Rue  aux  Fers und der  Rue de  la  Ferronnerie, numlich  den
Cimetiere des Innocents. Achthundert Jahre lang hatte man hierher die  Toten
des Krankenhauses Hotel-Dieu  und  der umliegenden Pfarrgemeinden verbracht,
achthundert Jahre lang  Tag fur Tag  die Kadaver zu Dutzenden  herbeigekarrt
und  in lange Gruben geschuttet, achthundert  Jahre lang in den  Gruften und
Beinhuusern Knuchelchen  auf  Knuchelchen  geschichtet. Und erst sputer,  am
Vorabend  der Franzusischen Revolution,  nachdem  einige  der  Leichengruben
gefuhrlich eingesturzt waren  und  der Gestank des uberquellenden  Friedhofs
die  Anwohner  nicht  mehr zu  bloßen  Protesten,  sondern  zu  wahren
Aufstunden trieb, wurde er  endlich geschlossen und aufgelassen,  wurden die
Millionen Knochen und Schudel in  die Katakomben von Montmartre geschaufelt,
und man errichtete an seiner Stelle einen Marktplatz fur Viktualien.

     Hier nun, am allerstinkendsten  Ort des gesamten Kunigreichs, wurde  am
17.  Juli   1738   Jean-Baptiste  Grenouille  geboren.  Es  war  einer   der
heißesten  Tage des  Jahres. Die  Hitze lag wie Blei uber dem Friedhof
und quetschte den nach einer  Mischung aus fauligen Melonen  und verbranntem
Hurn  riechenden Verwesungsbrodem in  die benachbarten  Gassen.  Grenouilles
Mutter  stand, als die  Wehen  einsetzten, an einer Fischbude in der Rue aux
Fers  und schuppte Weißlinge,  die  sie  zuvor ausgenommen  hatte. Die
Fische, angeblich  erst am Morgen aus der Seine gezogen,  stanken bereits so
sehr, dass ihr  Geruch den Leichengeruch uberdeckte. Grenouilles Mutter aber
nahm weder den Fisch- noch  den Leichengeruch wahr, denn ihre Nase war gegen
Geruche im huchsten Maße abgestumpft, und außerdem schmerzte ihr
Leib,  und  der   Schmerz   tutete  alle  Empfunglichkeit  fur  uußere
Sinneseindrucke. Sie  wollte nur  noch, dass der Schmerz aufhure, sie wollte
die  eklige Geburt  so  rasch als muglich hinter sich  bringen. Es war  ihre
funfte. Alle vorhergehenden hatte sie hier an der Fischbude absolviert,  und
alle  waren  Totgeburten  oder  Halbtotgeburten  gewesen,  denn  das blutige
Fleisch, das da herauskam, unterschied sich nicht viel von dem Fischgekruse,
das  da schon lag, und lebte auch  nicht viel  mehr,  und abends wurde alles
mitsammen  weggeschaufelt und hinubergekarrt zum Friedhof oder  hinunter zum
Fluss.  So sollte es auch heute sein, und Grenouilles Mutter,  die noch eine
junge Frau war, gerade  Mitte  zwanzig, die noch ganz hubsch aussah und noch
fast  alle Zuhne  im  Munde  hatte  und auf dem  Kopf  noch  etwas  Haar und
außer der Gicht und der Syphilis und einer leichten Schwindsucht keine
ernsthafte Krankheit;  die noch hoffte, lange zu leben, vielleicht funf oder
zehn  Jahre lang,  und  vielleicht  sogar  einmal zu  heiraten und wirkliche
Kinder zu  bekommen  als ehrenwerte Frau  eines verwitweten Handwerkers oder
so...  Grenouilles Mutter wunschte, dass alles schon voruber wure.  Und  als
die Presswehen einsetzten,  hockte  sie sich  unter ihren  Schlachttisch und
gebar dort,  wie schon vier  Mal zuvor  und nabelte mit dem Fischmesser  das
neugeborene Ding ab. Dann aber, wegen der Hitze  und  des  Gestanks, den sie
als  solchen   nicht  wahrnahm,   sondern   nur  als  etwas  Unertrugliches,
Betuubendes - wie ein Feld von Lilien oder wie ein enges  Zimmer,  in dem zu
viel Narzissen stehen -, wurde sie ohnmuchtig, kippte zur Seite,  fiel unter
dem Tisch hervor mitten  auf die Straße  und  blieb  dort  liegen, das
Messer in der Hand.

     Geschrei, Gerenne,  im  Kreis  steht die glotzende  Menge, man holt die
Polizei.  Immer noch  liegt  dieFrau mit  dem  Messer in der  Hand  auf  der
Straße, la ngsam kommt sie zu sich.
     Was ihr geschehen sei?
     "Nichts."
     Was sie mit dem Messer tue?
     "Nichts."
     Woher das Blut an ihren Rucken komme?
     "Von den Fischen."
     Sie steht auf, wirft das Messer weg und geht davon, um sich zu waschen.

     Da  fungt, wider  Erwarten,  die  Geburt  unter  dem  Schlachttisch  zu
schreien an. Man schaut nach,  entdeckt unter einem  Schwurm von Fliegen und
zwischen Gekruse und  abgeschlagenen  Fischkupfen das Neugeborene,  zerrt es
heraus. Von Amts wegen wird es einer Amme gegeben,  die Mutter festgenommen.
Und  weil sie gestundig  ist  und  ohne weiteres zugibt, dass  sie  das Ding
bestimmt wurde haben verrecken lassen, wie sie es im ubrigen schon  mit vier
anderen  getan  habe,  macht  man  ihr den  Prozess,  verurteilt  sie  wegen
mehrfachen Kindermords und schlugt ihr ein paar Wochen sputer auf  der Place
de Greve den Kopf ab.

     Das  Kind hatte zu  diesem Zeitpunkt  bereits  das dritte  Mal die Amme
gewechselt.  Keine  wollte es lunger als ein  paar  Tage behalten. Es sei zu
gierig, hieß es, sauge fur zwei, entziehe den anderen Stillkindern die
Milch und damit ihnen, den Ammen, den Lebensunterhalt, da  rentables Stillen
bei einem einzigen Suugling unmuglich  sei. Der  zustundige Polizeioffizier,
ein gewisser La Fosse, war die Sache alsbald leid und wollte das Kind  schon
zur  Sammelstelle  fur  Findlinge  und  Waisen  in  der   uußeren  Rue
Saint-Antoine  bringen  lassen,  von wo  aus  tuglich  Kindertransporte  ins
staatliche  Großfindelheim  von  Rouen  abgingen.  Da  nun aber  diese
Transporte  von  Lasttrugern  vermittels Bastkiepen durchgefuhrt  wurden, in
welche  man  aus  Rationalitutsgrunden  bis zu vier  Suuglinge  gleichzeitig
steckte; da deshalb die Sterberate unterwegs außerordentlich hoch war;
da  aus  diesem  Grund  die  Kiepentruger  angehalten  waren,  nur  getaufte
Suuglinge  zu befurdern und nur solche, die  mit einem ordnungsgemußen
Transportschein versehen waren, welcher in Rouen abgestempelt werden musste;
da  das  Kind Grenouille aber weder getauft  war  noch uberhaupt einen Namen
besaß,  den  man  ordnungsgemuß  in  den  Transportschein  hutte
eintragen  kunnen;  da  es  ferner  seitens  der Polizei nicht gut  angungig
gewesen  wure,  ein  Kind   anonymiter  vor  den  Pforten  der  Sammelstelle
auszusetzen,  was  allein  die Erfullung der  ubrigen  Formalituten erubrigt
haben wurde...  -  aus einer Reihe  von Schwierigkeiten  burokratischer  und
verwaltungstechnischer Art also, die sich bei der Abschiebung des Kleinkinds
zu  ergeben  schienen, und  weil  im  ubrigen  die  Zeit drungte,  nahm  der
Polizeioffizier La Fosse von seinem ursprunglichen Entschluss wieder Abstand
und gab Anweisung, den Knaben  bei irgendeiner kirchlichen Institution gegen
Aushundigung einer Quittung  abzugeben,  damit man ihn dort taufe  und  uber
sein weiteres Schicksal entscheide. Im  Kloster von Saint-Merri in  der  Rue
Saint-Martin wurde  man  ihn  los.  Er  erhielt  die  Taufe  und  den  Namen
Jean-Baptiste. Und weil der Prior an diesem Tage gute  Laune hatte und seine
karitativen Fonds noch nicht erschupft waren, ließ man das  Kind nicht
nach Rouen exportieren, sondern auf Kosten des Klosters aufpuppeln. Es wurde
zu diesem Behuf  einer  Amme namens Jeanne  Bussie in  der  Rue  Saint-Denis
ubergeben, welche bis  auf weiteres drei Franc pro Woche fur ihre Bemuhungen
erhielt.


     Einige Wochen  sputer stand die Amme Jeanne Bussie mit einem Henkelkorb
in  der  Hand vor der Pforte des  Klosters von  Saint-Merri  und  sagte  dem
uffnenden Pater  Terrier,  einem  etwa  funfzigjuhrigen kahlkupfigen, leicht
nach  Essig riechenden  Munch  "Da!"  und  stellte  den  Henkelkorb  auf die
Schwelle.
     "Was  ist  das?" sagte Terrier  und  beugte  sich  uber  den  Korb  und
schnupperte daran, denn er vermutete Essbares.
     "Der Bastard der Kindermurderin aus der Rue aux Fers!"
     Der Pater kramte mit dem Finger im Henkelkorb herum, bis er das Gesicht
des schlafenden Suuglings freigelegt hatte.
     "Gut schaut er aus. Rosig und wohlgenuhrt."
     "Weil er sich an mir vollgefressen hat. Weil  er mich  leergepumpt  hat
bis  auf  die Knochen.  Aber  damit ist  jetzt Schluss. Jetzt kunnt  Ihr ihn
selber weiterfuttern mit Ziegenmilch, mit  Brei,  mit Rubensaft.  Er  frisst
alles, der Bastard."
     Pater Terrier war ein gemutlicher Mann. In seine Zustundigkeit fiel die
Verwaltung des klusterlichen Karitativfonds, die Verteilung von Geld an Arme
und Bedurftige. Und er erwartete, dass man ihm dafur Danke sagte und ihn des
weiteren nicht belustigte.  Technische Einzelheiten  waren ihm sehr zuwider,
denn  Einzelheiten  bedeuteten  immer Schwierigkeiten,  und  Schwierigkeiten
bedeuteten  eine Sturung seiner  Gemutsruhe,  und  das konnte er  gar  nicht
vertragen. Er urgerte sich, dass er  die Pforte uberhaupt geuffnet hatte. Er
wunschte, dass diese Person ihren Henkelkorb  nuhme und nach Hause ginge und
ihn in Ruhe ließe mit ihren Suuglingsproblemen.
     Langsam richtete  er sich  auf und  sog mit  einem Atemzug den Duft von
Milch  und  kusiger Schafswolle  ein, den die Amme  verstrumte.  Es war  ein
angenehmer Duft.
     "Ich verstehe nicht, was du willst. Ich verstehe wirklich nicht, worauf
du  hinauswillst.  Ich  kann  mir nur  vorstellen, dass  es  diesem Suugling
durchaus nicht schaden  wurde, wenn er  noch geraume Zeit an  deinen Brusten
luge."
     "Ihm nicht", schnarrte die Amme  zuruck, "aber mir. Zehn Pfund habe ich
abgenommen und  dabei gegessen fur drei.  Und  wofur?  Fur drei Franc in der
Woche!"
     "Ach, ich verstehe", sagte Terrier fast erleichtert, "ich bin im Bilde:
Es geht also wieder einmal ums Geld."
     "Nein!" sagte die Amme.
     "Doch! Immer geht es ums Geld. Wenn an diese Pforte geklopft wird, geht
es ums Geld. Einmal wunschte ich mir, dass ich  uffnete, und es  stunde  ein
Mensch da, dem  es um etwas  anderes ginge. Jemand, der beispielsweise  eine
kleine Aufmerksamkeit vorbeibruchte. Beispielsweise etwas Obst oder ein paar
Nusse.  Es  gibt doch  im Herbst eine  Menge  Dinge,  die  man vorbeibringen
kunnte. Blumen vielleicht.  Oder wenn bloß jemand kume und  freundlich
sagte:  >Gott  zum  Gruße, Pater Terrier,  ich wunsche Ihnen  einen
schunen Tag!< Aber das werde ich  wohl  nie mehr  erleben.  Wenn  es kein
Bettler ist, dann ist es ein Hundler, und wenn es kein Hundler ist, dann ist
es ein Handwerker, und wenn er kein  Almosen will, dann  prusentiert er eine
Rechnung. Ich kann schon gar nicht mehr auf die Straße gehen. Wenn ich
auf  die  Straße  gehe,  bin  ich  nach drei  Schritten umzingelt  von
Individuen, die Geld wollen!"
     "Nicht von mir", sagte die Amme.
     "Aber ich  sage dir eines: Du bist nicht die  einzige Amme im Sprengel.
Es gibt  Hunderte von erstklassigen Ziehmuttern, die sich darum reißen
werden, diesen entzuckenden Suugling fur  drei Franc pro  Woche an die Brust
zu   legen   oder   ihm   Brei   oder   Sufte   oder   sonstige   Nuhrmittel
einzuflußen..."
     "Dann gebt ihn einer von denen!"
     "...  Andrerseits  ist  es nicht  gut, ein Kind so herumzuschubsen. Wer
weiß, ob es mit anderer  Milch so gut gedeiht wie mit  deiner. Es  ist
den  Duft  deiner Brust gewuhnt,  musst  du  wissen, und den  Schlag  deines
Herzens."
     Und abermals nahm er  einen  tiefen  Atemzug  vom warmen Dunst, den die
Amme  verstrumte,  und  sagte dann,  als er merkte, dass seine  Worte keinen
Eindruck auf sie gemacht hatten:
     "Nimm jetzt das Kind mit nach Hause! Ich werde die Sache  mit dem Prior
besprechen.  Ich werde  ihm vorschlagen, dir kunftig vier Franc in der Woche
zu geben."
     "Nein", sagte die Amme.
     "Also gut: funf!"
     "Nein."
     "Wie viel verlangst du  denn noch?" schrie Terrier sie  an. "Funf Franc
sind ein Haufen  Geld fur die untergeordnete Aufgabe,  ein  kleines Kind  zu
ernuhren!"
     "Ich will  uberhaupt kein Geld", sagte  die Amme. "Ich will den Bastard
aus dem Haus haben."
     "Aber warum denn, liebe Frau?" sagte Terrier und fingerte wieder in dem
Henkelkorb herum. "Er ist doch ein allerliebstes Kind. Er sieht rosa aus, er
schreit nicht, er schluft gut, und er ist getauft."
     "Er ist vom Teufel besessen."
     Rasch zog Terrier seine Finger aus dem Korb.
     "Unmuglich!  Es ist  absolut  unmuglich, dass  ein  Suugling vom Teufel
besessen  ist.  Ein  Suugling  ist kein  Mensch, sondern  ein  Vormensch und
besitzt noch  keine voll  ausgebildete Seele.  Infolgedessen  ist er fur den
Teufel uninteressant. Spricht  er vielleicht schon? Zuckt es in  ihm? Bewegt
er Dinge im Zimmer? Geht ein ubler Gestank von ihm aus?"
     "Er riecht uberhaupt nicht", sagte die Amme.
     "Da  hast du es! Das  ist ein eindeutiges Zeichen.  Wenn  er vom Teufel
besessen wure, musste er stinken."
     Und  um die  Amme zu beruhigen und seinen  eigenen  Mut unter Beweis zu
stellen, hob Terrier den Henkelkorb hoch und hielt ihn sich unter die Nase.
     "Ich rieche nichts Absonderliches", sagte  er,  nachdem  er  eine Weile
geschnuppert hatte, "wirklich nichts Absonderliches. Mir scheint allerdings,
als ob da etwas aus der Windel ruche." Und er hielt ihr den  Korb hin, damit
sie seinen Eindruck bestutige."Das meine ich nicht", sagte die Amme unwirsch
und  schob den Korb von sich. "Ich meine nicht das, was in  der Windel  ist.
Seine Exkremente riechen wohl. Er selbst, der Bastard selbst, riecht nicht."
     "Weil er gesund ist", rief Terrier, "weil er gesund ist, deshalb riecht
er  nicht!  Nur  kranke  Kinder  riechen,  das ist doch bekannt. Bekanntlich
riecht ein  Kind, das  Blattern hat, nach  Pferdedung,  und  eines,  welches
Scharlachfieber hat, nach alten  upfeln, und  ein schwindsuchtiges Kind, das
riecht nach Zwiebeln.  Es ist gesund, das ist alles, was ihm fehlt. Soll  es
denn stinken? Stinken denn deine eigenen Kinder?"
     "Nein", sagte  die Amme. "Meine Kinder  riechen so,  wie Menschenkinder
riechen sollen."
     Terrier stellte den Henkelkorb vorsichtig auf den Boden zuruck, denn er
fuhlte,  wie  die ersten  Wallungen von Wut  uber  die Widerborstigkeit  der
Person  in  ihm aufstiegen.  Es  war  nicht auszuschließen, dass er im
Fortgang  des Disputes  beide  Arme zur  freieren Gestik benutigte,  und  er
wollte nicht, dass der Suugling  dadurch Schaden  nuhme. Vorerst  allerdings
verknotete  er seine  Hunde  hinter  dem  Rucken, streckte  der  Amme seinen
spitzen Bauch entgegen und fragte scharf: "Du behauptest also zu wissen, wie
ein Menschenkind, das ja  immerhin auch - daran muchte ich  erinnern,  zumal
wenn es getauft ist - ein Gotteskind ist, zu riechen habe?"
     "Ja", sagte die Amme.
     "Und  behauptest  ferner,  dass, wenn es  nicht ruche, wie du meintest,
dass es riechen solle - du, die Amme Jeanne Bussie aus der Rue  Saint-Denis!
-,  es dann  ein Kind des Teufels  sei?"  Er schwang die Linke hinter seinem
Rucken hervor  und  hielt  ihr  drohend  den gebogenen  Zeigefinger  wie ein
Fragezeichen vors Gesicht. Die Amme uberlegte.  Es war ihr nicht recht, dass
das Gespruch mit einem  Mal zu einem theologischen Verhur ausartete, bei dem
sie nur unterliegen konnte.
     "Das will ich nicht  gesagt haben", antwortete sie ausweichend. "Ob die
Sache etwas  mit dem  Teufel zu tun hat  oder  nicht,  das musst  Ihr selbst
entscheiden, Pater Terrier, dafur  bin ich nicht  zustundig. Ich  weiß
nur eins: dass mich vor diesem Suugling  graust, weil  er  nicht riecht, wie
Kinder riechen sollen."
     "Aha",  sagte  Terrier  befriedigt und  ließ  seinen  Arm  wieder
zuruckpendeln. "Das mit dem  Teufel nehmen wir also wieder zuruck. Gut. Aber
nun sage  mir gefulligst: Wie  riecht  ein Suugling denn, wenn er so riecht,
wie du glaubst, dass er riechen solle? Na?"
     "Gut riecht er", sagte die Amme.
     "Was  heisst  >gut<?" brullte Terrier sie an. "Gut riecht vieles.
Ein  Bund  Lavendel  riecht gut.  Suppenfleisch riecht gut.  Die  Gurten von
Arabien riechen gut. Wie riecht ein Suugling, will ich wissen?"
     Die Amme zugerte. Sie wusste wohl,  wie Suuglinge rochen, sie wusste es
ganz genau, sie hatte doch  schon Dutzende  genuhrt, gepflegt,  geschaukelt,
gekusst...  sie konnte  sie  nachts  mit  der  Nase  finden,  sie  trug  den
Suuglingsgeruch selbst jetzt deutlich in  der Nase. Aber sie hatte  ihn noch
nie mit Worten bezeichnet.
     "Na?" bellte Terrier und knipste ungeduldig an seinen Fingernugeln.
     "Also -",  begann die Amme, "es ist nicht ganz leicht zu sagen, weil...
weil, sie  riechen nicht  uberall gleich,  obwohl  sie uberall gut  riechen,
Pater, verstehen Sie, also  an den Fußen  zum Beispiel, da riechen sie
wie ein glatter warmer Stein -  nein eher wie Topfen... oder wie Butter, wie
frische Butter, ja genau: wie  frische Butter  riechen  sie.  Und am  Kurper
riechen  sie wie ... wie eine Galette, die man in Milch  gelegt hat.  Und am
Kopf,  da oben,  hinten  auf dem Kopf, wo das  Haar  den  Wirbel macht,  da,
schauen  Sie, Pater,  da, wo bei  Ihnen nichts mehr ist...", und  sie tippte
Terrier,  der  uber diesen Schwall  detaillierter Dummheit  fur einen Moment
sprachlos geworden war  und gehorsam den Kopf gesenkt hatte, auf die Glatze,
"...  hier, genau  hier,  da  riechen sie  am besten.  Da  riechen sie  nach
Karamel, das riecht so suß, so wunderbar, Pater, Sie machen sich keine
Vorstellung! Wenn man sie da  gerochen hat, dann liebt man sie, ganz  gleich
ob es die eignen  oder  fremde sind. Und  so und nicht anders  mussen kleine
Kinder  riechen. Und wenn sie nicht so  riechen,  wenn sie da oben gar nicht
riechen, noch weniger  als kalte  Luft, so  wie der da, der Bastard, dann...
Sie  kunnen  das  erkluren,  wie Sie  wollen,  Pater,  aber ich" -  und  sie
verschrunkte  entschlossen die Arme  unter  ihrem Busen  und  warf  einen so
angeekelten Blick auf den Henkelkorb  zu ihren Fußen, als enthielte er
Kruten -, "ich, Jeanne Bussie, werde das da nicht mehr zu mir nehmen!"
     Pater Terrier hob langsam den gesenkten Kopf und fuhr  sich ein paarmal
mit dem Finger uber die Glatze, als  wolle  er dort Haare ordnen, legte  den
Finger wie zufullig unter seine Nase und schnupperte nachdenklich.
     "Wie  Karamel...?"  fragte  er   und  versuchte,  seinen  strengen  Ton
wiederzufinden...  "Karamel! Was weisst  du von Karamel? Hast  du schon  mal
welches gegessen?"
     "Nicht  direkt",  sagte  die  Amme.  "Aber  ich  war  einmal  in  einem
großen Hotel in der  Rue  Saint-Honore  und  habe  zugesehen,  wie  es
gemacht wurde aus geschmolzenem Zucker und Rahm. Es roch so gut, dass ich es
nicht mehr vergessen habe."
     "Jaja. Schon recht",  sagte Terrier und  entfernte den Finger  von  der
Nase. "Bitte  schweige  jetzt!  Es  ist fur  mich uberaus anstrengend,  mich
weiterhin  auf diesem  Niveau mit  dir  zu  unterhalten. Ich stelle fest, du
weigerst dich, aus welchen Grunden auch immer, den dir anvertrauten Suugling
Jean-Baptiste  Grenouille weiter zu  ernuhren,  und  erstattest ihn  hiermit
seinem provisorischen Vormund, dem Kloster von Saint-Merri zuruck. Ich finde
das betrublich, aber ich kann es wohl nicht undern. Du bist entlassen."
     Damit  packte  er  den Henkelkorb,  nahm  noch  einen Atemzug  von  dem
verwehenden warmen, wolligen Milchdunst und warf  das Tor  ins Schloss. Dann
ging er in sein Buro.


     Pater Terrier  war ein gebildeter Mann. Er  hatte  nicht  nur Theologie
studiert,  sondern  auch  die  Philosophen  gelesen  und  beschuftigte  sich
nebenbei mit  Botanik  und Alchemie. Er  hielt einiges  auf die Kraft seines
kritischen  Geistes. Zwar  wure  er  nicht  so weit  gegangen, wie manche es
taten,  die Wunder, die  Orakel  oder die  Wahrheit der  Texte der  Heiligen
Schrift  in  Frage  zu stellen,  auch wenn sie strenggenommen  mit  Vernunft
allein nicht zu erkluren waren,  ja dieser  sogar  oft direkt widersprachen.
Von  solchen Problemen  ließ er lieber seine Finger,  sie waren ihm zu
ungemutlich  und wurden ihn nur  in die  peinlichste Unsicherheit und Unruhe
sturzen,  wo  man  doch,  gerade um  sich seiner  Vernunft zu  bedienen, der
Sicherheit und der Ruhe bedurfte. Was er aber aufs entschiedenste bekumpfte,
waren die  abergluubischen Vorstellungen des einfachen  Volkes:  Hexerei und
Kartenlesen, Amulettgetrage, buser Blick,  Beschwurungen, Vollmondhokuspokus
und was sie sonst noch alles trieben - es war ja tief deprimierend zu sehen,
dass   solche  heidnischen  Gebruuche   nach   uber  tausendjuhriger  fester
Installation der christlichen Religion  immer  noch nicht ausgerottet waren!
Auch   die   meisten   Fulle   von   sogenannter   Teufelsbesessenheit   und
Satansbundelei  erwiesen sich  bei  nuherer Betrachtung als  abergluubisches
Spektakel. Zwar, die Existenz des Satans selbst zu  leugnen, seine Macht  zu
bezweifeln  -  so  weit  wurde  Terrier  nicht  gehen;  solche  Probleme  zu
entscheiden,  die  die  Grundfesten  der Theologie  beruhrten,  waren andere
Instanzen berufen als ein kleiner einfacher Munch. Auf der anderen Seite lag
es klar  zutage, dass, wenn eine einfultige Person wie jene Amme behauptete,
sie habe einen Teufelsspuk entdeckt, der Teufel nie und nimmer seine Hand im
Spiel haben  konnte.  Gerade dass sie ihn entdeckt zu haben glaubte, war ein
sicherer Beweis dafur, dass da nichts Teuflisches  zu entdecken war, denn so
dumm stellte sich der Teufel auch wieder nicht an, dass er sich von der Amme
Jeanne  Bussie  entlarven ließ.  Und noch  dazu mit der Nase! Mit  dem
primitiven Geruchsorgan, dem niedrigsten der Sinne! Als ruche die Hulle nach
Schwefel und das Paradies nach Weihrauch und Myrrhe! Schlimmster Aberglaube,
wie in dunkelster heidnischster  Vorzeit, als  die  Menschen noch  wie Tiere
lebten, als sie  noch  keine scharfen  Augen besaßen, die  Farbe nicht
kannten, aber Blut riechen  zu kunnen glaubten, meinten, Freund von Feind zu
erriechen,  von  kannibalischen  Riesen  und  Werwulfen  gewittert  und  von
Erinnyen gerochen zu werden, und ihren scheußlichen Guttern stinkende,
qualmende Brandopfer brachten. Entsetzlich! >Es sieht  der  Narr mit  der
Nase< mehr  als mit den  Augen,  und  wahrscheinlich musste das Licht der
gottgegebenen Vernunft noch  tausend weitere Jahre leuchten, ehe die letzten
Reste des primitiven Glaubens verscheucht waren.
     "Ach, und das  arme kleine Kind! Das unschuldige Wesen! Liegt in seinem
Korb und schlummert,  ahnt nichts von den ekligen Verduchtigungen, die gegen
es erhoben werden. Du ruchest nicht, wie Menschenkinder riechen sollen, wagt
die  unverschumte  Person  zu  behaupten.  Ja,  was  sagen  wir  denn  dazu?
Duziduzi!"
     Und er  wiegte den Korb  sachte auf den Knien, streichelte dem Suugling
mit dem Finger uber den  Kopf und sagte von Zeit  zu Zeit "duziduzi", was er
fur einen auf  Kleinkinder zurtlich und beruhigend wirkenden Ausdruck hielt.
"Nach Karamel sollst du riechen, so ein Unsinn, duziduzi!"
     Nach  einer Weile zog er den  Finger  zuruck, hielt ihn sich  unter die
Nase,  schnupperte, roch  aber nichts  als das  Sauerkraut,  das er  mittags
gegessen  hatte. Er  zugerte  einen  Moment,  blickte sich um,  ob ihn  auch
niemand beobachte, hob den Korb empor, senkte seine  dicke Nase hinein. Ganz
knapp,  so  dass  die  dunnen rutlichen Kindshaare  seine Nustern kitzelten,
schnoberte er uber den  Kopf  des Suuglings, in der Erwartung, einen  Geruch
aufzusaugen.  Er wusste  nicht so recht,  wie  Suuglinge am Kopf zu  riechen
hatten. Naturlich nicht nach Karamel, so  viel stand fest, denn Karamel  war
ja geschmolzener Zucker, und  wie sollte  ein Suugling, der bisher nur Milch
getrunken hatte, nach geschmolzenem  Zucker  riechen.  Nach Milch kunnte  er
riechen, nach Ammenmilch. Aber er roch nicht nach Milch. Nach Haaren  konnte
er   riechen,  nach  Haut  und  Haaren  und  vielleicht  nach  ein  bisschen
Kinderschweiß. Und  Terrier schnupperte und  stellte sich darauf  ein,
Haut,  Haare und ein  bisschen Kinderschweiß zu riechen.  Aber er roch
nichts. Beim besten Willen nichts. Wahrscheinlich riecht ein Suugling nicht,
dachte er, so wird das  sein. Ein Suugling, sofern reinlich gehalten, riecht
eben nicht, genausowenig wie er  spricht, luuft oder  schreibt.  Diese Dinge
kommen erst mit dem  Alter. Strenggenommen strumt der Mensch sogar erst Duft
aus,  wenn er pubertiert. So  ist das und nicht anders. Schreibt nicht schon
Horaz  "Es buckelt der Jungling, es  duftet erbluhend  die Jungfrau wie eine
weiße  Narzisse..."?-  und  die  Rumer  verstanden  etwas  davon!  Der
Menschenduft ist immer ein fleischlicher Duft  - also ein sundiger Duft. Wie
sollte  also  ein  Suugling,  der doch  noch  nicht  einmal  im  Traume  die
fleischliche  Sunde  kennt,  riechen?  Wie sollte er riechen?  Duziduzi? Gar
nicht!
     Er hatte den Korb wieder auf die Knie gestellt und hutschte ihn sachte.
Das Kind schlief noch immer fest. Seine rechte Faust schaute unter der Decke
hervor, klein und rot,  und zuckte manchmal ruhrend gegen die Wange. Terrier
luchelte  und  kam  sich  plutzlich  sehr gemutlich  vor.  Fur einen  Moment
gestattete er  sich den phantastischen Gedanken, er selbst sei der Vater des
Kindes.  Er wure  kein  Munch  geworden,  sondern ein normaler  Burger,  ein
rechtschaffener Handwerker vielleicht, hutte ein Weib  genommen, ein  warmes
wollig und milchig duftendes Weib, und  hutte mit ihr einen Sohn gezeugt und
hutschte  ihn  nun  hier  auf  seinen  eigenen  Knien,  sein  eigenes  Kind,
duziduziduzi... Es war ihm wohl bei diesem Gedanken. Der Gedanke hatte etwas
so  Ordentliches. Ein Vater hutscht seinen Sohn  auf den Knien, duziduzi, es
war ein Bild so alt  wie die  Welt und  immer ein neues und richtiges  Bild,
solange die  Welt bestand, ach  ja! Es  wurde Terrier ein  bisschen warm ums
Herz und sentimental im Gemut.
     Da erwachte das Kind. Es erwachte zuerst mit der Nase. Die winzige Nase
bewegte  sich, sie zog sich nach oben und schnupperte.  Sie sog die Luft ein
und schnaubte sie in kurzen Stußen aus,  wie bei  einem unvollkommenen
Niesen. Dann rumpfte sich die Nase, und  das Kind  tat  die Augen  auf.  Die
Augen   waren    von   unbestimmter   Farbe,   zwischen   austerngrau    und
opalweiß-cremig,  von einer  Art schleimigem  Schleier  uberzogen  und
offenbar noch nicht sehr gut zum Sehen geeignet. Terrier hatte den Eindruck,
dass sie ihn gar nicht gewahrten.  Anders die Nase. Wuhrend die matten Augen
des Kindes ins Unbestimmte schielten, schien die Nase ein bestimmtes Ziel zu
fixieren, und Terrier hatte das sehr  sonderbare Gefuhl, als sei dieses Ziel
er,  seine  Person, Terrier selbst.  Die  winzigen  Nasenflugel um die  zwei
winzigen  Lucher  mitten  im  Gesicht  des  Kindes  bluhten  sich  wie  eine
aufgehende  Blute. Oder eher wie die  Nupfe jener kleinen  fleischfressenden
Pflanzen, die man im botanischen Garten des Kunigs hielt. Und wie von diesen
schien ein unheimlicher Sog von ihnen  auszugehen.  Es war Terrier, als sehe
ihn das  Kind  mit  seinen Nustern,  als sehe es ihn  scharf und prufend an,
durchdringender,  als man  es mit Augen kunnte, als verschlunge es etwas mit
seiner Nase, das von ihm,  Terrier,  ausging, und das  er nicht zuruckhalten
und  nicht verbergen konnte... Das geruchlose  Kind roch ihn schamlos ab, so
war es! Es  witterte ihn aus!  Und  er kam sich mit  einem Mal stinkend vor,
nach Schweiß und Essig, nach Sauerkraut und ungewaschenen Kleidern. Er
kam  sich  nackt  und  hußlich  vor,  wie begafft  von  jemandem,  der
seinerseits  nichts  von  sich preisgab.  Selbst durch seine Haut schien  es
hindurchzuriechen, in  sein Innerstes  hinein.  Die  zartesten  Gefuhle, die
schmutzigsten Gedanken lagen  bloß vor dieser  gierigen kleinen  Nase,
die noch gar keine rechte Nase war, sondern nur ein  Stups, ein sich stundig
kruuselndes  und  bluhendes  und bebendes winziges  luchriges Organ. Terrier
schauderte. Er ekelte sich. Er verzog nun seinerseits die Nase wie vor etwas
ubelriechendem,  mit  dem  er  nichts   zu  tun  haben  wollte.  Vorbei  der
anheimelnde Gedanke,  es  handle  sich ums eigne Fleisch und Blut. Zerstoben
das  sentimentale  Idyll  von  Vater  und  Sohn  und  duftender  Mutter. Wie
weggerissen  der gemutlich  umhullende  Gedankenschleier, den er sich um das
Kind und  sich selbst zurecht phantasiert  hatte: Ein  fremdes, kaltes Wesen
lag auf  seinen Knien, ein feindseliges Animal, und  wenn er  nicht  ein  so
besonnener und von Gottesfurcht und rationaler Einsicht geleiteter Charakter
gewesen wure, so  hutte er es  in einem Anflug von Ekel wie eine  Spinne von
sich geschleudert.
     Mit einem Ruck stand Terrier  auf und setzte den Korb auf den Tisch. Er
wollte  das  Ding loshaben,  muglichst schnell, muglichst  gleich, muglichst
sofort.
     Und da begann es zu schreien. Es kniff  die Augen zusammen, riss seinen
roten Schlund auf und kreischte  so  widerwurtig  schrill, dass Terrier  das
Blut in den Adern erstarrte. Er schuttelte den Korb  mit ausgestreckter Hand
und schrie "Duziduzi", um das Kind zum Schweigen zu bringen, aber es brullte
nur noch lauter und wurde ganz blau im Gesicht und sah aus, als wolle es vor
Brullen zerplatzen.
     Weg   damit!  dachte  Terrier,   augenblicklich   weg   mit   diesem...
>Teufel<  wollte  er  sagen  und riss sich zusammen  und  verkniff  es
sich,... weg mit diesem Unhold, mit diesem  unertruglichen Kind! Aber wohin?
Er kannte ein Dutzend Ammen und Waisenhuuser  im Quartier, aber das  war ihm
zu nah, zu dicht  auf der Haut war ihm das,  weiter  weg musste das Ding, so
weit, dass  man's nicht hurte, so weit,  dass  man's  ihm nicht  jede Stunde
wieder vor die Ture stellen  konnte,  nach  Muglichkeit  musste  es in einen
anderen  Sprengel, ans andere Ufer noch besser, am  allerbesten extra muros,
in  den Faubourg  Saint-Antoine, das war's!, dahin kam  der schreiende Balg,
weit nach Osten, jenseits der Bastille, wo man nachts die Tore schloss.
     Und er raffte seine Soutane und ergriff den brullenden  Korb und rannte
davon,  rannte durch das Gassengewirr zur Rue du Faubourg Saint-Antoine, die
Seine hinauf nach Osten, zur Stadt hinaus, weit, weit hinaus bis  zur Rue de
Charonne  und diese fast bis zum Ende,  wo er, in  der Nuhe des Klosters der
Madeleine de Trenelle, die  Adresse  einer gewissen  Madame Gaillard kannte,
welche  Kostkinder jeglichen Alters  und jeglicher Art aufnahm,  solange nur
jemand dafur zahlte,  und dort gab er  das immer  noch  schreiende Kind  ab,
zahlte fur ein Jahr im voraus und floh zuruck in die Stadt, warf, im Kloster
angekommen, seine  Kleider wie etwas Beflecktes ab, wusch sich von Kopf  bis
Fuß und  kroch in  seiner Kammer ins Bett, wo  er viele Kreuze schlug,
lange betete und endlich erleichtert entschlief.


     Madame Gaillard, obwohl  noch keine dreißig  Jahre alt, hatte das
Leben schon hinter sich.  uußerlich sah  sie so alt  aus, wie es ihrem
wirklichen Alter entsprach, und zugleich doppelt und  dreimal und hundertmal
so alt, numlich wie die Mumie eines Mudchens; innerlich aber war sie  lungst
tot. Als Kind hatte sie von ihrem Vater einen Schlag mit dem Feuerhaken uber
die  Stirn  bekommen,  knapp  oberhalb  der  Nasenwurzel,  und  seither  den
Geruchssinn verloren und jedes Gefuhl  fur menschliche Wurme und menschliche
Kulte und uberhaupt jede Leidenschaft. Zurtlichkeit war ihr mit diesem einen
Schlag ebenso fremd geworden  wie Abscheu, Freude so fremd wie Verzweiflung.
Sie  empfand nichts, als  sie  sputer ein Mann beschlief, und ebenso nichts,
als sie ihre Kinder gebar. Sie trauerte nicht uber die, die ihr starben, und
freute sich nicht an denen,  die ihr  blieben. Als ihr  Mann  sie  prugelte,
zuckte  sie  nicht,  und  sie  verspurte  keine  Erleichterung,  als  er  im
Hotel-Dieu  an der  Cholera starb.  Die  zwei  einzigen Sensationen, die sie
kannte,  waren  eine ganz leichte Gemutsverdusterung,  wenn  die  monatliche
Migrune  nahte, und  eine ganz  leichte  Gemutsaufhellung, wenn die  Migrune
wieder wich. Sonst spurte diese abgestorbene Frau nichts.
     Auf   der  anderen  Seite...   oder  vielleicht  gerade   wegen   ihrer
vollkommenen   Emotionslosigkeit,   besaß   Madame    Gaillard   einen
gnadenlosen Ordnungs-  und Gerechtigkeitssinn. Sie bevorzugte keines der ihr
anvertrauten  Kinder  und   benachteiligte  keines.  Sie  verabreichte  drei
Mahlzeiten am Tag und keinen kleinsten Happen mehr. Sie windelte die Kleinen
dreimal am Tag  und nur bis zum zweiten  Geburtstag. Wer danach  noch in die
Hose schiss, erhielt eine vorwurfslose Ohrfeige  und eine  Mahlzeit weniger.
Exakt die Hulfte des Kostgelds verwandte  sie fur  die  Zuglinge, exakt  die
Hulfte behielt sie fur  sich. Sie versuchte in billigen Zeiten nicht,  ihren
Gewinn zu erhuhen; aber sie legte  in harten Zeiten nicht einen einzigen Sol
zu, auch nicht, wenn  es auf  Leben  und  Tod ging. Das Geschuft hutte  sich
sonst fur sie nicht mehr gelohnt. Sie brauchte das  Geld. Sie hatte sich das
ganz genau ausgerechnet.  Im Alter  wollte sie  sich  eine  Rente kaufen und
daruberhinaus  noch  so  viel besitzen, dass  sie es sich leisten konnte, zu
Hause zu sterben und nicht im Hotel-Dieu zu verrecken wie ihr Mann. Sein Tod
selbst  hatte  sie  kaltgelassen. Aber  ihr  graute  vor diesem uffentlichen
gemeinsamen Sterben mit  Hunderten von  fremden  Menschen.  Sie wollte  sich
einen  privaten  Tod  leisten,  und  dazu  brauchte  sie die volle Marge vom
Kostgeld: Zwar,  es gab Winter, da starben ihr von den zwei  Dutzend kleinen
Pensionuren drei  oder vier. Doch damit lag sie immer noch  erheblich besser
als die meisten  anderen privaten  Ziehmutter und  ubertraf die großen
staatlichen  oder  kirchlichen  Findelhuuser, deren  Verlustquote  oft  neun
Zehntel betrug, bei weitem. Es gab ja auch viel Ersatz. Paris produzierte im
Jahr uber zehntausend  neue Findelkinder, Bastarde und Waisen. So ließ
sich mancher Ausfall verschmerzen.
     Fur den  kleinen Grenouille war das Etablissement  der  Madame Gaillard
ein Segen. Wahrscheinlich  hutte  er nirgendwo anders uberleben kunnen. Hier
aber, bei  dieser  seelenarmen  Frau gedieh er.  Er  besaß  eine  zuhe
Konstitution.  Wer  wie  er die  eigene  Geburt  im  Abfall uberlebt  hatte,
ließ sich  nicht  mehr  so leicht  aus  der Welt  bugsieren. Er konnte
tagelang wussrige Suppen essen, er kam  mit der dunnsten Milch aus,  vertrug
das  faulste Gemuse  und  verdorbenes Fleisch.  Im  Verlauf seiner  Kindheit
uberlebte  er  die  Masern, die Ruhr,  die  Windpocken,  die  Cholera, einen
Sechsmetersturz in einen Brunnen und die  Verbruhung der Brust mit kochendem
Wasser. Zwar trug  er Narben  davon und  Schrunde und Grind und einen leicht
verkruppelten Fuß, der ihn  hatschen machte, aber er lebte. Er war zuh
wie ein resistentes Bakterium und genugsam wie ein Zeck, der still auf einem
Baum sitzt und von einem  winzigen  Blutstrupfchen lebt,  das er vor  Jahren
erbeutet hat. Ein minimales Quantum an  Nahrung und Kleidung brauchte er fur
seinen Kurper. Fur  seine Seele brauchte er nichts. Geborgenheit, Zuwendung,
Zurtlichkeit, Liebe - oder wie die ganzen Dinge hießen, deren ein Kind
angeblich  bedurfte  -   waren  dem  Kinde  Grenouille  vullig  entbehrlich.
Vielmehr, so scheint uns, hatte  er sie sich selbst entbehrlich  gemacht, um
uberhaupt leben zu kunnen, von Anfang an. Der Schrei nach seiner Geburt, der
Schrei unter  dem Schlachttisch hervor, mit  dem  er  sich in Erinnerung und
seine Mutter aufs Schafott gebracht hatte, war kein instinktiver Schrei nach
Mitleid  und Liebe  gewesen. Es war ein wohlerwogener, fast muchte man sagen
ein reiflich  erwogener Schrei gewesen, mit dem  sich das Neugeborene  gegen
die Liebe und dennoch fur das Leben entschieden hatte. Unter den obwaltenden
Umstunden war  dieses ja auch  nur ohne  jene muglich,  und hutte  das  Kind
beides gefordert, so wure  es zweifellos alsbald elend zugrunde gegangen. Es
hutte  damals  allerdings auch  die  zweite  ihm  offenstehende  Muglichkeit
ergreifen und  schweigen und den Weg von der  Geburt zum Tode ohne den Umweg
uber das  Leben wuhlen  kunnen, und es hutte damit  der Welt und sich selbst
eine Menge Unheil erspart. Um aber so bescheiden abzutreten,  hutte es eines
Mindestmaßes   an   eingeborener   Freundlichkeit   bedurft,  und  die
besaß  Grenouille  nicht. Er  war  von  Beginn  an  ein  Scheusal.  Er
entschied sich fur das Leben aus reinem Trotz und aus reiner Boshaftigkeit.
     Selbstverstundlich entschied er sich  nicht, wie ein erwachsener Mensch
sich  entscheidet, der  seine  mehr oder weniger  große  Vernunft  und
Erfahrung gebraucht, um zwischen verschiedenen  Optionen zu  wuhlen. Aber er
entschied  sich doch vegetativ, so wie eine  weggeworfene Bohne entscheidet,
ob sie nun keimen soll oder ob sie es besser bleiben lusst.
     Oder wie jener Zeck auf dem Baum, dem doch  das Leben nichts anderes zu
bieten  hat als ein  immerwuhrendes uberwintern.  Der kleine  hußliche
Zeck, der seinen bleigrauen Kurper zur Kugel  formt,  um der Außenwelt
die geringstmugliche Fluche  zu bieten; der seine Haut glatt und derb macht,
um  nichts zu verstrumen,  kein bisschen von sich hinauszutranspirieren. Der
Zeck,  der sich extra klein und unansehnlich macht,  damit niemand ihn  sehe
und  zertrete.  Der einsame Zeck,  der in sich  versammelt  auf seinem Baume
hockt,  blind,  taub  und  stumm,  und  nur   wittert,  jahrelang   wittert,
meilenweit,  das  Blut  voruberwandernder  Tiere,  die er  aus eigner  Kraft
niemals  erreichen wird. Der Zeck kunnte sich fallen  lassen. Er kunnte sich
auf den Boden des Waldes  fallen lassen, mit seinen sechs winzigen  Beinchen
ein  paar  Millimeter dahin  und dorthin  kriechen  und sich unters Laub zum
Sterben legen, es wure nicht schade um ihn, weiß  Gott nicht. Aber der
Zeck, bockig, stur und eklig, bleibt hocken und lebt und wartet. Wartet, bis
ihm  der huchst unwahrscheinliche Zufall  das  Blut  in Gestalt eines Tieres
direkt unter den Baum treibt. Und dann erst gibt er seine Zuruckhaltung auf,
lusst  sich fallen  und  krallt  und  bohrt  und beisst  sich  in das fremde
Fleisch...
     So ein Zeck war das Kind Grenouille. Es lebte in sich selbst verkapselt
und wartete auf bessere Zeiten. An die Welt gab es nichts ab als seinen Kot;
kein Lucheln,  keinen Schrei, keinen Glanz des  Auges,  nicht  einmal  einen
eigenen Duft. Jede andere  Frau hutte dieses monstruse Kind verstoßen.
Nicht  so Madame  Gaillard. Sie roch  ja  nicht, dass es nicht roch, und sie
erwartete keine seelische Regung von  ihm, weil ihre eigene Seele versiegelt
war.
     Die  andern Kinder dagegen spurten sofort,  was  es mit  Grenouille auf
sich hatte. Vom ersten  Tag an war ihnen der Neue unheimlich. Sie mieden die
Kiste, in der er lag, und  ruckten auf ihren Schlafgestellen enger zusammen,
als  wure es kulter geworden  im Zimmer. Die jungeren  schrien manchmal  des
Nachts; ihnen war,  als  zuge ein Windzug durch die Kammer. Andere truumten,
es nehme ihnen  etwas den Atem. Einmal taten sich die  ulteren zusammen,  um
ihn zu ersticken. Sie  huuften Lumpen und Decken und Stroh  auf sein Gesicht
und beschwerten das ganze mit Ziegeln. Als Madame  Gaillard ihn  am nuchsten
Morgen ausgrub, war er zerknautscht und zerdruckt  und blau, aber nicht tot.
Sie versuchten  es noch  ein  paarmal, vergebens. Ihn direkt zu erwurgen, am
Hals, mit eigenen  Hunden, oder  ihm Mund oder Nase  zu verstopfen, was eine
sicherere Methode gewesen wure, das wagten sie nicht. Sie wollten ihn  nicht
beruhren.  Sie ekelten  sich  vor ihm wie vor einer  dicken Spinne,  die man
nicht mit eigner Hand zerquetschen will.
     Als er grußer wurde, gaben sie die Mordanschluge  auf. Sie hatten
wohl eingesehen,  dass er nicht zu vernichten war. Statt  dessen gingen  sie
ihm aus dem Weg, liefen davon, huteten sich in jedem Fall vor Beruhrung. Sie
hassten ihn nicht. Sie waren auch nicht eifersuchtig oder futterneidisch auf
ihn.  Fur  solche Gefuhle hutte es  im  Hause  Gaillard nicht den geringsten
Anlass gegeben. Es sturte sie ganz einfach, dass er  da war. Sie konnten ihn
nicht riechen. Sie hatten Angst vor ihm.


     Dabei    besaß     er,    objektiv     gesehen,    gar     nichts
Angsteinflußendes.  Er  war,   als  er  heranwuchs,   nicht  besonders
groß,  nicht  stark,  zwar   hußlich,  aber   nicht   so  extrem
hußlich,  dass man  vor ihm  hutte  erschrecken mussen.  Er  war nicht
aggressiv, nicht link, nicht  hinterhultig, er provozierte  nicht. Er  hielt
sich  lieber  abseits.  Auch  seine  Intelligenz  schien  alles  andere  als
furchterlich  zu  sein.  Erst mit  drei  Jahren begann er auf zwei Beinen zu
stehen, sein erstes Wort sprach  er mit vier, es war das Wort  "Fische", das
in einem Moment  plutzlicher Erregung aus ihm hervorbrach wie ein Echo,  als
von  ferne ein Fischverkuufer  die Rue de Charonne heraufkam und seine  Ware
ausschrie.  Die  nuchsten  Wurter,  derer  er  sich  entuußerte, waren
"Pelargonie", "Ziegenstall",  "Wirsing" und "Jacqueslorreur", letzteres  der
Name eines Gurtnergehilfen des nahegelegenen Stifts der  Filles de la Croix,
der   bei  Madame  Gaillard  gelegentlich  grubere  und   grubste   Arbeiten
verrichtete  und  sich dadurch auszeichnete, dass er sich im Leben noch kein
einziges  Mal gewaschen  hatte.  Mit  den  Zeitwurtern, den  Adjektiven  und
Fullwurtern hatte er es weniger.  Bis auf "ja" und "nein" - die  er ubrigens
sehr sput  zum ersten Mal aussprach - gab er nur Hauptwurter, ja  eigentlich
nur Eigennamen von konkreten Dingen, Pflanzen, Tieren und Menschen von sich,
und  auch  nur  dann, wenn ihn diese  Dinge,  Pflanzen,  Tiere oder Menschen
unversehens geruchlich uberwultigten.
     In  der Murzsonne auf  einem Stapel  Buchenscheite sitzend,  die in der
Wurme knackten, war es, dass er zum ersten Mal das Wort "Holz" aussprach. Er
hatte hundertmal zuvor schon Holz gesehen, das Wort schon hundertmal gehurt.
Er verstand es  auch, war er doch  im  Winter oft hinausgeschickt worden, um
Holz zu holen. Aber  der  Gegenstand  Holz  war  ihm nie  interessant  genug
vorgekommen,  als  dass  er  sich  die  Muhe  gegeben  hutte,  seinen  Namen
auszusprechen.  Das  geschah erst an  jenem  Murztag, als er auf  dem Stapel
saß.  Der Stapel war wie eine Bank  an  der Sudseite des Schuppens von
Madame  Gaillard  unter  einem uberhungenden  Dach  aufgeschichtet. Brenzlig
suß rochen die obersten Scheite, moosig duftete es aus  der Tiefe  des
Stapels  herauf, und  von der  Fichtenwand des Schuppens  fiel  in der Wurme
bruseliger  Harzduft ab. Grenouille saß  mit ausgestreckten Beinen auf
dem Stapel,  den  Rucken gegen die Schuppenwand gelehnt,  er hatte die Augen
geschlossen und  ruhrte  sich  nicht. Er  sah  nichts,  er  hurte und spurte
nichts. Er roch nur den Duft des Holzes, der um ihn herum aufstieg und  sich
unter dem  Dach wie unter einer Haube fing. Er trank diesen Duft, er ertrank
darin, imprugnierte sich damit bis in die letzte innerste Pore, wurde selbst
Holz,  wie  eine   hulzerne  Puppe,  wie  ein  Pinocchio  lag   er  auf  dem
Holzstoß, wie tot,  bis er,  nach langer Zeit,  vielleicht  nach einer
halben Stunde erst, das  Wort "Holz"  hervorwurgte. Als sei er angefullt mit
Holz bis uber beide Ohren, als stunde ihm das  Holz schon bis zum Hals,  als
habe er den Bauch, den Schlund, die Nase ubervoll von Holz, so kotzte er das
Wort heraus.  Und  das brachte ihn  zu sich, errettete ihn,  kurz bevor  die
uberwultigende  Gegenwart des  Holzes selbst,  sein  Duft, ihn zu  ersticken
drohte. Er rappelte sich auf, rutschte von  dem Stapel  herunter  und wankte
wie auf hulzernen Beinen davon. Noch Tage sputer war er  von  dem intensiven
Geruchserlebnis ganz benommen und brabbelte,  wenn  die Erinnerung daran  zu
kruftig in ihm aufstieg, beschwurend "Holz, Holz" vor sich hin.
     So lernte er  sprechen.  Mit  Wurtern, die keinen riechenden Gegenstand
bezeichneten,  mit  abstrakten  Begriffen  also,  vor  allem  ethischer  und
moralischer Natur, hatte er die grußten Schwierigkeiten. Er konnte sie
nicht behalten, verwechselte sie, verwendete sie noch als Erwachsener ungern
und  oft  falsch:  Recht,  Gewissen,  Gott,  Freude,  Verantwortung,  Demut,
Dankbarkeit  usw. -  was damit  ausgedruckt sein sollte, war  und blieb  ihm
schleierhaft.
     Andrerseits   hutte   die   gungige  Sprache  schon  bald   nicht  mehr
ausgereicht, all jene Dinge zu bezeichnen, die er als olfaktorische Begriffe
in sich versammelt hatte. Bald  roch er  nicht mehr bloß Holz, sondern
Holzsorten,  Ahornholz,  Eichenholz,  Kiefernholz,  Ulmenholz, Birnbaumholz,
altes,   junges,  morsches,  modriges,  moosiges  Holz,  ja  sogar  einzelne
Holzscheite,  Holzsplitter  und  Holzbrusel  - und roch sie  als so deutlich
unterschiedene  Gegenstunde,  wie  andre  Leute  sie  nicht mit Augen hutten
unterscheiden kunnen.  uhnlich erging es ihm  mit anderen Dingen. Dass jenes
weiße Getrunk, welches Madame Gaillard  allmorgendlich ihren Zuglingen
verabreichte,   durchweg  als  Milch  bezeichnet  wurde,  wo  es  doch  nach
Grenouilles  Empfinden  jeden Morgen durchaus anders  roch und schmeckte, je
nachdem wie warm es war, von welcher Kuh es stammte, was diese Kuh gefressen
hatte, wieviel Rahm  man ihm belassen hatte und so fort...  dass Rauch, dass
ein von  hundert  Einzelduften schillerndes, minuten-, ja sekundenweis  sich
wandelndes und zu neuer Einheit mischendes Geruchsgebilde  wie der Rauch des
Feuers  nur  eben  jenen  einen  Namen  "Rauch"  besaß...  dass  Erde,
Landschaft, Luft, die von Schritt zu Schritt und  von Atemzug zu Atemzug von
anderem Geruch erfullt und damit von andrer Identitut beseelt waren, dennoch
nur  mit  jenen  drei plumpen  Wurtern bezeichnet sein sollten  - all  diese
grotesken   Missverhultnisse   zwischen   dem    Reichtum   der   geruchlich
wahrgenommenen  Welt und  der  Armut  der  Sprache,  ließen den Knaben
Grenouille am Sinn der Sprache uberhaupt zweifeln; und  er bequemte  sich zu
ihrem  Gebrauch  nur,  wenn es  der Umgang  mit anderen  Menschen  unbedingt
erforderlich machte.
     Mit  sechs Jahren  hatte  er  seine  Umgebung olfaktorisch  vollstundig
erfasst. Es gab  im Hause der  Madame  Gaillard keinen  Gegenstand,  in  der
nurdlichen  Rue de Charonne keinen Ort, keinen Menschen, keinen Stein, Baum,
Strauch oder  Lattenzaun,  keinen  noch  so  kleinen Flecken, den  er  nicht
geruchlich kannte, wiedererkannte und mit der  jeweiligen Einmaligkeit  fest
im   Geduchtnis    verwahrte.   Zehntausend,    hunderttausend   spezifische
Eigengeruche  hatte  er  gesammelt und hielt  sie  zu seiner  Verfugung,  so
deutlich, so beliebig, dass er sich  nicht nur ihrer  erinnerte, wenn er sie
wieder roch, sondern dass er sie tatsuchlich roch, wenn er sich ihrer wieder
erinnerte; ja, mehr noch, dass er sie sogar in seiner bloßen Phantasie
untereinander neu zu  kombinieren  verstand und  dergestalt in  sich Geruche
erschuf,  die es  in  der  wirklichen  Welt  gar  nicht  gab.  Es  war,  als
besuße er ein riesiges selbsterlerntes Vokabular von Geruchen, das ihn
befuhigte,  eine schier beliebig  große  Menge  neuer  Geruchssutze zu
bilden  und  dies  in  einem  Alter, da andere  Kinder mit  den ihnen muhsam
eingetrichterten  Wurtern  die  ersten,  zur  Beschreibung  der  Welt huchst
unzulunglichen  konventionellen  Sutze  stammelten.  Am  ehesten  war  seine
Begabung vielleicht  der eines  musikalischen Wunderkindes vergleichbar, das
den Melodien und Harmonien das Alphabet der einzelnen Tune abgelauscht hatte
und nun selbst vollkommen neue Melodien und  Harmonien komponierte - mit dem
Unterschied freilich,  dass  das Alphabet der  Geruche ungleich grußer
und  differenzierter  war als das der Tune,  und mit dem Unterschied ferner,
dass sich  die schupferische Tutigkeit des Wunderkinds Grenouille allein  in
seinem Innern abspielte und von niemandem wahrgenommen werden konnte als nur
von ihm selbst.
     Nach  außen  hin  wurde  er  immer  verschlossener.  Am  liebsten
streifte er  allein  durch  den  nurdlichen  Faubourg  Saint-Antoine,  durch
Gemusegurten, Weinfelder, uber Wiesen. Manchmal kehrte er abends  nicht nach
Hause  zuruck,  blieb tagelang verschollen. Die fullige  Zuchtigung mit  dem
Stock ertrug  er  ohne Schmerzensuußerung.  Hausarrest,  Essensentzug,
Strafarbeit  konnten  sein  Benehmen  nicht undern.  Ein  eineinhalbjuhriger
sporadischer Besuch der Pfarrschule von Notre Dame de Bon Secours blieb ohne
erkennbare  Wirkung. Er lernte ein  bisschen  buchstabieren  und den  eignen
Namen schreiben, sonst nichts. Sein Lehrer hielt ihn fur schwachsinnig.
     Madame Gaillard hingegen fiel auf,  dass  er  bestimmte Fuhigkeiten und
Eigenheiten  besaß,   die  sehr  ungewuhnlich,   um  nicht   zu  sagen
ubernaturlich waren: So schien ihm die kindliche  Angst  vor der  Dunkelheit
und der  Nacht vullig  fremd  zu sein.  Man  konnte  ihn jederzeit  zu einer
Besorgung  in den Keller  schicken, wohin  sich die  anderen Kinder kaum mit
einer  Lampe  wagten,   oder   hinaus   zum   Schuppen  zum   Holzholen  bei
stockfinsterer Nacht. Und  nie  nahm er ein Licht  mit und  fand  sich  doch
zurecht und  brachte sofort das Verlangte, ohne einen falschen Griff zu tun,
ohne  zu stolpern  oder etwas umzustoßen.  Noch  merkwurdiger freilich
erschien  es, dass er,  wie  Madame Gaillard festgestellt zu  haben glaubte,
durch  Papier,   Stoff,   Holz,  ja  sogar  durch  festgemauerte  Wunde  und
geschlossene Turen  hindurchzusehen vermochte. Er wusste, wieviel und welche
Zuglinge  sich  im Schlafraum  aufhielten, ohne  ihn  betreten zu haben.  Er
wusste, dass  eine Raupe  im Blumenkohl steckte,  ehe der Kopf zerteilt war.
Und einmal, als  sie ihr Geld so  gut  versteckt  hatte, dass sie  es selbst
nicht mehr wiederfand (sie  underte ihre  Verstecke),  deutete er, ohne eine
Sekunde zu suchen, auf eine Stelle hinter dem Kaminbalken, und siehe, da war
es! Sogar in die Zukunft konnte  er sehen, indem er numlich den Besuch einer
Person lange vor ihrem Eintreffen ankundigte oder  das Nahen eines Gewitters
unfehlbar  vorauszusagen  wusste,  ehe  noch das kleinste Wulkchen am Himmel
stand. Dass  er dies alles  freilich nicht sah, nicht mit Augen sah, sondern
mit seiner immer schurfer und pruziser riechenden Nase erwitterte: die Raupe
im Kohl, das Geld hinterm Balken, die Menschen durch Wunde hindurch und uber
eine Entfernung von mehreren Straßenzugen hinweg  - darauf wure Madame
Gaillard im Traume nicht gekommen, auch wenn jener Schlag mit dem Feuerhaken
ihren Olfaktorius unbeschudigt gelassen hutte. Sie war davon uberzeugt,  der
Knabe musse - Schwachsinn hin oder her - das zweite Gesicht besitzen. Und da
sie  wusste,  dass Zwiegesichtige  Unheil  und  Tod anziehen,  wurde er  ihr
unheimlich.  Noch unheimlicher, geradezu  unertruglich war  ihr der Gedanke,
mit  jemandem unter  einem Dach zu  leben,  der die  Gabe hatte,  sorgfultig
verstecktes Geld durch Wunde und Balken hindurch zu sehen, und als sie diese
entsetzliche Fuhigkeit Grenouilles entdeckt hatte, trachtete sie danach, ihn
loszuwerden,  und  es traf  sich gut,  dass  etwa  um  die  gleiche  Zeit  -
Grenouille war acht Jahre alt - das Kloster von Saint-Merri seine juhrlichen
Zahlungen  ohne Angabe  von Grunden einstellte.  Madame  mahnte nicht  nach.
Anstandshalber  wartete  sie  noch eine Woche, und als das fullige Geld dann
immer noch nicht eingetroffen war, nahm sie den Knaben bei der Hand und ging
mit ihm in die Stadt.
     In der Rue  de  la Mortellerie, nahe dem Fluss, kannte sie einen Gerber
namens Grimal, der notorischen Bedarf an jugendlichen Arbeitskruften hatte -
nicht  an ordentlichen Lehrlingen oder Gesellen, sondern  an billigen Kulis.
Es  gab  numlich  in dem  Gewerbe  Arbeiten -  das  Entfleischen verwesender
Tierhuute,  das Mischen von giftigen Gerb- und  Furbebruhen,  das Ausbringen
utzender   Lohen   -,   die    so   lebensgefuhrlich   waren,    dass    ein
verantwortungsbewusster  Meister  nach  Muglichkeit  nicht  seine  gelernten
Hilfskrufte dafur verschwendete, sondern arbeitsloses Gesindel, Herumtreiber
oder  eben  herrenlose  Kinder,  nach  denen  im Zweifelsfalle  niemand mehr
fragte.  Naturlich  wusste  Madame  Gaillard,  dass  Grenouille  in  Grimals
Gerberwerkstatt   nach    menschlichem   Ermessen   keine   uberlebenschance
besaß. Aber sie war nicht die  Frau, sich daruber  Gedanken zu machen.
Ihre Pflicht hatte sie ja getan. Das Pflegeverhultnis war  beendet.  Was mit
dem  Zugling  weiterhin geschah, ging  sie  nichts an. Wenn er durchkam,  so
war's gut,  wenn  er  starb,  so war's  auch gut  - Hauptsache,  alles  ging
rechtens zu. Und so ließ sie sich von Monsieur Grimal die ubergabe des
Knaben schriftlich bestutigen, quittierte ihrerseits den Erhalt von funfzehn
Franc  Provision und machte  sich  wieder auf  nach  Hause  in  die  Rue  de
Charonne.  Sie  verspurte  nicht  den  geringsten  Anflug  eines  schlechten
Gewissens.  Im  Gegenteil  glaubte  sie,  nicht  nur  rechtens, sondern auch
gerecht gehandelt zu haben, denn der Verbleib eines Kindes, fur  das niemand
zahlte, wure ja notwendigerweise  zu Lasten der anderen Kinder gegangen oder
sogar zu ihren eigenen Lasten und hutte  womuglich die Zukunft  der  anderen
Kinder  gefuhrdet oder  sogar ihre  eigene Zukunft, das heisst ihren eignen,
abgeschirmten, privaten Tod, der das einzige war, was sie sich im Leben noch
wunschte.
     Da  wir Madame Gaillard an  dieser Stelle  der Geschichte verlassen und
ihr auch  sputer nicht mehr wiederbegegnen werden, wollen  wir  in ein  paar
Sutzen  das  Ende ihrer  Tage  schildern.  Madame,  obwohl  als  Kind  schon
innerlich gestorben,  wurde zu ihrem Ungluck sehr, sehr alt. Anno 1782,  mit
fast siebzig Jahren, gab  sie ihr Gewerbe auf, kaufte  sich wie vorgehabt in
eine Rente ein, saß in ihrem Huuschen und wartete auf den Tod. Der Tod
aber kam nicht. Statt seiner kam etwas, womit kein Mensch auf der Welt hutte
rechnen kunnen und  was  es im Lande noch nie  gegeben  hatte, numlich  eine
Revolution,    das    heisst     eine    rasante    Umwandlung    sumtlicher
gesellschaftlicher, moralischer und transzendentaler Verhultnisse.  Zunuchst
hatte diese Revolution keine Auswirkungen auf Madame Gaillards  persunliches
Schicksal. Dann aber - sie war nun fast achtzig  - hieß  es  mit einem
Mal, ihr Rentengeber habe emigrieren mussen, sei  enteignet und sein  Besitz
an einen Hosenfabrikanten versteigert worden. Es sah eine Weile lang noch so
aus, als habe auch dieser Wandel noch keine fatalen Auswirkungen  fur Madame
Gaillard, denn der Hosenfabrikant zahlte weiterhin punktlich die Rente. Aber
dann  kam der Tag,  da  sie  ihr Geld nicht mehr in harter Munze, sondern in
Form von kleinen bedruckten Papierbluttchen erhielt, und das war der  Anfang
ihres materiellen Endes.
     Nach Verlauf von zwei  Jahren reichte die Rente  nicht einmal mehr aus,
das Feuerholz zu bezahlen. Madame sah sich gezwungen, ihr Haus zu verkaufen,
zu lucherlich geringem Preis, denn es gab plutzlich außer ihr Tausende
von anderen  Leuten, die  ihr Haus  ebenfalls  verkaufen mussten. Und wieder
bekam  sie als  Gegenwert nur  diese bluden Bluttchen, und wieder waren  sie
nach zwei Jahren so gut wie  nichts mehr wert, und im Jahre 1797 - sie  ging
nun auf  die  Neunzig zu  - hatte sie ihr gesamtes, in muhevoller  sukularer
Arbeit zusammengescharrtes  Vermugen verloren und  hauste in einer  winzigen
mublierten  Kammer  in der Rue  des Coquilles. Und nun  erst, mit zehn-, mit
zwanzigjuhriger  Versputung,  kam  der Tod herbei  und kam in  Gestalt einer
langwierigen  Geschwulstkrankheit, die  Madame an der  Kehle packte  und ihr
erst  den  Appetit und dann die Stimme raubte, so dass  sie  mit keinem Wort
Einspruch erheben  konnte, als sie ins Hotel-Dieu fortgeschafft wurde.  Dort
brachte  man  sie  in  den   gleichen,  von  Hunderten  todkranker  Menschen
bevulkerten Saal, in dem  schon ihr Mann  gestorben  war, steckte sie in ein
Gemeinschaftsbett  zu funf  anderen  alten  wildfremden Weibern, kurperdicht
Leib  an Leib  lagen sie, und ließ sie dort drei  Wochen lang in aller
uffentlichkeit sterben. Dann  wurde sie  in einen  Sack genuht, um  vier Uhr
fruh nebst funfzig anderen  Leichen auf einen Transportkarren  geworfen  und
unter dem dunnen  Gebimmel eines Gluckchens  zum neubegrundeten Friedhof von
Clamart, eine Meile  vor  den  Toren  der Stadt, gefahren und dort in  einem
Massengrab  zur  letzten  Ruhe  gebettet, unter  einer  dicken  Schicht  von
ungeluschtem Kalk.
     Das war im Jahre 1799. Gott sei Dank ahnte Madame nichts von diesem ihr
bevorstehenden  Schicksal, als sie an jenem Tag des  Jahres 1747  nach Hause
ging  und den  Knaben Grenouille und  unsere  Geschichte verließ.  Sie
hutte womuglich ihren Glauben an die Gerechtigkeit verloren und damit an den
einzigen ihr begreiflichen Sinn des Lebens.


     Mit dem ersten Blick, den  er auf Monsieur Grimal  geworfen - nein, mit
dem  ersten witternden Atemzug, den er  von Grimals  Geruchsaura  eingesogen
hatte,  wusste  Grenouille,  dass  dieser  Mann  imstande war, ihn  bei  der
geringsten Unbotmußigkeit zu  Tode zu prugeln. Sein Leben  galt gerade
noch so viel  wie die Arbeit , die er verrichten konnte, es bestand nur noch
aus  der  Nutzlichkeit,  die  Grimal   ihm  beimaß.   Und  so  kuschte
Grenouille, ohne auch nur ein einziges Mal den  Versuch  einer Auflehnung zu
machen.  Von einem  Tag  zum undern verkapselte er  wieder die ganze Energie
seines Trotzes und  seiner Widerborstigkeit in  sich  selbst, verwendete sie
allein dazu, auf zeckenhafte Manier die Epoche der bevorstehenden Eiszeit zu
uberdauern:  zuh,  genugsam, unauffullig,  das Licht der  Lebenshoffnung auf
kleinster, aber  wohlbehuteter  Flamme  haltend.  Er  war nun ein Muster  an
Fugsamkeit, Anspruchslosigkeit  und Arbeitswillen, gehorchte aufs Wort, nahm
mit jeder Speise vorlieb. Abends ließ er sich brav  in  einen seitlich
an die Werkstatt gebauten Verschlag sperren, in dem Gerutschaften aufbewahrt
wurden und eingesalzne Rohhuute  hingen.  Hier schlief  er  auf  dem blanken
gestampften Erdboden. Tagsuber arbeitete  er, solange es hell war, im Winter
acht,  im  Sommer vierzehn, funfzehn,  sechzehn  Stunden:  entfleischte  die
bestialisch  stinkenden  Huute,  wusserte, enthaarte, kalkte,  utzte, walkte
sie, strich sie mit Beizkot ein, spaltete Holz, entrindete Birken und Eiben,
stieg   hinab  in  die   von  beißendem   Dunst  erfullten  Lohgruben,
schichtete, wie es ihm die Gesellen befahlen, Huute und Rinden ubereinander,
streute   zerquetschte   Gallupfel   aus,   uberdeckte   den   entsetzlichen
Scheiterhaufen mit  Eibenzweigen und Erde. Jahre sputer  musste er ihn  dann
wieder ausbuddeln  und die zu  gegerbtem Leder mumifizierten Hautleichen aus
ihrem Grab  holen. Wenn er nicht Huute ein- oder  ausgrub, dann schleppte er
Wasser.  Monatelang schleppte  er Wasser vom Fluss herauf, immer zwei Eimer,
Hunderte  von  Eimern am Tag, denn das Gewerbe verlangte Unmengen von Wasser
zum Waschen, zum Weichen, zum Bruhen, zum Furben. Monatelang hatte er  keine
trockene Faser mehr am Leibe vor lauter Wassertragen, abends troffen ihm die
Kleider von  Wasser, und  seine  Haut  war kalt, weich und aufgeschwemmt wie
Waschleder.
     Nach einem Jahr dieser mehr tierischen  als menschlichen Existenz bekam
er  den  Milzbrand,  eine  gefurchtete  Gerberkrankheit,  die  ublicherweise
tudlich  verluuft. Grimal hatte ihn  schon  abgeschrieben und  sah sich nach
Ersatz um  -  nicht  ohne  Bedauern  ubrigens,  denn einen genugsameren  und
leistungsfuhigeren Arbeiter als diesen Grenouille  hatte er noch nie gehabt.
Entgegen aller  Erwartung jedoch  uberstand  Grenouille die  Krankheit.  Ihm
blieben  nur  die  Narben der  großen schwarzen Karbunkel  hinter  den
Ohren,  am  Hals  und   an   den  Wangen,  die  ihn   entstellten  und  noch
hußlicher  machten,  als er  ohnehin  schon war.  Ihm  blieb  ferner -
unschutzbarer Vorteil - eine Resistenz  gegen den Milzbrand, so  dass er von
nun an  sogar  mit rissigen  und blutigen  Hunden  die  schlechtesten  Huute
entfleischen konnte, ohne Gefahr zu laufen, sich erneut anzustecken. Dadurch
unterschied er sich nicht nur von  den Lehrlingen und Gesellen, sondern auch
von seinen eigenen potentiellen  Nachfolgern. Und weil er  nun nicht mehr so
leicht  zu ersetzen war wie ehedem,  stieg der  Wert seiner Arbeit und damit
der Wert seines Lebens. Plutzlich musste er nicht mehr auf der  nackten Erde
schlafen, sondern  durfte sich im  Schuppen ein Holzlager bauen, bekam Stroh
daraufgeschuttet und eine eigene Decke. Zum  Schlafen  sperrte man ihn nicht
mehr  ein. Das  Essen war  auskummlicher. Grimal  hielt ihn  nicht  mehr wie
irgendein Tier, sondern wie ein nutzliches Haustier.
     Als er zwulf Jahre alt war, gab ihm Grimal den halben Sonntag frei, und
mit dreizehn durfte er sogar wochentags am Abend nach der Arbeit eine Stunde
lang weggehen und  tun, was er  wollte. Er hatte gesiegt, denn er lebte, und
er besaß  ein Quantum von Freiheit, das genugte, um weiterzuleben. Die
Zeit des uberwinterns  war vorbei. Der Zeck Grenouille regte sich wieder. Er
witterte Morgenluft. Die Jagdlust packte ihn. Das grußte Geruchsrevier
der Welt stand ihm offen: die Stadt Paris.


     Es war  wie im  Schlaraffenland. Allein die  nahegelegenen Viertel  von
Saint-Jacques-de-la-Boucherie    und   von    Saint-Eustache    waren    ein
Schlaraffenland.  In  den  Gassen  seitab  der Rue Saint-Denis  und  der Rue
Saint-Martin lebten die Menschen so dicht beieinander, drungte sich  Haus so
eng an Haus, funf, sechs Stockwerke hoch, dass man den Himmel nicht sah  und
die Luft unten am  Boden  wie in  feuchten  Kanulen  stand und  vor Geruchen
starrte. Es mischten sich  Menschen-  und Tiergeruche, Dunst  von  Essen und
Krankheit, von  Wasser  und  Stein  und  Asche  und  Leder,  von  Seife  und
frischgebackenem Brot und von Eiern, die man in Essig kochte, von Nudeln und
blankgescheuertem Messing, von  Salbei  und  Bier  und Trunen, von  Fett und
nassem und trockenem  Stroh. Tausende und Abertausende von Geruchen bildeten
einen unsichtbaren Brei, der die Schluchten  der  Gassen anfullte, sich uber
den Duchern nur selten, unten  am Boden niemals verfluchtigte. Die Menschen,
die dort lebten, rochen in diesem Brei nichts Besonderes mehr; er war ja aus
ihnen entstanden und  hatte sie wieder und wieder durchtrunkt, er war ja die
Luft, die sie atmeten und von der sie lebten, er war wie eine  langgetragene
warme Kleidung, die man nicht mehr riecht und nicht mehr auf der Haut spurt.
Grenouille aber roch alles  wie zum  ersten  Mal. Und er roch nicht nur  die
Gesamtheit dieses Duftgemenges,  sondern er  spaltete es  analytisch  auf in
seine  kleinsten und  entferntesten Teile  und  Teilchen. Seine  feine  Nase
entwirrte  das  Knuuel   aus  Dunst  und  Gestank  zu  einzelnen  Fuden  von
Grundgeruchen,  die  nicht  mehr  weiter  zerlegbar  waren.  Es  machte  ihm
unsugliches Vergnugen, diese Fuden aufzudruseln und aufzuspinnen.
     Oft blieb er stehen, an eine Hausmauer gelehnt oder in eine dunkle Ecke
gedrungt,   mit  geschlossenen  Augen,  halbgeuffnetem  Mund  und  gebluhten
Nustern, still wie  ein  Raubfisch  in einem großen,  dunklen, langsam
fließenden  Wasser. Und wenn endlich ein  Lufthauch ihm das Ende eines
zarten  Duftfadens  zuspielte, dann stieß  er zu und ließ  nicht
mehr los, dann roch er nichts mehr  als diesen einen Geruch, hielt ihn fest,
zog ihn in sich hinein und bewahrte ihn in sich fur alle Zeit. Es mochte ein
altbekannter Geruch sein oder eine Variation davon, es konnte  aber auch ein
ganz  neuer  sein,  einer,  der kaum oder gar  keine uhnlichkeit  mit  allem
besaß, was er bis dahin gerochen, geschweige  denn gesehen hatte:  der
Geruch von gebugelter  Seide  etwa;  der Geruch eines Tees von  Quendel, der
Geruch  eines Stucks silberbestickten  Brokats, der Geruch eines Korkens aus
einer  Flasche  mit seltenem Wein, der  Geruch eines Schildpattkamms. Hinter
solchen ihm noch unbekannten Geruchen war  Grenouille  her, sie jagte er mit
der Leidenschaft und Geduld eines Anglers und sammelte sie in sich.
     Wenn er sich am dicken Brei  der Gassen sattgerochen hatte,  ging er in
luftigeres Gelunde, wo die  Geruche dunner waren, sich mit Wind  vermischten
und entfalteten, fast wie ein Parfum: auf den  Platz der Hallen etwa,  wo in
den Geruchen abends noch  der  Tag fortlebte, unsichtbar,  aber so deutlich,
als  wuselten  da noch  im  Gedrunge  die  Hundler, als stunden da  noch die
vollgepackten  Kurbe  mit Gemuse und Eiern, die Fusser voll Wein und  Essig,
die Sucke  mit Gewurzen und  Kartoffeln und Mehl, die  Kusten mit Nugeln und
Schrauben,  die Fleischtische, die Tische voll von Stoffen  und Geschirr und
Schuhsohlen  und all  den hundert undern  Dingen, die dort tagsuber verkauft
wurden... das ganze Getriebe war  bis in die kleinste Einzelheit  prusent in
der  Luft,  die  es  hinterlassen  hatte.  Grenouille sah  den ganzen  Markt
riechend, wenn man so sagen kann. Und  er  roch ihn genauer, als mancher ihn
sehen  kunnte, denn er  nahm  ihn im nachhinein wahr und  deshalb auf huhere
Weise: als  Essenz, als  den Geist von  etwas Gewesenem, der nicht durch die
ublichen  Attribute der  Gegenwart  gesturt war,  alsda  sind  der Lurm, das
Grelle, das eklige Aneinander der leibhaftigen Menschen.
     Oder er ging dorthin,  wo man seine Mutter gekupft hatte,  zur Place de
Greve, die wie eine große Zunge in den Fluss hineinleckte. Hier lagen,
ans Ufer gezogen oder an Pfosten vertuut, die  Schiffe und rochen nach Kohle
und Korn und Heu und feuchten Tauen.
     Und  von  Westen  her kam durch diese  einzige Schneise, die der  Fluss
durch die Stadt schnitt, ein breiter Windstrom und brachte  Geruche vom Land
her, von den Wiesen bei Neuilly, von  den Wuldern zwischen Saint-Germain und
Versailles,  von  weit entfernt gelegenen  Studten wie Rouen oder  Caen  und
manchmal sogar vom Meer. Das Meer roch wie ein gebluhtes Segel,  in dem sich
Wasser, Salz  und eine  kalte  Sonne  fingen. Es roch simpel, das Meer, aber
zugleich  roch  es groß und  einzigartig, so dass  Grenouille zugerte,
seinen Geruch  aufzuspalten in  das Fischige, das Salzige, das Wussrige, das
Tangige,  das Frische und so weiter. Er  ließ den  Geruch  des  Meeres
lieber  beisammen, verwahrte  ihn als  ganzes im Geduchtnis und  genoss  ihn
ungeteilt. Der  Geruch des Meeres gefiel ihm so gut, dass er  sich wunschte,
ihn einmal  rein und unvermischt und in solchen Mengen zu  bekommen, dass er
sich dran besaufen  kunnte. Und sputer,  als er  aus Erzuhlungen erfuhr, wie
groß das Meer sei  und dass  man  darauf  tagelang mit Schiffen fahren
konnte, ohne Land zu sehen, da war ihm nichts lieber als die Vorstellung, er
suße auf so einem Schiff, hoch oben  im Korb auf dem vordersten  Mast,
und fluge dahin  durch den unendlichen Geruch  des Meeres, der ja eigentlich
gar kein Geruch war, sondern ein Atem, ein Ausatmen, das Ende aller Geruche,
und  luse sich  auf vor  Vergnugen in  diesem Atem. Aber dahin sollte es nie
kommen, denn Grenouille,  der  an  der Place  de  Greve  am  Ufer  stand und
mehrmals einen  kleinen Fetzen Meerwind,  den er in die Nase bekommen hatte,
aus- und einatmete, sollte das Meer,  das eigentliche Meer, den großen
Ozean, der  im Westen  lag, in seinem  Leben niemals sehen  und sich nie mit
diesem Geruch vermischen durfen.
     Das  Viertel zwischen Saint-Eustache  und  dem Hotel de  Ville hatte er
bald  so  genau  durchrochen, dass  er sich darin bei  stockfinsterer  Nacht
zurechtfand. Und  so dehnte er sein Jagdgebiet aus, zunuchst nach Westen hin
zum  Faubourg  Saint-Honore,  dann  die Rue  Saint-Antoine  hinauf  bis  zur
Bastille,  und schließlich  sogar auf die  andere  Seite  des  Flusses
hinuber in  das  Sorbonneviertel und in den Faubourg  Saint-Germain, wo  die
reichen Leute wohnten. Durch  die Eisengitter der Toreinfahrten roch es nach
Kutschenleder  und nach dem Puder in den  Perucken  der  Pagen, und uber die
hohen Mauern  hinweg  strich aus  den Gurten der  Duft  des Ginsters und der
Rosen  und  der  frisch  geschnittenen  Liguster.  Hier  war  es  auch, dass
Grenouille  zum ersten Mal Parfums  im  eigentlichen  Sinn des  Wortes roch:
einfache Lavendel-  oder  Rosenwusser, mit denen bei festlichen Anlussen die
Springbrunnen der Gurten gespeist wurden, aber  auch  komplexere, kostbarere
Dufte  von Moschustinktur  gemischt mit  dem  ul  von Neroli  und  Tuberose,
Joncquille,  Jasmin oder Zimt, die abends wie ein  schweres Band  hinter den
Equipagen  herwehten. Er registrierte diese  Dufte, wie  er  profane Geruche
registrierte, mit Neugier, aber ohne  besondere Bewunderung. Zwar merkte er,
dass  es  die Absicht  der Parfums war, berauschend und anziehend zu wirken,
und er erkannte die Gute  der einzelnen Essenzen,  aus denen  sie bestanden.
Aber  als  ganzes  erschienen  sie  ihm  doch  eher  grob  und  plump,  mehr
zusammengepanscht  als  komponiert,  und  er  wusste,  dass er  ganz  andere
Wohlgeruche  wurde  herstellen  kunnen,  wenn  er  nur  uber   die  gleichen
Grundstoffe verfugte.
     Viele  dieser   Grundstoffe  kannte  er  schon  von  den  Blumen-   und
Gewurzstunden des Marktes her; andere  waren ihm neu,  und diese filterte er
aus den Duftgemischen heraus und bewahrte sie namenlos im Geduchtnis: Amber,
Zibet,  Patschuli,   Sandelholz,  Bergamotte,  Vetiver,  Opoponax,   Benzoe,
Hopfenblute, Bibergeil...
     Wuhlerisch ging  er nicht  vor. Zwischen dem, was  landluufig als guter
oder schlechter Geruch bezeichnet  wurde, unterschied  er nicht, noch nicht.
Er war  gierig. Das Ziel  seiner Jagden bestand darin, schlichtweg  alles zu
besitzen,  was  die  Welt  an Geruchen  zu  bieten  hatte, und  die  einzige
Bedingung war, dass die Geruche neu seien. Der Duft eines schweißenden
Pferds   galt  ihm  ebensoviel  wie  der  zarte  grune  Geruch  schwellender
Rosenknospen, der stechende Gestank einer Wanze nicht weniger als der  Dunst
von gespicktem  Kalbsbraten, der  aus den  Herrschaftskuchen  quoll.  Alles,
alles  fraß  er,   saugte   er  in   sich  hinein.  Und  auch  in  der
synthetisierenden  Geruchskuche  seiner Phantasie, in  der  er stundig  neue
Duftkombinationen zusammenstellte, herrschte noch kein usthetisches Prinzip.
Es  waren Bizarrerien, die  er schuf und alsbald wieder  zersturte  wie  ein
Kind,  das  mit Bauklutzen  spielt,  erfindungsreich  und  destruktiv,  ohne
erkennbares schupferisches Prinzip.


     Am 1. September 1753,  dem  Jahrestag  der  Thronbesteigung des Kunigs,
ließ die Stadt  Paris am Pont  Royal ein  Feuerwerk  abbrennen. Es war
nicht  so  spektakulur wie das Feuerwerk zur  Feier  der  Verehelichung  des
Kunigs oder wie jenes legendure Feuerwerk aus Anlass der Geburt des Dauphin,
aber  es war immerhin ein sehr beeindruckendes Feuerwerk. Man hatte  goldene
Sonnenruder auf die  Masten  der Schiffe  montiert. Von  der  Brucke  spieen
sogenannte  Feuerstiere  einen  brennenden  Sternenregen  in den Fluss.  Und
wuhrend alluberall unter betuubendem Lurm Petarden platzten und Knallfrusche
uber  das Pflaster  zuckten,  stiegen  Raketen  in  den  Himmel  und  malten
weiße Lilien an das schwarze Firmament. Eine vieltausendkupfige Menge,
welche  sowohl  auf  der Brucke als auch auf den Quais zu beiden Seiten  des
Flusses versammelt  war, begleitete  das Spektakel mit begeisterten  Ahs und
Ohs  und  Bravos und sogar mit  Vivats - obwohl der Kunig seinen Thron schon
vor  achtunddreißig  Jahren   bestiegen   und  den  Huhepunkt   seiner
Beliebtheit lungst uberschritten hatte. So viel vermag ein Feuerwerk.
     Grenouille stand stumm im  Schatten des Pavillon  de Flore, am  rechten
Ufer, dem Pont Royal gegenuber. Er ruhrte keine Hand zum Beifall, er schaute
nicht  einmal hin, wenn die  Raketen  aufstiegen.  Er war gekommen,  weil er
glaubte,  irgend etwas Neues  erschnuppern  zu  kunnen, aber es stellte sich
bald heraus, dass das Feuerwerk geruchlich nichts zu bieten hatte. Was da in
verschwenderischer  Vielfalt funkelte  und  spruhte und  krachte und  pfiff,
hinterließ  ein  huchst  eintuniges Duftgemisch  von  Schwefel, ul und
Salpeter.
     Er war schon im Begriff, die langweilige Veranstaltung zu verlassen, um
an der Galerie des Louvre entlang heimwurts zu gehen, als ihm der Wind etwas
zutrug, etwas Winziges, kaum Merkliches, ein Bruselchen, ein Duftatom, nein,
noch weniger: eher die Ahnung eines Dufts als einen tatsuchlichen Duft - und
zugleich  doch die sichere  Ahnung  von etwas Niegerochenem.  Er trat wieder
zuruck an die Mauer, schloss  die Augen und bluhte die Nustern. Der Duft war
so  ausnehmend  zart und  fein,  dass er ihn nicht festhalten konnte,  immer
wieder entzog  er sich  der Wahrnehmung, wurde verdeckt vom  Pulverdampf der
Petarden, blockiert von den  Ausdunstungen  der Menschenmassen,  zerstuckelt
und  zerrieben  von  den  tausend  andren  Geruchen der  Stadt.  Aber  dann,
plutzlich, war er wieder da, ein kleiner Fetzen nur, eine kurze Sekunde lang
als herrliche  Andeutung zu riechen...  und  verschwand  alsbald. Grenouille
litt Qualen. Zum ersten  Mal war es nicht nur sein  gieriger Charakter,  dem
eine  Krunkung  widerfuhr,  sondern  tatsuchlich sein  Herz,  das  litt. Ihm
schwante  sonderbar, dieser Duft sei der Schlussel zur Ordnung aller anderen
Dufte,  man habe nichts  von den Duften verstanden,  wenn  man  diesen einen
nicht verstand, und er Grenouille, hutte sein Leben verpfuscht, wenn es  ihm
nicht gelunge, diesen einen  zu  besitzen. Er musste ihn haben, nicht um des
schieren Besitzes, sondern um der Ruhe seines Herzens willen.
     Ihm  wurde  fast  schlecht  vor Aufregung.  Er hatte noch nicht  einmal
herausbekommen,  aus  welcher  Richtung  der  Duft  uberhaupt kam.  Manchmal
dauerten  die Intervalle,  ehe  ihm  wieder  ein  Fetzchen  zugeweht  wurde,
minutenlang, und jedesmal uberfiel  ihn die grußliche  Angst, er hutte
ihn  auf  immer  verloren. Endlich  rettete  er  sich in  den  verzweifelten
Glauben,  der  Duft  komme  vom  anderen Ufer des  Flusses, irgendwoher  aus
sudustlicher Richtung.
     Er luste sich  von  der Mauer des Pavillon  de  Flore,  tauchte  in die
Menschenmenge ein  und  bahnte sich seinen  Weg uber  die Brucke. Alle  paar
Schritte blieb  er  stehen,  stellte sich auf die Zehenspitzen,  um uber die
Kupfe  der  Menschen  hinwegzuschnuppern,  roch  zunuchst nichts vor  lauter
Erregung, roch dann endlich doch etwas, erschnupperte sich den Duft, sturker
sogar als zuvor, wusste sich auf der richtigen Fuhrte, tauchte unter, wuhlte
sich  weiter  durch  die  Menge der Gaffer und  der  Feuerwerker,  die  alle
Augenblicke  ihre Fackeln  an die  Lunten  der  Raketen  hielten,  verlor im
beißenden Qualm  des Pulvers seinen Duft, geriet in Panik, stieß
und  rempelte  weiter und wuhlte sich fort, erreichte nach  endlosen Minuten
das andere Ufer, das Hotel de Mailly, den Quai Malaquest, die Einmundung der
Rue de Seine...
     Hier  blieb er stehen, sammelte sich und roch.  Er  hatte ihn. Er hielt
ihn  fest.  Wie  ein  Band  kam  der Geruch die  Rue de  Seine herabgezogen,
unverwechselbar  deutlich,  dennoch  weiterhin  sehr  zart  und  sehr  fein.
Grenouille  spurte, wie sein Herz pochte, und  er  wusste, dass es nicht die
Anstrengung  des Laufens war,  die  es pochen machte, sondern seine  erregte
Hilflosigkeit  vor der  Gegenwart  dieses  Geruches.  Er versuchte,  sich an
irgend  etwas   Vergleichbares   zu  erinnern  und  musste  alle  Vergleiche
verwerfen. Dieser Geruch hatte Frische;  aber nicht die Frische der Limetten
oder  Pomeranzen,  nicht   die  Frische  von  Myrrhe   oder  Zimtblatt  oder
Krauseminze oder Birken oder Kampfer oder Kiefernnadeln, nicht  von Mairegen
oder  Frostwind oder von  Quellwasser..., und er hatte zugleich Wurme;  aber
nicht wie Bergamotte, Zypresse oder  Moschus, nicht wie Jasmin und Narzisse,
nicht wie Rosenholz  und nicht wie Iris... Dieser  Geruch war eine  Mischung
aus beidem, aus Fluchtigem und Schwerem, keine Mischung davon, eine Einheit,
und dazu gering und schwach  und  dennoch solid  und tragend, wie ein  Stuck
dunner  schillernder Seide... und  auch wieder nicht wie  Seide, sondern wie
honigsuße Milch, in der sich Biskuit lust -  was  j  a nun beim besten
Willen  nicht zusammenging:  Milch  und  Seide!  Unbegreiflich  dieser Duft,
unbeschreiblich,  in keiner Weise einzuordnen, es  durfte ihn eigentlich gar
nicht  geben.  Und doch  war er  da  in herrlichster Selbstverstundlichkeit.
Grenouille  folgte ihm,  mit bunglich pochendem Herzen, denn  er ahnte, dass
nicht er  dem Duft folgte, sondern dass der  Duft ihn gefangengenommen hatte
und nun unwiderstehlich zu sich zog.
     Er ging die  Rue de Seine hinauf. Niemand war auf der Straße. Die
Huuser  standen  leer  und still.  Die  Leute  waren  unten  am  Fluss  beim
Feuerwerk.  Kein  hektischer  Menschengeruch  sturte,  kein  beißender
Pulvergestank. Die Straße duftete nach den ublichen Duften von Wasser,
Kot, Ratten  und  Gemuseabfall.  Daruber aber schwebte zart und deutlich das
Band,  das  Grenouille  leitete.  Nach  wenigen  Schritten  war  das  wenige
Nachtlicht  des  Himmels von den hohen  Huusern verschluckt,  und Grenouille
ging weiter im Dunkeln. Er  brauchte nichts zu sehen. Der  Geruch fuhrte ihn
sicher.
     Nach funfzig  Metern bog er  rechts  ab in  die  Rue  des Marais,  eine
womuglich noch dunklere, kaum eine Armspanne breite  Gasse. Sonderbarerweise
wurde der Duft nicht  sehr viel  sturker. Er wurde nur reiner,  und dadurch,
durch  seine  immer grußer  werdende Reinheit,  bekam  er  eine  immer
muchtigere  Anziehungskraft. Grenouille ging ohne  eigenen  Willen. An einer
Stelle zog ihn der Geruch  hart nach  rechts,  scheinbar mitten in die Mauer
eines Hauses hinein. Ein niedriger Gang  tat  sich auf, der in den Hinterhof
fuhrte.  Traumwandlerisch durchschritt Grenouille diesen  Gang, durchschritt
den Hinterhof,  bog um  eine  Ecke,  gelangte  in  einen zweiten,  kleineren
Hinterhof,  und  hier nun  endlich war Licht: Der Platz umfasste  nur wenige
Schritte im Geviert. An der  Mauer sprang  ein  schruges  Holzdach  vor. Auf
einem Tisch darunter  klebte  eine  Kerze. Ein  Mudchen  saß an diesem
Tisch und putzte  Mirabellen. Sie nahm die Fruchte aus  einem Korb zu  ihrer
Linken,  entstielte und entkernte sie mit einem Messer und ließ sie in
einen Eimer fallen. Sie mochte dreizehn, vierzehn Jahre alt sein. Grenouille
blieb stehen. Er wusste sofort, was die Quelle des Duftes war,  den  er uber
eine halbe Meile hinweg bis  ans  andere  Ufer  des Flusses  gerochen hatte:
nicht dieser schmuddelige  Hinterhof, nicht die  Mirabellen.  Die Quelle war
das Mudchen.
     Fur  einen Moment  war er  so verwirrt, dass er tatsuchlich dachte,  er
habe in seinem Leben noch nie etwas so Schunes gesehen  wie dieses  Mudchen.
Dabei  sah  er  nur ihre Silhouette von  hinten gegen  die Kerze.  Er meinte
naturlich,  er  habe noch  nie  so  etwas Schunes gerochen. Aber  da er doch
Menschengeruche   kannte,  viele  Tausende,  Geruche  von  Munnern,  Frauen,
Kindern,  wollte  er  nicht begreifen,  dass  ein  so  exquisiter Duft einem
Menschen entstrumen konnte. ublicherweise rochen  Menschen nichtssagend oder
miserabel. Kinder rochen fad, Munner urinus, nach scharfem Schweiß und
Kuse,   Frauen  nach   ranzigem  Fett   und  verderbendem   Fisch.  Durchaus
uninteressant, abstoßend rochen  die  Menschen... Und so  geschah  es,
dass Grenouille zum ersten Mal in seinem  Leben seiner Nase nicht traute und
die   Augen  zuhilfe  nehmen  musste,  um  zu  glauben,  was  er  roch.  Die
Sinnesverwirrung  dauerte  freilich nicht lange. Es  war tatsuchlich nur ein
Augenblick,  den er benutigte,  um  sich  optisch zu  vergewissern und  sich
alsdann   desto   ruckhaltloser  den   Wahrnehmungen   seines   Geruchssinns
hinzugeben. Nun roch  er, dass sie  ein  Mensch war, roch  den Schweiß
ihrer Achseln, das  Fett ihrer Haare, den Fischgeruch ihres Geschlechts, und
roch mit grußtem Wohlgefallen. Ihr Schweiß duftete so frisch wie
Meerwind, der Talg ihrer Haare  so  suß wie Nussul, ihr Geschlecht wie
ein  Bouquet  von  Wasserlilien,  die Haut wie  Aprikosenblute...,  und  die
Verbindung  all dieser Komponenten ergab ein Parfum so reich, so balanciert,
so zauberhaft, dass alles, was Grenouille bisher an Parfums gerochen, alles,
was er  selbst in seinem Innern an  Geruchsgebuuden  spielerisch  erschaffen
hatte, mit einem Mal zu schierer Sinnlosigkeit verkam. Hunderttausend  Dufte
schienen  nichts mehr wert vor diesem einen Duft. Dieser eine war das huhere
Prinzip, nach  dessen Vorbild  sich die undern ordnen  mussten.  Er war  die
reine Schunheit.
     Fur  Grenouille stand fest, dass ohne den  Besitz des Duftes sein Leben
keinen  Sinn mehr hatte.  Bis in die kleinste Einzelheit,  bis in die letzte
zarteste Verustelung  musste  er  ihn kennenlernen; die bloße komplexe
Erinnerung  an ihn  genugte nicht. Er wollte wie mit einem  Prugestempel das
apotheotische Parfum  ins  Kuddelmuddel seiner schwarzen  Seele pressen,  es
haargenau erforschen  und fortan nur noch nach den inneren Strukturen dieser
Zauberformel denken, leben, riechen.
     Er ging langsam auf das Mudchen zu, immer nuher, trat unter das Vordach
und blieb einen Schritt hinter ihr stehen. Sie hurte ihn nicht.
     Sie hatte rote Haare  und trug ein graues Kleid ohne urmel.  Ihre  Arme
waren  sehr  weiß und ihre Hunde gelb  vom Saft  der  aufgeschnittenen
Mirabellen. Grenouille stand  uber  sie  gebeugt  und  sog  ihren Duft jetzt
vullig unvermischt ein, so wie er aufstieg  von ihrem Nacken, ihren  Haaren,
aus  dem Ausschnitt ihres Kleides, und ließ ihn in  sich hineinstrumen
wie einen sanften Wind. Ihm  war noch nie so wohl gewesen. Dem Mudchen  aber
wurde es kuhl.
     Sie  sah  Grenouille  nicht. Aber  sie  bekam  ein  banges Gefuhl,  ein
sonderbares Frusteln,  wie man es bekommt, wenn  einen plutzlich  eine  alte
abgelegte  Angst befullt.  Ihr war, als  herrsche da ein kalter Zug in ihrem
Rucken,  als  habe  jemand  eine   Ture  aufgestoßen,   die  in  einen
riesengroßen kalten Keller fuhrt. Und sie  legte ihr Kuchenmesser weg,
zog die Arme an die Brust und wandte sich um.
     Sie war so starr vor Schreck, als sie ihn sah, dass er viel Zeit hatte,
ihr seine  Hunde um den Hals zu legen. Sie  versuchte keinen  Schrei, ruhrte
sich nicht, tat keine abwehrende  Bewegung. Er seinerseits sah sie nicht an.
Ihr  feines  sommersprossenubersprenkeltes  Gesicht,  den  roten  Mund,  die
großen  funkelnd grunen Augen sah  er nicht, denn er hielt seine Augen
fest geschlossen, wuhrend er sie wurgte, und  hatte nur die eine Sorge,  von
ihrem Duft nicht das geringste zu verlieren.
     Als  sie  tot  war,  legte  er  sie   auf  den  Boden  mitten  in   die
Mirabellenkerne, riss ihr Kleid auf, und  der Duftstrom wurde zur Flut,  sie
uberschwemmte  ihn  mit  ihrem  Wohlgeruch. Er sturzte sein Gesicht auf ihre
Haut und fuhr mit weitgebluhten Nustern von  ihrem Bauch zurBrust, zum Hals,
in ihr  Gesicht  und durch die  Haare und  zuruck zum  Bauch,  hinab an  ihr
Geschlecht, an ihre Schenkel, an ihre weißen Beine. Er roch sie ab vom
Kopf bis an die Zehen, er sammelte die letzten Reste ihres Dufts am Kinn, im
Nabel und in den Falten ihrer Armbeuge.
     Als  er sie welkgerochen  hatte,  blieb  er noch eine  Weile  neben ihr
hocken, um sich zu versammeln, denn  er  war ubervoll  von  ihr.  Er  wollte
nichts von  ihrem Duft verschutten. Erst musste er die innern Schotten dicht
verschließen. Dann stand er auf und blies die Kerze aus...... Um diese
Zeit  kamen die ersten  Heimkehrer singend und vivatrufend die Rue  de Seine
herauf. Grenouille roch sich im Dunkeln auf die Gasse und zur Rue des Petits
Augustins  hinuber, die parallel zur Rue  de  Seine  zum Fluss fuhrte. Wenig
sputer  entdeckte  man   die  Tote.  Geschrei  erhob  sich.  Fackeln  wurden
angezundet. Die Wache kam. Grenouille war lungst am anderen Ufer.
     In dieser Nacht erschien  ihm sein Verschlag wie  ein  Palast und seine
Bretterpritsche wie ein Himmelbett. Was Gluck sei, hatte er in  seinem Leben
bisher  nicht  erfahren.  Er  kannte  allenfalls  sehr seltene Zustunde  von
dumpfer  Zufriedenheit.  Jetzt aber zitterte  er vor  Gluck und  konnte  vor
lauter  Gluckseligkeit nicht schlafen. Ihm war, als wurde er zum zweiten Mal
geboren, nein, nic  ht zum zweiten,  zum ersten  Mal,  denn bisher hatte  er
bloß animalisch existiert in  huchst nebuluser Kenntnis seiner selbst.
Mit dem heutigen Tag aber schien ihm, als wisse er  endlich, wer er wirklich
sei: numlich nichts anderes als  ein  Genie; und dass  sein  Leben Sinn  und
Zweck und Ziel und huhere Bestimmung habe:  numlich keine geringere, als die
Welt der Dufte zu revolutionieren; und dass er allein auf der Welt dazu alle
Mittel besitze:  numlich seine exquisite Nase, sein phunomenales  Geduchtnis
und, als Wichtigstes  von allem, den  prugenden Duft dieses Mudchens aus der
Rue des  Marais, in  welchem zauberformelhaft alles enthalten war, was einen
großen  Duft,  was  ein  Parfum  ausmachte:  Zartheit,  Kraft,  Dauer,
Vielfalt und erschreckende, unwiderstehliche Schunheit. Er hatte den Kompass
fur sein  kunftiges Leben  gefunden. Und wie  alle genialen Scheusale, denen
durch ein uußeres Ereignis ein gerades Geleis  ins Spiralenchaos ihrer
Seelen  gelegt  wird,  wich Grenouille von  dem, was  er als Richtung seines
Schicksals erkannt zu haben glaubte, nicht  mehr ab.  Jetzt  wurde ihm klar,
weshalb er so zuh und verbissen  am  Leben hing: Er musste ein  Schupfer von
Duften sein. Und nicht nur  irgendeiner.  Sondern der grußte Parfumeur
aller Zeiten.
     Noch in derselben Nacht inspizierte er, wachend erst und dann im Traum,
das  riesige  Trummerfeld  seiner  Erinnerung. Er prufte  die Millionen  und
Abermillionen  von  Duftbauklutzen  und  brachte sie  in eine  systematische
Ordnung: Gutes zu Gutem, Schlechtes  zu Schlechtem, Feines zu Feinem, Grobes
zu Grobem, Gestank zu Gestank, Ambrosisches  zu Ambrosischem. Im Verlauf der
nuchsten Woche wurde diese Ordnung immer feiner, der Katalog der Dufte immer
reichhaltiger und differenzierter, die Hierarchie immer deutlicher. Und bald
schon konnte er beginnen, die ersten planvollen Geruchsgebuude aufzurichten:
Huuser, Mauern,  Stufen,  Turme, Keller, Zimmer,  geheime  Gemucher...  eine
tuglich sich  erweiternde, tuglich sich  verschunende und perfekter  gefugte
innere Festung der  herrlichsten  Duftkompositionen. Dass  am Anfang  dieser
Herrlichkeit  ein  Mord  gestanden  hatte, war ihm, wenn  uberhaupt bewusst,
vollkommen gleichgultig. An das Bild des Mudchens aus der Rue des Marais, an
ihr Gesicht, an  ihren Kurper, konnte er sich schon nicht mehr erinnern.  Er
hatte ja das Beste von ihr aufbewahrt und sich zu eigen gemacht: das Prinzip
ihres Dufts.


     Zu jener Zeit gab  es in Paris ein gutes Dutzend  Parfumeure. Sechs von
ihnen lebten  am rechten  Ufer,  sechs  am linken Ufer,  und  einer  akkurat
dazwischen, numlich auf dem Pont au Change, welcher das rechte Ufer  mit der
Ile  de  la Citu verband.  Diese Brucke war  zu  beiden Seiten so  dicht mit
vierstuckigen  Huusern  bebaut, dass  man  beim uberschreiten  den Fluss  an
keiner Stelle zu  Gesicht bekam, sondern sich auf einer  ganz normalen, fest
fundierten  und obendrein  noch uußerst eleganten Straße wuhnte.
In der  Tat galt der Pont au Change  fur eine der feinsten Geschuftsadressen
der Stadt. Hier  befanden sich die renommiertesten  Luden,  hier saßen
die Goldschmiede, die Ebenisten, die besten Peruckenmacher und Taschner, die
Verfertiger feinster Dessous und Strumpfe, Rahmenmacher, Reitstiefelhundler,
Epaulettensticker,  Goldknupfegießer und  Bankiers.  Und hier lag auch
das Geschufts- und  Wohnhaus  des Parfumeurs  und Handschuhmachers  Giuseppe
Baldini. uber  sein  Schaufenster spannte sich ein pruchtiger grunlackierter
Baldachin, daneben hing Baldinis  Wappen, ganz in Gold, ein goldener Flacon,
aus dem ein Strauß von goldenen Blumen wuchs, und vor der Ture lag ein
roter Teppich,  der ebenfalls  Baldinis  Wappen trug, als goldene Stickerei.
uffnete  man  die Ture, dann  erklang ein persisches  Glockenspiel, und zwei
silberne  Reiher  begannen,  aus  ihren  Schnubeln  Veilchenwasser  in  eine
vergoldete Schale  zu speien, die  ihrerseits  die  Flakonform  von Baldinis
Wappen besaß.
     Hinter dem Kontor aus hellem  Buchsbaum  aber stand Baldini selbst, alt
und  starr  wie   eine  Suule,   in  silberbepuderter   Perucke  und  blauem
goldbetresstem  Rock.  Eine  Wolke  von  Frangipaniwasser,  mit dem  er sich
allmorgendlich  bespruhte,  umgab ihn  geradezu sichtbar  und  ruckte  seine
Person in nebelhafte Ferne.  In seiner Unbeweglichkeit sah  er aus wie  sein
eignes Inventar. Nur wenn das Glockenspiel erklang und wenn die Reiher spien
- beides  geschah nicht allzu oft -,  wurde plutzlich  Leben in ihn  kommen,
wurde  seine Gestalt in  sich zusammensinken, klein  und wuselig werden  und
unter vielen Bucklingen hinter dem Kontor hervorgesaust kommen,  so schnell,
dass die  Frangipaniwasserwolke kaum zu  folgen  vermuchte,  und den  Kunden
bitten, Platz zu nehmen zur Vorfuhrung erlesenster Dufte und Kosmetika.
     Baldini  hatte  deren  Tausende.  Sein  Angebot  reichte  von  Essences
absolues, Blutenulen, Tinkturen, Auszugen,  Sekreten,  Balsamen,  Harzen und
sonstigen  Drogen  in  trockener,  flussiger oder  wachsartiger  Form,  uber
diverse  Pomaden,   Pasten,  Puder,  Seifen,  Cremes,  Sachets,  Bandolinen,
Brillantinen, Bartwichsen, Warzentropfen  und Schunheitspflusterchen bis hin
zu Badewussern,  Lotionen,  Riechsalzen,  Toilettenessigen  und einer Unzahl
echter Parfums. Doch Baldini  begnugte sich  nicht mit diesen  Produkten der
klassischen Schunheitspflege.  Sein  Ehrgeiz  bestand darin, in seinem Laden
alles  zu versammeln,  was  irgendwie duftete oder in  irgendeiner Weise dem
Duft  diente. Und so fanden sich neben  Ruucherpastillen,  Ruucherkerzen und
Ruucherbundern  auch  sumtliche  Gewurze vom  Anissamen bis  zur  Zimtrinde,
Sirups, Likure und Obstwusser, Weine aus Zypern, Malaga und Korinth, Honige,
Kaffees,  Tees,   getrocknete  und   kandierte   Fruchte,  Feigen,  Bonbons,
Schokoladen,  Maronen, ja sogar eingelegte Kapern,  Gurken und Zwiebeln  und
marinierter Thunfisch.  Und  dann wieder  duftender Siegellack, parfumiertes
Briefpapier,   nach   Rosenul   riechende  Liebestinte,  Schreibmappen   aus
spanischem  Leder,  Federhalter aus weißem  Sandelholz,  Kustchen  und
Truhen   aus  Zedernholz,   Potpourris  und   Schalen   fur   Blutenblutter,
Weihrauchbehulter  aus  Messing, Flakons  und Tiegelchen  aus  Kristall  mit
geschliffenen Stupseln  aus Bernstein, riechende  Handschuhe, Taschentucher,
mit Muskatblute  gefullte  Nuhnadelkissen und  moschusbedampfte Tapeten, die
ein Zimmer lunger als einhundert Jahre mit Duft erfullen konnten.
     Naturlich hatten all  diese Waren nicht  im pompusen,  zur Straße
(oder zur Brucke) hin gelegenen Laden Platz,  und so mussten, in  Ermanglung
eines Kellers,  nicht nur der Speicher des Hauses, sondern der gesamte erste
und  zweite Stock  sowie fast  sumtliche zum Fluss hin  gelegenen  Ruume des
Erdgeschosses als Lager dienen. Die Folge davon  war,  dass im Hause Baldini
ein unbeschreibliches  Chaos von  Duften herrschte. So erlesen  die Qualitut
der  einzelnen Produkte war - denn Baldini kaufte nur allererste Qualitut -,
so  unertruglich   war   ihr  geruchlicher   Zusammenklang,   gleich   einem
tausendkupfigen  Orchester,  in  welchem  jeder  Musiker  eine andre Melodie
fortissimo spielt. Baldini selbst und seine Angestellten waren  gegen dieses
Chaos abgestumpft wie alternde Dirigenten, die ja sumtlich schwerhurig sind,
und auch seine Frau,  die im dritten Stock wohnte und diesen erbittert gegen
ein weiteres Vordringen der Lagerruume verteidigte,  nahm die vielen Geruche
kaum noch  als sturend wahr. Anders der Kunde, der  zum  ersten Mal Baldinis
Laden betrat.  Ihm schlug  das herrschende  Duftgemisch  wie eine Faust  ins
Gesicht,  machte  ihn,  je  nach  Konstitution,  exaltiert   oder  benommen,
verwirrte in jedem Falle seine Sinne derart,  dass er oft nicht mehr wusste,
weshalb  er  uberhaupt  gekommen   war.   Laufburschen  vergaßen  ihre
Bestellungen. Trutzigen Herren wurde es mulmig. Und manche Dame erlitt einen
halb  hysterischen, halb klaustrophobischen  Anfall,  sank  in Ohnmacht  und
konnte  nur  noch  mit  schurfstem  Riechsalz  aus  Nelkenul,  Ammoniak  und
Kampfersprit wiederhergestellt werden.
     Unter diesen Umstunden war es eigentlich  nicht verwunderlich, dass das
persische  Glockenspiel  von  Giuseppe  Baldinis  Ladenture  immer  seltener
erklang und die silbernen Reiher immer seltener spien.


     "Chenier!" rief Baldini  hinter dem  Kontor hervor, wo er seit  Stunden
suulenstarr  gestanden und  die  Ture  angestarrt hatte,  "ziehen  Sie  Ihre
Perucke an!" Und zwischen Olivenulfussern und hungenden Schinken aus Bayonne
erschien Chenier, Baldinis Geselle, etwas junger als dieser, aber auch schon
ein alter  Mann,  und kam nach vorn in die feinere Abteilung  des Ladens. Er
zog  seine  Perucke aus der Rocktasche und stulpte sie sich uber. "Sie gehen
aus, Herr Baldini?"
     "Nein",  sagte Baldini,  "ich  werde mich  fur einige Stunden  in  mein
Arbeitszimmer zuruckziehen und wunsche, absolut nicht gesturt zu werden."
     "Ah, ich verstehe! Sie entwerfen ein neues Parfum."
     baldini So  ist es. Zur Beduftung einer spanischen  Haut fur den Grafen
Verhamont. Er verlangt etwas vollkommen Neues. Er verlangt  etwas wie... wie
... ich glaube, es hieß >Amor und Psyche<, was er verlangte, und
stammt  angeblich  von diesem... diesem Stumper aus der Rue Saint-Andre  des
Arts, diesem... diesem... chenier Pelissier.
     baldini Ja. Pelissier. Richtig. So heisst der Stumper.
     >Amor und Psyche< von Pelissier. Kennen Sie es?
     chenier  Jaja.  Dochdoch.   Man  riecht  es  jetzt  uberall.  An  jeder
Straßenecke  riecht  man  es.  Aber  wenn  Sie  mich  fragen  - nichts
Besonderes! Es kann sich bestimmt  in keiner Weise messen  mit  dem, welches
Sie komponieren werden, Herr Baldini.
     baldini Naturlich nicht.
     chenier  Es  riecht  uußerst  gewuhnlich,  dieses   >Amor  und
Psyche<.
     baldini Vulgur?
     chenier Durchaus  vulgur, wie alles  von Pelissier. Ich  glaube, es ist
Limettenul darin.
     baldini Wirklich? Was noch?
     chenier Orangenblutenessenz vielleicht. Und vielleicht Rosmarintinktur.
Aber ich kann es nicht sicher sagen.
     baldini Es ist mir auch vullig gleichgultig.
     chenier Naturlich.
     baldini  Es  ist mir  schnurzegal, was der  Stumper  Pelissier in  sein
Parfum gepanscht hat. Ich werde mich nicht einmal davon inspirieren lassen!
     chenier Da haben Sie Recht, Monsieur.
     baldini Wie Sie wissen, lasse ich mich nie inspirieren. Wie Sie wissen,
erarbeite ich meine Parfums.
     chenier Ich weiß, Monsieur.
     baldini Gebure sie allein aus mir!
     chenier Ich weiß.
     baldini  Und  ich gedenke, fur den Grafen Verhamont etwas zu  kreieren,
was wirklich Furore macht.
     chenier Davon bin ich uberzeugt, Herr Baldini.
     baldini Sie ubernehmen den  Laden.  Ich  brauche Ruhe.  Halten Sie  mir
alles vom Leibe, Chenier...
     Und damit schlurfte er, nun gar nicht mehr statuarisch, sondern, wie es
seinem Alter zukam, gebeugt, ja  fast wie geprugelt, davon und stieg langsam
die  Treppe zum ersten Stock hinauf, wo sein Arbeitszimmer lag. Chenier nahm
den  Platz hinterm  Kontor  ein,  stellte sich  genauso  hin, wie zuvor  der
Meister gestanden hatte, und  schaute mit starrem Blick zur Ture. Er wusste,
was in  den  nuchsten Stunden passieren wurde: numlich gar nichts  im Laden,
und oben im  Arbeitszimmer Baldinis  die ubliche  Katastrophe. Baldini wurde
seinen blauen, von Frangipaniwasserdurchtrunkten Rock ausziehen, sich an den
Schreibtisch setzen und  auf eine  Eingebung warten.  Diese  Eingebung wurde
nicht  kommen.  Er  wurde hierauf  an  den  Schrank mit  den  Hunderten  von
Probefluschchen  eilen  und   aufs  Geratewohl  etwas  zusammenmixen.  Diese
Mischung wurde missraten. Er wurde fluchen,  das Fenster aufreißen und
sie in den Fluss hinunterwerfen. Er  wurde etwas anderes probieren, auch das
wurde missraten, er wurde nun schreien und  toben und in dem schon betuubend
riechenden Zimmer  einen Heulkrampf  bekommen.  Er  wurde gegen  sieben  Uhr
abends elend herunterkommen, zittern und weinen und sagen:
     "Chenier, ich habe keine Nase mehr, ich kann das Parfum  nicht geburen,
ich kann die spanische Haut fur den Grafen nicht liefern,  ich bin verloren,
ich bin  innerlich tot, ich will sterben, bitte, Chenier, helfen  Sie mir zu
sterben!" Und Chenier wurde  vorschlagen, dass man zu Pelissier  schickte um
eine Flasche >Amor  und Psyche<, und Baldini wurde zustimmen unter der
Bedingung,  dass  kein Mensch  von  dieser  Schande  erfuhre,  Chenier wurde
schwuren, und nachts wurden  sie heimlich das Leder fur den Grafen Verhamont
mit  dem fremden  Parfum  beduften.  So  wurde es sein und nicht anders, und
Chenier wunschte nur, er hutte das ganze Theater  schon hinter sich. Baldini
war  kein  großer Parfumeur  mehr.  Ja, fruher, in seiner Jugend,  vor
dreißig, vierzig  Jahren, da hatte er >Rose des Sudens< erfunden
und >Baldinis galantes Bouquet< zwei wirklich große Dufte, denen
er sein Vermugen  verdankte. Aber jetzt war er alt und verbraucht und kannte
die Moden der Zeit nicht mehr und den neuen Geschmack der Menschen, und wenn
er uberhaupt noch  einmal  einen eigenen Duft zusammenstoppelte, dann war es
vollkommen  demodiertes,  unverkuufliches Zeug,  das  sie  ein  Jahr  sputer
zehnfach verdunnten und als Springbrunnenwasserzusatz verhukerten. Schade um
ihn,  dachte Chenier  und  uberprufte den  Sitz  seiner  Perucke im Spiegel,
schade um den alten Baldini; schade um sein schunes Geschuft, denn er wird's
herunterbringen; und schade um mich, denn bis  er's  heruntergebracht  haben
wird, bin ich zu alt, um es zu ubernehmen...


     Zwar  hatte Giuseppe Baldini seinen duftenden Rock ausgezogen, aber nur
aus alter Gewohnheit. Der Duft des Frangipaniwassers sturte ihn schon lungst
nicht mehr beim  Riechen, er  trug  ihn ja schon  seit  Jahrzehnten mit sich
herum und nahm ihn uberhaupt nicht  mehr wahr. Er  hatte auch  die  Ture des
Arbeitszimmers zugeschlossen und  sich  Ruhe ausgebeten, aber er setzte sich
nicht an den Schreibtisch,  um zu grubeln und auf eine Eingebung  zu warten,
denn er wusste viel besser als Chenier, dass er keine Eingebung haben wurde;
er hatte numlich  noch nie eine gehabt. Zwar war er alt und  verbraucht, das
stimmte, und auch kein großer Parfumeur  mehr; aber er wusste, dass er
im Leben noch nie einer  gewesen war. >Rose  des  Sudens< hatte er von
seinem  Vater  geerbt und das  Rezept fur  >Baldinis galantes Bouquet<
einem  durchreisenden Genueser  Gewurzhundler  abgekauft. Die ubrigen seiner
Parfums waren altbekannte Gemische. Erfunden hatte er noch nie etwas. Er war
kein  Erfinder.  Er war ein sorgfultiger Verfertiger von bewuhrten Geruchen,
wie ein Koch  war er, der mit  Routine und guten  Rezepten  eine große
Kuche macht  und doch noch nie ein  eigenes Gericht erfunden hat. Den ganzen
Hokuspokus mit Labor und Experimentieren und Inspiration und Geheimnistuerei
fuhrte  er  nur  auf,  weil  das  zum stundischen  Berufsbild  eines  Maitre
Parfumeur et Gantier  gehurte. Ein Parfumeur,  das war ein halber Alchimist,
der Wunder  schuf, so  wollten es die Leute - gut  so! Dass seine Kunst  ein
Handwerk  war wie jedes andere auch, das wusste nur  er  selbst, und das war
sein  Stolz.  Er wollte  gar kein  Erfinder  sein. Erfindung  war  ihm  sehr
suspekt, denn sie bedeutete immer den  Bruch einer Regel. Er dachte auch gar
nicht daran, fur den Grafen Verhamont ein neues Parfum zu erfinden. Er wurde
sich allerdings auch nicht am Abend von Chenier  uberreden  lassen, >Amor
und Psyche< von Pelissier  zu besorgen. Er hatte  es schon.  Da stand es,
auf dem  Schreibtisch  vor  dem Fenster,  in einem  kleinen  Glasflakon  mit
geschliffenem  Stupsel.  Schon vor  ein  paar Tagen  hatte  er  es  gekauft.
Naturlich nicht  persunlich. Er konnte doch  nicht  persunlich  zu Pelissier
gehen und  ein Parfum  kaufen! Sondern durch einen Mittelsmann,  und  dieser
wieder durch einen Mittelsmann... Vorsicht war  geboten. Denn Baldini wollte
das Parfum nicht einfach  zum Beduften  der spanischen  Haut verwenden, dazu
hutte  die  geringe  Menge  auch  gar  nicht  ausgereicht.  Er  hatte  etwas
Schlimmeres im Sinn: Er wollte es kopieren.
     Das  war ubrigens  nicht  verboten.  Es  war nur  außerordentlich
unfein.  Das  Parfum eines  Konkurrenten  heimlich  nachzumachen  und  unter
eigenem Namen zu verkaufen,  war schrecklich unfein.  Aber noch unfeiner war
es, sich dabei ertappen zu lassen,  und darum  durfte  Chenier nichts  davon
wissen, denn Chenier war geschwutzig.
     Ach, wie schlimm, dass man sich als rechtschaffener Mann gezwungen sah,
so krumme  Wege  zu  gehen! Wie schlimm,  dass man das  Kostbarste,  was man
besaß, die  eigene Ehre, auf  so  schubige Weise  befleckte!  Aber was
sollte er tun? Immerhin war der Graf Verhamont ein Kunde, den er keinesfalls
verlieren durfte. Er hatte ja  ohnehin kaum noch einen Kunden. Er musste der
Kundschaft ja schon wieder nachlaufen wie zu Beginn der zwanziger Jahre, als
er  am Anfang  seiner  Karriere  stand  und  mit  dem  Bauchladen durch  die
Straßen zog. Weiß  Gott  kam er, Giuseppe Baldini,  Inhaber  der
grußten   Duftstoffhandlung  von   Paris,   in  bester  Geschuftslage,
finanziell nur noch uber die Runden,  wenn er mit dem Kufferchen in der Hand
Hausbesuche  machte.  Und das  gefiel ihm gar  nicht, denn er war schon weit
uber  sechzig  und  hasste es,  in kalten  Vorzimmern  zu warten  und  alten
Marquisen Tausendblumenwasser  und  Vierruuberessig vorzufuhren  oder  ihnen
eine  Migrunesalbe  aufzuschwatzen.   Außerdem  herrschte   in  diesen
Vorzimmern  eine  ganz  ekelhafte  Konkurrenz.  Da  war dieser Emporkummling
Brouet  aus  der  Rue  Dauphine,  der  von  sich  behauptete,  er  habe  das
grußte  Pomadenprogramm  Europas; oder Calteau aus der Rue Mauconseil,
der es  zum  Hoflieferanten der  Comtesse  von  Artois gebracht hatte;  oder
dieser    vullig    unberechenbare   Antoine   Pelissier    aus    der   Rue
Saint-Andre-des-Arts, der in jeder Saison einen neuen  Duft lancierte,  nach
welchem die ganze Welt  verruckt war. >So ein Parfum von Pelissier konnte
den ganzen Markt in Unordnung bringen. War in einem Jahr Ungarisches  Wasser
in Mode, und  hatte sich  Baldini entsprechend mit Lavendel, Bergamotte  und
Rosmarin eingedeckt, um  den  Bedarf  zu befriedigen  - so kam Pelissier mit
>Air  de Musc< heraus, einem  ultraschweren Moschusduft.  Jeder Mensch
musste  plutzlich tierisch  riechen, und  Baldini  konnte sein  Rosmarin  zu
Haarwasser verarbeiten  und  den Lavendel in  Riechsuckchen nuhen. Hatte  er
dagegen fur das nuchste  Jahr entsprechende Mengen  an  Moschus,  Zibet  und
Castoreum  bestellt,  so  fiel   es   Pelissier   ein,   ein  Parfum  namens
>Waldblume<  zu  kreieren,  was prompt ein  Erfolg  wurde.  Und  hatte
Baldini  endlich in nuchtelangen Versuchen oder durch hohe Bestechungsgelder
herausgefunden, woraus  >Waldblumen<  bestand  - da trumpfte Pelissier
schon wieder auf mit >Turkische Nuchte< oder >Lissabonner  Duft<
oder >Bouquet de  la  Cour< oder weiß  der Teufel  womit  sonst.
Dieser Mensch war auf  jeden  Fall in  seiner  zugellosen  Kreativitut  eine
Gefahr fur das  ganze  Gewerbe.  Man wunschte  sich  die Rigiditut des alten
Zunftrechts zuruck.  Man  wunschte  sich die  drakonischsten Maßnahmen
gegen diesen Aus-Der-Reihe-Tunzer, gegen diesen Duftinflationur. Das  Patent
gehurte ihm entzogen, ein saftiges Berufsverbot auferlegt..., und  uberhaupt
sollte der Kerl erst einmal eine Lehre machen! Denn ein gelernter Parfumeur-
und  Handschuhmachermeister war er nicht,  dieser Pelissier. Sein Vater  war
nichts  als  ein Essigsieder  gewesen,  und  Essigsieder war auch Pelissier,
nichts anderes. Und  bloß weil er als Essigsieder berechtigt  war, mit
Spirituosen umzugehen, konnte  er uberhaupt ins Gehege der echten Parfumeure
einbrechen und darin herumwuten  wie ein Stinktier. - Wozu  brauchte man  in
jeder  Saison einen  neuen Duft? War das nutig? Das Publikum war fruher auch
sehr zufrieden gewesen  mit Veilchenwasser und einfachen Blumenbouquets, die
man vielleicht alle zehn Jahre einmal geringfugig underte.  Jahrtausendelang
hatten die  Menschen mit Weihrauch und Myrrhe,  ein paar Balsamen,  ulen und
getrockneten Wurzkruutern vorlieb genommen. Und auch als sie gelernt hatten,
mit Kolben und Alambic zu destillieren, vermittels Wasserdampf den Kruutern,
Blumen  und Hulzern  das  duftende  Prinzip in Form von  utherischem  ul  zu
entreißen,  es   mit  eichenen  Pressen  aus   Samen  und  Kernen  und
Fruchtschalen  zu  quetschen  oder  mit  sorgsam  gefilterten   Fetten   den
Blutenbluttern zu entlocken, war die Zahl der Dufte noch bescheiden gewesen.
Damals wure eine Figur wie Pelissier gar nicht  muglich gewesen, denn damals
brauchte es schon zur Erzeugung einer  simplen Pomade Fuhigkeiten, von denen
sich dieser  Essigpanscher  gar nichts truumen ließ. Man musste  nicht
nur destillieren  kunnen, man musste  auch  Salbenmacher sein und Apotheker,
Alchimist und Handwerker, Hundler, Humanist und Gurtner zugleich. Man musste
Hammelnierenfett  von  jungem  Rindertalg  unterscheiden   kunnen  und   ein
Viktoriaveilchen  von  einem  solchen  aus Parma. Man musste die lateinische
Sprache beherrschen. Man musste wissen, wann der Heliotrop zu ernten ist und
wann das Pelargonium bluht und dass  die Blute  des Jasmins  mit aufgehender
Sonne  ihren  Duft  verliert.  Von  diesen  Dingen  hatte  dieser  Pelissier
selbstredend keine Ahnung. Wahrscheinlich hatte er Paris noch nie verlassen,
in seinem Leben bluhenden Jasmin noch nie gesehen. Geschweige  denn, dass er
einen  Schimmer  von  der  gigantischen  Schufterei  besaß,  deren  es
bedurfte, um aus  hunderttausend Jasminbluten einen kleinen Klumpen Concrete
oder ein paar Tropfen Essence Absolue herauszuwringen. Wahrscheinlich kannte
er nur  diese, kannte Jasmin nur als konzentrierte dunkelbraune Flussigkeit,
die in  einem kleinen Fluschchen neben vielen anderen Fluschchen, aus  denen
er seine Modeparfums  mixte, im Tresorschrank  stand. Nein,  eine Figur  wie
dieser  Schnusel Pelissier hutte  in  den  guten alten handwerklichen Zeiten
kein Bein auf den Boden gebracht. Dazu fehlte ihm alles: Charakter, Bildung,
Genugsamkeit   und   der   Sinn   fur   zunftische   Subordination.    Seine
parfumistischen Erfolge verdankte er einzig und allein einer Entdeckung, die
vor  nunmehr  zweihundert  Jahren der  geniale  Mauritius Frangipani  -  ein
Italiener ubrigens! - gemacht hatte und die  darin  bestand, dass Duftstoffe
in  Weingeist  luslich  sind.  Indem  Frangipani  seine Riechpulverchen  mit
Alkohol  vermischte und  damit ihren  Duft  auf eine  fluchtige  Flussigkeit
ubertrug,  hatte  er  den  Duft befreit  von  der  Materie, hatte  den  Duft
vergeistigt, den Duft als reinen Duft erfunden, kurz: das Parfum erschaffen.
Was  fur  eine Tat!  Welch epochale  Leistung! Vergleichbar wirklich nur den
grußten Errungenschaften des Menschengeschlechts wie der Erfindung der
Schrift durch  die Assyrer, der  euklidischen Geometrie, den Ideen des Plato
und der Verwandlung  von  Trauben in Wein durch die  Griechen. Eine wahrhaft
prometheische Tat! Und  doch,  wie alle großen Geistestaten  nicht nur
Licht, sondern auch Schatten werfen und der  Menschheit neben Wohltaten auch
Verdruss und Elend  bereiten,  so hatte leider auch die herrliche Entdeckung
Frangipanis  uble Folgen: Denn  nun,  da  man  gelernt  hatte, den Geist der
Blumen  und  Kruuter,  der  Hulzer, Harze  und  der  tierischen  Sekrete  in
Tinkturen festzubannen und auf Fluschchen abzufullen, entglitt die Kunst des
Parfumierens  nach und nach den  wenigen  universalen handwerklichen Kunnern
und stand  Quacksalbern  offen,  sofern sie  nur  eine  leidlich  feine Nase
besaßen, wie zum Beispiel diesem Stinktier Pelissier.  Ohne sich darum
zu bekummern, wie der wunderbare Inhalt seiner Fluschchen je entstanden war,
konnte er einfach  seinen olfaktorischen Launen  folgen und zusammenmischen,
was ihm gerade einfiel oder was das Publikum gerade wunschte.
     Bestimmt   besaß    dieser    Bastard   Pelissier    mit   seinen
funfunddreißig  Jahren schon jetzt ein grußeres Vermugen als er,
Baldini, es sich in der dritten  Generation durch  harte  beharrliche Arbeit
endlich angehuuft hatte. Und  Pelissiers  nahm  tuglich zu,  wuhrend  seins,
Baldinis,  sich tuglich verminderte. So  etwas  wure fruher doch  gar  nicht
muglich gewesen! Dass ein angesehener Handwerker und eingefuhrter Commergant
um seine schiere Existenz  zu  kumpfen  hatte,  das gab  es doch  erst  seit
wenigen  Jahrzehnten! Seitdem uberall und in  allen  Bereichen die hektische
Neuerungssucht  ausgebrochen  ist,  dieser  hemmungslose  Tatendrang,  diese
Experimentierwut, diese  Großmannssucht im  Handel, im  Verkehr und in
den Wissenschaften!
     Oder der Geschwindigkeitswahnsinn! Wozu brauchte man  die  vielen neuen
Straßen,  die uberall gebuddelt wurden, und  die neuen  Brucken? Wozu?
War es von Vorteil, wenn man  bis Lyon in einer Woche reisen konnte? Wem war
daran  gelegen?  Wem nutzte  es? Oder uber den Atlantik zu  fahren, in einem
Monat nach Amerika zu rasen - als  wure man nicht  jahrtausendelang sehr gut
ohne  diesen Kontinent ausgekommen.  Was  hatte der zivilisierte  Mensch  im
Urwald der Indianer verloren oder bei den Negern? Sogar nach Lappland gingen
sie,  das  lag im Norden, im ewigen  Eise, wo  Wilde lebten, die rohe Fische
fraßen. Und noch einen weiteren  Kontinent wollten sie  entdecken, der
angeblich in  der Sudsee  lag,  wo immer das  war. Und wozu dieser Wahnsinn?
Weil  die anderen es auch taten, die Spanier, die verfluchten Englunder, die
impertinenten Hollunder,  mit  denen man sich dann herumschlagen musste, was
man  sich  uberhaupt  nicht leisten  konnte.  300000  Livres kostet  so  ein
Kriegsschiff gut  und gerne, und  versenkt ist es  in funf Minuten mit einem
einzigen Kanonenschuss,  auf  Nimmerwiedersehn, bezahlt von unseren Steuern.
Den  zehnten  Teil  auf  alle  Einkunfte  verlangt  der  Herr Finanzminister
neuerdings, und das ist ruinus,  auch wenn man diesen Teil nicht zahlt, denn
schon die ganze Geisteshaltung ist verderblich.
     Das Ungluck  des Menschen  ruhrt  daher,  dass er nicht still in seinem
Zimmer bleiben will, dort, wo er hingehurt. Sagt Pascal. Aber Pascal war ein
großer Mann gewesen, ein Frangipani des  Geistes, ein Handwerker recht
eigentlich, und  ein solcher ist heute  nicht mehr  gefragt. Jetzt lesen sie
aufwieglerische Bucher von Hugenotten  oder  Englundern. Oder sie  schreiben
Traktate  oder sogenannte  wissenschaftliche Großwerke, in  denen  sie
alles und jedes in Frage stellen. Nichts mehr soll stimmen, alles soll jetzt
plutzlich anders sein. In  einem Glas  Wassers sollen neuerdings ganz kleine
Tierchen schwimmen, die man fruher nicht gesehen hat; die Syphilis soll eine
ganz normale Krankheit sein und keine Strafe Gottes mehr; Gott soll die Welt
nicht an sieben Tagen erschaffen haben, sondern in Jahrmillionen, wenn er es
uberhaupt war; die Wilden sind Menschen  wie wir; unsere Kinder erziehen wir
falsch; und die Erde ist nicht mehr rund wie bisher, sondern oben und  unten
platt wie eine Melone  -  als ob  es  darauf ankume! In  jedem  Bereich wird
gefragt und gebohrt und  geforscht und geschnuffelt und herumexperimentiert.
Es genugt nicht mehr, dass man sagt, was  ist und wie es ist - es muss jetzt
alles  noch  bewiesen  werden,   am   besten  mit  Zeugen  und  Zahlen   und
irgendwelchen lucherlichen  Versuchen.  Diese  Diderots und d'Alemberts  und
Voltaires und Rousseaus und wie die Schreiberlinge alle hießen - sogar
geistliche  Herren  sind darunter  und Herren  von Adel!  -,  sie  haben  es
wahrhaft geschafft,  ihre  eigne  perfide Ruhelosigkeit, die schiere Lust am
Nichtzufriedensein und des um alles in der Welt Sich-nicht-begnugen-kunnens,
kurz:  das grenzenlose Chaos, das in ihren Kupfen herrscht, auf die  gesamte
Gesellschaft auszudehnen!
     Wo  man  hinsah,  herrschte Hektik. Leute  lasen Bucher,  sogar Frauen.
Priester hockten im Kaffeehaus. Und wenn die Polizei mal eingriff und  einen
dieser Oberschurken ins Gefungnis steckte, dann heulten die Verleger auf und
reichten Petitionen ein, und huchste Herren und Damen machten ihren Einfluss
geltend, bis man ihn nach ein paar Wochen wieder freisetzte oder ins Ausland
ziehen ließ,  wo  er dann  hemmungslos  weiterpamphletisierte.  In den
Salons  palaverte man nur noch uber  Kometenbahnen  und  Expeditionen,  uber
Hebelkraft und  Newton, uber Kanalbau, Blutkreislauf und den Durchmesser des
Erdballs.
     Und  selbst der  Kunig ließ  sich irgendeinen neumodischen Unsinn
vorfuhren, eine Art  kunstliches Gewitter namens Elektrizitut:  Im Angesicht
des  ganzen Hofes rieb ein Mensch an einer Flasche, und es funkte, und Seine
Majestut,  so hurt man, zeigte  sich tief  beeindruckt. Unvorstellbar,  dass
sein  Urgroßvater,  der  wahrhaft  große  Ludwig,  unter  dessen
segensreicher  Herrschaft Baldini lange Jahre noch das Gluck hatte gelebt zu
haben,  eine so  lucherliche Demonstration vor  seinen Augen geduldet hutte!
Aber das war der Geist der neuen Zeit, und buse wurde alles enden!
     Denn wenn man  schon ungeniert und auf die frechste  Art die  Autoritut
von Gottes Kirche in Zweifel ziehen konnte; wenn man uber  die  nicht minder
gottgewollte  Monarchie  und  die geheiligte  Person  des Kunigs sprach, als
seien beide bloß variable  Posten in einem ganzen Katalog  von anderen
Regierungsformen,  die  man  nach  Gusto  auswuhlen  kunne;  wenn  man  sich
schließlich noch so  weit verstieg, wie das geschah, Gott selbst,  den
Allmuchtigen, Ihn Huchstpersunlich, als  entbehrlich hinzustellen und  allen
Ernstes  zu behaupten, es seien Ordnung, Sitte und das Gluck auf  Erden ohne
Ihn zu  denken, rein aus  der  eingeborenen Moralitut  und der Vernunft  der
Menschen selber... o Gott, o Gott! - dann allerdings brauchte man sich nicht
zu  wundern, wenn sich alles  von  oben  nach unten  kehrte  und die  Sitten
verlotterten   und   die   Menschheit  das  Strafgericht  dessen,  den   sie
verleugnete,  auf sich  herabzog. Buse wird es enden. Der große  Komet
von  1681, uber  den sie  sich lustig gemacht  haben, den sie als nichts als
einen Haufen von Sternen bezeichnet  haben, er  war eben doch ein  warnendes
Vorzeichen  Gottes  gewesen, denn er hatte jetzt  wusste  man es  ja  -  ein
Jahrhundert der  Auflusung  angezeigt,  der  Zersetzung, des  geistigen  und
politischen und religiusen Sumpfes, den sich die Menschheit selber schuf, in
dem sie dereinst selbst versinken wird  und in dem nur noch  schillernde und
stinkende Sumpfbluten gediehen wie dieser Pelissier!
     Er stand am Fenster, der  alte Mann Baldini, und schaute mit gehussigem
Blick  gegen die  schrugstehende  Sonne  auf  den  Fluss  hinaus.  Lastkuhne
tauchten unter ihm auf und glitten langsam nach Westen auf den Pont Neuf und
den Hafen  vor den  Galerien  des Louvre  zu. Keiner  wurde hier  gegen  die
Strumung herauf gestakt, sie nahmen den Flussarm  auf der  anderen Seite der
Insel. Hier strumte alles nur weg, die leeren und die beladenen Schiffe, die
Ruderboote und die flachen Kuhne der Fischer, das schmutzigbraune Wasser und
das golden gekruuselte,  alles strumte weg, langsam, breit und unaufhaltsam.
Und  wenn  Baldini ganz  steil  nach unten  blickte, hart  an  der  Hauswand
entlang,  dann  war  es,  als suge das strumende Wasser die  Fundamente  der
Brucke davon, und es schwindelte ihm.
     Es war ein Fehler gewesen,  das Haus auf  der Brucke zu kaufen, und ein
doppelter Fehler,  eines  auf  der westlich gelegenen Seite zu  nehmen.  Nun
hatte  er  dauernd den wegstrumenden Fluss  vor Augen, und es  war  ihm, als
strume er  selbst und sein Haus und  sein  in vielen Jahrzehnten  erworbener
Reichtum davon wie der Fluss und als sei er zu alt und zu schwach, sich noch
gegen diese gewaltige Strumung zu stemmen. Manchmal, wenn er auf  dem linken
Ufer zu tun  hatte, im Viertel um die Sorbonne oder  bei Saint-Sulpice, dann
ging er nicht uber die Insel und den Pont Saint-Michel, sondern er nahm  den
lungeren Weg  uber den Pont Neuf, denn diese Brucke war unbebaut.  Und  dann
stellte  er sich  an  die ustliche Brustung  und  schaute  flussaufwurts, um
wenigstens  ein  Mal  alles  auf sich zustrumen zu  sehen;  und  fur  einige
Augenblicke schwelgte er in der  Vorstellung, die Tendenz seines Lebens habe
sich umgekehrt, die  Geschufte  florierten, die Familie gediehe,  die Frauen
flugen ihm zu und seine Existenz, statt zu zerrinnen, mehre und mehre sich.
     Aber dann, wenn er den Blick nur ein klein wenig hob, sah er in einigen
hundert Metern Entfernung sein eigenes Haus  gebrechlich schmal und hoch auf
dem Pont  au Change, und er sah das Fenster seines  Arbeitszimmers im ersten
Stock und sah  sich selbst dort  am Fenster stehen, sah sich hinaussehen auf
den Fluss  und das wegstrumende Wasser beobachten, wie jetzt. Und  damit war
der schune Traum verflogen,  und  Baldini, auf dem Pont Neuf stehend, wandte
sich ab, niedergeschlagener  als  zuvor, niedergeschlagen wie jetzt,  da  er
sich vom Fenster abwendete, zum Schreibtisch ging und sich setzte.


     Vor  ihm  stand  der Flakon  mit  Pelissiers  Parfum.  Die  Flussigkeit
schimmerte goldbraun im Sonnenlicht, klar, ohne  die geringste Trubung. Ganz
unschuldig sah sie  aus,  wie heller  Tee - und  enthielt  doch  neben  vier
Funfteln Alkohol ein Funftel eines geheimnisvollen Gemisches, das eine ganze
Stadt in Aufregung versetzen konnte. Dieses Gemisch wiederum mochte aus drei
oder aus  dreißig  verschiedenen  Stoffen bestehen,  die in einem ganz
bestimmten von unzuhligen muglichen Volumenverhultnissen zueinander standen.
Es war die Seele des Parfums  - soweit man bei einem Parfum dieses eiskalten
Geschuftemachers  Pelissier von Seele reden konnte -, und ihren  Aufbau galt
es nun herauszufinden.
     Baldini schneuzte sich sorgfultig  die Nase und ließ die Jalousie
am Fenster etwas herunter, denn das direkte Sonnenlicht war jedem Riechstoff
und jeder feineren geruchlichen  Konzentration abtruglich. Aus der Schublade
des Schreibtischs holte er ein frisches weißes  Spitzentaschentuch und
entfaltete es. Dann  uffnete  er den Flakon durch  eine  leichte Drehung des
Stupsels. Den  Kopf hielt  er  dabei  weit zuruck und kniff  die Nasenflugel
zusammen,  denn  er  wollte  um  Gottes   willen  nicht  einen  vorschnellen
Geruchseindruck   direkt  aus  der  Flasche  erwischen.  Parfum  musste   in
entfaltetem,  luftigem  Zustand  gerochen werden, niemals  konzentriert.  Er
sprenkelte einige Tropfen auf das Taschentuch, wedelte es durch die Luft, um
den Alkohol davonzujagen, und  hielt es sich  dann unter die Nase. Mit  drei
ganz kurzen, ruckartigen  Stußen riss er den Duft  in sich hinein  wie
ein Pulver, blies  ihn sofort wieder aus, fuchelte sich Luft zu, schnuffelte
noch  einmal im Dreierrhythmus  und  nahm zum Abschluss  einen  ganz  tiefen
Atemzug, den er langsam und mehrmals verhaltend, gleichsam ihn wie uber eine
lange flache Treppe gleiten lassend, ausstrumte. Er warf das Taschentuch auf
den Tisch und ließ sich gegen die Sessellehne zuruckfallen.
     Das Parfum  war ekelhaft gut. Dieser miserable Pelissier war leider ein
Kunner. Ein  Meister,  Gott  sei's  geklagt, und wenn er  tausendmal  nichts
gelernt  hatte!  Baldini  wunschte, es  wure von  ihm,  dieses >Amor  und
Psyche<.  Es  war  keine  Spur  ordinur.  Absolut  klassisch,  rund   und
harmonisch war es. Und trotzdem faszinierend neu. Es  war frisch, aber nicht
reißerisch.  Es  war blumig,  ohne schmalzig zu sein.  Es  besaß
Tiefe, eine herrliche, haftende,  schwelgerische, dunkelbraune  Tiefe -  und
war doch kein bisschen uberladen oder schwulstig.
     Baldini stand fast ehrfurchtig auf und hielt  sich das Taschentuch noch
einmal unter die Nase. "Wunderbar, wunderbar..." murmelte er und schnuffelte
gierig, "es hat einen heiteren Charakter, es ist lieblich, es ist  wie  eine
Melodie,  es  macht  direkt  gute  Laune...  Unsinn,  gute  Laune!"  Und  er
schleuderte  das Tuchlein wutend auf den Tisch zuruck,  wandte  sich  ab und
ging  in  die  hinterste  Ecke  des  Zimmers,  als  schume  er  sich  seiner
Begeisterung.
     Lucherlich! Sich zu solchen  Elogen hinreißen zu  lassen. >Wie
eine Melodie.  Heiter. Wunderbar.  Gute  Laune.<  - Bludsinn!  Kindischer
Bludsinn.  Eindruck  des   Augenblicks.  Alter  Fehler.   Temperamentsfrage.
Wahrscheinlich italienisches Erbteil. Urteile nicht, solange du riechst! Das
ist die erste Regel, Baldini, alter Schafskopf! Rieche, wenn du riechst, und
urteile,  wenn  du gerochen  hast!  >Amor und  Psyche< ist  ein  nicht
unebenes   Parfum.   Ein   durchaus   gelungenes  Produkt.   Ein   geschickt
zusammengestelltes  Machwerk.  Um nicht  zu sagen  ein Blendwerk.  Und etwas
anderes als ein Blendwerk war von einem Mann wie Pelissier auch gar nicht zu
erwarten. Naturlich fabrizierte ein  Kerl  wie Pelissier kein Dutzendparfum.
Der  Schurke blendete mit  huchster Kunnerschaft, verwirrte  den Geruchssinn
mit perfekter Harmonie,  ein Wolf im Schafspelz klassischer Geruchskunst war
dieser  Mensch,  mit einem  Wort:  ein  Scheusal  mit Talent.  Und  das  war
schlimmer als ein Pfuscher mit dem rechten Glauben.
     Aber du, Baldini, wirst  dich nicht beturen lassen. Du warst nur  einen
Augenblick  lang  uberrascht  vom  ersten   Eindruck   des  Machwerks.  Aber
weiß  man  denn,  wie  es  in einer Stunde  riechen wird,  wenn  seine
fluchtigsten Substanzen sich verflogen haben und sein Mittelbau hervortritt?
Oder  wie es heute Abend riechen wird, wenn nur noch jene schweren,  dunklen
Komponenten wahrzunehmen sind, die jetzt geruchlich  wie  im Zwielicht unter
angenehmen Blutenschleiern liegen? Wart es ab, Baldini!
     Die  zweite  Regel sagt:  Das  Parfum  lebt in der Zeit;  es hat  seine
Jugend,  seine  Reife  und  sein  Alter. Und  nur  wenn  es  in  allen  drei
verschiedenen Lebensaltern auf gleich angenehme Weise Duft verstrumt, ist es
als gelungen zu bezeichnen.  Wie oft hatten wir  nicht schon den  Fall, dass
eine Mischung,  die wir machten, bei  der ersten Probe herrlich frisch roch,
nach kurzer Zeit nach faulem Obst und endlich nur noch ekelhaft  nach reinem
Zibet, das wir zu hoch dosierten. Vorsicht uberhaupt mit Zibet! Ein  Tropfen
zu viel schafft Katastrophen. Alte Fehlerquelle. Wer weiß - vielleicht
hat Pelissier zu viel Zibet  erwischt? Vielleicht  bleibt bis heut Abend von
seinem ambitiusen >Amor und Psyche< nur noch ein Hauch von Katzenpisse
ubrig? Wir werden's sehn.
     Wir werden's riechen.  So wie  ein  scharfes  Beil den Holzklotz in die
kleinsten  Scheite teilt,  wird  unsre Nase  sein  Parfum in jede Einzelheit
zerspalten. Dann  wird sich zeigen, dass  dieser angebliche  Zauberduft  auf
sehr  normalem, wohlbekanntem  Weg  entstanden ist. Wir, Baldini, Parfumeur,
werden  dem Essigmischer Pelissier auf die  Schliche kommen. Wir werden  ihm
die Maske von der Fratze  reißen und dem  Neuerer  beweisen, wozu  das
alte Handwerk in der  Lage  ist.  Haargenau  wird es ihm nachgemischt,  sein
modisches Parfum.  Es  wird unter  unsern Hunden  neu entstehen, so  perfekt
kopiert,  dass  es  der  Windhund  selbst  nicht   mehr  von  seinem  eignen
unterscheiden   kann.  Nein!  Das  genugt  uns  nicht!  Wir  werden's   noch
verbessern! Wir werden  ihm Fehler nachweisen  und sie ausmerzen  und es ihm
auf  diese Weise unter die Nase  reiben: Du bis ein Pfuscher, Pelissier! Ein
kleiner Stinker bist du! Ein Emporkummling im Duftgewerbe, und sonst nichts!
     An die  Arbeit jetzt,  Baldini! Die Nase  geschurft  und  gerochen ohne
Sentimentalitut! Den Duft zerlegt nach den Regeln der Kunst! Bis heute Abend
musst  du  im  Besitz  der  Formel  sein!  Und  er  sturzte  zuruck  an  den
Schreibtisch, holte Papier, Tinte und ein frisches Taschentuch heraus, legte
sich alles zurecht und begann seine analytische Arbeit. Das geschah so, dass
er das mit frischem Parfum getrunkte Tuch rasch unter der Nase vorbeizog und
aus  der  voruberfliegenden Duftwolke  den  einen  oder anderen  Bestandteil
aufzufangen suchte,  ohne allzusehr von  der  komplexen Mischung aller Teile
abgelenkt zu  sein; um dann, wuhrend er das Taschentuch  mit  ausgestrecktem
Arm  weit  von  sich hielt,  den Namen des gefundenen  Bestandteils rasch zu
notieren und  hierauf  neuerdings das  Tuch  an  der  Nase vorbeifliegen  zu
lassen, das nuchste Duftfragment zu erhaschen und so fort...


     Er arbeitete  zwei  Stunden lang ununterbrochen.  Und immer  hektischer
wurden  seine Bewegungen, immer  fahriger das Gekrakel  seiner Feder auf dem
Papier, immer huher die Dosen des Parfums,  das  er aus dem  Flakon  in sein
Taschentuch schuttete und sich unter die Nase hielt.
     Er  roch  jetzt  kaum  noch  etwas,  er  war  lungst  betuubt  von  den
utherischen   Substanzen,  die  er  einatmete,  konnte   nicht  einmal  mehr
wiedererkennen,  was er zu  Beginn seines Probierens zweifelsfrei analysiert
zu haben glaubte. Er wusste, dass es sinnlos war, weiterzuriechen. Er  wurde
nie herausbekommen,  woraus dieses neumodische  Parfum  zusammengesetzt war,
heute schon  uberhaupt nicht mehr, aber auch  morgen nicht,  wenn sich seine
Nase, so Gott wollte, wieder erholt haben wurde. Er hatte dieses zersetzende
Riechen  nie gelernt.  Es  war ihm eine unselig widerwurtige  Beschuftigung,
einen  Duft  zu zerspalten; ein Ganzes, ein  gut oder weniger  gut Gefugtes,
aufzuteilen in  seine  simplen Fragmente.  Es  interessierte ihn  nicht.  Er
wollte nicht mehr.
     Aber  mechanisch fuhr seine Hand fort,  mit  jener  tausendmal  geubten
zierlichen Bewegung das Spitzentaschentuch zu  trunken, es zu  schutteln und
rasch   am  Gesicht  vorbeizuwedeln,  und  mechanisch  riss   er  bei  jedem
Voruberflug  eine  Portion  duftgetrunkter  Luft  in  sich  hinein,  um  sie
kunstgerecht  verhalten  ausstrumen zu lassen.  Bis ihn endlich seine eigene
Nase von der Qual befreite, indem sie von innen her  allergisch schwoll  und
sich wie  mit  einem wuchsernen Pfropfen selbst verschloss.  Jetzt konnte er
gar nichts mehr riechen,  kaum noch atmen. Wie von  einem schweren Schnupfen
zugelutet  war die Nase,  und  in seinen  Augenwinkeln sammelten sich kleine
Trunen.  Gott  im Himmel sei  Dank!  Nun  konnte er guten Gewissens ein Ende
machen. Nun hatte er  seine Pflicht getan, nach  besten Kruften, nach  allen
Regeln  der Kunst, und war, wie schon  so oft, gescheitert. Ultra posse nemo
obligatur. Feierabend. Morgen  fruh  wurde er zu Pelissier schicken  um eine
große Flasche >Amor und Psyche< und damit die spanische Haut fur
den  Grafen  Verhamont beduften, wie bestellt.  Und  danach  wurde  er  sein
Kufferchen  nehmen,  mit  den  altmodischen  Seifen, Sentbons,  Pomaden  und
Sachets, und  seine  Runde machen durch die Salons  greiser Herzoginnen. Und
eines Tages wurde die letzte greise Herzogin gestorben  sein und damit seine
letzte Kundin. Und dann wurde er selbst ein Greis  sein und wurde sein  Haus
verkaufen  mussen,  an  Pelissier   oder  an   irgendeinen   anderen  dieser
aufstrebenden Hundler,  vielleicht bekume  er  noch ein  paar tausend  Livre
dafur. Und wurde ein, zwei Koffer packen und mit seiner alten Frau, wenn die
bis dahin  noch nicht tot war, nach Italien  reisen.  Und wenn  er die Reise
uberlebte, wurde er sich ein  kleines Huuschen auf  dem  Lande  bei  Messina
kaufen, wo es billig war. Und dort wurde er sterben, Giuseppe Baldini, einst
grußter Parfumeur von Paris,  in bitterster  Armut, wann immer Gott es
gefiel. Und so war es gut.
     Er  stupselte  den Flakon zu, legte die Feder  aus der Hand und wischte
sich ein letztes  Mal  mit  dem  getrunkten Taschentuch uber  die  Stirn. Er
spurte die Kuhle  des verdunstenden Alkohols,  sonst nichts  mehr. Dann ging
die Sonne unter.
     Baldini erhob sich.  Er uffnete  die Jalousie,  und sein Kurper tauchte
bis herab  zu den Knien ins Abendlicht  und gluhte auf wie  eine abgebrannte
glosende Fackel. Er  sah den tiefroten Saum der Sonne hinterm Louvre und das
zartere Feuer auf den Schieferduchern der Stadt. Unter ihm der Fluss glunzte
wie Gold  , die Schiffe  waren verschwunden. Und es kam wohl  ein Wind  auf,
denn uber die Wasserfluche fielen die Buen wie Schuppen, und es glitzerte da
und  dort und  immer  nuher,  als streue  eine  riesige Hand  Millionen  von
Louisdor-Stucken ins Wasser, und  die  Richtung des  Flusses schien sich fur
einen  Moment  umgekehrt  zu   haben:  er   strumte  auf  Baldini  zu,  eine
gleißende  Flut  von  purem  Gold.  Baldinis  Augen waren  feucht  und
traurig. Eine  Weile lang stand er still und beobachtete das herrliche Bild.
Dann,  plutzlich, riss  er das  Fenster auf, schlug  die beiden  Flugel weit
auseinander und warf den Flakon mit Pelissiers Parfum in hohem Bogen hinaus.
Er sah,  wie  er  aufplatschte  und  fur einen  Augenblick  den  glitzernden
Wasserteppich zerriss.
     Frische Luft strumte  ins Zimmer. Baldini schupfte Atem und merkte, wie
sich die Schwellung seiner Nase luste. Dann  schloss er das Fenster. Fast im
gleichen Moment wurde es Nacht, ganz  plutzlich. Das goldglunzende Bild  der
Stadt  und des  Flusses erstarrte  zu einer aschgrauen Silhouette. Im Zimmer
war es  mit  einem  Schlag  duster  geworden. Baldini  stand  wieder  in der
gleichen Haltung wie zuvor und starrte zum Fenster hinaus. "Ich werde morgen
nicht zu Pelissier schicken", sagte er und umklammerte mit beiden Hunden die
Ruckenlehne  seines Stuhles.  "Ich werde  es nicht tun.  Und ich werde  auch
nicht meine Tour durch die Salons machen. Sondern ich werde morgen zum Notar
gehen und  mein  Haus und  mein  Geschuft  verkaufen. Das werde  ich  tun. E
basta!"
     Er  hatte einen trotzigen,  bubenhaften  Gesichtsausdruck bekommen  und
fuhlte sich auf einmal sehr glucklich.  Er  war  wieder der alte, der  junge
Baldini, mutig, und entschlossen wie je, dem Schicksal die Stirn zu bieten -
auch wenn das Stirnbieten in diesem Fall nur Ruckzug war. Und wenn schon! Es
blieb ja nichts  anderes ubrig. Die  dumme Zeit ließ keine andre Wahl.
Gott  gibt gute  und schlechte  Zeiten,  aber er  will nicht,  dass  wir  in
schlechten Zeiten  jammern  und  wehklagen, sondern  dass wir  uns  munnlich
bewuhren. Und Er hatte ein Zeichen gegeben. Das blutrot-goldene Trugbild der
Stadt  war eineWarnung  gewesen:  Handle, Baldini,  eh es zu sput  ist! Noch
steht dein Haus fest, noch  sind  deine Lager  gefullt, noch wirst  du einen
guten Preis  fur dein niedergehendes Geschuft erzielen  kunnen.  Noch liegen
die Entscheidungen in  deiner Hand. In Messina bescheiden alt zu werden, das
ist zwar  nicht dein Lebensziel gewesen -  aber es ist  doch ehrenwerter und
gottgefulliger  als  in Paris  pompus zugrunde zu gehen. Sollen die Brouets,
Calteaux und Pelissiers ruhig triumphieren. Giuseppe Baldini ruumt das Feld.
Aber er tat es aus freien Stucken und ungebeugt!
     Er  war jetzt  direkt stolz auf sich.  Und unendlich  erleichtert.  Zum
ersten Mal seit vielen Jahren wich  der subalterne Krampf aus seinem Rucken,
der den Nacken verspannte und die Schultern immer devoter gewulbt hatte, und
er stand ohne Anstrengung aufrecht, gelust und frei und  freute  sich.  Sein
Atem  ging  leicht durch die  Nase.  Er  nahm  den  Geruch  von >Amor und
Psyche<, der das  Zimmer  beherrschte, deutlich wahr, aber  er ließ
sich nichts mehr  von ihm anhaben.  Baldini hatte  sein Leben  geundert  und
fuhlte sich wunderbar. Er wurde jetzt zu seiner Frau hinaufgehen und sie von
seinen   Entschlussen   in   Kenntnis  setzen   und  dann   nach  Notre-Dame
hinuberpilgern und eine Kerze anzunden,  um Gott zu  danken fur den gnudigen
Fingerzeig  und fur die unglaubliche Charaktersturke, die  Er ihm,  Giuseppe
Baldini, verliehen hatte.
     Mit beinahe jugendlichem Elan warf  er  die Perucke  auf  seinen kahlen
Schudel, schlupfte  in den blauen Rock, ergriff den  Leuchter,  der  auf dem
Schreibtischstand, und verließ  das Arbeitszimmer. Er hatte gerade die
Kerze am Talglicht des  Treppenhauses angezundet, um sich den Weg hinauf zur
Wohnung zu beleuchten, als er es unten im Erdgeschoss klingeln hurte. Es war
nicht  das  schune persische Geluute der  Ladentur,  sondern die scheppernde
Klingel des  Dienstboteneingangs,  ein  ekelhaftes  Geruusch, das ihn  schon
immer  gesturt  hatte. Oft  wollte  er das Ding  entfernen  und  durch  eine
angenehmere  Glocke  ersetzen  lassen,  aber  dann war  es ihm  immer um die
Ausgabe leid gewesen, und jetzt, fiel ihm plutzlich ein, und er kicherte bei
dem Gedanken, jetzt war's egal; er  wurde die aufdringliche Klingel samt dem
Haus verkaufen. Sollte sein Nachfolger sich daruber urgern!
     Wieder schepperte die Klingel.  Er lauschte  nach unten. Offenbar hatte
Chenier  den  Laden  schon  verlassen.  Auch das  Dienstmudchen machte keine
Anstalten zu kommen. So stieg Baldini selbst hinab, um zu uffnen.
     Er riss  den Riegel  zuruck, schwenkte die  schwere  Tur auf  - und sah
nichts.  Die Dunkelheit verschluckte den Schein der Kerze vollstundig. Dann,
sehr allmuhlich, konnte  er  eine  kleine Gestalt  ausmachen,  ein Kind oder
einen halbwuchsigen Jungen, der etwas uber dem Arm trug.
     "Was willst du?"
     "Ich komme von  Maitre Grimal, ich bringe das Ziegenleder",  sagte  die
Gestalt  und trat  nuher und hielt Baldini den abgewinkelten Arm mit einigen
ubereinandergehungten Huuten  entgegen. Im Lichtschein  erkannte Baldini das
Gesicht  eines  Jungen  mit  ungstlich lauernden Augen.  Seine  Haltung  war
geduckt.  Es schien, als verstecke  er  sich hinter seinem vorgehaltenen Arm
wie einer, der Schluge erwartet. Es war Grenouille.


     Das  Ziegenleder  fur die  spanische  Haut!  Baldini erinnerte sich. Er
hatte die Huute vor ein paar  Tagen bei Grimal  bestellt, feinstes weichstes
Waschleder fur die Schreibunterlage des Grafen Verhamont, funfzehn Franc das
Stuck. Aber jetzt brauchte er sie  eigentlich nicht mehr, er konnte sich das
Geld sparen. Andrerseits, wenn er  den Jungen einfach zuruckschickte...? Wer
weiß  -  es  kunnte  einen  ungunstigen  Eindruck  machen,  man  wurde
vielleicht  reden,  Geruchte kunnten  entstehen: Baldini  sei  unzuverlussig
geworden, Baldini bekomme keine  Auftruge  mehr,  Baldini  kunne  nicht mehr
zahlen... und so etwas  war nicht  gut,  nein, nein, denn  so  etwas druckte
womuglich den Verkaufswert des Geschufts. Es  war  besser,  diese  nutzlosen
Ziegenhuute anzunehmen.  Niemand  brauchte  zur  Unzeit  zu  erfahren,  dass
Giuseppe Baldini sein Leben geundert hatte.
     "Komm herein!"
     Er  ließ den  Jungen  eintreten,  und  sie gingen  in  den  Laden
hinuber,  Baldini  mit  dem  Leuchter  voran, Grenouille  mit seinen  Huuten
hinterdrein. Es war das erste Mal,  dass Grenouille  eine Parfumerie betrat,
einen  Ort,  wo  Geruche nicht Beiwerk  waren, sondern  ganz  unverblumt  im
Mittelpunkt des Interesses standen. Naturlich  kannte er  sumtliche Parfum -
und  Drogenhandlungen  der  Stadt,  nuchtelang  war  er   vor  den  Auslagen
gestanden,  hatte seine  Nase  an die Spalten  der Turen gedruckt. Er kannte
sumtliche  Dufte, die hier  gehandelt wurden, und hatte sie in seinem Innern
schon  oft  zu herrlichsten  Parfums zusammengedacht. Es  erwartete ihn also
nichts  Neues. Aber  ebenso  wie ein  musikalisches Kind  darauf brennt, ein
Orchester aus der  Nuhe zu sehen  oder  einmal  in der Kirche auf die Empore
hinaufzusteigen, zum  verborgenen Manual  der  Orgel, so  brannte Grenouille
darauf, eine Parfumerie von innen  zu sehen, und er  hatte, als er hurte, es
solle  Leder  zu  Baldini  geliefert  werden,  alles  daran  gesetzt,  diese
Besorgung ubernehmen zu durfen.
     Und nun  stand er in Baldinis Laden, an dem  Ort  von Paris, an dem die
grußte Anzahl professioneller  Dufte auf engstem Raum  versammelt war.
Viel sah  er nicht im voruberfliegenden  Kerzenlicht, nur  kurz den Schatten
des Kontors mit der Waage, die beiden Reiher  uber dem Becken, einen  Sessel
fur  die Kunden, die dunklen Regale an  den Wunden, das kurze Aufblinken von
Messinggerut und weißen Etiketten auf Glusern und Tiegeln; und er roch
auch nicht mehr, als er schon von der Straße her  gerochen hatte. Aber
er spurte  sofort den Ernst, der in diesen Ruumen herrschte, fast muchte man
sagen, den heiligen Ernst, wenn das Wort "heilig" fur Grenouille  irgendeine
Bedeutung besessen  hutte;  den  kalten Ernst  spurte er,  die handwerkliche
Nuchternheit, den  trockenen  Geschuftssinn, die an  jedem Mubel,  an  jedem
Gerut, an  den Bottichen und Flaschen und Tupfen  klebten.  Und  wuhrend  er
hinter  Baldini herging, in Baldinis  Schatten, denn Baldini nahm sich nicht
die  Muhe, ihm zu leuchten, uberkam  ihn der Gedanke,  dass er hierhergehure
und  nirgendwo anders hin, dass er  hier bleiben werde, dass er von hier die
Welt aus den Angeln heben wurde.
     Dieser Gedanke war  naturlich von geradezu  grotesker Unbescheidenheit.
Es  gab   nichts,   aber   schon  wirklich  rein  gar  nichts,   was   einen
dahergelaufenen Gerbereihilfsarbeiter dubioser Abkunft, ohne Verbindung oder
Protektion,  ohne   die  geringste  stundische  Position,  zu  der  Hoffnung
berechtigte, in der renommiertesten Duftstoffhandlung von Paris Fuß zu
fassen; um  so weniger,  als, wie wir  wissen,  die  Auflusung des Geschufts
bereits beschlossene Sache war. Aber  es handelte sich ja auch nicht um eine
Hoffnung,  die  sich  in  Grenouilles  unbescheidenen  Gedanken  ausdruckte,
sondern um eine  Gewissheit. Diesen Laden, so  wusste  er, wurde er nur noch
verlassen, um seine  Kleider bei Grimal  abzuholen, und dann nicht mehr. Der
Zeck  hatte  Blut  gewittert.  Jahrelang  war  er  still  gewesen,  in  sich
verkapselt, und hatte  gewartet. Jetzt ließ er sich fallen  auf Gedeih
und Verderb, vollkommen  hoffnungslos. Und deshalb  war seine Sicherheit  so
groß.
     Sie  hatten  den   Laden  durchquert.  Baldini  uffnete  den  nach  der
Flussseite gelegenen Hinterraum,  der teils als Lager,  teils als  Werkstatt
und  Labor  diente,  wo die Seifen gekocht und die Pomaden  geruhrt und  die
Riechwusser  in bauchigen  Flaschen gemischt wurden. "Da!" sagte er und wies
auf einen großen Tisch, der vor dem Fenster stand, "da leg sie hin!"
     Grenouille trat aus Baldinis Schatten  heraus, legte die  Leder auf den
Tisch, sprang dann rasch wieder zuruck und stellte sich zwischen Baldini und
die  Tur.  Baldini  blieb  noch eine Weile stehen. Er hielt die  Kerze etwas
beiseite, damit keine Wachstropfen  auf den Tisch fielen, und strich mit dem
Fingerrucken uber die glatte Fluche des Leders. Dann schlug  er  das oberste
um  und fuhr uber  die samtige, zugleich rauhe und weiche Innenseite. Es war
sehr  gut, dieses Leder.  Wie geschaffen fur  eine spanische Haut. Es  wurde
sich beim Trocknen  kaum  verziehen, es wurde,  wenn man es  richtig mit dem
Falzbein strich, wieder geschmeidig werden, er spurte das sofort, wenn er es
nur zwischen Daumen und  Zeigefinger  druckte; es konnte Duft fur funf  oder
zehn Jahre aufnehmen; es war ein sehr, sehr gutes  Leder  - vielleicht wurde
er Handschuhe  daraus  machen,  drei Paar fur sich und drei  Paar  fur seine
Frau, fur die Reise nach Messina.
     Er zog seine Hand  zuruck. Ruhrend sah der Arbeitstisch aus: wie  alles
bereit lag;  die Glaswanne fur das Duftbad, die Glasplatte zum Trocknen, die
Reibschalen  zum  Anmischen  der  Tinktur, Pistill und  Spatel,  Pinsel  und
Falzbein und Schere. Es  war,  als  schliefen die Dinge  nur, weil es dunkel
war,  und als wurden  sie  morgen  wieder lebendig. Vielleicht sollte er den
Tisch  mitnehmen  nach  Messina?  Und einen  Teil seines  Werkzeugs, nur die
wichtigsten Stucke...? Man saß und arbeitete sehr gut an diesem Tisch.
Er bestand aus Eichenbrettern,  und  das Gestell ebenfalls, und er war  quer
verstrebt, da zitterte und wackelte nichts an diesem Tisch, dem machte keine
Suure etwas aus und kein ul und kein  Messerschnitt - und ein Vermugen wurde
es  kosten,  ihn nach Messina  zu bringen! Selbst mit dem Schiff! Und  darum
wird er verkauft, der Tisch, morgen wird er verkauft, und alles, was darauf,
darunter und  daneben ist, wird ebenfalls verkauft!  Denn er, Baldini, hatte
zwar ein sentimentales Herz, aber er hatte auch einen starken Charakter, und
deshalb wurde er, so schwer  es ihm fiel, seinen Entschluss durchfuhren; mit
Trunen in den Augen gab er alles weg, aber er wurde es trotzdem tun, denn er
wusste, dass es richtig war, er hatte ein Zeichen bekommen.
     Er drehte  sich um, um  zu  gehen.  Da stand dieser kleine  verwachsene
Mensch in  der  Tur, den hatte er  fast schon vergessen. "Es ist gut", sagte
Baldini.  "Richte  dem  Meister  aus, das Leder ist  gut.  Ich  werde in den
nuchsten Tagen vorbeikommen, um zu bezahlen."
     "Jawohl", sagte Grenouille und blieb stehen und verstellte Baldini, der
sich  anschickte, seine Werkstatt zu verlassen, den Weg. Baldini stutzte ein
wenig, hielt aber in seiner Ahnungslosigkeit das  Verhalten des Jungen nicht
fur Chuzpe, sondern fur Schuchternheit.
     "Was ist?" fragte er. "Hast du mir noch etwas zu bestellen? Nun? Sag es
nur!" Grenouille stand geduckt und schaute Baldini  mit  jenem Blick an, der
scheinbar  ungstlichkeit  verriet,  in  Wirklichkeit  aber  einer  lauernden
Gespanntheit entsprang.
     "Ich  will bei  Ihnen  arbeiten, Maitre  Baldini.  Bei Ihnen,  in Ihrem
Geschuft will ich arbeiten."
     Das war nicht bittend gesagt, sondern  fordernd, und es war auch  nicht
eigentlich gesagt, sondern herausgepresst,  hervorgezischelt, schlangenhaft.
Und wieder verkannte Baldini  das unheimliche Selbstbewusstsein  Grenouilles
als  knabenhafte  Unbeholfenheit.  Er luchelte  ihn freundlich an. "Du  bist
Gerberlehrling, mein  Sohn", sagte er, "ich habe keine Verwendung fur  einen
Gerberlehrling. Ich habe  selbst einen Gesellen, und einen Lehrling  brauche
ich nicht."
     "Sie  wollen  diese  Ziegenleder riechen machen, Maitre Baldini?  Diese
Leder, die ich Ihnen  gebracht habe, die wollen Sie  doch  riechen  machen?"
zischelte Grenouille,  als  habe er Baldinis Antwort  gar nicht zur Kenntnis
genommen.
     "In der Tat", sagte Baldini.
     "Mit  >Amor und  Psyche<  von  Pelissier?" fragte  Grenouille und
duckte  sich  noch tiefer zusammen. Jetzt zuckte ein milder Schrecken  durch
Baldinis  Kurper.  Nicht  weil er sich  fragte, woher der  Bursche  so genau
Bescheid  wusste, sondern einfach wegen der Namensnennung dieses  verhassten
Parfums, an dessen Entrutselung er heute gescheitert war.
     "Wie  kommst  du auf  die  absurde Idee,  ich  wurde ein fremdes Parfum
benutzen, um..."
     "Sie  riechen  danach!" zischelte  Grenouille.  "Sie tragen es  auf der
Stirn, und  in der rechten Rocktasche haben  Sie ein  Tuch, das ist getrunkt
davon. Es ist nicht gut, dieses >Amor und Psyche<, es ist schlecht, es
ist zu viel Bergamotte darin und zu viel Rosmarin und zu wenig Rosenul."
     "Aha", sagte Baldini,  der  von  der  Wendung des Gespruchs  ins Exakte
vullig uberrascht war, "was noch?"
     "Orangenblute,  Limette,  Nelke, Moschus, Jasmin, Weingeist  und etwas,
von dem ich den Namen  nicht kenne, hier, sehen Sie, da! In dieser Flasche!"
Und er deutete mit dem Finger ins Dunkle. Baldini hielt  den Leuchter in die
angegebene Richtung, sein Blick folgte dem  Zeigefinger des Jungen  und fiel
auf eine Flasche im Regal, die mit einem graugelben Balsam gefullt war.
     "Storax?" fragte er.
     Grenouille nickte. "Ja. Das ist drin. Storax." Und dann krummte er sich
wie von einem Krampf zusammengezogen und murmelte  mindestens ein dutzendmal
das Wort >Storax< vor sich hin:
     "Storaxstoraxstoraxstorax..."
     Baldini hielt  die Kerze gegen das storaxkruchzende Huuflein Mensch und
dachte: Entweder ist er besessen,  oder  er  ist  ein betrugerischer Gauner,
oder  er ist ein  begnadetes Talent.  Denn dass die  angegebenen  Stoffe  in
richtiger  Zusammensetzung  das  Parfum   >Amor  und  Psyche<  ergeben
konnten, war durchaus muglich; es  war sogar wahrscheinlich. Rosenul,  Nelke
und  Storax  - nach  diesen drei  Komponenten  hatte er heute  Nachmittag so
verzweifelt gesucht; mit ihnen fugten sich die anderen Teile der Komposition
-  die  auch  er erkannt  zu haben glaubte -  wie Segmente zu einem hubschen
runden  Kuchen. Es  war  jetzt  nur  noch  die  Frage,  in  welchem  exakten
Verhultnis zueinander man sie fugen musste. Um das herauszufinden, wurde er,
Baldini,  tagelang  herumexperimentieren mussen,  eine entsetzliche  Arbeit,
fast noch schlimmer als das bloße Identifizieren  der Teile,  denn nun
galt  es,  zu messen und zu wugen  und zu  notieren und dabei  doch hullisch
aufzupassen,  denn  die  kleinste  Unaufmerksamkeit - ein  Zittern  mit  der
Pipette, ein  Fehler  beim Tropfenzuhlen - konnte alles verderben. Und jeder
verpatzte Versuch war grußlich teuer. Jede verdorbene Mischung kostete
ein  kleines  Vermugen...  Er wollte  den  kleinen Menschen  auf  die  Probe
stellen,  wollte  ihn nach  der  exakten Formel  von >Amor und Psyche<
fragen. Wenn  er sie  wusste, auf  Gramm  und  Tropfen  genau - dann  war er
offenkundig  ein  Betruger,  der  sich  auf  irgendeine Weise das Rezept von
Pelissier  ergaunert hatte, um sich bei  Baldini  Zutritt  und Anstellung zu
verschaffen.  Erriet er sie aber ungefuhr, dann war er ein  Geruchsgenie und
forderte als solches Baldinis professionelles Interesse  heraus. Nicht  dass
Baldini  seinen  gefassten  Entschluss, das Geschuft  aufzugeben,  in  Frage
stellte!  Es kam ihm nicht auf das  Parfum  von  Pelissier  als solches  an.
Selbst wenn der Bursche es ihm literweise  verschaffte, Baldini dachte nicht
im  Traum daran, die spanische  Haut des Grafen Verhamont damit zu beduften,
aber... Aber  man  war  doch  nicht sein Leben lang Parfumeur gewesen, hatte
sich nicht ein Leben lang mit der Zusammensetzung von Duften beschuftigt, um
von einer  Stunde  zur  anderen seine ganze  professionelle Leidenschaft  zu
verlieren! Es interessierte ihn jetzt, die Formel dieses verfluchten Parfums
herauszubekommen,  und  mehr noch,  das Talent dieses unheimlichen Jungen zu
erforschen, der ihm  einen  Duft von der Stirne abgelesen  hatte.  Er wollte
wissen, was da dahintersteckte. Er war ganz einfach neugierig.
     "Du hast, so scheint  es,  eine  feine Nase, junger  Mann",  sagte  er,
nachdem Grenouille mit seinem Gekruchze  aufgehurt hatte, und trat zuruck in
die Werkstatt, um den Leuchter vorsichtig auf  dem Arbeitstisch abzustellen,
"eine zweifellos feine Nase, aber..."
     "Ich  habe   die  beste   Nase  von  Paris,  Maitre  Baldini",schnarrte
Grenouille dazwischen. "Ich kenne  alle Geruche der Welt, alle, die in Paris
sind, alle,  nur kenne ich  von manchen die Namen nicht, aber ich  kann auch
die Namen lernen, alle Geruche, die Namen  haben, das sind  nicht viele, das
sind nur einige Tausende, ich werde sie alle lernen, ich werde den Namen des
Balsams  nie  vergessen,  Storax,  der  Balsam   heisst  Storax  heisst  er,
Storax..."
     "Schweig!" rief Baldini, "unterbrich mich  nicht,  wenn ich spreche! Du
bist  vorlaut und  anmaßend.  Kein  Mensch kennt  tausend Geruche beim
Namen.  Selbst  ich  kenne nicht  tausend  beim  Namen,  sondern nur  einige
hundert, denn  mehr  gibt es nicht  in  unserem Gewerbe als einige  hundert,
alles andre ist nicht Geruch, sondern Gestank!"
     Grenouille,  der  sich wuhrend seiner  lungeren  eruptiven Zwischenrede
beinahe kurperlich entfaltet,  in der  Erregung  sogar  fur einen Moment mit
beiden Armen im Kreis gefuchtelt hatte, um das  >alles, alles<, was er
kenne, zu umschreiben, klappte bei Baldinis Entgegnung augenblicks wieder in
sich  zusammen  wie  eine  kleine  schwarze  Krute  und  verharrte  auf  der
Turschwelle, bewegungslos lauernd.
     "Ich bin mir", fuhr Baldini fort, "selbstverstundlich lungst daruber im
klaren, dass >Amor  und Psyche< aus  Storax,  Rosenul  und Nelke sowie
Bergamott  und  Rosmarinextrakt  et cetera besteht.  Um  das herauszufinden,
bedarf es, wie gesagt,  bloß einer leidlich  feinen  Nase, und es  mag
durchaus  sein,  dass Gott dir  eine leidlich feine  Nase  gegeben  hat, wie
vielen, vielen  anderen Menschen  auch -  namentlich  in  deinem  Alter. Der
Parfumeur jedoch"  - und hier hob Baldini  den  Zeigefinger und wulbte seine
Brust  heraus  - "der Parfumeur jedoch braucht mehr als eine  leidlich feine
Nase.  Er  braucht  ein  uber  viele  Jahrzehnte  geschultes,  unbestechlich
arbeitendes Riechorgan,  das  ihn  in Stand  versetzt, auch  komplizierteste
Geruche nach Art und Menge sicher zu entrutseln, ebenso wie neue, unbekannte
Duftgemische  zu  kreieren. Eine solche Nase" - und er tippte mit dem Finger
an die seine "hat man nicht,  junger Mann! Eine solche Nase erwirbt man sich
mit Ausdauer und Fleiß. Oder kunntest du mir vielleicht auf Anhieb die
exakte Formel von >Amor und Psyche< nennen? Nun? Kunntest du das?"
     Grenouille antwortete nicht.
     "Kunntest  du  sie mir vielleicht ungefuhr verraten?" sagte Baldini und
beugte sich ein wenig vor, um die Krute in der Tur genauer zu sehen, "nur so
in etwa, schutzungsweise? Nun? Sprich, du beste Nase von Paris!"
     Doch Grenouille schwieg.
     "Siehst  du?"   sagte  Baldini   gleichermaßen   befriedigt   wie
enttuuscht und richtete sich  wieder  auf, "du  kannst  es nicht.  Naturlich
nicht. Wie solltest  du es auch kunnen.  Du bist wie einer, der  beim  Essen
schmeckt, ob Kerbel oder Petersilie in der  Suppe ist. Nun gut das ist schon
etwas. Aber deshalb bist du noch lange kein Koch. In jeder Kunst und auch in
jedem Handwerk - merke dir das, bevor du gehst! - gilt das Talent so gut wie
nichts, aber  alles  die Erfahrung, die durch Bescheidenheit und Fleiß
erworben wird."
     Er  griff  nach dem  Leuchter  auf dem Tisch, als Grenouilles gePresste
Stimme von der Tur her schnarrte:
     "Ich weiß nicht, was eine Formel  ist, Mahre, das weiß  ich
nicht, sonst weiß ich alles!"
     "Eine Formel ist das A und O jeden  Parfums", erwiderte Baldini streng,
denn er  wollte  dem Gespruch nun  ein Ende machen. "Sie ist  die akribische
Anweisung, in welchem Verhultnis die einzelnen Ingredienzen zu mischen sind,
damit der  eine gewunschte,  unverwechselbare  Duft  entstehe;  das  ist die
Formel. Sie ist das Rezept - wenn du dieses Wort besser verstehst." "Formel,
Formel", kruchzte Grenouille  und wurde etwas grußer  in der Tur, "ich
brauche keine  Formel. Ich  habe das Rezept in meiner  Nase. Soll ich es fur
Sie mischen, Maitre, soll ich es mischen, soll ich?"
     "Wie  denn?" rief Baldini mit ziemlicher Lautsturke und hielt dem  Gnom
die Kerze vors Gesicht. "Wie denn mischen?"
     Grenouille zuckte zum ersten Mal nicht mehr zuruck. "Aber sie sind doch
alle da, die man  braucht, die Geruche,  sind doch alle da, in diesem Raum",
sagte  er und deutete wieder ins Dunkle. "Rosenul da! Orangenblute da! Nelke
da! Rosmarin da...!"
     "Freilich sind sie da!" brullte Baldini. "Alle sind  sie  da! Aber  ich
sage dir doch, Holzkopf, das nutzt nichts, wenn man die Formel nicht hat!"
     "...Jasmin  da!  Weingeist  da!  Bergamotte  da! Storax  da!"  kruchzte
Grenouille  weiter  und deutete bei jedem Namen  auf  einen anderen Punkt im
Raum, wo es so dunkel war, dass man den Schatten der Regale mit den Flaschen
huchstens ahnen konnte.
     "Du  siehst  wohl auch bei Nacht,  he?"  fuhr  Baldini ihn an, "du hast
nicht nur die  feinste  Nase, sondern auch  die schurfsten Augen  von Paris,
wie? Wenn du nur leidlich gute Ohren hast, dann  mach sie auf, denn ich sage
dir: Du bist  ein  kleiner  Betruger.  Wahrscheinlich  hast du  irgend etwas
aufgeschnappt bei Pelissier, hast  was  ausspioniert,  wie? Und  glaubst, du
kunntest mich hinters Licht fuhren?"
     Grenouille stand jetzt  ganz auseinandergefaltet,  sozusagen in  voller
Kurpergruße in der  Ture, mit leicht  auseinandergestellten Beinen und
leicht  abgespreizten Armen, so dass er aussah wie eine schwarze Spinne, die
sich an Schwelle und Rahmen festkrallte. "Geben Sie mir zehn Minuten", sagte
er in ziemlich flussiger Rede, "und  ich werde Ihnen das Parfum >Amor und
Psyche<  herstellen. Jetzt  gleich und hier in diesem Raum. Maitre, geben
Sie mir funf Minuten!"
     "Du glaubst,  ich  lasse dich in meiner  Werkstatt herumpantschen?  Mit
Essenzen, die ein Vermugen wert sind? Dich?"
     "Ja", sagte Grenouille.
     "Pah!" rief  Baldini  und  stieß  dabei  den ganzen Atem, den  er
hatte, auf einmal heraus. Dann  holte  er tief  Luft,  sah den spinnenhaften
Grenouille  lange  an und uberlegte. Im Grunde ist es egal, dachte  er, denn
morgen hat sowie soalles ein Ende. Ich weiß zwar, dass er  das, was er
behauptet,  nicht  kann,  ja  gar  nicht  kunnen  kann, er  wure  denn  noch
grußer als der  große Frangipani. Aber  warum soll  ich mir das,
was  ich weiß, nicht noch  vor Augen  demonstrieren lassen?  Womuglich
kommt mir  sonst in Messina eines  Tages  man wird ja manchmal  sonderbar im
Alter  und versteift sich auf die  verrucktesten Ideen  -  der Gedanke,  ich
hutte  ein  olfaktorisches  Genie,  ein Wesen,  auf  dem  die  Gnade  Gottes
uberreichlich ruhte, ein Wunderkind, als  solches nicht  erkannt... - Es ist
ganz  ausgeschlossen.  Nach  allem,  was  mir  der  Verstand  sagt,  ist  es
ausgeschlossen - aber Wunder gibt es, das steht fest. Nun, wenn ich dereinst
sterbe in Messina, und auf dem  Sterbelager kommt mir der Gedanke: Damals in
Paris, an  jenem Abend, hast du vor einem Wunder die Augen zugemacht...? Das
wure nicht sehr  angenehm, Baldini!  Soll der  Narr die paar Tropfen Rosenul
und Moschustinktur verkleckern, du selbst huttest sie auch verkleckert, wenn
dich das  Parfum  von  Pelissier noch  wirklich interessierte. Und  was sind
schon die paar Tropfen - wiewohl teuer, sehr, sehr teuer! -  gemessen an der
Sicherheit des Wissens und an einem ruhigen Lebensabend?
     "Pass auf!" sagte er mit kunstlich strenger Stimme, "pass auf! Ich... -
wie heisst du uberhaupt?"
     "Grenouille", sagte Grenouille. "Jean-Baptiste Grenouille."
     "Aha", sagte Baldini.  "Also pass auf,  Jean-Baptiste  Grenouille!  Ich
habe es  mir uberlegt. Du  sollst  die Gelegenheit bekommen, jetzt,  sofort,
deine Behauptung  zu beweisen. Dies ist  zugleich eine Gelegenheit fur dich,
durch ein  eklatantes Scheitern  die Tugend der  Bescheidenheit  zu  lernen,
welche  - in deinem  jungen Alter vielleicht  verzeihlicherweise  noch  kaum
entwickelt - eine  unabdingbare  Voraussetzung fur  dein sputeres Fortkommen
als Mitglied deiner Zunft und deines Standes, als Ehemann, als Untertan, als
Mensch und als ein guter Christ sein wird. Ich bin  bereit,  dir diese Lehre
auf meine Kosten  zu erteilen, denn aus  bestimmten Grunden  bin  ich  heute
spendabel  aufgelegt, und,  wer  weiß, vielleicht wird mir eines Tages
die  Ruckerinnerung an diese Szene etwas Heiterkeit  bereiten.  Aber  glaube
nicht, du  kunntest mich ubertulpeln!  Giuseppe Baldinis Nase ist alt,  aber
sie ist scharf, scharf genug, auch den kleinsten Unterschied zwischen deiner
Mixtur und diesem  Produkt  hier"  -  und dabei  zog  er sein  >Amor  und
Psyche< -  getrunktes Tuchlein aus der Tasche  und wedelte  es Grenouille
vor die  Nase - "sofort  festzustellen. Tritt  nuher, beste Nase von  Paris!
Tritt nuher an diesen Tisch und zeige, was du kannst! Doch gib acht, dass du
mir nichts umstußt und herunterwirfst! Ruhre mir nichts an!  Erst will
ich  mehr  Licht machen. Wir wollen große Beleuchtung haben fur dieses
kleine Experiment, nicht wahr?"
     Und  damit  nahm er zwei andere Leuchter, die  am Rand des großen
Eichentisches  standen,  und  zundete sie  an. Er postierte  sie  alle  drei
nebeneinander an der hinteren Lungsseite,  schob das Leder  beiseite, ruumte
den mittleren  Teil des Tisches frei. Dann, mit zugleich ruhigen und raschen
Griffen, holte er die Gerute, die das Geschuft erforderte, von einem kleinen
Gestell: die große bauchige Mischflasche,  den glusernen Trichter, die
Pipette,  das  kleine  und  das  große   Messglas,   und  stellte  sie
wohlgeordnet vor sich auf die Eichenplatte.
     Grenouille hatte  sich inzwischen vom Turrahmen  gelust. Schon  wuhrend
Baldinis  pompuser  Rede  war  das  Versteifte, lauernd Verdruckte  von  ihm
abgefallen. Er  hurte nur die  Zustimmung, nur das  Ja, mit dem innern Jubel
eines   Kindes,  das  sich  ein  Zugestundnis  ertrotzt  hat  und  auf   die
Einschrunkungen,  Bedingungen  und moralischen Ermahnungen,  die  sich daran
knupfen, pfeift. Locker  dastehend, einem  Menschen zum ersten Mal uhnlicher
als einem Tier, ließ er den Rest von Baldinis  Suada uber sich ergehen
und  wusste, dass  er diesen Mann,  der ihm nun  nachgab,  schon uberwultigt
hatte.
     Wuhrend  Baldini  noch  mit   seinen  Kerzenleuchtern   auf  dem  Tisch
hantierte, schlupfte Grenouille schon in das seitliche Dunkel der Werkstatt,
wo die  Regale mit den kostbaren Essenzen, ulen und  Tinkturen  standen, und
griff  sich,  der sicheren Witterung  seiner Nase  folgend,  die  benutigten
Fluschchen von  den Borden. Neun waren es  an der Zahl: Orangenblutenessenz,
Limettenul, Nelken- und Rosenul,  Jasmin-, Bergamotte- und  Rosmarinextrakt,
Moschustinktur und Storaxbalsam,  die er sich rasch  herunterpfluckte und am
Rand des Tisches  zurechtstellte.  Als letztes schleppte er einen Ballon mit
hochprozentigem  Weingeist heran. Dann stellte  er sich hinter Baldini,  der
noch  immer mit beduchtiger Pedanterie seine  Mischgefuße arrangierte,
dieses Glas  ein wenig  dahin  ruckte, jenes noch  ein  wenig dorthin, damit
alles seine gute altgewohnte Ordnung habe und sich im vorteilhaftesten Licht
der Leuchter prusentiere - und wartete, zitternd vor Ungeduld, dass der Alte
sich entferne und ihm Platz mache.
     "So!" sagte  Baldini  endlich  und trat  zur  Seite.  "Hier  ist  alles
aufgereiht,  was   du   fur   dein   -   nennen  wir   es  freundlicherweise
>Experiment<  benutigst.  Zerbrich mir  nichts, vertropfe mir  nichts!
Denn  merke:  Diese  Flussigkeiten,  mit denen du  jetzt  funf  Minuten lang
hantieren darfst, sind von einer Kostbarkeit  und Seltenheit, wie du sie nie
wieder in deinem Leben in so konzentrierter Form in Hunden halten wirst!"
     "Wie  viel soll  ich  Ihnen  machen,  Maitre?"  fragte  Grenouille."Was
machen...?"  sagte  Baldini, der seine Rede noch  nicht beendet hatte.  "Wie
viel von  dem Parfum?"  schnarrte  Grenouille,  "wie viel davon  wollen  Sie
haben? Soll ich diese dicke Flasche bis zum Rand vollfullen?" Und er deutete
auf eine Mischflasche, die gut und gerne drei Liter fasste.
     "Nein, das  sollst du nicht!" schr ie Baldini entsetzt,  und  es schrie
aus ihm die ebenso tief verwurzelte wie spontane Angst vor der Verschwendung
seines Eigentums. Und als geniere  er sich  uber diesen entlarvenden Schrei,
brullte er gleich hinterher:  "Und  in die Rede fallen  sollst du  mir  auch
nicht!" um  dann in ruhigerem, ironisch eingefurbtem Ton fortzufahren: "Wozu
brauchen wir drei Liter  von einem Parfum, das wir beide nicht  schutzen? Im
Grunde  genugte ein halber Messbecher  voll.  Da  solch  kleine  Quantituten
jedoch unpruzis zu mischen sind, will ich dir gestatten, eine Drittelfullung
der Mischflasche anzusetzen."
     "Gut",  sagte Grenouille. "Ich werde diese Flasche zu einem Drittel mit
>Amor und Psyche< fullen. Aber, Maitre Baldini, ich mache es auf meine
Art. Ich  weiß nicht, ob das die zunftige Art ist, denn die kenne  ich
nicht, aber ich mache es auf meine Art."
     "Bitte!" sagte  Baldini, der wusste, dass es bei  diesem Geschuft nicht
meine oder deine, sondern eben nur eine, eine  einzig mugliche und  richtige
Art gab, die darin bestand, in Kenntnis der Formel und unter  entsprechender
Umrechnung  auf  die zu erzielende  Endmenge ein aufs  Exakteste vermessenes
Konzentrat aus  den verschiedenen  Essenzen herzustellen, welches  daraufhin
mit Alkohol in einem wiederum exakten Verhultnis, das meistens zwischen eins
zu zehn  und eins  zu zwanzig schwankte,  zum endgultigen Parfum vergeistigt
werden musste.  Eine andre  Art, das wusste er,  gab es nicht.  Und  deshalb
musste  ihm  das, was er  nun  zu  sehen  bekam  und  was  er  zunuchst  mit
sputtischer Distanz, dann mit Verwirrung und schließlich nur noch  mit
hilflosem  Erstaunen  beobachtete,  als  schieres Wunder erscheinen. Und die
Szene utzte sich so in sein Geduchtnis  ein, dass er sie bis ans Ende seiner
Tage nicht mehr vergaß.


     Der  kleine  Mensch  Grenouille  entkorkte als  erstes  den  Ballon mit
Weingeist. Er hatte Muhe, das schwere Gefuß hochzuwuchten. Fast bis in
Kopfhuhe musste er  es heben,  denn so  hoch  stand die Mischflasche mit dem
aufgesetzten Glastrichter,  in  den er, ohne Zuhilfenahme eines Messbechers,
den Alkohol direkt aus  dem  Ballon  goss.  Baldini schauderte  vor so  viel
geballtem  Unvermugen:   Nicht  nur,   dass  der   Kerl  die  parfumistische
Weltordnung  auf den  Kopf stellte, indem er mit  dem  Lusungsmittel anfing,
ohne das zu lusende  Konzentrat zu besitzen - er war auch kaum physisch dazu
in der Lage! Er zitterte vor Anstrengung, und Baldini rechnete  jeden Moment
damit,  dass  der schwere  Ballon  herunterkrachen und alles  auf  dem Tisch
zertrummern werde. Die Kerzen,  dachte  er, um Gottes willen, die Kerzen! Es
wird eine Explosion geben,  er wird mein  Haus  abbrennen...! Und er  wollte
schon hinsturzen,  um dem  Verruckten  den  Ballon  zu entreißen,  als
Grenouille ihn selber absetzte, heil  zu Boden brachte und wieder verkorkte.
In  der Mischflasche schwankte  die leichte klare Flussigkeit  - es war kein
Tropfen  danebengegangen. Fur ein  paar Momente verschnaufte sich Grenouille
und   machte   dabei   ein  so   zufriedenes   Gesicht,  als  habe   er  den
beschwerlichsten Teil der Arbeit schon  hinter sich. Und in der Tat ging das
Folgende mit  einer derartigen Geschwindigkeit vonstatten, dass Baldini  mit
den Augen kaum folgen konnte, geschweige denn eine Reihenfolge oder auch nur
einen irgendwie geregelten Ablauf des Geschehens hutte erkennen kunnen.
     Anscheinend  wahllos griff Grenouille in die Reihe der  Flakons mit den
Duftessenzen, riss  die  Glasstupsel  heraus, hielt sich den Inhalt fur eine
Sekunde  unter  die Nase,  schuttete dann von  diesem,  trupfelte von  einem
anderen, gab einen Schuss  von einem dritten Fluschchen in den Trichter  und
so fort. Pipette, Reagenzglas, Messglas, Luffelchen  und Ruhrstab - all  die
Gerute, die  den komplizierten Mischprozess fur  den Parfumeur  beherrschbar
machen, ruhrte  Grenouille kein  einziges Mal an. Es war, als spiele er nur,
als pritschle und pansche er wie ein Kind, das  aus Wasser,  Gras und  Dreck
einen scheußlichen Sud kocht und  dann behauptet,  es sei eine  Suppe.
Ja, wie ein Kind, dachte Baldini;  er sieht auch mit  einem Mal aus wie  ein
Kind,  trotz  seinen klobigen  Hunden, trotz seinem  vernarbten,  zerkerbten
Gesicht und  der knolligen Altmunnernase. Ich  habe ihn fur  ulter gehalten,
als er ist, und jetzt kommt er mir  junger vor; wie drei oder vier kommt  er
mir vor;  wie diese  unzugunglichen, unbegreiflichen,  eigensinnigen kleinen
Vormenschen, die, angeblich unschuldig, nur an sich selber denken, die alles
auf der Welt sich despotisch unterordnen wollen und es wohl auch tun wurden,
wenn man sie in  ihrem Grußenwahn gewuhren ließe und nicht durch
strengste erzieherische Maßnahmen nach und  nach disziplinierte und an
die  selbstbeherrschte  Existenz  des  Vollmenschen  heranfuhrte. Ein  solch
fanatisches Kleinkind steckte in diesem jungen Mann, der mit gluhenden Augen
am Tisch stand und seine ganze Umgebung vergessen hatte, offenbar  gar nicht
mehr wusste, dass es noch  etwas andres gab in der Werkstatt außer ihm
und diesen Flaschen, die er mit  behender Tapsigkeit an den Trichter fuhrte,
um sein  wahnsinniges  Gebruu  zu mischen,  von  dem er  hinterher todsicher
behaupten wurde - und auch  noch daran glaubte! - es sei das erlesene Parfum
>Amor und Psyche<.  Es schauderte  Baldini,  als er dem im flackernden
Kerzenlicht  so grußlich verkehrt und so grußlich  selbstbewusst
hantierenden Menschen zusah: Seinesgleichen  - so dachte er, und ihm war fur
einen  Moment  wieder  so  traurig  und  elend  und  wutend  zumute  wie  am
Nachmittag, als er auf die in der Dummerung rotgluhende Stadt geblickt hatte
seinesgleichen  hutte  es  fruher  nicht  gegeben;  das war ein  ganz  neues
Exemplar  der  Gattung,  wie es  nur  in  dieser maroden, verlotterten  Zeit
entstehen  konnte...  Aber er  sollte seine  Lehre  bekommen, der prupotente
Bursche! Zusammenputzen wurde er ihn am Ende dieser lucherlichen Auffuhrung,
dass  er  davonschlich als  das  geduckte  Huuflein  Nichts,  als welches er
gekommen war. Geschmeiß! Man  durfte sich uberhaupt mit niemandem mehr
einlassen heutzutage, denn es wimmelte von lucherlichem Geschmeiß!
     So  beschuftigt war Baldini mit seiner inneren Empurung und seinem Ekel
vor der Zeit,  dass  er  nicht recht  begriff, was es  bedeuten sollte,  als
Grenouille plutzlich sumtliche Flakons verstupselte, den  Trichter  aus  der
Mischflasche zog, die Flasche selbst mit einer Hand am Halse packte, sie mit
der  flachen  linken  Hand verschloss  und heftig schuttelte.  Erst als  die
Flasche mehrmals durch die Luft  gewirbelt  war,  ihr  kostbarer Inhalt  wie
Limonade vom Bauch in den Hals und zuruck sturzte, stieß Baldini einen
Wut- und Entsetzensschrei  aus.  "Halt!" kreischte  er.  "Genug  jetzt!  Hur
augenblicklich auf! Basta! Stell sofort  die Flasche auf den Tisch und ruhre
nichts mehr an, verstehst du, nichts mehr! Ich muss wahnsinnig gewesen sein,
mir dein turichtes Geschwutz uberhaupt  anzuhuren. Die Art und Weise, wie du
mit  den Dingen umgehst,deine Grobheit,  dein  primitiver Unverstand  zeigen
mir,  dass du ein Stumper bist, ein  barbarischer  Stumper und ein  lausiger
frecher  Rotzbengel obendrein.  Du  taugst nicht  mal zum  Limonadenmischer,
nicht einmal zum  einfachsten Lakritzwasserverkuufer taugst  du,  geschweige
denn  zum Parfumeur! Sei froh, sei dankbar  und zufrieden,  wenn  dich  dein
Meister weiterhin mit Gerberbruhe panschen lusst! Wage es nicht noch einmal,
hurst du mich? Wage es nicht noch einmal, deinen Fuß uber die Schwelle
eines Parfumeurs zu setzen!"
     So  sprach Baldini. Und wuhrend er noch sprach,  war der  Raum  um  ihn
herum  schon  duftgesuttigt  von  >Amor  und  Psyche<.  Es  gibt  eine
uberzeugungskraft des Duftes, die sturker ist als Worte, Augenschein, Gefuhl
und Wille.  Die uberzeugungskraft des Duftes ist nicht  abzuwehren, sie geht
in uns hinein wie die  Atemluft in unsere Lungen, sie erfullt uns, fullt uns
vollkommen aus, es gibt kein Mittel gegen sie.
     Grenouille hatte  die Flasche abgesetzt, die mit Parfum  benetzte  Hand
vom Hals  genommen  und an  seinem  Rocksaum abgewischt.  Ein,  zwei Schritt
zuruck,  das  linkische  Zusammenklappen  seines   Kurpers   unter  Baldinis
Standpauke schlugen genugend Wellen in der Luft,  um den neugeschaffnen Duft
ringsum  zu  verbreiten. Mehr war nicht nutig.  Zwar, Baldini tobte noch und
zeterte und schimpfte; doch mit jedem Atemzug fand seine uußerlich zur
Schau gestellte  Wut  im  Innern  weniger  Nahrung.  Ihm  schwante, dass  er
widerlegt war, weswegen seine Rede sich gegen Ende nur noch in hohles Pathos
steigern  konnte. Und  als  er schwieg, eine  Weile  lang geschwiegen hatte,
brauchte es gar nicht mehr Grenouilles Bemerkung: "Es ist fertig." Er wusste
es ohnehin.
     Aber trotzdem,  obwohl  ihn  mittlerweile  von  allen  Seiten  her  die
>Amor-und-Psyche<-schwere  Luft  umwallte,   trat  er  an   den  alten
Eichentisch, um eine Probe vorzunehmen. Zog ein frisches, schneeweißes
Spitzentuchlein aus der Rocktasche, aus der linken, entfaltete es und tupfte
darauf ein paar Tropfen,  die er mit der langen Pipette aus der Mischflasche
gezogen  hatte.  Schwenkte  das  Tuchlein am  ausgestreckten  Arm, um es  zu
aerieren, und  zog es dann mit der geubten zierlichen  Bewegung unter seiner
Nase  hindurch,  den  Duft  in sich  einsaugend. Wuhrend  er  ihn  ruckweise
ausstrumen  ließ,  setzte er  sich auf einen  Hocker. Er war zuvor von
seinem  - Wutausbruch noch tiefrot  im Gesicht gewesen  - mit einem Mal ganz
blass geworden.  "Unglaublich", murmelte er leise  vor sich hin, "bei Gott -
unglaublich."
     Und wieder und  wieder druckte  er  die Nase  gegen  das  Tuchlein  und
schnuffelte  und schuttelte  den Kopf und  murmelte  "unglaublich.":  Es war
>Amor  und  Psyche<,   ohne   den   geringsten  Zweifel  >Amor  und
Psyche<, das hassenswert  geniale Duftgemisch, so  pruzise  kopiert, dass
nicht  einmal Pelissier selber  es von seinem  Produkt  wurde  unterscheiden
kunnen. "Unglaublich..."
     Klein und blass  saß der große  Baldini auf dem Hocker  und
sah lucherlich aus mit  seinem  Tuchlein  in  der  Hand,  das  er  wie  eine
verschnupfte Jungfer gegen  die  Nase druckte. Die Sprache hatte es  ihm nun
vollstundig verschlagen.  Er  sagte nicht einmal "unglaublich" mehr, sondern
stieß nur noch,  indem  er fortwuhrend leise nickte und auf den Inhalt
der Mischflasche  starrte, ein  monotones "Hm, hm, hm...hm, hm, hm...hm, hm,
hm.." aus. Nach einer Weile nuherte sich Grenouille und trat lautlos wie ein
Schatten an den Tisch.
     "Es  ist  kein   gutes  Parfum",  sagte  er,  "es  ist   sehr  schlecht
zusammengesetzt, dieses Parfum."
     "Hm, hm,  hm", sagte  Baldini,  und  Grenouille  fuhr  fort: "Wenn  Sie
erlauben, Maitre, will ich es verbessern. Geben Sie mir eine Minute, und ich
mache Ihnen ein anstundiges Parfum daraus!"
     "Hm,  hm,  hm",  sagte  Baldini und nickte.  Nicht  weil er  zustimmte,
sondern weil er eben in einem so hilflos apathischen Zustand war, dass er zu
allem und jedem  "hm,  hm, hm" gesagt und  genickt hutte. Und er nickte auch
weiter  und  murmelte "hm,  hm, hm" und machte keine Anstalten einzugreifen,
als Grenouille  zum  zweiten  Mal  zu mischen  anfing,  ein zweites  Mal den
Weingeist  aus  dem Ballon  in die  Mischflasche  goss,  zum  bereits  darin
befindlichen Parfum  hinzu,  zum zweiten  Mal  den  Inhalt  der  Flakons  in
scheinbar wahlloser Reihenfolge und Menge in den Trichter kippte. Erst gegen
Ende der Prozedur - Grenouille schuttelte die Flasche diesmal nicht, sondern
schwenkte sie  nur sachte  wie ein  Cognacglas, vielleicht mit Rucksicht auf
Baldinis  Zartgefuhl,  vielleicht  weil  ihm der  Inhalt  diesmal  kostbarer
erschien - erst jetzt also, als die Flussigkeit schon fertig  in der Flasche
kreiselte, erwachte Baldini aus seinem betuubten Zustand und erhob sich, das
Tuchlein freilich immer noch vor die Nase gepresst, als wolle er  sich gegen
einen neuerlichen Angriff auf sein Inneres wappnen.
     "Es ist fertig,  Maitre", sagte Grenouille.  "Jetzt  ist  es  ein recht
guter Duft."
     "Jaja,  schon gut,  schon gut",  erwiderte Baldini  und winkte  ab  mit
seiner freien Hand.
     "Wollen  Sie  nicht eine  Probe  nehmen?"  gurgelte Grenouille  weiter,
"wollen Sie nicht, Maitre? Keine Probe?"
     "Sputer, bin jetzt nicht aufgelegt zu einer Probe... habe andere Sachen
im Kopf. Geh jetzt! Komm!"
     Und er nahm einen der Leuchter und  ging zur Tur hinaus, hinuber in den
Laden. Grenouille  folgte ihm. Sie  kamen in den schmalen Korridor, der  zum
Dienstboteneingang  fuhrte. Der Alte  schlurfte  auf die Pforte zu, riss den
Riegel zuruck und uffnete. Er trat beiseite, um den Jungen hinauszulassen.
     "Darf ich nun bei Ihnen arbeiten, Maitre, darf ich?" fragte Grenouille,
schon auf der Schwelle stehend, wieder geduckt, wieder lauernden Auges.
     "Ich  weiß   es  nicht",   sagte  Baldini,  "ich  werde   daruber
nachdenken. Geh!"
     Und  dann war Grenouille verschwunden, mit einem Mal weg, weggeschluckt
von  der  Dunkelheit.  Baldini stand da  und  glotzte  in die  Nacht. In der
rechten Hand hielt er den Leuchter, in  der linken das  Tuchlein, wie einer,
der Nasenbluten hat, und hatte  doch nur Angst.  Rasch riegelte er die  Ture
zu. Dann nahm er das schutzende Tuch vom Gesicht, schob es in die Tasche und
ging durch den Laden in die Werkstatt zuruck. Der Duft war so himmlisch gut,
dass  Baldini  schlagartig das Wasser in die Augen  trat. Er  brauchte keine
Probe zu  nehmen, er stand nur am Werktisch vor der Mischflasche und atmete.
Das Parfum war herrlich. Es war im Vergleich zu >Amor und  Psyche< wie
eine  Sinfonie im Vergleich  zum  einsamen Gekratze einer Geige.  Und es war
mehr.  Baldini schloss die Augen  und  sah  sublimste Erinnerungen  in  sich
wachgerufen.  Er sah  sich als einen jungen Menschen durch abendliche Gurten
von Neapel gehen; er  sah sich in den Armen  einer Frau mit schwarzen Locken
liegen und sah  die Silhouette eines Strauchs von Rosen auf dem Fenstersims,
uber das ein Nachtwind ging; er hurte versprengte Vugel singen und von Ferne
die Musik aus einer Hafenschenke; er hurte Flusterndes ganz dicht am Ohr, er
hurte ein  Ich  lieb dich  und  spurte,  wie  sich ihm  vor Wonne die  Haare
struubten, jetzt!  jetzt in diesem  Augenblick!  Er riss  die  Augen auf und
stuhnte vor  Vergnugen. Dieses  Parfum war  kein  Parfum, wie man es  bisher
kannte. Das  war kein  Duft, der besser riechen machte, kein  Sentbon,  kein
Toilettenartikel.  Das  war ein vullig  neuartiges Ding, das eine ganze Welt
aus  sich  erschaffen  konnte,  eine   zauberhafte,  reiche  Welt,  und  man
vergaß mit einem Schlag  die Ekelhaftigkeiten  um sich her  und fuhlte
sich so reich, so wohl, so frei, so gut...
     Die  gestruubten Haare an Baldinis Arm  legten sich, und eine beturende
Seelenruhe ergriff  Besitz von ihm. Er nahm das Leder, das  Ziegenleder, das
am Rand  des Tisches lag und nahm ein Messer und  schnitt das Leder zu. Dann
legte er  die Stucke  in die  Wanne aus Glas und  ubergoss sie mit dem neuen
Parfum. Er sturzte eine  Glasplatte auf die  Wanne, zog den Rest  des Duftes
auf zwei Fluschchen, die er mit Etiketts versah, darauf schrieb er den Namen
>Nuit Napolitaine<. Dann luschte er das Licht und ging.
     Oben  bei  seiner  Frau beim Essen sagte er nichts. Vor  allem sagte er
nichts von dem hochheiligen Entschluss, den er am Nachmittag gefasst  hatte.
Auch seine Frau sagte nichts, denn sie merkte, dass er heiter war, und damit
war sie sehr zufrieden. Er ging auch nicht  mehr hinuber nach Notre-Dame, um
Gott zu danken fur seine Charaktersturke.  Ja, er vergaß an diesem Tag
sogar zum ersten Mal, zur Nacht zu beten.


     Am nuchsten Morgen ging  er schnurstracks zu Grimal.Als erster bezahlte
er das Ziegenleder,  und zwar den vollen Preis,  ohne Murren  und  ohne  die
geringste  Feilscherei.  Und   dann   lud  er   Grimal  zu   einer   Flasche
Weißwein in  die Tour  d'Argent  ein  und  handelte  ihm  den Lehrling
Grenouille ab. Selbstverstundlich  verriet er nicht, weshalb er  ihn  wollte
und wozu er ihn brauchte.  Er schwindelte etwas daher von einem großen
Auftrag in Duftleder,  zu dessen Bewultigung er einer ungelernten Hilfskraft
bedurfe. Einen genugsamen  Burschen  brauche er, der ihm einfachste  Dienste
verrichte,  Leder zuschneide und  so weiter.  Er bestellte noch eine Flasche
Wein und bot zwanzig Livre als Entschudigung  fur  die Unannehmlichkeit, die
er Grimal durch den  Ausfall  Grenouilles verursachte. Zwanzig  Livre  waren
eine enorme Summe. Grimal schlug sofort ein. Sie gingen  in die Gerberei, wo
Grenouille sonderbarerweise  schon  mit  gepacktem  Bundel  wartete, Baldini
zahlte seine zwanzig Livre und nahm ihn, im  Bewusstsein, das beste Geschuft
seines Lebens gemacht zu haben, gleich mit.
     Grimal, der seinerseits uberzeugt war, das beste Geschuft seines Lebens
gemacht  zu haben,  kehrte in  die Tour  d'Argent zuruck,  trank  dort  zwei
weitere Flaschen Wein, zog dann gegen Mittag in den Lion d'Or am andern Ufer
um und besoff sich dort so hemmungslos, dass er, als er sput nachts abermals
in die Tour  d'Argent umziehen wollte,  die Rue Geoffroi L'Anier mit der Rue
des Nonaindieres verwechselte und somit, statt, wie er gehofft hatte, direkt
auf den Pont Marie zu  stoßen, verhungnisvollerweise auf den  Quai des
Ormes geriet, von wo aus er der Lunge nach mit dem Gesicht voraus ins Wasser
platschte wie in ein weiches Bett. Er war augenblicklich tot. Der Fluss aber
brauchte  noch  geraume  Zeit, ihn  vom seichten Ufer  weg, an den vertuuten
Lastkuhnen vorbei, in die sturkere  mittlere Strumung zu ziehen, und erst in
den  fruhen Morgenstunden  schwamm  der Gerber  Grimal,  oder vielmehr seine
nasse Leiche, in flotterer Fahrt flussabwurts, gen Westen.
     Als   er  den   Pont   au  Change  passierte,   lautlos,  ohne  an  den
Bruckenpfeiler anzuecken, ging  Jean-Baptiste Grenouille zwanzig Meter  uber
ihm gerade zu  Bett. Er  hatte in  der hinteren Ecke von Baldinis  Werkstatt
eine Pritsche hingestellt bekommen, von der  er  nun Besitz ergriff, wuhrend
sein  ehemaliger Brotherr, alle  viere von  sich gestreckt, die  kalte Seine
hinunter schwamm. Wohlig rollte er sich  zusammen  und machte sich klein wie
der Zeck. Mit beginnendem Schlaf versenkte er sich tiefer und tiefer in sich
hinein und hielt triumphalen Einzug  in seiner inneren Festung,  auf der  er
sich  ein  geruchliches  Siegesfest  ertruumte, eine gigantische  Orgie  mit
Weihrauchqualm und Myrrhendampf, zu Ehren seiner selbst.


     Mit dem Erwerb von Grenouille begann der Aufstieg des  Hauses  Giuseppe
Baldini zu nationalem, ja europuischem Ansehen.  Das  persische Glockenspiel
stand nicht mehr  still,  und die Reiher  hurten nicht mehr auf zu speien im
Laden auf dem Pont au Change.
     Am  ersten  Abend  noch  musste  Grenouille  einen großen  Ballon
>Nuit Napolitaine< ansetzen, von dem im Laufe des folgenden Tages uber
achtzig  Flakons  verkauft wurden. Der Ruf  des Duftes  verbreitete sich mit
rasender Geschwindigkeit.  Chenier bekam ganz glasige  Augen  vom Geldzuhlen
und einen schmerzenden  Rucken von den tiefen Bucklingen, die  er verrichten
musste, denn es erschienen hohe und huchste Herrschaften, oder zumindest die
Diener von hohen und  huchsten Herrschaften. Und  einmal flog  sogar die Tur
auf,  dass es  nur so  schepperte,  und  herein  trat der  Lakai des  Grafen
d'Argenson und  schrie,  wie  nur Lakaien  schreien  kunnen,  dass  er  funf
Flaschen  von dem  neuen  Duft haben  wolle, und Chenier zitterte  noch eine
Viertelstunde sputer  vor Ehrfurcht,  denn der Graf d'Argenson war Intendant
und Kriegsminister Seiner Majestut und der muchtigste Mann von Paris.
     Wuhrend  Chenier im Laden allein dem Ansturm der  Kundschaft ausgesetzt
war,  hatte  sich  Baldini  mit  seinem  neuen  Lehrling  in  der  Werkstatt
eingeschlossen. Chenier gegenuber rechtfertigte er diesen Umstand  mit einer
phantastischen  Theorie,  die  er  als "Arbeitsteilung und Rationalisierung"
bezeichnete. Jahrelang, so erklurte er, habe  er geduldig mitangesehen,  wie
Pelissier und  seinesgleichen zunftverachtende  Gestalten ihm die Kundschaft
abspenstig gemacht und das Geschuft versaut hutten.  Jetzt  sei sein Langmut
zu  Ende. Jetzt  nehme er die  Herausforderung  an und  schlage  wider diese
frechen  Parvenus zuruck,  und  zwar  mit deren eigenen  Mitteln:  Zu  jeder
Saison, jeden Monat, wenn es sein musste auch jede Woche, werde er mit neuen
Duften auftrumpfen, und  mit was fur welchen! Er wolle aus dem vollen seiner
kreativen Ader schupfen. Und dazu sei es nutig, dass er - unterstutzt allein
von  einer  ungelernten  Hilfskraft  -  ganz  und  ausschließlich  die
Produktion  der  Dufte betreibe,  wuhrend  Chenier sich ausschließlich
deren Verkauf  zu  widmen habe. Mit  dieser modernen  Methode werde  man ein
neues Kapitel  in der  Geschichte der Parfumerie aufschlagen, die Konkurrenz
hinwegfegen  und unermesslich  reich  werden  -  ja,  er  sage  bewusst  und
ausdrucklich "man", denn er gedenke, seinen altgedienten Gesellen  an diesen
unermesslichen Reichtumern mit einem bestimmten Prozentsatz zu beteiligen.
     Vor  wenigen Tagen noch hutte Chenier solche Reden seines Meisters  als
Anzeichen eines  beginnenden Alterswahnsinns gedeutet. Jetzt ist er reif fur
die Charitu<, hutte er gedacht, >jetzt kann's nicht mehr lange dauern,
bis er das  Pistill endgultig  aus der Hand legt. <  Nun aber  dachte  er
nichts mehr. Er kam gar nicht mehr dazu, er hatte einfach zu viel zu tun. Er
hatte  so  viel zu tun, dass er abends vor Erschupfung kaum noch in der Lage
war, die pralle Kasse auszuleeren und sich seinen Anteil abzuzweigen. Er kam
nicht im Traum darauf zu zweifeln, dass  es mit rechten  Dingen zuging, wenn
Baldini  beinahe  tuglich  mit  irgendeinem neuen Duft  aus seiner Werkstatt
trat.
     Und  was  fur  Dufte  waren  das!  Nicht   nur  Parfums  der  huchsten,
allerhuchsten Schule,  sondern  auch Cremes und Puder, Seifen, Haarlotionen,
Wusser, ule ... Alles, was zu duften hatte, duftete jetzt neu und anders und
herrlicher als je zuvor. Und auf alles, aber wirklich alles,  selbst auf die
neuartigen  Dufthaarbunder,   die   Baldinis  kuriose   Laune   eines  Tages
hervorbrachte, sprang das Publikum los wie behext, und Preise spielten keine
Rolle. Alles,  was Baldini produzierte, wurde ein Erfolg. Und der Erfolg war
dermaßen uberwultigend, dass Chenier ihn wie ein Naturereignis hinnahm
und nicht mehr nach  seinen  Ursachen forschte. Dass etwa der neue Lehrling,
der unbeholfene Gnom, der in der Werkstatt  hauste wie  ein Hund und den man
manchmal, wenn  der  Meister  heraustrat,  im  Hintergrund stehen und Gluser
wischen  und Murser  putzen sah - dass dieses Nichts von Mensch etwas zu tun
haben sollte mit dem sagenhaften Aufbluhen des Geschufts, das hutte  Chenier
nicht einmal dann geglaubt, wenn man es ihm gesagt hutte.
     Naturlich hatte  der  Gnom alles damit zu tun. Das, was  Baldini in den
Laden brachte und Chenier  zum Verkauf uberließ, war nur ein Bruchteil
dessen, was Grenouille hinter verschlossenen  Turen zusammenmischte. Baldini
kam mit dem Riechen nicht mehr  nach.  Es war ihm manchmal  eine regelrechte
Qual,  unter den Herrlichkeiten, die Grenouille hervorbrachte,  eine Wahl zu
treffen.  Dieser  Zauberlehrling  hutte  alle  Parfumeure   Frankreichs  mit
Rezepten versorgen kunnen,  ohne sich zu wiederholen, ohne auch nur  ein Mal
etwas Minderwertiges  oder auch nur Mittelmußiges  hervorzubringen.  -
Das heisst, mit Rezepten,  also Formeln, hutte er sie eben  nicht  versorgen
kunnen, denn  zunuchst  komponierte  Grenouille  seine  Dufte noch auf  jene
chaotische  und vullig unprofessionelle Manier,  die  Baldini  schon kannte,
indem er numlich  aus  der  freien  Hand  in scheinbar wildem  Durcheinander
Ingredienzien   mischte.   Um   das  verruckte   Geschuft,  wenn  nicht   zu
kontrollieren, so  doch wenigstens  begreifen zu kunnen,  verlangte  Baldini
eines Tages  von  Grenouille,  er  muge sich,  auch wenn  er das fur unnutig
halte,  beim Ansetzen  seiner Mischungen der Waage,  des Messbechers und der
Pipette  bedienen; er muge sich ferner  angewuhnen, den Weingeist  nicht als
Duftstoff  zu   begreifen,   sondern  als  Lusungsmittel,  welches  erst  im
nachhinein  zuzusetzen sei; und  ermuge schließlich um  Gottes  willen
langsam  hantieren, gemuchlich und langsam, wie es sich fur einen Handwerker
gehure.
     Grenouille tat  das. Und  zum ersten Mal  war Baldini  in der Lage, die
einzelnen Handhabungen des Hexenmeisters zu  verfolgen und zu dokumentieren.
Mit Feder  und Papier saß  er neben  Grenouille  und  notierte,  immer
wieder  zur  Langsamkeit  mahnend,  wie  viel  Gramm  von  diesem,  wie viel
Messstriche von jenem, wie viel Tropfen von einem dritten  Ingredienz in die
Mischflasche  wanderten. Auf diese sonderbare Weise, indem  er numlich einen
Vorgang  nachtruglich  mit  eben  jenen  Mitteln  analysierte,   ohne  deren
vorherigen  Gebrauch  er eigentlich  gar  nicht  hutte  stattfinden  durfen,
gelangte Baldini  endlich  doch in den Besitz der synthetischen  Vorschrift.
Wie Grenouille ohne diese in der Lage war, seine Parfums zu mixen, blieb fur
Baldini  zwar weiterhin ein  Rutsel,  vielmehr ein  Wunder, aber  wenigstens
hatte  er  das Wunder jetzt  auf  eine Formel gebracht und damit seinen nach
Regeln   durstenden    Geist   einigermaßen    befriedigt   und   sein
parfumistisches Weltbild vor dem vollstundigen Kollaps bewahrt.
     Nach  und  nach  entlockte  er  Grenouille  die  Rezepturen  sumtlicher
Parfums,   die  dieser   bisher   erfunden   hatte,  und   er   verbot   ihm
schließlich  sogar, neue Dufte anzusetzen,  ohne dass er, Baldini, mit
Feder  und  Papier  zugegen war, den Prozess  mit Argusaugen beobachtete und
Schritt  fur  Schritt dokumentierte. Seine Notizen,  bald viele Dutzende von
Formeln,  ubertrug  er   dann  penibel  mit   gestochener  Schrift  in  zwei
verschiedene  Buchlein,  deren  eines er in  seinen feuerfesten  Geldschrank
einschloss und deren anderes er stundig bei  sich trug und mit dem er nachts
auch  schlafen ging.  Das  gab  ihm Sicherheit. Denn nun konnte  er, wenn er
wollte,  Grenouilles Wunder  selber nachvollziehen, die ihn,  als er sie zum
erstenmal  erlebte,  tief  erschuttert  hatten.  Mit  seiner   schriftlichen
Formelsammlung glaubte er, das entsetzliche schupferische Chaos, welches aus
dem Innern seines Lehrlings hervorquoll, bannen  zu kunnen.  Auch  hatte die
Tatsache, dass er nicht  mehr bloß blude staunend, sondern beobachtend
und  registrierend  an   den  Schupfungsakten  teilnahm,  auf  Baldini  eine
beruhigende  Wirkung  und sturkte  sein  Selbstvertrauen. Nach  einer  Weile
glaubte  er gar von sich, zum Gelingen der sublimen Dufte nicht unwesentlich
beizutragen. Und wenn er sie erst einmal in seine Buchlein eingetragen hatte
und im  Tresor und dicht  am eigenen Busen  verwahrte, zweifelte er  sowieso
nicht mehr daran, dass sie nun ganz und gar sein eigen seien.
     Aber auch Grenouille  profitierte von dem  disziplinierenden Verfahren,
das ihm  von  Baldini aufgezwungen wurde.  Er  selbst war zwar nicht  darauf
angewiesen. Er musste  nie eine alte Formel nachschlagen, um ein Parfum nach
Wochen  oder  Monaten zurekonstruieren, denn er vergaß  Geruche nicht.
Aber er erlernte mit der obligatorischen Verwendung von Messbecher und Waage
die Sprache der  Parfumerie, under spurte instinktiv, dass ihm  die Kenntnis
dieser  Sprache  von  Nutzen sein  konnte.  Nach wenigen Wochen  beherrschte
Grenouille nicht nur die Namen sumtlicher Duftstoffe  in Baldinis Werkstatt,
sondern  er  war  auch  in  der  Lage,  die  Formel  seiner  Parfums  selbst
niederzuschreiben und umgekehrt, fremde Formeln  und Anweisungen in  Parfums
und  sonstige Riecherzeugnisse  zu  verwandeln.  Und  mehr noch! Nachdem  er
einmal gelernt  hatte,  seine parfumistischen  Ideen  in  Gramm  und Tropfen
auszudrucken,   bedurfte   er   nicht   einmal  mehr   des   experimentellen
Zwischenschritts. Wenn Baldini ihm auftrug, einen neuen Duft, sei es fur ein
Taschentuchparfum,  fur ein Sachet, fur eine  Schminke zu kreieren, so griff
Grenouille nicht mehr zu Flakons und Pulvern, sondern er setzte sich einfach
an den Tisch und schrieb die Formel direkt nieder. Er hatte gelernt, den Weg
von seiner inneren Geruchsvorstellung zum fertigen Parfum um die Herstellung
der  Formel zu erweitern.  Fur ihn war das ein Umweg. In den Augen der Welt,
das heisst in  Baldinis Augen, jedoch  war  es ein  Fortschritt. Grenouilles
Wunder blieben  dieselben.  Aber die Rezeptur, mit  denen er sie nun versah,
nahmen ihnen den  Schrecken, und das war  von Vorteil.  Je besser Grenouille
die handwerklichen Griffe  und Verfahrensweisen beherrschte,  je normaler er
sich in  der  konventionellen Sprache  der Parfumerie  auszudrucken  wusste,
desto weniger furchtete und  beargwuhnte ihn der Meister. Bald hielt Baldini
ihn zwar noch  fur einen ungewuhnlich  begabten Geruchsmenschen, nicht  mehr
aber  fur  einen  zweiten  Frangipani   oder  gar  fur  einen   unheimlichen
Hexenmeister, und Grenouille war das  nur  recht.  Der handwerkliche Komment
diente ihm als willkommene  Tarnung. Er lullte  Baldini geradezu  ein  durch
sein  vorbildliches  Verfahren beim  Wugen  der  Zutaten, beim Schwenken der
Mischflasche, beim Betupfen des weißen  Probiertuchleins. Er konnte es
fast schon so  zierlich  schutteln,  so elegant an  der Nase  voruberfliegen
lassen  wie  der Meister. Und gelegentlich,  in  wohldosierten  Intervallen,
beging er Fehler, die so beschaffen waren, dass Baldini sie bemerken musste:
Vergaß  zu filtrieren,  stellte  die  Waage falsch ein, schrieb  einen
unsinnig hohen Prozentsatz von Ambertinktur in eine Formel... und ließ
sich den Fehler verweisen, um  ihn dann geflissentlichst  zu korrigieren. So
gelang es  ihm, Baldini  in der Illusion  zu  wiegen,  es gehe letzten Endes
alles doch  mit rechten Dingen zu. Er  wollte den Alten ja nicht verprellen.
Er  wollte ja wirklich von ihm lernen. Nicht das Mischen von  Parfums, nicht
die rechte Komposition eines Duftes,  naturlich nicht! Auf diesem Gebiet gab
es niemand auf der Welt,  der ihn etwas  hutte  lehren  kunnen, und  die  in
Baldinis  Laden  vorhandenen  Ingredienzien  hutten  auch bei  weitem  nicht
ausgereicht,  seine  Vorstellungen  eines wirklich großen  Parfums  zu
verwirklichen. Was er bei  Baldini an  Geruchen  realisieren  konnte,  waren
Spielereien verglichen mit den  Geruchen, die er  in sich  trug  und die  er
eines  Tages zu realisieren gedachte. Dazu aber, das wusste er, bedurfte  es
zweier   unabdingbarer  Voraussetzungen:  Die  eine  war  der  Mantel  einer
burgerlichen  Existenz;  mindestens  des Gesellentums, in dessen  Schutz  er
seinen  eigentlichen  Leidenschaften frunen  und  seine  eigentlichen  Ziele
ungesturt verfolgen konnte. Die andre war die Kenntnis  jener handwerklichen
Verfahren,  nach  denen man Duftstoffe herstellte, isolierte, konzentrierte,
konservierte  und somit fur eine huhere Verwendung uberhaupt  erst verfugbar
machte. Denn Grenouille besaß zwar in der Tat die beste Nase der Welt,
sowohl  analytisch  als  auch  visionur, aber er besaß noch  nicht die
Fuhigkeit, sich der Geruche dinglich zu bemuchtigen.


     Und  so  ließ er  sich denn  willig unterweisen  in der Kunst des
Seifenkochens  aus Schweinefett, des  Handschuhnuhens  aus  Waschleder,  des
Pudermischens    aus   Weizenmehl   und    Mandelkleie    und    gepulverten
Veilchenwurzeln.    Rollte   Duftkerzen   aus   Holzkohle,   Salpeter    und
Sandelholzspunen.  Presste  orientalische Pastillen  aus Myrrhe,  Benzoe und
Bernsteinpulver.   Knetete   Weihrauch,  Schellack,  Vetiver  und  Zimt   zu
Ruucherkugelchen.  Siebte  und  spaltete  Poudre  Imperiale  aus  gemahlenen
Rosenbluttern, Lavendelblute, Kaskarillarinde.  Ruhrte Schminken, weiß
und  aderblau, und formte Fettstifte, karmesinrot, fur die Lippen. Schlummte
feinste  Fingernagelpulver und Zahnkreiden, die nach Minze schmeckten. Mixte
Kruuselflussigkeit  fur   das   Peruckenhaar   und  Warzentropfen  fur   die
Huhneraugen, Sommersprossenbleiche fur die Haut und Belladonnaauszug fur die
Augen, Spanischfliegensalbe fur die Herren und Hygieneessig fur die Damen...
Die   Herstellung  sumtlicher  Wusserchen  und   Pulverchen,  Toilette-  und
Schunheitsmittelchen, aber  auch von Tee- und  Wurzmischungen, von  Likuren,
Marinaden  und  dergleichen,  kurz,  alles,  was  Baldini  ihn  mit   seinem
großen uberkommenen  Wissen zu lehren  hatte,  lernte Grenouille, ohne
sonderliches Interesse zwar, doch klaglos und mit Erfolg.
     Mit besonderem Eifer war er hingegen bei der Sache, wenn Baldini ihn im
Anfertigen  von  Tinkturen,  Auszugen  und  Essenzen unterwies.  Unermudlich
konnte   er  Bittermandelkerne  in   der   Schraubenpresse  quetschen   oder
Moschuskurner stampfen  oder fette graue Amberknollen  mit  dem  Wiegemesser
hacken oder  Veilchenwurzeln  raspeln, um die Spune dann in feinstem Alkohol
zu  digerieren. Er  lernte  den  Gebrauch  des Scheidetrichters  kennen, mit
welchem   man  das  reine  ul   gepresster  Limonenschalen  von  der  truben
Ruckstandsbruhe  trennte.  Er  lernte Kruuter und  Bluten zu  trocknen,  auf
Rosten  in  schattiger Wurme,  und das raschelnde  Laub in wachsversiegelten
Tupfen  und  Truhen  zu   konservieren.  Er   erlernte  die  Kunst,  Pomaden
auszuwaschen,  Infusionen herzustellen, zu filtrieren, zu konzentrieren,  zu
klarifizieren und zu rektifizieren.
     Freilich war Baldinis Werkstatt  nicht dazu geeignet, dass man darin in
großem Stile Bluten- oder Kruuterule fabrizierte. Es hutte in Paris ja
auch die  notwendigen Mengen  frischer Pflanzen  kaum  gegeben. Gelegentlich
jedoch, wenn frischer Rosmarin, wenn Salbei,  Minze oder  Anissamen am Markt
billig zu haben  waren oder wenn ein grußerer  Posten Irisknollen oder
Baldrianwurzel,  Kummel,  Muskatnuss  oder  trockne Nelkenblute eingetroffen
war,  dann  regte  sich   Baldinis  Alchimistenader,  und  er  holte  seinen
großen  Alambic hervor,  einen  kupfernen  Destillierbottich mit  oben
aufgesetztem Kondensiertopf  - einen  sogenannten  Maurenkopfalambic, wie er
stolz verkundete  -,  mit dem er schon vor  vierzig Jahren an  den sudlichen
Hungen Liguriens  und auf  den Huhen des  Luberon auf freiem Felde  Lavendel
destilliert  habe. Und  wuhrend  Grenouille das  Destilliergut zerkleinerte,
heizte Baldini in hektischer Eile - denn rasche Verarbeitung war das A und O
des  Geschufts -  eine gemauerte Feuerstelle ein, auf  die er den  kupfernen
Kessel, mit einem  guten Bodensatz  Wasser gefullt, postierte.  Er warf  die
Pflanzenteile hinein, stopfte den doppelwandigen Maurenkopf  auf den Stutzen
und  schloss zwei Schluuchlein fur zu- und  abfließendes Wasser  daran
an.  Diese raffinierte Wasserkuhlungskonstruktion, so erklurte er,  sei erst
nachtruglich von ihm eingebaut  worden,  denn seinerzeit auf dem  Felde habe
man  selbstverstundlich mit  bloßer zugefuchelter Luft  gekuhlt.  Dann
blies er das Feuer an.
     Allmuhlich begann es, im Kessel zu  brodeln. Und nach einer Weile, erst
zaghaft trupfchenweise, dann in fadendunnem Rinnsal, floss Destillat aus der
dritten  Ruhre  des  Maurenkopfs  in eine  Florentinerflasche,  die  Baldini
untergestellt hatte. Es sah zunuchst recht unansehnlich aus, wie eine dunne,
trube Suppe. Nach  und  nach aber, vor allem wenn die gefullte Flasche durch
eine neue ausgetauscht und ruhig beiseite  gestellt worden  war, schied sich
die  Bruhe in zwei verschiedene  Flussigkeiten: unten stand das Bluten- oder
Kruuterwasser, obenauf  schwamm  eine  dicke  Schicht von ul. Goss  man  nun
vorsichtig durch  den unteren  Schnabelhals der Florentinerflasche  das  nur
zart duftende Blutenwasser ab, so blieb das reine ul zuruck, die Essenz, das
starke  riechende  Prinzip  der  Pflanze.  Grenouille  war von  dem  Vorgang
fasziniert.  Wenn je  etwas  im  Leben  Begeisterung  in  ihm entfacht hatte
freilich  keine  uußerlich sichtbare, sondern eine verborgene,  wie in
kalter Flamme brennende Begeisterung  -,  dann war  es dieses Verfahren, mit
Feuer, Wasser und Dampf und  einer ausgeklugelten Apparatur  den Dingen ihre
duftende Seele zu entreißen. Diese duftende  Seele, das utherische ul,
war  ja  das  Beste  an  ihnen,  das   einzige,  um  dessentwillen  sie  ihn
interessierten.  Der  blude  Rest:  Blute,  Blutter, Schale,  Frucht, Farbe,
Schunheit,  Lebendigkeit  und  was  sonst  noch an  uberflussigem  in  ihnen
steckte, das  kummerte ihn nicht. Das war nur Hulle und Ballast. Das gehurte
weg.
     Von Zeit zu Zeit, wenn das Destillat  wussrig klar geworden war, nahmen
sie den Alambic vom Feuer,  uffneten ihn und  schutteten das  zerkochte Zeug
heraus. Es sah schlapp aus und blass wie aufgeweichtes Stroh, wie gebleichte
Knochen kleiner Vugel, wie Gemuse, das zu lang gekocht  hat, fad und fasrig,
matschig, kaum noch  als es selbst erkenntlich, eklig leichenhaft und so gut
wie  vollstundig des  eigenen Geruchs beraubt.  Sie  warfen  es zum  Fenster
hinaus in  den  Fluss.  Dann  beschickten sie mit  neuen  frischen Pflanzen,
fullten Wasser nach und setzten den Alambic zuruck auf  die Feuerstelle. Und
wieder  begann der  Kessel zu brodeln,  und  wieder rann  der Lebenssaft der
Pflanzen  in  die Florentinerflaschen.  So  ging  es  oft  die  ganze  Nacht
hindurch.  Baldini besorgte den  Ofen, Grenouille  behielt  die Flaschen  im
Auge, mehr war nicht zu tun in der Zeit zwischen den Wechseln.
     Sie saßen auf Schemeln ums  Feuer, im Banne des plumpen Bottichs,
beide gebannt,  wenn auch aus sehr verschiedenen Grunden. Baldini genoss die
Glut  des Feuers  und das flackernde  Rot  der Flammen und  des  Kupfers, er
liebte  das Knistern des brennenden Holzes, das Gurgeln des  Alambics,  denn
das  war wie fruher.  Da konnte man ins  Schwurmen  kommen!  Er  holte  eine
Flasche  Wein  aus  dem  Laden, denn  die  Hitze  machte  ihn  durstig,  und
Weintrinken, das war  auch wie fruher. Und dann fing  er an, Geschichten  zu
erzuhlen,  von  damals,  endlos. Vom  spanischen  Erbfolgekrieg,  an  dessen
Verlauf  er, gegen  die  usterreicher  kumpfend,  maßgeblich beteiligt
gewesen sei; von den Camisards, mit denen er  die  Cevennen unsicher gemacht
habe;  von der  Tochter eines Hugenotten  im Esterei, die  vom  Lavendelduft
berauscht ihm zu Willen gewesen sei;  von einem Waldbrand, den  er  dabei um
ein Haar entfacht und der dann wohl die  gesamte Provence in  Brand gesteckt
hutte, so  sicher wie das Amen  in  der  Kirche,  denn es ging ein  scharfer
Mistral;  und vom Destillieren erzuhlte er, immer  wieder davon, auf  freiem
Feld, nachts, beim  Mondschein,  bei  Wein  und bei Zikadengeschrei, und von
einem Lavendelul, das er dabei erzeugt  habe,  so fein und kruftig, dass man
es ihm mit Silber auf gewogen habe; von seiner Lehrzeit in Genua, von seinen
Wanderjahren und von der Stadt  Grasse,  in der es so viele Parfumeure  gebe
wie anderswo Schuster, und so  reiche darunter, dass sie lebten wie Fursten,
in pruchtigen Huusern mit schattigen Gurten und Terrassen und holzgetufelten
Esszimmern, in denen sie speisten von porzellanenen Tellern mit Goldbesteck,
und so fort...
     Solche Geschichten  erzuhlte  der alte  Baldini und trank Wein dazu und
bekam vom  Wein  und von der Feuerglut und  von der Begeisterung uber  seine
eignen Geschichten ganz feuerrote Buckchen. Grenouille  aber, der etwas mehr
im Schatten  saß,  hurte gar nicht  zu. Ihn interessierten keine alten
Geschichten,  ihn  interessierte  ausschließlich der  neue Vorgang. Er
starrte  unausgesetzt auf  das  Ruhrchen  am  Kopf des Alambics, aus dem  in
dunnem Strahl das Destillat rann. Und indem er es anstarrte, stellte er sich
vor, er selbst sei so ein Alambic, in dem  es brodele wie in  diesem und aus
dem  ein  Destillat  hervorquelle  wie   hier,  nur   eben  besser,   neuer,
ungewohnter,  ein Destillat von jenen exquisiten Pflanzen, die er  selbst in
seinem Innern  gezogen  hatte, die dort bluhten, ungerochen  außer von
ihm  selbst, und  die mit  ihrem  einzigartigen  Parfum  die  Welt  in einen
duftenden  Garten  Eden  verwandeln kunnten,  in welchem fur ihn  das Dasein
olfaktorisch einigermaßen ertruglich wure. Ein großer Alambic zu
sein,  der alle  Welt mit  seinen selbsterzeugten Destillaten uberschwemmte,
das war der Wunschtraum, dem Grenouille sich hingab.
     Wuhrend  aber  Baldini,  vom  Wein  entzundet,  immer  ausschweifendere
Geschichten  davon erzuhlte,  wie  es  fruher  gewesen  war, und sich  immer
hemmungsloser   in   die   eigenen   Schwurmereien  verstrickte,  ließ
Grenouille  bald   ab  von  seiner  bizarren  Phantasie.  Er  verbannte  die
Vorstellung  vom  großen  Alambic  furs  erste  aus  seinem  Kopf  und
uberlegte  stattdessen,  wie  er  sich  seine  neuerworbenen Kenntnisse  fur
nuherliegende Ziele nutzbar machen kunnte.


     Nicht lang, und er war ein Spezialist auf dem Gebiet des Destillierens.
Er fand heraus - und seine  Nase  half ihm dabei mehr als Baldinis Regelwerk
-, dass  die Hitze des Feuers von  entscheidendem Einfluss auf die Gute  des
Destillates  war.  Jede Pflanze, jede  Blute, jedes Holz  und jede  ulfrucht
verlangten eine  besondere Prozedur. Mal musste schurfster Dampf entwickelt,
mal nur mußig stark gebrodelt werden, und  manche Blute gab ihr Bestes
erst, wenn man sie auf kleinster Flamme schwitzen ließ.
     uhnlich wichtig war  die Aufbereitung. Minze und Lavendel konnte man in
ganzen Buscheln destillieren. Andres wollte fein verlesen sein,  zerpfluckt,
gehackt, geraspelt, gestampft oder sogar als Maische angesetzt, bevor  es in
den   Kupferkessel  kam.  Manches   aber  ließ  sich  uberhaupt  nicht
destillieren, und das erbitterte Grenouille aufs uußerste.
     Baldini  hatte  ihm,  als er  sah,  wie sicher Grenouille die Apparatur
beherrschte, freie Hand im Umgang mit dem  Alambic gelassen,  und Grenouille
hatte diese Freiheit weidlich genutzt. Wuhrend  er tagsuber  Parfums mischte
und sonstige  Duft-  und Wurzprodukte fertigte,  beschuftigte er sich nachts
ausschließlich  mit der geheimnisvollen Kunst des  Destillierens. Sein
Plan war, vollkommen neue Geruchsstoffe zu produzieren, um damit  wenigstens
einige  der  Dufte,  die er in seinem  Innern  trug,  herstellen zu  kunnen.
Zunuchst  hatte  er  auch  kleine   Erfolge.  Es  gelang  ihm,  ein  ul  von
Brennesselbluten  und  von  Kressesamen  zu  erzeugen,  ein Wasser  von  der
frischgeschulten  Rinde  des  Holunder-Strauchs  und  von  Eibenzweigen. Die
Destillate  uhnelten  zwar im Duft den Ausgangsstoffen kaum noch, waren aber
immerhin noch interessant genug, um fur weitere Verarbeitung zu taugen. Dann
allerdings  gab  es  Stoffe, bei  denen das  Verfahren vollstundig versagte.
Grenouille  versuchte  etwa,  den  Geruch  von  Glas  zu  destillieren,  den
lehmig-kuhlen Geruch  glatten  Glases,  der von normalen  Menschen gar nicht
wahrzunehmen  ist.  Er   besorgte  sich  Fensterglas  und  Flaschenglas  und
verarbeitete  es  in  großen  Stucken, in Scherben, in Splittern,  als
Staub - ohne den geringsten Erfolg. Er destillierte  Messing, Porzellan  und
Leder, Korn  und Kieselsteine. Schiere Erde  destillierte er.  Blut und Holz
und  frische  Fische.  Seine eigenen Haare.  Am Ende  destillierte er  sogar
Wasser, Wasser  aus der Seine, dessen eigentumlicher Geruch ihm wert schien,
aufbewahrt  zu  werden. Er glaubte, mit Hilfe  des Alambics kunne er  diesen
Stoffen ihren  charakteristischen Duft entreißen, wie das bei Thymian,
bei Lavendel und  beim Kummelsamen muglich war. Er wusste ja nicht, dass die
Destillation nichts  anderes war als  ein  Verfahren zur Trennung gemischter
Substanzen in  ihre fluchtigen und  weniger  fluchtigen Einzelteile und dass
sie fur die Parfumerie  nur  insofern von Nutzen war, als sie das  fluchtige
utherische ul gewisser Pflanzen  von ihren duftlosen oder  duftarmen  Resten
absondern konnte. Bei Substanzen, denen dieses utherische ul abging, war das
Verfahren der Destillation  naturlich vullig sinnlos. Uns heutigen Menschen,
die  wir  physikalisch  ausgebildet  sind,  leuchtet  das  sofort  ein.  Fur
Grenouille jedoch war diese Erkenntnis das muhselig errungene Ergebnis einer
langen Kette von enttuuschenden Versuchen. uber Monate hinweg hatte er Nacht
fur  Nacht am  Alambic  gesessen  und  auf jede erdenkliche  Weise versucht,
mittels Destillation radikal neue Dufte  zu erzeugen, Dufte, wie  es sie  in
konzentrierter Form auf Erden noch nicht gegeben hatte. Und bis auf ein paar
lucherliche  Pflanzenule war nichts  dabei herausgekommen.  Aus  dem tiefen,
unermesslich reichen Brunnen  seiner  Vorstellung  hatte er  keinen einzigen
Tropfen  konkreter  Duftessenz  gefurdert, von  allem,  was  ihm  geruchlich
vorgeschwebt hatte, nicht ein Atom realisieren kunnen.
     Als er sich  uber  sein  Scheitern klargeworden  war,  stellte  er  die
Versuche ein und wurde lebensbedrohlich krank.


     Er  bekam hohes  Fieber, das  in den  ersten Tagen  von Ausschwitzungen
begleitet war  und  sputer, als  genugten  die Poren der  Haut  nicht  mehr,
unzuhlige Pusteln erzeugte.  Grenouilles Kurper  war ubersut von diesenroten
Bluschen. Viele von ihnen platzten auf und ergossen ihren  wussrigen Inhalt,
um  sich dann  wieder  von neuem zu  fullen.  Andere wuchsen sich  zu wahren
Furunkeln aus,  schwollen dick  rot an und rissen  wie Krater auf und spieen
dickflussigen  Eiter  aus und mit gelben  Schlieren durchsetztes Blut.  Nach
einer Weile sah Grenouille aus wie ein von innen gesteinigter  Murtyrer, aus
hundert  Wunden schwurend. Da  machte sich Baldini naturlich Sorgen. Es wure
ihm sehr unangenehm gewesen, seinen kostbaren Lehrling ausgerechnet in einem
Augenblick zu verlieren, wo er  sich  anschickte,  seinen  Handel  uber  die
Grenzen der Hauptstadt, ja sogar des ganzen Landes auszudehnen.  Denn in der
Tat geschah es immer huufiger, dass nicht nur aus der  Provinz, sondern auch
von auslundischen  Hufen  Bestellungen eingingen fur jene neuartigen  Dufte,
nach denen  Paris verruckt war; und Baldini  trug sich mit dem Gedanken, zur
Bewultigung  dieser  Nachfrage  eine  Filiale im  Faubourg  Saint-Antoine zu
grunden, eine veritable kleine Manufaktur, wo die  gungigsten Dufte  en gros
gemischt  und en  gros in nette kleine Flakons  gefullt,  von netten kleinen
Mudchen verpackt  nach Holland,  England  und ins Deutsche  Reich verschickt
werden  sollten.  Fur  einen in  Paris ansussigen Meister  war  ein  solches
Unterfangen nicht gerade legal, aber  neuerdings  verfugte Baldini  ja  uber
Protektion huheren Orts, seine raffinierten Dufte hatten sie ihm verschafft,
nicht  nur beim Intendanten, sondern auch  bei so wichtigen Persunlichkeiten
wie Monsieur  dem Zollpuchter von Paris und einem  Mitglied  des kuniglichen
Finanzkabinetts und Furderer wirtschaftlich florierender Unternehmen wie dem
Herrn Feydeau de Brou. Dieser hatte sogar  kunigliches  Privileg in Aussicht
gestellt,  das  Beste, was man  sich uberhaupt wunschen konnte, war es  doch
eine  Art Passepartout  zur Umgehung sumtlicher staatlicher  und stundischer
Bevormundung,  das Ende  aller geschuftlichen Sorgen und eine ewige Garantie
fur sicheren, unangefochtenen Wohlstand.
     Und dann  gab es noch einen  anderen Plan,  mit  dem Baldini  schwanger
ging,  einen  Lieblingsplan,  eine  Art Gegenprojekt  zu der  Manufaktur  im
Faubourg Saint-Antoine,  die, wenn nicht Massenware, so doch  fur  jedermann
kuufliche  produzierte:  Er  wollte  fur  eine  ausgewuhlte  Zahl  hoher und
huchster Kundschaft persunliche Parfums kreieren, vielmehr  kreieren lassen,
Parfums, die, wie angeschneiderte Kleider, nur zu einer Person  passten, nur
von  dieser  verwendet  werden  durften und  allein  ihren  erlauchten Namen
trugen. Er stellte sich ein >Parfum de la Marquise de Cernay< vor, ein
>Parfum  de  la  Marechale  de   Villars<,  ein  >Parfum   du   Duc
d'Aiguillon< und so fort. Er  truumte von  einem >Parfum de Madame  la
Marquise de  Pompadour<, ja sogar von einem >Parfum  de  Sa Majeste le
Roi<   im   kustlichgeschliffenen  achatenen   Flakon   mit   ziselierter
Goldfassung   und   dem  auf  der   Innenseite   des  Fußes  verborgen
eingravierten Namen >Giuseppe  Baldini,  Parfumeur<. Des  Kunigs Namen
und  sein  eigener auf  ein  und demselben Gegenstand. Zu  solch  herrlichen
Vorstellungen  hatte sich Baldini  verstiegen! Und nun  war Grenouille krank
geworden.  Wo doch Grimal, Gott hab  ihn selig, geschworen hatte, dem  fehle
nie etwas, der halte alles aus, sogar die  schwarze Pest stecke der weg. War
mir nichts, dir nichts krank auf den Tod. Wenn er sturbe? Entsetzlich!  Dann
sturben mit ihm die herrlichen  Plune von  der Manufaktur,  von  den  netten
kleinen Mudchen, vom Privilegium und vom Parfum des Kunigs.
     Also beschloss Baldini, nichts unversucht zu lassen, um das teure Leben
seines   Lehrlings  zu  retten.   Er  ordnete   eine   Umsiedlung   von  der
Werkstattpritsche in ein sauberes  Bett im Obergeschoß des Hauses  an.
Er ließ  das Bett  mit Damast  beziehen. Er half  eigenhundig mit, den
Kranken die enge Stiege hinaufzutragen, obwohl ihn unsuglich vor den Pusteln
und den schwurenden Furunkeln ekelte. Er befahl seiner Frau, Huhnerbruhe mit
Wein zu kochen. Er schickte nach dem renommiertesten Arzt im Quartier, einem
gewissen Procope, der im voraus bezahlt werden  musste, zwanzig Franc! damit
er sich uberhaupt herbemuhte.
     Der  Doktor kam,  hob mit spitzen  Fingern das Laken hoch,  warf  einen
einzigen Blick auf  Grenouilles Kurper,  der wirklich aussah wie von hundert
Kugeln zerschossen, und verließ das Zimmer, ohne seine Tasche, die der
Assistent ihm stundig nachtrug, auch nur geuffnet zu haben. Der Fall, begann
er zu  Baldini,  sei  vullig klar. Es  handle  sich  um  eine  syphilitische
Spielart der schwarzen Blattern untermischt mit eiternden  Masern in  stadio
ultimo.  Eine Behandlung sei schon deshalb nicht vonnuten, da ein  Schnepper
zum Aderlass an dem sich zersetzenden Leib, der  einer Leiche uhnlicher  sei
als einem lebenden Organismus, gar nicht mehr ordnungsgemuß angebracht
werden kunne.  Und  obwohl  der fur den  Krankheitsverlauf charakteristische
pestilenzartige  Gestank  noch  nicht  wahrzunehmen  sei  -  was  allerdings
verwundere  und  vom  streng wissenschaftlichen Standpunkt  aus  gesehen ein
kleines Kuriosum darstelle -, kunne am Ableben  des Patienten innerhalb  der
kommenden  achtundvierzig Stunden nicht der geringste  Zweifel herrschen, so
wahr  er Doktor Procope  heiße. Worauf  er sich abermals zwanzig Franc
auszahlen ließ fur  absolvierten Besuch  und erstellte Prognose - funf
Franc  davon ruckzahlbar  fur den  Fall,  dass man ihm  den Kadaver mit  der
klassischen Symptomatik  zu Demonstrationszwecken uberließ  - und sich
empfahl.   Baldini   war   außer  sich.  Er  klagte  und  schrie   vor
Verzweiflung. Er biss sich in die Finger vor Wut uber sein Schicksal. Wieder
einmal wurden ihm die Plune fur den ganz,  ganz großen Erfolg kurz vor
dem   Ziel   vermasselt.   Seinerzeit,  da  waren's   Pelissier  und   seine
Spießgesellen mit ihrem Erfindungsreichtum gewesen. Jetzt war's dieser
Junge  mit seinem unerschupflichen Fundus an neuen Geruchen, dieser mit Gold
gar nicht  aufzuwiegende kleine  Dreckskerl, der ausgerechnet  jetzt, in der
geschuftlichen Aufbauphase, die  syphilitischen Blattern bekommen musste und
die eitrigen Masern in  stadio ultimo!  Ausgerechnet jetzt!  Warum nicht  in
zwei Jahren? Warum nicht in  einem?  Bis  dahin  hutte  man  ihn ausplundern
kunnen wie  eine Silbermine, wie  einen  Goldesel. In  einem  Jahr hutte  er
getrost sterben durfen. Aber nein! Er starb jetzt, Herrgottsakrament, binnen
achtundvierzig Stunden!
     Fur einen kurzen  Moment  erwog  Baldini den Gedanken,  nach Notre-Dame
hinuberzupilgern, eine Kerze  anzuzunden  und von der Heiligen Mutter Gottes
Genesung fur Grenouille herbeizuflehen. Aber dann ließ er den Gedanken
fallen, denn  die  Zeit drungte zu  sehr.  Er lief  um Tinte und Papier  und
verscheuchte  seine Frau  aus dem  Zimmer  des Kranken. Er wolle selbst  die
Wache halten. Dann ließ er sich auf einem Stuhl neben dem Bett nieder,
die  Notizblutter auf  den Knien, die tintenfeuchte Feder in  der Hand,  und
versuchte,  Grenouille eine parfumistische Beichte  abzunehmen. Er muge doch
um Gottes willen die Schutze, die er in seinem Innern trage, nicht sang- und
klanglos mit sich nehmen! Er  muge doch jetzt in seinen  letzten Stunden ein
Testament zu treuen Hunden hinterlassen, damit der Nachwelt nicht die besten
Dufte  aller   Zeiten  vorenthalten  blieben!  Er,   Baldini,  werde  dieses
Testament, diesen Formelkanon der sublimsten aller je gerochnen Dufte,  treu
verwalten und zum Bluhen bringen. Er werde unsterblichen Ruhm an Grenouilles
Namen heften, ja, er werde - und hiermit  schwure er's bei allen Heiligen  -
den  besten  dieser  Dufte dem Kunig selbst  zu Fußen  legen, in einem
achatenen Flakon  mit  ziseliertem Gold  und  eingravierter Widmung  >Von
Jean-Baptiste Grenouille, Parfumeur  in Paris<. - So sprach, oder besser:
so   flusterte   Baldini  in   Grenouilles  Ohr,  beschwurend,  flehentlich,
schmeichelnd und unausgesetzt.
     Aber es war alles umsonst. Grenouille gab nichts von sich als wussriges
Sekret und blutigen Eiter. Stumm lag er im Damast  und entuußerte sich
dieser ekelhaften  Sufte, nicht  aber seiner Schutze,  seines Wissens, nicht
der  geringsten  Formel  eines  Dufts.  Baldini  hutte  ihn erwurgen  mugen,
erschlagen hutte er  ihn mugen,  herausgeprugelt  aus  dem moribunden Kurper
hutte er  am liebsten die  kostbaren Geheimnisse, wenn's Aussicht auf Erfolg
gehabt... und wenn es seiner Auffassung von christlicher Nuchstenliebe nicht
so eklatant widersprochen hutte.
     Und so suuselte und flutete  er denn weiter in den sußesten Tunen
und umhutschelte den Kranken und tupfte ihm mit kuhlen Tuchern - wiewohl  es
ihn  grauenhafte uberwindung kostete -  die schweißnasse Stirn und die
gluhenden Vulkane der Wunden,  und luffelte ihm Wein  in den Mund,  um seine
Zunge  zum Sprechen zu bringen,  die ganze  Nacht  hindurch - vergebens.  Im
Morgengrauen  gab er es auf.  Er fiel erschupft in einen Sessel  am  anderen
Ende des Zimmers und  starrte, nicht einmal  mehr  wutend, sondern  nur noch
stiller Resignation ergeben,  auf den kleinen sterbenden  Kurper Grenouilles
druben im Bett, den er weder  retten noch berauben konnte, aus dem er nichts
mehr  fur  sich  bergen  konnte,  dessen  Untergang  er  nur  noch  tatenlos
mitansehen musste wie  ein  Kapitun  den Untergang  des Schiffs, das  seinen
ganzen Reichtum mit in die Tiefe reißt.
     Da uffneten sich mit einem Mal die Lippen des Todkranken, und mit einer
Stimme,  die  in ihrer Klarheit und Festigkeit von  bevorstehendem Untergang
wenig ahnen ließ,  sprach er: "Sagen Sie, Maitre:  Gibt es  noch andre
Mittel als  das  Pressen  oder  Destillieren,  um aus einem  Kurper Duft  zu
gewinnen?"
     Baldini,  der  glaubte,  dass  die Stimme  seiner  Einbildung oder  dem
Jenseits entsprungen war, antwortete mechanisch: "Ja, die gibt es."
     "Welche?" fragte es vom Bett her, und Baldini riss die muden Augen auf.
Regungslos  lag  Grenouille  in  den  Kissen.  Hatte die  Leiche gesprochen?
"Welche?"  fragte es wieder, und diesmal erkannte Baldini die  Bewegung  auf
Grenouilles Lippen. "Jetzt  ist es aus", dachte er, "jetzt geht's dahin, das
ist der Fieberwahn oder die  Todesagonie."  Und  er stand auf, ging zum Bett
hinuber und beugte sich uber  den Kranken. Der hatte die Augen  geuffnet und
sah Baldini mit dem gleichen seltsam lauernden Blick an,  mit dem er ihn bei
der ersten Begegnung fixiert hatte.
     "Welche?" fragte er.
     Da gab  Baldini  seinem  Herzen  einen Stoß  -  er  wollte  einem
Sterbenden den  letzten  Willen nicht  versagen - und  antwortete:  "Es gibt
deren drei, mein  Sohn: Die enfleurage u chaud, die  enfleurage  u froid und
die  enfleurage  u  l'huile. Sie sind  dem Destillieren in  vieler  Hinsicht
uberlegen,  und man bedient  sich ihrer  zur  Gewinnung der  feinsten  aller
Dufte: des Jasmins, der Rose und der Orangenblute."
     "Wo?" fragte Grenouille.
     "Im Suden", antwortete Baldini. "Vor allem in der Stadt Grasse."
     "Gut", sagte Grenouille.
     Und damit schloss er die Augen. Baldini  richtete sich  langsam auf. Er
war sehr deprimiert. Er suchte seine Notizblutter zusammen, auf die er keine
einzige  Zeile geschrieben  hatte, und  blies die  Kerze aus.  Draußen
tagte es  schon. Er war hundemude.  Man hutte einen  Priester  kommen lassen
sollen, dachte er. Dann machte er mit der Rechten ein fluchtiges Zeichen des
Kreuzes und ging hinaus.Grenouille aber war alles andere als tot. Er schlief
nur sehr  fest  und truumte tief und  zog  seine Sufte in sich zuruck. Schon
begannen  die Bluschen  auf seiner  Haut  zu  verdorren, die Eiterkrater  zu
versiegen,  schon begannen sich seine Wunden zu schließen. Im  Verlauf
einer Woche war er genesen.


     Am liebsten wure  er gleich weggegangen nach Suden, dorthin, wo man die
neuen Techniken lernen konnte, von denen ihm der Alte gesprochen hatte. Aber
daran war  naturlich gar nicht zu denken. Er war ja  nur ein  Lehrling,  das
heißt ein Nichts. Strenggenommen, so erklurte ihm Baldini - nachdem er
seine  anfungliche  Freude  uber  Grenouilles  Wiederauferstehung uberwunden
hatte  -,  strenggenommen war er  noch  weniger  als ein  Nichts,  denn  zum
ordentlichen  Lehrling   gehurten  tadellose,   numlich   eheliche  Abkunft,
standesgemuße  Verwandtschaft und ein Lehrvertrag, was er  alles nicht
besitze.  Wenn  er,  Baldini,  ihm  dennoch eines  Tages  zum  Gesellenbrief
verhelfen  wolle,  so  nur in  Anbetracht von Grenouilles nicht alltuglicher
Begabung, eines tadellosen kunftigen Verhaltens und  wegen seiner, Baldinis,
unendlichen  Gutherzigkeit,  die  er,  auch  wenn  sie ihm  oft  zum Schaden
gereicht habe, niemals verleugnen kunne.
     Es   hatte   freilich   mit   der  Einlusung  dieses  Versprechens  der
Gutmutigkeit gute  Weile, numlich knappe drei Jahre. In dieser Zeit erfullte
sich  Baldini mit Grenouilles Hilfe seine hochfliegenden Truume. Er grundete
die Manufaktur  im Faubourg Saint-Antoine, setzte sich mit seinen exklusiven
Parfums   bei   Hofe  durch,   bekam   kunigliches  Privileg.  Seine  feinen
Duftprodukte wurden bis nach Petersburg verkauft, bis nach Palermo, bis nach
Kopenhagen. Eine moschusschwangere Note war sogar in Konstantinopel begehrt,
wo  man doch  weiß Gott genug  eigene Dufte besaß. In den feinen
Kontoren  der  Londoner City duftete es  ebenso nach Baldinis Parfums wie am
Hofe  von  Parma, im Warschauer Schloss nicht anders als im  Schlusschen des
Grafen von und zur Lippe-Detmold. Baldini war, nachdem er sich bereits damit
abgefunden hatte,  sein Alter in bitterer Armut bei Messina  zu  verbringen,
mit   siebzig   Jahren  zum  unumstritten  grußten  Parfumeur  Europas
aufgestiegen und zu einem der reichsten Burger von Paris.
     Anfang des  Jahres 1756  - er hatte sich unterdessen  das Nebenhaus auf
dem Pont  au Change zugelegt, ausschließlich zum Wohnen, denn das alte
Haus  war  nun  buchstublich bis unters Dach mit  Duftstoffen und Spezereien
vollgestopft -  eruffnete  er  Grenouille,  dass  er  nun  gewillt  sei, ihn
freizusprechen,  allerdings nur  unter drei  Bedingungen:  Erstens durfe  er
sumtliche  unter  Baldinis Dach  entstandenen Parfums  kunftig  weder selbst
herstellen noch ihre Formel  an Dritte weitergeben;  zweitens musse er Paris
verlassen  und durfe  es  zu Baldinis  Lebzeiten nicht wieder betreten;  und
drittens habe er uber die beiden ersten Bedingungen absolutes Stillschweigen
zu bewahren. Dies alles solle er beschwuren bei sumtlichen Heiligen, bei der
armen Seele seiner Mutter und bei seiner eigenen Ehre.
     Grenouille, der weder eine Ehre hatte  noch an  Heilige oder gar an die
arme Seele  seiner  Mutter glaubte, schwor. Er hutte  alles  geschworen.  Er
hutte jede Bedingung Baldinis akzeptiert, denn er wollte diesen lucherlichen
Gesellenbrief  haben, der  es  ihm  ermuglichte,  unauffullig zu  leben  und
unbehelligt  zu  reisen  und  Anstellung  zu  finden.  Das  andere  war  ihm
gleichgultig. Was waren  das auch schon  fur  Bedingungen!  Paris nicht mehr
betreten? Wozu  brauchte er  Paris!  Er  kannte es ja  bis  in  den  letzten
stinkenden  Winkel,  er  fuhrte  es  mit  sich,  wohin  immer  er  ging,  er
besaß  Paris,  seit  Jahren.  -  Keinen  von  Baldinis   Erfolgsduften
herstellen,  keine  Formeln  weitergeben?  Als  ob er nicht  tausend  andere
erfinden kunnte, ebenso gute und bessere, wenn er nur wollte! Aber er wollte
ja gar nicht. Er hatte ja gar  nicht vor, in  Konkurrenz zu  Baldini oder zu
irgendeinem anderen  der burgerlichen Parfumeure  zu  treten.  Er war  nicht
darauf  aus, mit seiner Kunst das große Geld zu  machen,  nicht einmal
leben  wollte er  von ihr, wenn's  anders muglich  war zu  leben.  Er wollte
seines  Innern sich entuußern, nichts  anderes, seines Innern,  das er
fur wunderbarer hielt als  alles, was die uußere Welt zu bieten hatte.
Und deshalb waren Baldinis Bedingungen fur Grenouille keine Bedingungen.
     Im Fruhjahr zog er  los, an einem Tag im Mai, fruhmorgens. Er hatte von
Baldini  einen  kleinen  Rucksack bekommen,  ein  zweites  Hemd,  zwei  Paar
Strumpfe, eine große Wurst, eine Pferdedecke und funfundzwanzig Franc.
Das  sei  weit mehr, als er zu geben verpflichtet sei, sagte Baldini,  zumal
Grenouille fur die profunde Ausbildung, die er genossen, keinen Sol Lehrgeld
bezahlt  habe. Verpflichtet  sei er  zu  zwei Franc  Weggeld, zu  sonst  gar
nichts. Aber  er kunne eben seine Gutmutigkeit so wenig  verleugnen  wie die
tiefe Sympathie, die sich  im Lauf der Jahre in seinem Herzen fur den  guten
Jean-Baptiste  angesammelt habe.  Er  wunsche  ihm  viel  Gluck  auf  seiner
Wanderschaft und ermahne  ihn noch einmal eindringlich, seines Schwurs nicht
zu vergessen. Damit brachte er ihn an die Tur des Dienstboteneingangs, wo er
ihn einst empfangen hatte, und entließ ihn.
     Die Hand gab er ihm nicht, so weit war es mit der Sympathie auch wieder
nicht her. Er hatte ihm noch nie die Hand  gegeben. Er hatte uberhaupt immer
vermieden, ihn zu beruhren, aus einer Art frommem Ekel, so, als bestunde die
Gefahr,  dass er sich anstecke an  ihm,  sich besudele. Er  sagte  nur  kurz
adieu.  Und  Grenouille  nickte  und duckte  sich  weg und  ging  davon. Die
Straße war menschenleer.

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    22

Baldini schaute ihm nach, wie er die Brucke hinunterhatschte, zur Insel hinuber, klein, gebuckt, den Rucksack wie einen Buckel tragend, von hinten aussehend wie ein alter Mann. Druben am Parlamentspalast, wo die Gasse eine Biegung machte, verlor er ihn aus den Augen und war außerordentlich erleichtert. Er hatte den Kerl nie gemocht, nie, jetzt konnte er es sich endlich eingestehen. Die ganze Zeit, die er ihn unter seinem Dach beherbergt und ausgeplundert hatte, war ihm nicht wohl gewesen. Ihm war zumute gewesen wie einem unbescholtenen Menschen, der zum ersten Mal etwas Verbotenes tut, ein Spiel mit unerlaubten Mitteln spielt. Gewiss, das Risiko, dass man ihm auf die Schliche kam, war klein und die Aussicht auf den Erfolg war riesengroß gewesen; aber ebenso groß waren auch Nervositut und schlechtes Gewissen. Tatsuchlich war in all den Jahren kein Tag vergangen, an dem er nicht von der unangenehmen Vorstellung verfolgt gewesen wure, er musse auf irgendeine Weise dafur bezahlen, dass er sich mit diesem Menschen eingelassen hatte. Wenn's nur gutgeht! so hatte er sich immer wieder ungstlich vorgebetet, wenn's mir nur gelingt, dass ich den Erfolg dieses gewagten Abenteuers einheimse, ohne die Zeche dafur zu bezahlen! Wenn's mir nur gelingt! Es ist zwar nicht recht, was ich tue, aber Gott wird ein Auge zudrucken, bestimmt wird Er es tun! Er hat mich im Verlaufe meines Lebens oftmals hart genug gestraft, ohne jeden Anlass, also wure es nur gerecht, wenn Er sich dies mal konziliant verhielte. Worin besteht denn mein Vergehen schon, wenn es uberhaupt eines ist? Huchstens darin, dass ich mich ein wenig außerhalb der Zunftordnung bewege, indem ich die wunderbare Begabung eines Ungelernten exploitiere und seine Fuhigkeit als meine eigne ausgebe. Huchstens darin, dass ich um ein Kleines vom traditionellen Pfad der handwerklichen Tugend abgewichen bin. Huchstens darin, dass ich heute tue, was ich gestern noch verdammt habe. Ist das ein Verbrechen? Andere betrugen ihr Leben lang. Ich habe nur ein paar Jahre ein bisschen geschummelt. Und auch nur, weil mir der Zufall die einmalige Gelegenheit dazu gegeben hat. Vielleicht war es nicht einmal der Zufall, vielleicht war es Gott selbst, der mir den Zauberer ins Haus geschickt hat, zur Wiedergutmachung fur die Zeit der Erniedrigung durch Pelissier und seine Spießgesellen. Vielleicht richtet sich die guttliche Fugung uberhaupt nicht auf mich, sondern gegen Pelissier! Das kunnte sehr wohl muglich sein! Wie anders numlich wure Gott imstande, Pelissier zu strafen, als dadurch, dass er mich erhuhte? Mein Gluck wure infolgedessen das Mittel guttlicher Gerechtigkeit, und als solches durfte ich nicht nur, ich musste es akzeptieren, ohne Scham und ohne die geringste Reue... So hatte Baldini in den vergangenen Jahren oft gedacht, morgens, wenn er die schmale Treppe in den Laden hinunterstieg, abends, wenn er mit dem Inhalt der Kasse heraufkam und die schweren Gold- und Silbermunzen in seinen Geldschrank zuhlte, und nachts, wenn er neben dem schnarchenden Gerippe seiner Frau lag und aus lauter Angst vor seinem Gluck nicht schlafen konnte. Aber jetzt, endlich, war es vorbei mit den sinistren Gedanken. Der unheimliche Gast war fort und wurde nie mehr wiederkehren. Der Reichtum aber blieb und war fur alle Zukunft sicher. Baldini legte die Hand auf seine Brust und spurte durch den Stoff des Rocks das Buchlein uber seinem Herzen. Sechshundert Formeln waren darin aufgezeichnet, mehr als ganze Generationen von Parfumeuren jemals wurden realisieren kunnen. Wenn er heute alles verlure, so kunnte er allein mit diesem wunderbaren Buchlein binnen Jahresfrist abermals ein reicher Mann sein. Wahrlich, was konnte er mehr verlangen! Die Morgensonne fiel uber die Giebel der gegenuberliegenden Huuser gelb und warm auf sein Gesicht. Immer noch schaute Baldini nach Suden die Straße hinunter in Richtung Parlamentspalastes war einfach zu angenehm, dass von Grenouille nichts mehr zu sehen war! - und beschloss, aus einem uberbordenden Gefuhl von Dankbarkeit noch heute nach Notre-Dame hinuberzupilgern, ein Goldstuck in den Opferstock zu werfen, drei Kerzen anzuzunden und seinem Herrn auf den Knien zu danken, dass Er ihn mit so viel Gluck uberhuuft und vor Rache verschont hatte. Aber dummerweise kam ihm dann wieder etwas dazwischen, denn am Nachmittag, als er sich gerade auf den Weg in die Kirche machen wollte, wurde das Gerucht laut, die Englunder hutten Frankreich den Krieg erklurt. Das war zwar an und fur sich nichts Beunruhigendes. Da Baldini aber just dieser Tage eine Sendung mit Parfums nach London expedieren wollte, verschob er den Besuch in Notre-Dame und ging stattdessen in die Stadt, um Erkundigungen einzuholen, und anschließend in seine Manufaktur im Faubourg Saint-Antoine, um die Sendung nach London furs erste zu stornieren. Nachts im Bett, kurz vor dem Einschlafen, hatte er dann eine geniale Idee: Er wollte in Anbetracht der bevorstehenden kriegerischen Auseinandersetzungen um die Kolonien in der Neuen Welt ein Parfum lancieren unter dem Namen >Prestige du Quebecs einen harzigheroischen Duft, dessen Erfolg - das stand fest - ihn fur den Wegfall des Englandgeschufts mehr als entschudigen wurde. Mit diesem sußen Gedanken in seinem dummen alten Kopf, den er erleichtert auf das Kissen bettete, unter welchem sich der Druck des Formelbuchleins angenehm spurbar machte, entschlief Maitre Baldini und wachte in seinem Leben nicht mehr auf. In der Nacht numlich geschah eine kleine Katastrophe, welche, mit gebuhrender Verzugerung, den Anlass dazu gab, dass nach und nach sumtliche Huuser auf sumtlichen Brucken der Stadt Paris auf kuniglichen Befehl hin abgerissen werden mussten: Ohne erkennbare Ursache brach der Pont au Change auf seiner westlichen Seite zwischen dem dritten und vierten Pfeiler in sich zusammen. Zwei Huuser sturzten in den Fluss, so vollstundig und so plutzlich, dass keiner der Insassen gerettet werden konnte. Glucklicherweise handelte es sich nur um zwei Personen, numlich um Giuseppe Baldini und seine Frau Teresa. Die Bediensteten hatten sich, erlaubt oder unerlaubt, Ausgang genommen. Chenier, der erst in den fruhen Morgenstunden leicht angetrunken nach Hause kam - vielmehr nach Hause kommen wollte, denn das Haus war ja nicht mehr da -, erlitt einen nervusen Zusammenbruch. Er hatte sich dreißig Jahre lang der Hoffnung hingegeben, von Baldini, der keine Kinder und Verwandte hatte, im Testament als Erbe eingesetzt zu sein. Und nun, mit einem Schlag, war das gesamte Erbe weg, alles, Haus, Geschuft, Rohstoffe, Werkstatt, Baldini selbst - ja sogar das Testament, das vielleicht noch Aussicht auf das Eigentum an der Manufaktur gegeben hutte! Nichts wurde gefunden, die Leichen nicht, der Geldschrank nicht, die Buchlein mit den sechshundert Formeln nicht. Das einzige, was von Giuseppe Baldini, Europas grußtem Parfumeur, zuruckblieb, war ein sehr gemischter Duft von Moschus, Zimt, Essig, Lavendel und tausend anderen Stoffen, der noch mehrere Wochen lang den Lauf der Seine von Paris bis nach Le Havre uberschwebte.

    ZWEITER TEIL

    23

Zu der Zeit, da das Haus Giuseppe Baldini sturzte, befand sich Grenouille auf der Straße nach Orleans. Er hatte den Dunstkreis der großen Stadt hinter sich gelassen, und mit jedem Schritt, den er sich weiter von ihr entfernte, wurde die Luft um ihn her klarer, reiner und sauberer. Sie dunnte sich gleichsam aus. Es hetzten sich nicht mehr Meter fur Meter Hunderte, Tausende verschiedener Geruche in rasendem Wechsel, sondern die wenigen, die es gab - der Geruch der sandigen Straße, der Wiesen, der Erde, der Pflanzen, des Wassers -, zogen in langen Bahnen uber das Land, langsam sich bluhend, langsam schwindend, kaum je abrupt unterbrochen. Grenouille empfand diese Simplizitut wie eine Erlusung. Die gemuchlichen Dufte schmeichelten seiner Nase. Zum ersten Mal in seinem Leben musste er nicht mit jedem Atemzug darauf gefasst sein, ein Neues, Unerwartetes, Feindliches zu wittern, oder ein Angenehmes zu verlieren. Zum ersten Mal konnte er fast frei atmen, ohne dabei immer lauernd riechen zu mussen. >Fast< sagen wir, denn wirklich frei strumte naturlich nichts durch Grenouilles Nase. Es blieb, auch wenn er nicht den kleinsten Anlass dazu hatte, immer eine instinktive Reserviertheit in ihm wach gegen alles, was von außen kam und in ihn eingelassen werden sollte. Sein Leben lang, selbst in den wenigen Momenten, in denen er Anklunge von so etwas wie Genugtuung, Zufriedenheit, ja vielleicht sogar Gluck erlebte, atmete er lieber aus als ein - wie er ja auch sein Leben nicht mit einem hoffnungsvollen Atemholen begonnen hatte, sondern mit einem murderischen Schrei. Aber von dieser Einschrunkung abgesehen, die bei ihm eine konstitutionelle Beschrunkung war, fuhlte sich Grenouille, je weiter er Paris hinter sich ließ, immer wohler, atmete er immer leichter, ging er immer beschwingteren Schritts und raffte sich sogar sporadisch zu einer geraden Kurperhaltung auf, so dass er von ferne betrachtet beinahe wie ein gewuhnlicher Handwerksbursche aussah, also wie ein ganz normaler Mensch. Am befreiendsten empfand er die Entfernung von den Menschen. In Paris lebten mehr Menschen auf engstem Raum als in irgendeiner anderen Stadt auf der Welt. Sechs-, siebenhunderttausend Menschen lebten in Paris. Auf den Straßen und Plutzen wimmelte es von ihnen, und die Huuser waren vollgepfropft mit ihnen vom Keller bis unter die Ducher. Es gab kaum einen Winkel in Paris, der nicht vor Menschen starrte, keinen Stein, kein Fleckchen Erde, das nicht nach Menschlichem roch. Dass es dieser geballte Menschenbrodem war, der ihn achtzehn Jahre lang wie gewitterschwule Luft bedruckt hatte, das wurde Grenouille erst jetzt klar, da er sich ihm zu entziehen begann. Bisher hatte er immer geglaubt, es sei die Welt im allgemeinen, von der er sich wegkrummen musse. Es war aber nicht die Welt, es waren die Menschen. Mit der Welt, so schien es, der menschenleeren Welt, ließ sich leben. Am dritten Tag seiner Reise geriet er ins olfaktorische Gravitationsfeld von Orleans. Lange noch bevor irgendein sichtbares Zeichen auf die Nuhe der Stadt hindeutete, gewahrte Grenouillle die Verdichtung des Menschlichen in der Luft und entschloss sich, entgegen seiner ursprunglichen Absicht, Orleans zu meiden. Er wollte sich die frischgewonnene Atemfreiheit nicht schon so bald wieder vom stickigen Menschenklima verderben lassen. Er machte einen großen Bogen um die Stadt, stieß bei Chuteauneuf auf die Loire und uberquerte sie bei Sully. Bis dorthin reichte seine Wurst. Er kaufte sich eine neue und zog dann, den Flusslauf verlassend, landeinwurts. Er mied jetzt nicht mehr nur die Studte, er mied auch die Durfer. Er war wie berauscht von der sich immer sturker ausdunnenden, immer menschenferneren Luft. Nur um sich neu zu verproviantieren, nuherte er sich einer Siedlung oder einem alleinstehenden Gehuft, kaufte Brot und verschwand wieder in den Wuldern. Nach einigen Wochen wurden ihm selbst die Begegnungen mit den wenigen Reisenden auf den abgelegenen Wegen zu viel, ertrug er nicht mehr den punktuell auftretenden Geruch der Bauern, die auf den Wiesen das erste Gras muhten. ungstlich wich er jeder Schafherde aus, nicht der Schafe wegen, sondern um den Geruch der Hirten zu umgehen. Er schlug sich querfeldein, nahm meilenweite Umwege in Kauf, wenn er eine noch Stunden entfernte Schwadron Reiter auf sich zukommen roch. Nicht weil er, wie andere Handwerksburschen und Herumtreiber, furchtete, kontrolliert und nach Papieren gefragt und womuglich zum Kriegsdienst verpflichtet zu werden - er wusste nicht einmal, dass Krieg war -, sondern einzig und allein, weil ihn vor dem Menschengeruch der Reiter ekelte. Und so kam es ganz von alleine und ohne besonderen Entschluss, dass sein Plan, auf schnellstem Wege nach Grasse zu gehen, allmuhlich verblasste; der Plan luste sich sozusagen in der Freiheit auf, wie alle anderen Plune und Absichten. Grenouille wollte nicht mehr irgendwohin, sondern nur noch weg, weg von den Menschen. Schließlich wanderte er nur noch nachts. Tagsuber verkroch er sich ins Unterholz, schlief unter Buschen, im Gestrupp, an muglichst unzugunglichen Orten, zusammengerollt wie ein Tier, die erdbraune Pferdedecke uber Kurper und Kopf gezogen, die Nase in die Ellbogenbeuge verkeilt und abwurts zur Erde gerichtet, damit auch nicht der kleinste fremde Geruch seine Truume sturte. Bei Sonnenuntergang erwachte er, witterte nach allen Himmelsrichtungen, und erst, wenn er sicher gerochen hatte, dass auch der letzte Bauer sein Feld verlassen und auch der wagemutigste Wanderer vor der hereinbrechenden Dunkelheit eine Unterkunft aufgesucht hatten, erst wenn die Nacht mit ihren vermeintlichen Gefahren das Land von Menschen reingefegt hatte, kam Grenouille aus seinem Versteck hervorgekrochen und setzte seine Reise fort. Er brauchte kein Licht, um zu sehen. Schon fruher, als er noch tagsuber gewandert war, hatte er oft stundenlang die Augen geschlossen gehalten und war nur der Nase nach gegangen. Das grelle Bild der Landschaft, das Blendende, die Plutzlichkeit und die Schurfe des Sehens mit den Augen schmerzten ihn. Allein das Mondlicht ließ er sich gefallen. Das Mondlicht kannte keine Farben und zeichnete nur schwach die Konturen des Gelundes. Es uberzog das Land mit schmutzigem Grau und erdrosselte fur eine Nacht lang das Leben. Diese wie in Blei gegossene Welt, in der sich nichts regte als der Wind, der manchmal wie ein Schattenuber die grauen Wulder fiel, und in der nichts lebte als die Dufte der nackten Erde, war die einzige Welt, die er gelten ließ, denn sie uhnelte der Welt seiner Seele. So zog er in sudliche Richtung. Ungefuhr in sudliche Richtung, denn er folgte keinem magnetischen Kompass, sondern nur dem Kompass seiner Nase, der ihn jede Stadt, jedes Dorf, jede Siedlung umgehen ließ. Wochenlang traf er keinen Menschen. Und er hutte sich im beruhigenden Glauben wiegen kunnen, er sei allein auf der dunklen oder vom kalten Mondlicht beschienenen Welt, wenn nicht der feine Kompass ihn eines Besseren belehrt hutte. Auch nachts gab es Menschen. Auch in den entlegensten Gebieten gab es Menschen. Sie hatten sich nur in ihre Schlupfwinkel zuruckgezogen wie die Ratten und schliefen. Die Erde war nicht rein von ihnen, denn selbst im Schlaf dunsteten sie ihren Geruch aus, der durch die offenen Fenster und durch die Ritzen ihrer Behausungen hinaus ins Freie drungte und die sich scheinbar selbst uberlassene Natur verpestete. Je mehr sich Grenouille an die reinere Luft gewuhnt hatte, desto empfindlicher traf ihn so ein Menschengeruch, der plutzlich, vullig unerwartet, nuchtens daherflatterte, scheußlich wie Adelgestank, und die Anwesenheit irgendeiner Hirtenunterkunft oder einer Kuhlerkate oder einer Ruuberhuhle verriet. Und er fluchtete weiter, immer sensibler reagierend auf den immer seltener werdenden Geruch des Menschlichen. So fuhrte ihn seine Nase in immer abgelegenere Gegenden des Landes, entfernte ihn immer weiter von den Menschen und trieb ihn immer heftiger dem Magnetpol der grußtmuglichen Einsamkeit entgegen.

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Dieser Pol, numlich der menschenfernste Punkt des ganzen Kunigreichs, befand sich im Zentralmassiv der Auvergne, etwa funf Tagesreisen sudlich von Clermont, auf dem Gipfel eines zweitausend Meter hohen Vulkansnamens Plomb du Cantal. Der Berg bestand aus einem riesigen Kegel bleigrauen Gesteins und war umgeben von einem endlosen, kargen, nur von grauem Moos und grauem Gestrupp bewachsenen Hochland, aus dem hier und da braune Felsspitzen wie verfaulte Zuhne aufragten und ein paar von Brunden verkohlte Buume. Selbst am helllichten Tage war diese Gegend von so trostloser Unwirtlichkeit, dass der urmste Schafhirte der ohnehin armen Provinz seine Tiere nicht hierher getrieben hutte. Und bei Nacht gar, im bleichen Licht des Mondes, schien sie in ihrer gottverlassenen ude nicht mehr von dieser Welt zu sein. Selbst der weithin gesuchte auvergnatische Bandit Lebrun hatte es vorgezogen, sich in die Cevennen durchzuschlagen und dort ergreifen und vierteilen zu lassen, als sich am Plomb du Cantal zu verstecken, wo ihn zwar sicher niemand gesucht und gefunden hutte, wo er aber ebenso sicher den ihm schlimmer erscheinenden Tod der lebenslangen Einsamkeit gestorben wure. In meilenweitem Umkreis des Berges lebten kein Mensch und kein ordentliches warmblutiges Tier, bloß ein paar Fledermuuse und ein paar Kufer und Nattern. Seit Jahrzehnten hatte niemand den Gipfel bestiegen. Grenouille erreichte den Berg in einer Augustnacht des Jahres 1756. Als der Morgen graute, stand er auf dem Gipfel. Er wusste noch nicht, dass seine Reise hier zu Ende war. Er dachte, dies sei nur eine Etappe auf dem Weg in immer noch reinere Lufte, und er drehte sich im Kreise und ließ den Blick seiner Nase uber das gewaltige Panorama des vulkanischen udlands streifen: nach Osten hin, wo die weite Hochebene von Saint-Flour und die Sumpfe des Flusses Riou lagen; nach Norden hin, in die Gegend, aus der er gekommen und wo er tagelang durch karstiges Gebirge gewandert war; nach Westen, von woher der leichte Morgenwind ihm nichts als den Geruch von Stein und hartem Gras entgegentrug; nach Suden schließlich, wo die Ausluufer des Plomb sich meilenweit hinzogen bis zu den dunklen Schluchten der Truyere. uberall, in jeder Himmelsrichtung, herrschte die gleiche Menschenferne, und zugleich hutte jeder Schritt in jede Richtung wieder grußere Menschennuhe bedeutet. Der Kompass kreiselte. Er gab keine Orientierung mehr an. Grenouille war am Ziel. Aber zugleich war er gefangen. Als die Sonne aufging, stand er immer noch am gleichen Fleck und hielt seine Nase in die Luft. Mit verzweifelter Anstrengung versuchte er, die Richtung zu erschnuppern, aus der das bedrohlich Menschliche kam, und die Gegenrichtung, in die er weiterfliehen musste. In jeder Richtung argwuhnte er, doch noch einen verborgenen Fetzen menschlichen Geruchs zu entdecken. Doch da war nichts. Da war nur Ruhe, wenn man so sagen kann, geruchliche Ruhe. Ringsum herrschte nur der wie ein leises Rauschen wehende, homogene Duft der toten Steine, der grauen Flechten und der durren Gruser, und sonst nichts. Grenouille brauchte sehr lange Zeit, um zu glauben, was er nicht roch. Er war auf sein Gluck nicht vorbereitet. Sein Misstrauen wehrte sich lange gegen die bessere Einsicht. Er nahm sogar, wuhrend die Sonne stieg, seine Augen zuhilfe und suchte den Horizont nach dem geringsten Zeichen menschlicher Gegenwart ab, nach dem Dach einer Hutte, dem Rauch eines Feuers, einem Zaun, einer Brucke, einer Herde. Er hielt die Hunde an die Ohren und lauschte, nach dem Dengeln einer Sense etwa oder dem Gebell eines Hundes oder dem Schrei eines Kindes. Den ganzen Tag uber verharrte er in der gluhendsten Hitze auf dem Gipfel des Plomb du Cantal und wartete vergeblich auf das kleinste Indiz. Erst als die Sonne unterging, wich sein Misstrauen allmuhlich einem immer sturker werdenden Gefuhl der Euphorie: Er war dem verhassten Odium entkommen! Er war tatsuchlich vollstundig allein! Er war der einzige Menschauf der Welt! Ein ungeheurer Jubel brach in ihm aus. So wie ein Schiffbruchiger nach wochenlanger Irrfahrt die erste von Menschen bewohnte Insel ekstatisch begrußt, feierte Grenouille seine Ankunft auf dem Berg der Einsamkeit. Er schrie vor Gluck. Rucksack, Decke, Stock warf er von sich und trampelte mit den Fußen auf den Boden, warf die Arme in die Huhe, tanzte im Kreis, brullte seinen eigenen Namen in alle vier Winde, ballte die Fuuste, schuttelte sie triumphierend gegen das ganze weite unter ihm liegende Land und gegen die sinkende Sonne, triumphierend, als hutte er sie persunlich vom Himmel verjagt. Er fuhrte sich auf wie ein Wahnsinniger, bis tief in die Nacht hinein.

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Die nuchsten Tage verbrachte er damit, sich auf dem Berg einzurichten - denn das stand fur ihn fest, dass er diese begnadete Gegend so schnell nicht mehr verlassen wurde. Als erstes schnupperte er nach Wasser und fand es in einem Einbruch etwas unterhalb des Gipfels, wo es in einem dunnen Film am Fels entlangrann. Es war nicht viel, aber wenn er geduldig eine Stunde lang leckte, hatte er seinen Feuchtigkeitsbedarf fur einen Tag gestillt. Er fand auch Nahrung, numlich kleine Salamander und Ringelnattern, die er, nachdem er ihnen den Kopf abgeknipst hatte, mit Haut und Knochen verschlang. Dazu aß er trockene Flechten und Gras und Moosbeeren. Diese nach burgerlichen Maßstuben vullig undiskutable Ernuhrungsweise verdross ihn nicht im mindesten. Schon in den letzten Wochen und Monaten hatte er sich nicht mehr von menschlich gefertigter Nahrung wie Brot und Wurst und Kuse ernuhrt, sondern, wenn er Hunger verspurte, alles zusammengefressen, was ihm an irgendwie Essbarem in die Quere gekommen war. Er war nichts weniger als ein Gourmet. Er hatte es uberhaupt nicht mit dem Genuss, wenn der Genuss in etwas anderem als dem reinen kurperlosen Geruch bestand. Er hatte es auch nicht mit der Bequemlichkeit und wure zufrieden gewesen, sein Lager auf blankem Stein einzurichten. Aber er fand etwas Besseres. Nahe der Wasserstelle entdeckte er einen naturlichen Stollen, der in vielen engen Windungen in das Innere des Berges fuhrte, bis er nach etwa dreißig Metern an einer Verschuttung endete. Dort, am Ende des Stollens, war es so eng, dass Grenouilles Schultern das Gestein beruhrten, und so niedrig, dass er nur gebuckt stehen konnte. Aber er konnte sitzen, und wenn er sich krummte, konnte er sogar liegen. Das genugte seinem Bedurfnis nach Komfort vollkommen. Denn der Ort hatte unschutzbare Vorzuge: Am Ende des Tunnels herrschte selbst tagsuber stockfinstere Nacht, es war totenstill, und die Luft atmete eine feuchte, salzige Kuhle. Grenouille roch sofort, dassnoch kein lebendes Wesen diesen Platz je betreten hatte. Es uberfiel ihn beinahe ein Gefuhl von heiliger Scheu, als er ihn in Besitz nahm. Sorgsam breitete er seine Pferdedecke auf den Boden, als bedecke er einen Altar, und legte sich darauf. Er fuhlte sich himmlisch wohl. Er lag im einsamsten Berg Frankreichs funfzig Meter tief unter der Erde wie in seinem eigenen Grab. Noch nie im Leben hatte er sich so sicher gefuhlt - schon gar nicht im Bauch seiner Mutter. Es mochte draußen die Welt verbrennen, hier wurde er nichts davon merken. Er begann still zu weinen. Er wusste nicht, wem er danken sollte fur so viel Gluck. In der folgenden Zeit ging er nur noch ins Freie, um an der Wasserstelle zu lecken, sich rasch seines Urins und seiner Exkremente zu entledigen, und um Echsen und Schlangen zu jagen. Nachts waren sie leicht zu erwischen, denn sie hatten sich unter Steinplatten oder in kleine Huhlen zuruckgezogen, wo er sie mit seiner Nase aufspurte. Zum Gipfel hinauf stieg er wuhrend der ersten Wochen wohl noch ein paar Mal, um den Horizont abzuwittern. Bald aber war dies mehr eine lustige Gewohnheit als eine Notwendigkeit geworden, denn kein einziges Mal hatte er Bedrohliches gerochen. Und so stellte er schließlich die Exkursionen ein und war nur noch darauf bedacht, so schnell wie muglich in seine Gruft zuruckzukehren, wenn er die furs schiere uberleben allernutigsten Verrichtungen hinter sich gebracht hatte. Denn hier, in der Gruft, lebte er eigentlich. Das heißt, er saß weit uber zwanzig Stunden am Tag in vollkommener Dunkelheit und vollkommener Stille und vollkommener Bewegungslosigkeit auf seiner Pferdedecke am Ende des steinernen Ganges, hatte den Rucken gegen das Gerull gelehnt, die Schultern zwischen die Felsen geklemmt, und genugte sich selbst. Man weiß von Menschen, die die Einsamkeit suchen: Bußer, Gescheiterte, Heilige oder Propheten. Sie ziehen sich vorzugsweise in Wusten zuruck, wo sie von Heuschrecken und wildem Honig leben. Manche wohnen auch in Huhlen und Klausen auf abgelegenen Inseln oder hocken sich - etwas spektakulurer - in Kufige, die auf Stangen montiert sind und hoch in den Luften schweben. Sie tun das, um Gott nuher zu sein. Sie kasteien sich mit der Einsamkeit und tun Buße durch sie. Sie handeln im Glauben, ein gottgefulliges Leben zu fuhren. Oder sie warten monate- oder jahrelang darauf, dass ihnen in der Einsamkeit eine guttliche Mitteilung zukomme, die sie dann eiligst unter den Menschen verbreiten wollen. Nichts von alledem traf auf Grenouille zu. Er hatte mit Gott nicht das geringste im Sinn. Er bußte nicht und wartete auf keine huhere Eingebung. Nur zu seinem eigenen, einzigen Vergnugen hatte er sich zuruckgezogen, nur, um sich selbst nahe zu sein. Er badete in seiner eigenen, durch nichts mehr abgelenkten Existenz und fand das herrlich. Wie seine eigene Leiche lag er in der Felsengruft, kaum noch atmend, kaum dass sein Herz noch schlug - und lebte doch so intensiv und ausschweifend, wie nie ein Lebemann draußen in der Welt gelebt hat.

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Schauplatz dieser Ausschweifungen war - wie kunnte es anders sein - sein inneres Imperium, in das er von Geburt an die Konturen aller Geruche eingegraben hatte, denen er jemals begegnet war. Um sich in Stimmung zu bringen, beschwor er zunuchst die fruhesten, die allerentlegensten: den feindlichen, dampfigen Dunst der Schlafstube von Madame Gaillard; das ledrig verdorrte Odeur ihrer Hunde; den essigsauren Atem des Pater Terrier; den hysterischen, heißen mutterlichen Schweiß der Amme Bussie; den Leichengestank des Cimetiere des Innocents; den Murdergeruch seiner Mutter. Und er schwelgte in Ekel und Hass, und es struubten sich seine Haare vor wohligem Entsetzen. Manchmal, wenn ihn dieser Aperitif der Abscheulichkeiten noch nicht genugend in Fahrt gebracht hatte, gestattete er sich auch einen kleinen geruchlichen Abstecher zu Grimal und kostete vom Gestank der rohen, fleischigen Huute und der Gerbbruhen, oder er imaginierte den versammelten Brodem von sechshunderttausend Parisern in der schwulen lastenden Hitze des Hochsommers. Und dann brach mit einem Mal - das war der Sinn der ubung - mit orgastischer Gewalt sein angestauter Hass hervor. Wie ein Gewitter zog er her uber diese Geruche, die es gewagt hatten, seine erlauchte Nase zu beleidigen. Wie Hagel auf ein Kornfeld drosch er auf sie ein, wie ein Orkan zerstuubte er das Geluder und ersuufte es in einer riesigen reinigenden Sintflut destillierten Wassers. So gerecht war sein Zorn. So groß war seine Rache. Ah! Welch sublimer Augenblick! Grenouille, der kleine Mensch, zitterte vor Erregung, sein Kurper krampfte sich in wollustigem Behagen und wulbte sich auf, so dass er fur einen Moment mit dem Scheitel an die Decke des Stollens stieß, um dann langsam zuruckzusinken und liegen zu bleiben, gelust und tief befriedigt. Er war wirklich zu angenehm, dieser eruptive Akt der Extinktion aller widerwurtigen Geruche, wirklich zu angenehm... Fast war ihm diese Nummer das liebste in der ganzen Szenenfolge seines inneren Welttheaters, denn sie vermittelte das wunderbare Gefuhl rechtschaffener Erschupfung, das nur den wirklich großen, heldenhaften Taten folgt. Er durfte nun eine Weile lang guten Gewissens ruhen. Er streckte sich aus; kurperlich, so gut es eben ging im engen steinernen Gelass. Innerlich jedoch, auf den reingefegten Matten seiner Seele , da streckte er sich bequem der vollen Lunge nach und duste dahin und ließ sich feine Dufte um die Nase spielen: ein wurziges Luftchen etwa, wie von Fruhlingswiesen hergetragen; einen lauen Maienwind, der durch die ersten grunen Buchenblutter weht; eine Brise vom Meer, herb wie gesalzene Mandeln. Es war sputer Nachmittag, als er sich erhob - sozusagen sputer Nachmittag, denn es gab naturlich keinen Nachmittag oder Vormittag oder Abend oder Morgen, es gab kein Licht und keine Finsternis, es gab auch keine Fruhlingswiesen und keine grunen Buchenblutter... es gab uberhaupt keine Dinge in Grenouilles innerem Universum, sondern nur die Dufte von Dingen. (Darum ist es eine fauon de parler, von diesem Universum als einer Landschaft zu sprechen, eine aduquate freilich und die einzig mugliche, denn unsere Sprache taugt nicht zur Beschreibung der riechbaren Welt.) - Es war also sputer Nachmittag, will sagen ein Zustand und Zeitpunkt in Grenouilles Seele, wie er im Suden am Ende der Siesta herrscht, wenn die mittugliche Luhmung langsam abfullt von der Landschaft und das zuruckgehaltne Leben wieder beginnen will. Die wutentbrannte Hitze - Feindin der sublimen Dufte - war verflogen, das Dumonenpack vernichtet. Die inneren Gefilde lagen blank und weich in der lasziven Ruhe des Erwachens und warteten, dass der Wille ihres Herrn uber sie kume. Und Grenouille erhob sich - wie gesagt - und schuttelte den Schlaf aus seinen Gliedern. Er stand auf, der große innere Grenouille, wie ein Riese stellte er sich hin, in seiner ganzen Pracht und Gruße, herrlich war er anzuschauen - fast schade, dass ihn keiner sah! -, und blickte in die Runde, stolz und hoheitsvoll: Ja! Dies war sein Reich! Das einzigartige Grenouillereich! Von ihm, dem einzigartigen Grenouille erschaffen und beherrscht, von ihm verwustet, wann es ihm gefiel, und wieder aufgerichtet, von ihm ins Unermessliche erweitert und mit dem Flammenschwert verteidigt gegen jeden Eindringling. Hier galt nichts als sein Wille, der Wille des großen, herrlichen, einzigartigen Grenouille. Und nachdem die ublen Gestunke der Vergangenheit hinweggetilgt waren, wollte er nun, dass es dufte in seinem Reich. Und er ging mit muchtigen Schritten uber die brachen Fluren und sute Duft der verschiedensten Sorten, verschwenderisch hier, sparsam dort, in endlos weiten Plantagen und kleinen intimen Rabatten, den Samen faustweise verschleudernd oder einzeln an eigens ausgewuhlten Plutzen versenkend. Bis in die entlegensten Regionen seines Reiches eilte der Große Grenouille, der rasende Gurtner, und bald war kein Winkel mehr, in den er kein Duftkorn geworfen hutte. Und als er sah, dass es gut war und dass das ganze Land von seinem guttlichen Grenouillesamen durchtrunkt war, da ließ der Große Grenouille einen Weingeistregen herniedergehen, sanft und stetig, und es begann alluberall zu keimen und zu sprießen, und die Saat trieb aus, dass es das Herz erfreute. Schon wogte es uppig auf den Plantagen, und in den verborgenen Gurten standen die Stengel im Saft. Die Knospen der Bluten platzten schier aus ihrer Hulle. Da gebot der Große Grenouille Einhalt dem Regen. Und es geschah. Und er schickte die milde Sonne seines Luchelns uber das Land, worauf sich mit einem Schlag die millionenfache Pracht der Bluten erschloss, von einem Ende des Reichs bis zum anderen, zu einem einzigen bunten Teppich, geknupft aus Myriaden von kustlichen Duftbehultern. Und der Große Grenouille sah, dass es gut war, sehr, sehr gut. Und er blies den Wind seines Odems uber das Land. Und die Bluten, liebkost, verstrumten Duft und vermischten ihre Myriaden Dufte zu einem stundig changierenden und doch in stundigem Wechsel vereinten universalen Huldigungsduft an Ihn, den Großen, den Einzigen, den Herrlichen Grenouille, und dieser, auf einer goldduftenden Wolke thronend, sog den Odem schnuppernd wieder ein, und der Geruch des Opfers war ihm angenehm. Und er ließ sich herab, seine Schupfung mehrmals zu segnen, was ihm von dieser mit Jauchzen und Jubilieren und abermaligen herrlichen Duftausstußen gedankt wurde. Unterdessen war es Abend geworden, und die Dufte verstrumten sich weiter und mischten sich in der Bluue der Nacht zu immer phantastischeren Noten. Es stand eine wahre Ballnacht der Dufte bevor mit einem gigantischen Brillantduftfeuerwerk. Der Große Grenouille aber war etwas mude geworden und guhnte und sprach: "Siehe, ich habe ein großes Werk getan, und es gefullt mir sehr gut. Aber wie alles Vollendete beginnt es mich zu langweilen. Ich will mich zuruckziehen und mir zum Abschluss dieses arbeitsreichen Tages in den Kammern meines Herzens noch eine kleine Begluckung gunnen." Also sprach der Große Grenouille und segelte, wuhrend das einfache Duftvolk unter ihm freudig tanzte und feierte, mit weitausgespannten Flugeln von der goldenen Wolke herab uber das nuchtliche Land seiner Seele nach Haus in sein Herz.

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Ach, es war angenehm, heimzukehren! Das Doppelamt des Ruchers und Weltenerzeugers strengte nicht schlecht an, und sich danach von der eigenen Brut stundenlang feiern zu lassen, war auch nicht die reinste Erholung. Der guttlichen Schupfungs- und Reprusentationsverpflichtungen mude, sehnte sich der Große Grenouille nach huuslichen Freuden. Sein Herz war ein purpurnes Schloss. Es lag in einer steinernen Wuste, getarnt hinter Dunen, umgeben von einer Oase aus Sumpf und hinter sieben steinernen Mauern. Es war nur im Flug zu erreichen. Es besaß tausend Kammern und tausend Keller und tausend feine Salons, darunter einen mit einem einfachen purpurnen Kanapee, auf welchem Grenouille, der nun nicht mehr der Große Grenouille war, sondern Grenouille ganz privat oder einfach der liebe Jean-Baptiste, sich von der Muhsal des Tages auszuruhen pflegte. In den Kammern des Schlosses aber standen Regale vom Boden bis hinauf an die Decke, und darin befanden sich alle Geruche, die Grenouille im Laufe seines Lebens gesammelt hatte, mehrere Millionen. Und in den Kellern des Schlosses, da ruhten in Fussern die besten Dufte seines Lebens. Sie wurden, wenn sie gereift waren, auf Flaschen gezogen und lagen dann in kilometerlangen feuchtkuhlen Gungen, geordnet nach Jahrgang und Herkunft, und es waren ihrer so viele, dass ein Leben nicht reichte, sie alle zu trinken. Und als der liebe Jean-Baptiste, endlich heimgekehrt in sein chez soi, im purpurnen Salon auf seinem simplen anheimelnden Sofa lag - die Stiefel, wenn man so will, endlich ausgezogen hatte -, klatschte er in die Hunde und rief seine Diener herbei, die unsichtbar, unfuhlbar, unhurbar und vor allem unriechbar, also vollstundig imaginure Diener waren, und befahl ihnen, in die Kammern zu gehen und aus der großen Bibliothek der Geruche diesen oder jenen Band zu besorgen und in den Keller zu steigen und ihm zu trinken zu holen. Es eilten die imaginuren Diener, und in peinigender Erwartung krampfte sich Grenouilles Magen zusammen. Es war ihm plutzlich zumute wie einem Trinker, den am Tresen die Angst befullt, man kunnte ihm aus irgendeinem Grund das bestellte Glas Schnaps verweigern. Was, wenn die Keller und Kammern mit einem Mal leer, was, wenn der Wein in den Fussern verdorben war? Warum ließ man ihn warten? Warum kam man nicht? Er brauchte das Zeug sofort, er brauchte es dringend, er war suchtig danach, er wurde auf dem Fleck sterben, wenn er es nicht bekume. Aber ruhig, Jean-Baptiste! Ruhig, Lieber! Man kommt ja, man bringt, was du begehrst. Schon fliegen die Diener herbei. Sie tragen auf unsichtbarem Tablett das Buch der Geruche, sie tragen in weißbehandschuhten unsichtbaren Hunden die kostbaren Flaschen, sie setzen sie ab, ganz behutsam, sie verneigen sich, und sie verschwinden. Und alleine gelassen, endlich - mal wieder! - allein, greift Jean-Baptiste nach den ersehnten Geruchen, uffnet die erste Flasche, schenkt sich ein Glas voll bis zum Rand, fuhrt es an die Lippen und trinkt. Trinkt das Glas kuhlen Geruchs in einem Zug leer, und es ist kustlich! Es ist so erlusend gut, dass dem lieben Jean-Baptiste vor Wonne das Wasser in die Augen schießt und er sich sofort das zweite Glas dieses Dufts einschenkt: eines Dufts aus dem Jahr 1752, aufgeschnappt im Fruhjahr, vor Sonnenaufgang auf dem Pont Royal, mit nach Westen gerichteter Nase, woher ein leichter Wind kam, in dem sich Meergeruch, Waldgeruch und ein wenig vom teerigen Geruch der Kuhne mischten, die am Ufer lagen. Es war der Duft der ersten zu Ende gehenden Nacht, die er, ohne Grimals Erlaubnis, in Paris herumstreunend verbracht hatte. Es war der frische Geruch des sich nuhernden Tages, des ersten Tagesanbruchs, den er in Freiheit erlebte. Dieser Geruch hatte ihm damals die Freiheit verheißen. Er hatte ihm ein anderes Leben verheißen. Der Geruch jenes Morgens war fur Grenouille ein Hoffnungsgeruch. Er verwahrte ihn sorgsam. Und er trank tuglich davon. Nachdem er das zweite Glas geleert hatte, fiel alle Nervositut, fielen Zweifel und Unsicherheit von ihm ab, und es erfullte ihn eine herrliche Ruhe. Er presste seinen Rucken gegen die weichen Kissen des Kanapees, schlug ein Buch auf und begann, in seinen Erinnerungen zu lesen. Er las von den Geruchen seiner Kindheit, von den Schulgeruchen, von den Geruchen der Straßen und Winkel der Stadt, von Menschengeruchen. Und angenehme Schauer durchrieselten ihn, denn es waren durchaus die verhassten Geruche, die exterminierten, die da beschworen wurden. Mit angewidertem Interesse las Grenouille im Buch der ekligen Geruche, und wenn der Widerwille das Interesse uberwog, so klappte er es einfach zu, legte es weg und nahm ein anderes. Nebenher trank er ohne Pause von den edlen Duften. Nach der Flasche mit dem Hoffnungsduft entkorkte er eine aus dem Jahre 1744, die gefullt war mit dem warmen Holzgeruch vor dem Haus der Madame Gaillard. Und nach diesem trank er eine Flasche sommerabendlichen Dufts, parfumdurchweht und blutenschwer, aufgelesen am Rande eines Parks in Saint-Germain-des-Pres anno 1753. Er war nun muchtig angefullt von Duften. Die Glieder lagen immer schwerer in den Kissen. Sein Geist benebelte sich wunderbar. Und doch war er noch nicht am Ende des Gelages. Zwar konnten seine Augen nicht mehr lesen, war ihm das Buch lungst aus der Hand geglitten - aber er wollte den Abend nicht beschließen, ohne noch die letzte Flasche, die herrlichste, geleert zu haben: Es war der Duft des Mudchens aus der Rue des Marais... Er trank ihn andachtsvoll und setzte sich zu diesem Zweck aufrecht auf das Kanapee, obwohl ihm das schwerfiel, denn der purpurne Salon schwankte und kreiste um ihn bei jeder Bewegung. In schulerhafter Haltung, die Knie aneinandergepresst, die Fuße dicht an dicht gestellt, auf den linken Oberschenkel seine linke Hand gelegt - so trank der kleine Grenouille den kustlichsten Duft aus den Kellern seines Herzens, Glas um Glas, und wurde immer trauriger dabei. Er wusste, dass er zu viel trank. Er wusste, dass er so viel Gutes nicht vertrug. Und trank doch, bis die Flasche leer war: Er ging durch den dunklen Gang von der Straße in den Hinterhof. Er ging auf den Lichtschein zu. Das Mudchen saß und schnitt die Mirabellen auf. Von weit her krachten die Raketen und Petarden des Feuerwerks... Er stellte das Glas ab und blieb noch, von der Sentimentalitut und vom Suff wie versteinert, ein paar Minuten lang sitzen, so lange, bis auch der letzte Nachgeschmack von der Zunge verschwunden war. Er glotzte vor sich hin. In seinem Hirn war es plutzlich so leer wie in den Flaschen. Dann kippte er um, seitlich aufs purpurne Kanapee und versank von einem Moment zum anderen in einen betuubenden Schlaf. Zur gleichen Zeit schlief auch der uußere Grenouille auf seiner Pferdedecke ein. Und sein Schlaf war ebenso abgrundtief wie der des inneren Grenouille, denn die herkuleischen Taten und Exzesse von diesem hatten jenen nicht weniger erschupft - schließlich waren beide ja ein und dieselbe Person. Als er aufwachte allerdings, wachte er nicht auf im purpurnen Salon seines purpurnen Schlosses hinter den sieben Mauern und auch nicht in den fruhlingshaften Duftgefilden seiner Seele, sondern einzig und allein im Steinverlies am Ende des Tunnels auf dem harten Boden in der Finsternis. Und ihm war speiubel vor Hunger und Durst und frustelig und elend wie einem suchtigen Trinker nach durchzechter Nacht. Auf allen vieren kroch er aus dem Stollen. Draußen war irgendeine Tageszeit, meistens die beginnende oder die endende Nacht, aber selbst bei Mitternacht stach ihm die Helligkeit des Sternenlichts wie Nadeln in die Augen. Die Luft erschien ihm staubig, raß, lungenbrennend, die Landschaft hart, er stieß sich an den Steinen. Und selbst die zartesten Geruche wirkten streng und beizend auf seine weltentwuhnte Nase. Grenouille, der Zeck, war empfindlich geworden wie ein Krebs, der sein Muschelgehuuse verlassen hat und nackt durchs Meer wandert. Er ging zur Wasserstelle, leckte die Feuchtigkeit von der Wand, ein, zwei Stunden lang, es war eine Tortur, die Zeit nahm kein Ende, die Zeit, in der ihm die wirkliche Welt auf der Haut brannte. Er riss sich ein paar Fetzen Moos von den Steinen, wurgte sie in sich hinein, hockte sich hin, schiss wuhrend er fraß schnell, schnell, schnell musste alles gehen -, und wie gejagt, wie wenn er ein kleines weichfleischiges Tier wure und droben am Himmel kreisten schon die Habichte, lief er zuruck zu seiner Huhle bis ans Ende des Stollens, wo die Pferdedecke lag. Hier war er endlich wieder sicher. Er lehnte sich zuruck gegen die Schutte von Gerull, streckte die Beine aus und wartete. Er musste seinen Kurper jetzt ganz still halten, ganz still, wie ein Gefuß, das von zu viel Bewegung uberzuschwappen droht. Allmuhlich gelang es ihm, den Atem zu zugeln. Sein aufgeregtes Herz schlug ruhiger, der innere Wellenschlag ließ langsam nach. Und plutzlich fiel die Einsamkeit wie eine schwarze Spiegelfluche uber sein Gemut. Er schloss die Augen. Die dunkle Ture in sein Inneres tat sich auf, und er trat ein. Die nuchste Vorstellung des grenouillschen Seelentheaters begann.

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So ging es Tag fur Tag, Woche fur Woche, Monat fur Monat. So ging es sieben ganze Jahre lang. Wuhrend dieser Zeit herrschte in der uußeren Welt Krieg, und zwar Weltkrieg. Man schlug sich in Schlesien und Sachsen, in Hannover und Belgien, in Buhmen und Pommern. Die Truppen des Kunigs starben in Hessen und Westfalen, auf den Balearen, in Indien, am Mississippi und in Kanada, sofern sie nicht schon auf der Fahrt dorthin dem Typhus erlagen. Der Krieg kostete einer Million Menschen das Leben, den Kunig von Frankreich sein Kolonialreich und alle beteiligten Staaten so viel Geld, dass sie sich schließlich schweren Herzens entschlossen, ihn zu beenden. Grenouille wure einmal in dieser Zeit, im Winter, fast erfroren, ohne es zu merken. Funf Tage lag er im purpurnen Salon, und als er im Stollen erwachte, konnte er sich vor Kulte nicht mehr bewegen. Er schloss sofort wieder die Augen, um sich zu Tode zu schlafen. Doch dann kam ein Wettersturz, taute ihn auf und rettete ihn. Einmal war der Schnee so hoch, dass er nicht mehr die Kraft hatte, sich bis zu den Flechten durchzuwuhlen. Da ernuhrte er sich von steifgefrorenen Fledermuusen. Einmal lag ein toter Rabe vor der Huhle. Den aß er. Das waren die einzigen Vorkommnisse, die er von der uußeren Welt in den sieben Jahren zur Kenntnis nahm. Ansonsten lebte er nur in seinem Berg, nur im selbstgeschaffenen Reich seiner Seele. Und er wure bis zu seinem Tode dort geblieben (denn es mangelte ihm an nichts), wenn nicht eine Katastrophe eingetreten wure, die ihn aus dem Berg vertrieben und in die Welt zuruckgespieen hutte.

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Die Katastrophe war kein Erdbeben, kein Waldbrand, kein Bergrutsch und kein Stolleneinsturz. Sie war uberhaupt keine uußere Katastrophe, sondern eine innere, und daher besonders peinlich, denn sie blockierte Grenouilles bevorzugten Fluchtweg. Sie geschah im Schlaf. Besser gesagt im Traum. Vielmehr im Traum im Schlaf im Herz in seiner Phantasie. Er lag auf dem Kanapee im purpurnen Salon und schlief. Um ihn standen die leeren Flaschen. Er hatte enorm viel getrunken, zum Abschluss gar zwei Flaschen vom Duft des rothaarigen Mudchens. Wahrscheinlich war das zu viel gewesen, denn sein Schlaf, wiewohl von todesuhnlicher Tiefe, war diesmal nicht traumlos, sondern von geisterhaften Traumschlieren durchzogen. Diese Schlieren waren deutlich erkennbare Fetzen eines Geruchs. Zuerst zogen sie nur in dunnen Bahnen an Grenouilles Nase vorbei, dann wurden sie dichter, wolkenhaft. Es war nun, als stunde er inmitten eines Moores, aus dem der Nebel stieg. Der Nebel stieg langsam immer huher. Bald war Grenouille vollkommen umhullt von Nebel, durchtrunkt von Nebel, und zwischen den Nebelschwaden war kein bisschen freie Luft mehr. Er musste, wenn er nicht ersticken wollte, diesen Nebel einatmen. Und der Nebel war, wie gesagt, ein Geruch. Und Grenouille wusste auch, was fur ein Geruch. Der Nebel war sein eigener Geruch. Sein, Grenouilles, Eigengeruch war der Nebel. Und nun war das Entsetzliche, dass Grenouille, obwohl er wusste, dass dieser Geruch sein Geruch war, ihn nicht riechen konnte. Er konnte sich, vollstundig in sich selbst ertrinkend, um alles in der Welt nicht riechen! Als ihm das klargeworden war, schrie er so furchterlich laut, als wurde er bei lebendigem Leibe verbrannt. Der Schrei zerschlug die Wunde des Purpursalons, die Mauern des Schlosses, er fuhr aus dem Herzen uber die Gruben und Sumpfe und Wusten hinweg, raste uber die nuchtliche Landschaft seiner Seele wie ein Feuersturm, gellte aus seinem Mund hervor, durch den gewundenen Stollen, hinaus in die Welt, weithin uber die Hochebene von Saint-Flour es war, als schriee der Berg. Und Grenouille erwachte von seinem eigenen Schrei. Im Erwachen schlug er um sich, als musse er den unriechbaren Nebel vertreiben, der ihn ersticken wollte. Er war zutode geungstigt, schlotterte am ganzen Kurper vor schierem Todesschrecken. Hutte der Schrei nicht den Nebel zerrissen, dann wure er an sich selber ertrunken - ein grauenvoller Tod. Ihn schauderte, wenn er daran zuruckdachte. Und wuhrend er noch schlotternd saß und versuchte, seine konfusen verungstigten Gedanken zusammenzufangen, wusste er schon eines ganz sicher: Er wurde sein Leben undern, und sei es nur deshalb, weil er einen so furchtbaren Traum kein zweites Mal truumen wollte. Er wurde das zweite Mal nicht uberstehen. Er warf sich die Pferdedecke uber die Schultern und kroch hinaus ins Freie. Draußen war gerade Vormittag, ein Vormittag Ende Februar. Die Sonne schien. Das Land roch nach feuchtem Stein, Moos und Wasser. Im Wind lag schon ein wenig Duft von Anemonen. Er hockte sich vor der Huhle auf den Boden. Das Sonnenlicht wurmte ihn. Er atmete die frische Luft ein. Es schauderte ihn immer noch, wenn er an den Nebel zuruckdachte, dem er entronnen war, und es schauderte ihn vor Wohligkeit, als er die Wurme auf dem Rucken spurte. Es war doch gut, dass diese uußere Welt noch bestand, und sei's nur als ein Fluchtpunkt. Nicht auszudenken das Grauen, wenn er am Ausgang des Tunnels keine Welt mehr vorgefunden hutte! Kein Licht, keinen Geruch, kein Garnichts - nur noch diesen entsetzlichen Nebel, innen, außen, uberall... Allmuhlich wich der Schock. Allmuhlich lockerte sich der Griff der Angst, und Grenouille begann sich sicherer zu fuhlen. Gegen Mittag hatte er seine Kaltblutigkeit wiedergewonnen. Er legte Zeige- und Mittelfinger der linken Hand unter die Nase und atmete zwischen den Fingerrucken hindurch. Er roch die feuchte, anemonenwurzige Fruhlingsluft. Von seinen Fingern roch er nichts. Er drehte die Hand um und schnupperte an ihrer Innenseite. Er spurte die Wurme der Hand, aber er roch nichts. Nun krempelte er den zerschlissenen urmel seines Hemdes hoch, vergrub die Nase in der Ellbogenbeuge. Er wusste, dass dies die Stelle war, wo alle Menschen nach sich selber riechen. Er jedoch roch nichts. Er roch auch nichts unter seiner Achsel, nichts an den Fußen, nichts am Geschlecht, zu dem er sich, so weit es ging, hinunterbeugte. Es war grotesk: Er, Grenouille, der jeden anderen Menschen meilenweit erschnuppern konnte, war nicht imstande, sein weniger als eine Handspanne entferntes eigenes Geschlecht zu riechen! Trotzdem geriet er nicht in Panik, sondern sagte sich, kuhl uberlegend, das folgende: "Es ist nicht so, dass ich nicht rieche, denn alles riecht. Es ist vielmehr so, dass ich nicht rieche, dass ich rieche, weil ich mich seit meiner Geburt tagaus tagein gerochen habe und meine Nase daher gegen meinen eigenen Geruch abgestumpft ist. Kunnte ich meinen Geruch, oder wenigstens einen Teil davon, von mir trennen und nach einer gewissen Zeit der Entwuhnung zu ihm zuruckkehren, so wurde ich ihn - und also mich - sehr wohl riechen kunnen." Er legte die Pferdedecke ab und zog seine Kleider aus der das, was von seinen Kleidern noch ubriggeblieben war, die Fetzen, die Lumpen zog er aus. Sieben Jahre lang hatte er sie nicht vom Leib genommen. Sie mussten durch und durch getrunkt sein von seinem Geruch. Er warf sie auf einen Haufen vor den Eingang der Huhle und entfernte sich. Dann stieg er, zum ersten Mal seit sieben Jahren, wieder auf den Gipfel des Berges hinauf. Dort stellte er sich an dieselbe Stelle, an der er damals bei seiner Ankunft gestanden war, hielt die Nase nach Westen und ließ sich den Wind um den nackten Kurper pfeifen. Seine Absicht war, sich vollkommen auszuluften, sich so sehr mit Westwind - und das hieß mit dem Geruch von Meer und feuchten Wiesen - vollzupumpen, dass dieser den Geruch seines eigenen Kurpers uberwog und sich somit ein Duftgefulle zwischen ihm, Grenouille, und seinen Kleidern herstellen muge, welches er dann deutlich wahrzunehmen in der Lage wure. Und um muglichst wenig Eigengeruch in die Nase zu bekommen, beugte er den Oberkurper nach vorn, machte den Hals so lang es ging gegen den Wind und streckte die Arme nach hinten. Er sah aus wie ein Schwimmer, kurz bevor er ins Wasser springt. In dieser uußerst lucherlichen Haltung verharrte er mehrere Stunden lang, wobei sich seine lichtentwuhnte madenweiße Haut trotz der noch schwachen Sonne langustenrot furbte. Gegen Abend stieg er wieder zur Huhle hinab. Schon von weitem sah er den Kleiderhaufen liegen. Auf den letzten Metern hielt er sich die Nase zu und uffnete sie erst wieder, als er sie dicht uber den Haufen gesenkt hatte. Er machte die Schnuffelprobe, wie er sie bei Baldini gelernt hatte, riss die Luft ein und ließ sie etappenweise wieder ausstrumen. Um den Geruch zu fangen, bildete er mit seinen beiden Hunden eine Glocke uber den Kleidern, in die er wie einen Kluppel seine Nase steckte. Er stellte alles mugliche an, um seinen eigenen Geruch aus den Kleidern herauszuriechen. Aber der Geruch war nicht darin. Er war entschieden nicht darin. Tausend andre Geruche waren darin. Der Geruch von Stein, Sand, Moos, Harz, Rabenblut - sogar der Geruch der Wurst, die er vor Jahren in der Nuhe von Sully gekauft hatte, war noch deutlich wahrnehmbar. Die Kleider enthielten ein olfaktorisches Tagebuch der letzten sieben, acht Jahre. Nur seinen eigenen Geruch, den Geruch dessen, der sie in dieser Zeit ohne Unterlass getragen hatte, enthielten sie nicht. Nun wurde ihm doch etwas bang. Die Sonne war untergegangen. Er stand nackt am Eingang des Stollens, an dessen dunklem Ende er sieben Jahre lang gelebt hatte. Der Wind blies kalt, und er fror, aber er merkte nicht, dass er fror, denn in ihm war eine Gegenkulte, numlich Angst. Es war nicht dieselbe Angst, die er im Traum empfunden hatte, diese grußliche Angst des Ansich-selbst-Erstickens, die es um jeden Preis abzuschutteln galt und der er hatte entfliehen kunnen. Was er jetzt empfand, war die Angst, uber sich selbst nicht Bescheid zu wissen. Sie war jener Angst entgegengesetzt. Ihr konnte er nicht entfliehen, sondern er musste ihr entgegengehen. Er musste - und wenn auch die Erkenntnis furchtbar war - ohne Zweifel wissen, ob er einen Geruch besaß oder nicht. Und zwar jetzt gleich. Sofort. Er ging zuruck in den Stollen. Nach ein paar Metern schon umgab ihn vullige Dunkelheit, doch er fand sich zurecht wie im hellsten Licht. Viele tausend Male war er den Weg gegangen, kannte jeden Tritt und jede Windung, roch jede niederhungende Felsnase und jeden kleinsten vorspringenden Stein. Den Weg zu finden war nicht schwierig. Schwierig war, gegen die Erinnerung an den klaustrophobischen Traum anzukumpfen, die wie eine Flutwelle in ihm hoch und huher schwappte, je weiter er voranschritt. Aber er war mutig. Das heißt, er bekumpfte mit der Angst, nicht zu wissen, die Angst vor dem Wissen, und es gelang ihm, weil er wusste, dass er keine Wahl hatte. Als er am Ende des Stollens angekommen war, dort wo die Gerullverschuttung anstieg, fielen beide ungste von ihm ab. Er fuhlte sich ruhig, sein Kopf war ganz klar und seine Nase geschurft wie ein Skalpell. Er hockte sich nieder, legte die Hunde uber die Augen und roch. An diesem Ort, in diesem weltfernen steinernen Grab, hatte er sieben Jahre lang gelegen. Wenn irgendwo auf der Welt, so musste es hier nach ihm riechen. Er atmete langsam. Er prufte genau. Er ließ sich Zeit mit dem Urteil. Eine Viertelstunde lang blieb er hocken. Er hatte ein untrugliches Geduchtnis und wusste genau, wie es vor sieben Jahren an dieser Stelle gerochen hatte: steinig und nach feuchter, salziger Kuhle und so rein, dass kein lebendes Wesen, Mensch oder Tier, den Platz jemals betreten haben konnte... Genau so aber roch es auch jetzt. Er blieb noch eine Weile hocken, ganz ruhig, nur leise mit dem Kopfe nickend. Dann drehte er sich um und ging, zunuchst gebuckt, und als die Huhe des Stollens es zuließ, in aufrechter Haltung, hinaus ins Freie. Draußen zog er seine Lumpen an (die Schuhe waren ihm schon vor Jahren vermodert), legte sich die Pferdedecke uber die Schultern und verließ noch in derselben Nacht den Plomb du Cantal in sudlicher Richtung.

    30

Er sah furchterlich aus. Die Haare reichten ihm bis zu den Kniekehlen, der dunne Bart bis zum Nabel. Seine Nugel waren wie Vogelkrallen, und an Armen und Beinen, wo die Lumpen nicht mehr hinreichten, den Kurper zu bedecken, fiel ihm die Haut in Fetzen ab. Die ersten Menschen, denen er begegnete, Bauern auf einem Feld nahe der Stadt Pierrefort, rannten schreiend davon, als sie ihn sahen. In der Stadt selbst dagegen machte er Sensation. Die Leute liefen zu Hunderten zusammen, um ihn zu begaffen. Manche hielten ihn fur einen entkommenen Galeerenstrufling. Manche sagten, er sei gar kein richtiger Mensch, sondern eine Mischung aus einem Menschen und einem Buren, eine Art Waldwesen. Einer, der fruher zur See gefahren war, behauptete, er sehe aus wie der Angehurige eines wilden Indianerstammes in Cayenne, welches jenseits des großen Ozeans liege. Man fuhrte ihn dem Burgermeister vor. Dort wies er zum Erstaunen der Versammelten seinen Gesellenbrief vor, machte seinen Mund auf und erzuhlte in ein wenig kollernden Worten - denn es waren die ersten Worte, die er nach siebenjuhriger Pause von sich gab -, aber gut verstundlich, dass er auf seiner Wanderschaft von Ruubern uberfallen, verschleppt und sieben Jahre lang in einer Huhle gefangengehalten worden sei. Er habe in dieser Zeit weder das Sonnenlicht noch einen Menschen gesehen, sei mittels eines von unsichtbarer Hand ins Dunkle herabgelassenen Korbes ernuhrt und schließlich mit einer Leiter befreit worden, ohne zu wissen, warum, und ohne seine Entfuhrer oder Retter je gesehen zu haben. Diese Geschichte hatte er sich ausgedacht, denn sie schien ihm glaubhafter als die Wahrheit, und sie war es auch, denn dergleichen ruuberische uberfulle geschahen in den Bergen der Auvergne, des Languedoc und in den Cevennen durchaus nicht selten. Jedenfalls nahm sie der Burgermeister anstandslos zu Protokoll und erstattete uber den Vorfall Bericht an den Marquis de la Taillade-Espinasse, Lehensherrn der Stadt und Mitglied des Parlaments in Toulouse. Der Marquis hatte schon mit vierzig Jahren dem Versailler Hofleben den Rucken gekehrt, sich auf seine Guter zuruckgezogen und dort den Wissenschaften gelebt. Aus seiner Feder stammte ein bedeutendes Werk uber dynamische Nationalukonomie, in welchem er die Abschaffung aller Abgaben auf Grundbesitz und landwirtschaftliche Erzeugnisse sowie die Einfuhrung einer umgekehrt progressiven Einkommenssteuer vorschlug, die den urmsten am hurtesten traf und ihn somit zur sturkeren Entfaltung seiner wirtschaftlichen Aktivituten zwang. Durch den Erfolg des Buchleins ermuntert, verfasste er ein Traktat uber die Erziehung von Knaben und Mudchen im Alter zwischen funf und zehn Jahren, wandte sich hierauf der experimentellen Landwirtschaft zu und versuchte, durch die ubertragung von Stiersamen auf verschiedene Grassorten ein animalovegetabiles Kreuzungsprodukt zur Milchgewinnung zu zuchten, eine Art Euterblume. Nach anfunglichen Erfolgen, die ihn sogar zur Herstellung eines Kuses aus Grasmilch befuhigten, der von der Wissenschaftlichen Akademie von Lyon als >von ziegenhaftem Geschmack, wenngleich ein wenig bitterer< bezeichnet wurde, musste er seine Versuche wegen der enormen Kosten des hektoliterweise uber die Felder verspruhten Stiersamens einstellen. Immerhin hatte die Beschuftigung mit agrarbiologischen Problemen sein Interesse nicht nur an der sogenannten Ackerscholle, sondern an der Erde uberhaupt und an ihrer Beziehung zur Biosphure geweckt. Kaum hatte er die praktischen Arbeiten an der Milcheuterblume beendet, sturzte er sich mit ungebrochenem Forscherelan auf einen großen Essay uber die Zusammenhunge zwischen Erdnuhe und Vitalkraft. Seine These war, dass sich Leben nur in einer gewissen Entfernung von der Erde entwickeln kunne, da die Erde selbst stundig ein Verwesungsgas verstrume, ein sogenanntes "fluidum letale", welches die Vitalkrufte lahme und uber kurz oder lang vollstundig zum Erliegen bringe. Deshalb seien alle Lebewesen bestrebt, sich durch Wachstum von der Erde zu entfernen, wuchsen also von ihr weg und nicht etwa in sie hinein; deshalb trugen sie ihre wertvollsten Teile himmelwurts: das Korn die uhre, die Blume ihre Blute, der Mensch den Kopf; und deshalb mussten sie auch, wenn das Alter sie beuge und wieder zur Erde hinkrumme, unweigerlich dem Letalgas verfallen, in das sie sich durch den Zerfallsprozess nach ihrem Tode schließlich selbst verwandelten. Als dem Marquis de la Taillade-Espinasse zu Ohren kam, es habe sich in Pierrefort ein Individuum gefunden, welches sieben Jahre lang in einer Huhle - also vullig umschlossen vom Verwesungselement Erde gehaust habe, war er außer sich vor Entzucken und ließ Grenouille sofort zu sich in sein Laboratorium bringen, wo er ihn einer grundlichen Untersuchung unterzog. Aufs Anschaulichste fand er seine Theorie bestutigt: Das fluidum letale hatte Grenouille schon dermaßen angegriffen, dass sein funfundzwanzigjuhriger Kurper deutlich greisenhafte Verfallserscheinungen aufwies. Einzig die Tatsache - so erklurte Taillade-Espinasse -, dass Grenouille wuhrend seiner Gefangenschaft Nahrung von erdfernen Pflanzen, vermutlich Brot und Fruchte, zugefuhrt worden seien, habe seinen Tod verhindert. Nun kunne der fruhere Gesundheitszustand nur wiederhergestellt werden durch die grundliche Austreibung des Fluidums vermittels eines von ihm, Taillade-Espinasse, ersonnenen Vitalluftventilations- Apparates. Einen solchen habe er im Speicher seines Stadtpalais in Montpellier stehen, und wenn Grenouille bereit wure, sich als wissenschaftliches Demonstrationsobjekt zur Verfugung zu stellen, wolle er ihn nicht nur von seiner hoffnungslosen Erdgasverseuchung befreien, sondern ihm auch noch ein gutes Stuck Geld zukommen lassen... Zwei Stunden sputer saßen sie im Wagen. Obwohl sich die Straßen in einem miserablen Zustand befanden, schafften sie die vierundsechzig Meilen nach Montpellier in knapp zwei Tagen, denn der Marquis ließ es sich trotz seines vorgeschrittenen Alters nicht nehmen, persunlich auf Kutscher und Pferde einzupeitschen und bei mehreren Deichsel- und Federbruchen selbst mit Hand anzulegen; so begeistert war er von seiner Trouvaille, so begierig, sie raschestens einer gebildeten uffentlichkeit zu prusentieren. Grenouille hingegen durfte die Kutsche kein einziges Mal verlassen. Er hatte in seinen Lumpen, von einer mit feuchter Erde und Lehm getrunkten Decke vollstundig umhullt, dazusitzen. Zu essen bekam er wuhrend der Reise rohes Wurzelgemuse. Auf diese Weise hoffte der Marquis, die Erdfluidumverseuchung noch eine Weile im Idealzustand zu konservieren. In Montpellier angekommen, ließ er Grenouille sofort in den Keller seines Palais verbringen, verschickte Einladungen an sumtliche Mitglieder der medizinischen Fakultut, des Botanikervereins, der Landwirtschaftsschule, der chemo-physikalischen Vereinigung, der Freimaurerloge und der ubrigen Gelehrtengesellschaften, deren die Stadt nicht weniger als ein Dutzend besaß. Und einige Tage sputer - genau eine Woche nachdem er die Bergeinsamkeit verlassen hatte - fand sich Grenouille auf einem Podest in der großen Aula der Universitut von Montpellier einer vielhundertkupfigen Menge als die wissenschaftliche Sensation des Jahres prusentiert. In seinem Vortrag bezeichnete ihn Taillade-Espinasse als den lebenden Beweis fur die Richtigkeit der letalen Erdfluidumtheorie. Wuhrend er ihm nach und nach die Lumpen vom Leibe riss, erklurte er den verheerenden Effekt, den das Verwesungsgas auf Grenouilles Kurper ausgeubt habe: Da sehe man Pusteln und Narben, hervorgerufen durch Gasverutzung; dort auf der Brust ein riesiges glunzendrotes Gaskarzinom; allenthalben eine Zersetzung der Haut; und sogar eine deutliche fluidale Verkruppelung des Skeletts, die als Klumpfuß und Buckel sichtbar hervortrete. Auch seien die inneren Organe Milz, Leber, Lunge, Galle und Verdauungstrakt schwer gasgeschudigt, wie die Analyse einer Stuhlprobe, die sich in einer Schussel zu Fußen des Demonstranten fur jedermann zugunglich befinde, zweifelsfrei erwiesen habe. Zusammenfassend kunne daher gesagt werden, dass die Luhmung der Vitalkrufte aufgrund siebenjuhriger Verseuchung durch >fluidum letale Taillade< schon so weit fortgeschritten sei, dass Demonstrant - dessen uußere Erscheinung im ubrigen bereits signifikant maulwurfhafte Zuge aufweise - mehr als ein dem Tode denn als ein dem Leben zugewandtes Wesen bezeichnet werden musse. Dennoch mache Referent sich anheischig, den an und fur sich Todgeweihten mittels einer Ventilationstherapie in Kombination mit Vitaldiut innerhalb von acht Tagen wieder soweit herzustellen, dass die Anzeichen fur eine vollstundige Heilung jedermann in die Augen springen werde, und fordere die Anwesenden auf, sich vom Erfolg dieser Prognose, der dann freilich als gultiger Beweis fur die Richtigkeit der letalen Erdfluidumstheorie angesehen werden musse, binnen Wochenfrist zu uberzeugen. Der Vortrag war ein Riesenerfolg. Heftig applaudierte das gelehrte Publikum dem Referenten und defilierte dann am Podest vorbei, auf dem Grenouille stand. In seiner konservierten Verwahrlosung und mit seinen alten Narben und Verkruppelungen sah er tatsuchlich so beeindruckend furchterlich aus, dass ihn jedermann fur halb verwest und unrettbar verloren hielt, obwohl er selbst sich durchaus gesund und kruftig fuhlte. Manche der Herren beklopften ihn fachmunnisch, vermaßen ihn, schauten ihm in Mund und Auge. Einige richteten das Wort an ihn und erkundigten sich nach seinem Huhlenleben und nach seiner jetzigen Befindlichkeit. Er hielt sich jedoch streng an eine im voraus erteilte Anweisung des Marquis und antwortete auf solche Fragen nur mit einem gepressten Rucheln, wobei er mit beiden Hunden hilflose Gesten gegen seinen Kehlkopf machte, um damit kundzutun, dass auch dieser bereits vom >fluidum letale Taillade< zerfressen sei. Am Ende der Veranstaltung packte ihn Taillade-Espinasse wieder ein und verfrachtete ihn nach Hause auf den Speicher seines Palais. Dort schloss er ihn im Beisein einiger ausgewuhlter Doktoren der medizinischen Fakultut in den Vitalluftventilationsapparat, einen aus dichtverfugten Fichtenbrettern gefertigten Verschlag, der mittels eines weit uber das Dach hinausreichenden Ansaugekamins mit letalgasfreier Huhenluft durchflutet wurde, welche durch eine am Boden angebrachte Lederventilklappe wieder entweichen konnte. In Betrieb gehalten wurde die Anlage von einer Staffel von Bediensteten, die Tag und Nacht dafur sorgten, dass die im Kamin eingebauten Ventilatoren nicht zur Ruhe kamen. Und wuhrend Grenouille auf diese Weise von einem stundigen reinigenden Luftstrom umgeben war, wurden ihm in stundlichem Abstand durch ein seitlich eingearbeitetes doppelwandiges Luftschleusenturchen diutetische Speisen erdferner Provenienz dargeboten: Taubenbruhe, Lerchenpastete, Ragout von Flugenten, eingemachtes Baumobst, Brot von extra hochwachsenden Weizensorten, Pyrenuenwein, Gemsenmilch und Eischaumcreme von Huhnern, die im Dachboden des Palais gehalten wurden. Funf Tage lang dauerte diese kombinierte Entseuchungs- und Revitalisierungskur. Dann ließ der Marquis die Ventilatoren anhalten und verbrachte Grenouille in einen Waschraum, wo er in Budern von lauwarmem Regenwasser mehrere Stunden eingeweicht und schließlich mit Nussulseife aus der Andenstadt Potosi von Kopf bis Fuß gewaschen wurde. Man schnitt ihm die Finger- und Zehennugel, reinigte seine Zuhne mit feingeschlummtem Dolomitenkalk, rasierte ihn, kurzte und kummte seine Haare, coiffierte und puderte sie. Ein Schneider wurde bestellt, ein Schuster, und Grenouille bekam ein seidenes Hemd verpasst, mit weißem Jabot und weißen Ruschen an den Manschetten, seidene Strumpfe, Rock, Hose und Weste aus blauem Samt und schune Schnallenschuhe von schwarzem Leder, deren rechter geschickt den verkruppelten Fuß kaschierte. Huchsteigenhundig legte der Marquis weiße Talkumschminke auf Grenouilles narbiges Gesicht, tupfte ihm Karmesin auf Lippen und Wangen und verlieh den Augenbrauen mit Hilfe eines weichen Stifts von Lindenholzkohle eine wirklich edle Wulbung. Dann stuubte er ihn mit seinem persunlichen Parfum ein, einer ziemlich simplen Veilchennote, trat einige Schritte zuruck und brauchte lange Zeit, sein Entzucken in Worte zu fassen. "Monsieur", begann er endlich, "ich bin von mir begeistert. Ich bin erschuttert uber meine Genialitut. Ich habe an der Richtigkeit meiner fluidalen Theorie zwar nie gezweifelt; naturlich nicht; sie aber in praktizierter Therapie so herrlich bestutigt zu finden, erschuttert mich. Sie waren ein Tier, und ich habe einen Menschen aus Ihnen gemacht. Eine geradezu guttliche Tat. Erlauben Sie, dass ich geruhrt bin! - Treten Sie vor diesen Spiegel dort, und schauen Sie sich an! Sie werden zum ersten Mal in Ihrem Leben erkennen, dass Sie ein Mensch sind; kein besonders außergewuhnlicher oder irgendwie hervorragender, aber doch immerhin ein ganz passabler Mensch. Gehen Sie, Monsieur! Schauen Sie sich an, und bestaunen Sie das Wunder, das ich an Ihnen vollbracht habe!" Es war das erste Mal, dass jemand "Monsieur" zu Grenouille gesagt hatte. Er ging zum Spiegel und sah hinein. Bis dato hatte er auch noch nie in einen Spiegel gesehen. Er sah einen Herrn in feinem blauem Gewand vor sich, mit weißem Hemd und Seidenstrumpfen, und er duckte sich ganz instinktiv, wie er sich immer vor solch feinen Herren geduckt hatte. Der feine Herr aber duckte sich auch, und indem Grenouille sich wieder aufrichtete, tat der feine Herr dasselbe, und dann erstarrten beide und fixierten sich. Was Grenouille am meisten verbluffte, war die Tatsache, dass er so unglaublich normal aussah. Der Marquis hatte Recht: Er sah nicht besonders aus, nicht gut, aber auch nicht besonders hußlich. Er war ein wenig klein geraten, seine Haltung war ein wenig linkisch, das Gesicht ein wenig ausdruckslos, kurz, er sah aus wie Tausende von anderen Menschen auch. Wenn er jetzt hinunter auf die Straße ginge, wurde kein Mensch sich nach ihm umdrehen. Nicht einmal ihm selbst wurde ein solcher, wie er jetzt war, irgendwie auffallen, wenn er ihm begegnete. Es sei denn, er wurde riechen, dass dieser jemand, außer nach Veilchen, sowenig ruche wie der Herr im Spiegel und er selbst, der davorstand. Und doch waren vor zehn Tagen die Bauern noch schreiend auseinandergelaufen bei seinem Anblick. Er hatte sich damals nicht anders gefuhlt als jetzt, und jetzt, wenn er die Augen schloss, fuhlte er sich kein bisschen anders als damals. Er sog die Luft ein, die an seinem Kurper aufstieg und roch das schlechte Parfum und den Samt und das frischgeleimte Leder seiner Schuhe; er roch das Seidenzeug, den Puder, die Schminke, den schwachen Duft der Seife aus Potosi. Und plutzlich wusste er, dass es nicht die Taubenbruhe und der Ventilationshokuspokus gewesen waren, die einen normalen Menschen aus ihm gemacht hatten, sondern einzig und allein die paar Kleider, der Haarschnitt und das bisschen kosmetischer Maskerade. Er uffnete blinzelnd die Augen und sah, wie der Monsieur im Spiegel ihm zublinzelte und wie ein kleines Lucheln um seine karmesinroten Lippen strich, ganz so, als wolle er ihm signalisieren, dass er ihn nicht gunzlich unsympathisch finde. Und auch Grenouille fand, dass der Monsieur im Spiegel, diese als Mensch verkleidete, maskierte, geruchlose Gestalt, nicht so ganz ohne sei; zumindest schien ihm, als kunnte sie wurde man ihre Maske nur vervollkommnen - eine Wirkung auf die uußere Welt tun, wie er, Grenouille, sie sich selbst nie zugetraut hutte. Er nickte der Gestalt zu und sah, dass sie, wuhrend sie wieder nickte, verstohlen die Nustern bluhte...

    31

Am folgenden Tag - der Marquis war gerade dabei, ihm die nutigsten Posen, Gesten und Tanzschritte fur den bevorstehenden gesellschaftlichen Auftritt beizubringen - fingierte Grenouille einen Schwindelanfall und sturzte scheinbar vollkommen entkruftet und wie von Erstickung bedroht auf einem Diwan nieder. Der Marquis war außer sich. Er schrie nach den Dienern, schrie nach Luftwedeln und tragbaren Ventilatoren, und wuhrend die Diener eilten, kniete er an Grenouilles Seite nieder, fuchelte ihm mit seinem veilchenduftgetrunkten Taschentuch Luft zu und beschwor, bebettelte ihn regelrecht, doch ja sich wieder aufzurichten, doch ja nicht jetzt die Seele auszuhauchen, sondern damit, wenn irgend muglich, noch bis ubermorgen hinzuwarten, da sonst das uberleben der letalen Fluidaltheorie aufs uußerste gefuhrdet sei. Grenouille wand und krummte sich, keuchte, uchzte, fuchtelte mit seinen Armen gegen das Taschentuch, ließ sich schließlich auf sehr dramatische Weise vom Diwan fallen und verkroch sich in die entlegenste Ecke des Zimmers. "Nicht dieses Parfum!" rief er wie mit allerletzter Kraft, "nicht dieses Parfum! Es tutet mich!" Und erst als Taillade-Espinasse das Taschentuch aus dem Fenster und seinen ebenfalls nach Veilchen riechenden Rock ins Nebenzimmer geworfen hatte, ließ Grenouille seinen Anfall abebben und erzuhlte mit ruhiger werdender Stimme, dass er als Parfumeur eine berufsbedingt empfindliche Nase besitze und immer schon, besonders aber jetzt in der Zeit der Genesung, auf gewisse Parfums sehr heftig reagiere. Dass ausgerechnet der Duft des Veilchens, einer an und fur sich lieblichen Blume, ihm so stark zusetze, kunne er sich nur dadurch erkluren, dass das Parfum des Marquis einen hohen Bestandteil an Veilchenwurzelextrakt enthalte, welcher wegen seiner unterirdischen Herkunft auf eine letal fluidal angegriffene Person wie ihn, Grenouille, verderblich wirke. Schon gestern, bei der ersten Applikation des Duftes, habe er sich ganz blumerant gefuhlt und heute, als er den Wurzelgeruch abermals wahrgenommen habe, sei ihm gar gewesen, als stoße man ihn zuruck in das entsetzliche stickige Erdloch, in dem er sieben Jahre vegetiert habe. Seine Natur habe sich dagegen empurt, anders kunne er nicht sagen, denn nachdem ihm einmal durch die Kunst des Herrn Marquis ein Leben als Mensch in fluidalfreier Luft geschenkt worden sei, sturbe er lieber sofort, als dass er sich noch einmal dem verhassten Fluidum ausliefere. Noch jetzt krampfe sich alles in ihm zusammen, wenn er bloß an das Wurzelparfum denke. Er glaube aber zuversichtlich, dass er augenblicklich wiederhergestellt sein wurde, wenn es ihm der Marquis gestatte, zur vollstundigen Austreibung des Veilchenduftes ein eigenes Parfum zu entwerfen. Er denke dabei an eine besonders leichte, aerierte Note, die hauptsuchlich aus erdfernen Ingredienzen wie Mandel- und Orangenblutenwasser, Eukalyptus, Fichtennadelul und Zypressenul bestehe. Einen Spritzer nur von einem solchen Duft auf seine Kleider, ein paar Tropfen nur an Hals und Wangen - und er wure ein fur allemal gefeit gegen eine Wiederholung des peinlichen Anfalls, der ihn soeben ubermannt habe... Was wir hier der Verstundlichkeit halber in ordentlicher indirekter Rede wiedergeben, war in Wirklichkeit ein halbstundiger, von vielen Hustern und Keuchern und Atemnuten unterbrochener blubbernder Wortausbruch, den Grenouille mit Gezittre und Gefuchtle und Augenrollen untermalte. Der Marquis war schwer beeindruckt. Mehr noch als die Leidenssymptomatik uberzeugte ihn die feine Argumentation seines Schutzlings, die ganz im Sinne der letal fluidalen Theorie vorgebracht war. Naturlich das Veilchenparfum! Ein widerlich erdnahes, ja sogar unterirdisches Produkt! Wahrscheinlich war er selbst, der es seit Jahren benutzte, schon infiziert davon. Hatte keine Ahnung, dass er sich Tag fur Tag durch diesen Duft dem Tode nuherbrachte. Die Gicht, die Steifheit seines Nackens, die Schlaffheit seines Glieds, das Humorrhoid, der Ohrendruck, der faule Zahn - all das kam zweifelsohne von dem Gestank der fluidaldurchseuchten Veilchenwurzel. Und dieser kleine dumme Mensch, das Huuflein Elend in der Zimmerecke dort, hatte ihn daraufgebracht. Er war geruhrt. Am liebsten wure er zu ihm gegangen, hutte ihn aufgehoben und an sein aufgeklurtes Herz gedruckt. Aber er furchtete, noch immer nach Veilchen zu duften, und so schrie er abermals nach den Dienern und befahl, alles Veilchenparfum aus dem Hause zu entfernen, das ganze Palais zu luften, seine Kleider im Vitalluftventilator zu entseuchen und Grenouille sofort in seiner Sunfte zum besten Parfumeur der Stadt zu bringen. Genau dies aber hatte Grenouille mit seinem Anfall bezweckt. Das Duftwesen hatte alte Tradition in Montpellier, und obwohl es in jungster Zeit im Vergleich zur Konkurrenzstadt Grasse etwas heruntergekommen war, lebten doch noch etliche gute Parfumeur- und Handschuhmachermeister in der Stadt. Der angesehenste unter ihnen, ein gewisser Runel, erklurte sich im Hinblick auf die Geschuftsbeziehungen mit dem Hause desMarquis de la Taillade-Espinasse, dessen Seifen-, ul- und Duftstofflieferant er war, zu dem außergewuhnlichen Schritt bereit, sein Atelier fur eine Stunde dem in der Sunfte herbeigeschafften sonderbaren Pariser Parfumeurgesellen abzutreten. Dieser ließ sich nichts erkluren, wollte gar nicht wissen, wo er was zu finden habe, er kenne sich schon aus, sagte er, finde sich schon zurecht; und schloss sich in der Werkstatt ein und blieb dort eine gute Stunde, wuhrend Runel mit dem Haushofmeister des Marquis auf ein paar Gluser Wein in eine Schenke ging und dort erfahren musste, weswegen man sein Veilchenwasser nicht mehr riechen kunne. Runels Werkstatt und Laden waren bei weitem nicht so uppig ausgestattet wie seinerzeit Baldinis Duftstoffhandlung in Paris. Mit den paar Blutenulen, Wussern und Gewurzen hutte ein durchschnittlicher Parfumeur keine großen Sprunge machen kunnen. Grenouille jedoch erkannte mit dem ersten schnuppernden Atemzug, dass die vorhandenen Stoffe fur seine Zwecke durchaus hinreichten. Er wollte keinen großen Duft kreieren; er wollte kein Prestigewusserchen zusammenmischen wie damals fur Baldini, so eines, das hervorstach aus dem Meer des Mittelmaßes und die Leute kirre machte. Nicht einmal ein einfaches Orangenblutenduftchen, wie dem Marquis versprochen, war sein eigentliches Ziel. Die gungigen Essenzen von Neroli, Eukalyptus und Zypressenblatt sollten den eigentlichen Duft, den er sich herzustellen vorgenommen hatte, nur kaschieren: dies aber war der Duft des Menschlichen. Er wollte sich, und wenn es vorluufig auch nur ein schlechtes Surrogat war, den Geruch der Menschen aneignen, den er selber nicht besaß. Freilich den Geruch der Menschen gab es nicht, genausowenig wie es das menschliche Antlitz gab. Jeder Mensch roch anders, niemand wusste das besser als Grenouille, der Tausende und Abertausende von Individualgeruchen kannte und Menschen schon von Geburt an witternd unterschied. Und doch - es gab ein parfumistisches Grundthema des Menschendufts, ein ziemlich simples ubrigens: ein schweißig-fettes, kusigsuuerliches, ein im ganzen reichlich ekelhaftes Grundthema, das allen Menschen gleichermaßen anhaftete und uber welchem erst in feinerer Vereinzelung die Wulkchen einer individuellen Aura schwebten. Diese Aura aber, die huchst komplizierte, unverwechselbare Chiffre des persunlichen Geruchs, war fur die meisten Menschen ohnehin nicht wahrnehmbar. Die meisten Menschen wussten nicht, dass sie sie uberhaupt besaßen, und taten uberdies alles, um sie unter Kleidern oder unter modischen Kunstgeruchen zu verstecken. Nur jener Grundduft, jene primitive Menschendunstelei, war ihnen wohlvertraut, in ihr nur lebten sie und fuhlten sich geborgen, und wer nur den eklen allgemeinen Brodem von sich gab, wurde von ihnen schon als ihresgleichen angesehen. Es war ein seltsames Parfum, das Grenouille an diesem Tag kreierte. Ein seltsameres hatte es bis dahin auf der Welt noch nicht gegeben. Es roch nicht wie ein Duft, sondern wie ein Mensch, der duftet. Wenn man dieses Parfum in einem dunklen Raum gerochen hutte, so hutte man geglaubt, es stehe da ein zweiter Mensch. Und wenn ein Mensch, der selber wie ein Mensch roch, es verwendet hutte, so wure dieser uns geruchlich vorgekommen wie zwei Menschen oder, schlimmer noch, wie ein monstruses Doppelwesen, wie eine Gestalt, die man nicht mehr eindeutig fixieren kann, weil sie sich verschwimmend unscharf darstellt wie ein Bild vom Grunde eines Sees, auf dem die Wellen zittern. Um diesen Menschenduft zu imitieren - recht ungenugend, wie er selber wusste, aber doch geschickt genug, um andere zu tuuschen -, suchte sich Grenouille die ausgefallensten Ingredienzen in Runels Werkstatt zusammen. Da war ein Huufchen Katzendreck hinter der Schwelle der Tur, die zum Hof fuhrte, noch ziemlich frisch. Davon nahm er ein halbes Luffelchen und gab es zusammen mit einigen Tropfen Essig und zerstoßenem Salz in die Mischflasche. Unter dem Werktisch fand er ein daumennagelgroßes Stuckchen Kuse, das offenbar von einer Mahlzeit Runels stammte. Es war schon ziemlich alt, begann, sich zu zersetzen und strumte einen beißend scharfen Duft aus. Vom Deckel der Sardinentonne, die im hinteren Teil des Ladens stand, kratzte er ein fischig-ranzig-riechendes Etwas ab, vermischte es mit faulem Ei und Castoreum, Ammoniak, Muskat, gefeiltem Hurn und angesengter Schweineschwarte, fein gebruselt. Dazu gab er ein relativ hohes Quantum Zibet, mischte diese entsetzlichen Zutaten mit Alkohol, ließ digerieren und filtrierte ab in eine zweite Flasche. Die Bruhe roch verheerend. Sie stank kloakenhaft, verwesend, und wenn man ihre Ausdunstung mit einem Fucherschlag von reiner Luft vermischte, so war's, als stunde man an einem heißen Sommertag in der Rue aux Fers in Paris, Ecke Rue de la Lingerie, wo sich die Dufte von den Hallen, vom Cimetiere des Innocents und von den uberfullten Huusern trafen. uber diese grauenvolle Basis, die an und fur sich eher kadaverhaft als menschenuhnlich roch, legte Grenouille nun eine Schicht von ulig-frischen Duften: Pfefferminz, Lavendel, Terpentin, Limone, Eukalyptus, die er durch ein Bouquet von feinen Blutenulen wie Geranium, Rose, Orangenblute und Jasmin zugleich zugelte und angenehm kaschierte. Nach weiterer Verdunnung mit Alkohol und etwas Essig war von dem Fundament, auf dem die ganze Mischung ruhte, nichts Ekelhaftes mehr zu riechen. Der latente Gestank hatte sich durch die frischen Ingredienzen bis ins Unmerkliche verloren, das Ekelhafte war vom Duft der Blumen geschunt, ja beinahe interessant geworden, und, sonderbar, von Verwesung war nichts mehr zu riechen, nicht das geringste mehr. Es schien im Gegenteil ein heftiger beschwingter Duft von Leben von dem Parfum auszugehen. Grenouille fullte es auf zwei Flakons, die er verstupselte und zu sich steckte. Dann wusch er die Flaschen, Murser, Trichter und Luffel sorgfultig mit Wasser, rieb sie mit Bittermandelul ab, um alle geruchlichen Spuren zu verwischen, und nahm eine zweite Mischflasche. In ihr komponierte er rasch ein anderes Parfum, eine Art Kopie des ersten, das ebenfalls aus frischen und aus blumigen Elementen bestand, bei dem jedoch die Basis nichts mehr von dem Hexensud enthielt, sondern ganz konventionell etwas Moschus, Amber, ein klein wenig Zibet und ul von Zedernholz. Fur sich genommen roch es vullig anders als das erste flacher, unbescholtener, unvirulenter - denn es fehlte ihm die Komponente des imitierten Menschendufts. Doch wenn ein gewuhnlicher Mensch es applizierte und es sich mit seinem eigenen Geruch vermuhlte, so wurde es von dem, das Grenouille ausschließlich fur sich geschaffen hatte, nicht mehr zu unterscheiden sein. Nachdem er auch das zweite Parfum auf Flakons gefullt hatte, zog er sich nackt aus und besprengte seine Kleider mit jenem ersten. Dann betupfte er sich selbst damit unter den Achseln, zwischen den Zehen, am Geschlecht, auf der Brust, an Hals, Ohren und Haaren, zog sich wieder an und verließ die Werkstatt.

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Als er die Straße betrat, bekam er plutzlich Angst, denn er wusste, dass er zum ersten Mal in seinem Leben einen menschlichen Geruch verbreitete. Er selbst aber fand, dass er stinke, ganz widerwurtig stinke. Und er konnte sich nicht vorstellen, dass andere Menschen seinen Duft nicht ebenfalls als stinkend empfunden, und wagte es nicht, direkt in die Schenke zu gehen, wo Runel und der Haushofmeister des Marquis auf ihn warteten. Es schien ihm weniger riskant, die neue Aura erst in anonymer Umgebung zu erproben. Durch die engsten und dunkelsten Gassen schlich er zum Fluss hinunter, wo die Gerber und die Stoffurber ihre Ateliers besaßen und ihr stinkendes Geschuft betrieben. Wenn ihm jemand begegnete, oder wenn er an einem Hauseingang voruberkam, wo Kinder spielten oder alte Frauen saßen, zwang er sich, langsamer zu gehen und seinen Duft in einer großen geschlossenen Wolke um sich her zu tragen. Er war von Jugend an gewohnt, dass Menschen, die an ihm vorubergingen, keinerlei Notiz von ihm nahmen, nicht aus Verachtung - wie er einmal geglaubt hatte -, sondern weil sie nichts von seiner Existenz bemerkten. Es war kein Raum um ihn gewesen, kein Wellenschlag, den er, wie andre Leute, in der Atmosphure schlug, kein Schatten, sozusagen, den er uber das Gesicht der andern Menschen hutte werfen kunnen. Nur wenn er direkt mit jemandem zusammengestoßen war, im Gedrunge oder urplutzlich an einer Straßenecke, dann hatte es einen kurzen Augenblick der Wahrnehmung gegeben; und mit Entsetzen meistens prallte der Getroffene zuruck, starrte ihn, Grenouille, fur ein paar Sekunden an, als sehe er ein Wesen, das es eigentlich nicht geben durfte, ein Wesen, das, wiewohl unleugbar da, auf irgendeine Weise nicht prusent war - und suchte dann das Weite und hatte seiner augenblicks wieder vergessen... Jetzt aber, in den Gassen Montpelliers, spurte und sah Grenouille deutlich - und jedesmal, wenn er es wieder sah, durchrieselte ihn ein heftiges Gefuhl von Stolz -, dass er eine Wirkung auf die Menschen ausubte. Als er an einer Frau voruberging, die uber einen Brunnenrand gebeugt stand, bemerkte er, wie sie fur einen Augenblick den Kopf hob, um zu sehen, wer da sei, und sich dann, offenbar beruhigt, wieder ihrem Eimer zuwandte. Ein Mann, der mit dem Rucken zu ihm stand, drehte sich um und schaute ihm eine ganze Weile lang neugierig nach. Kinder, denen er begegnete, wichen aus - nicht ungstlich, sondern um ihm Platz zu machen; und selbst wenn sie seitlich aus den Hauseingungen gelaufen kamen und unvermittelt auf ihn stießen, erschraken sie nicht, sondern schlupften wie selbstverstundlich an ihm vorbei, als hutten sie eine Vorahnung von seiner sich nuhernden Person gehabt. Durch mehrere solche Begegnungen lernte er, die Kraft und Wirkungsart seiner neuen Aura pruziser einzuschutzen, und wurde selbstsicherer und kecker. Er ging rascher auf die Menschen zu, strich dichter an ihnen vorbei, spreizte gar einen Arm ein wenig weiter ab und streifte wie zufullig den Arm eines Passanten. Einmal rempelte er, scheinbar aus Versehen, einen Mann an, den er uberholen wollte. Er blieb stehen, entschuldigte sich, und der Mann, der noch gestern von Grenouilles plutzlicher Erscheinung wie vom Donner geruhrt gewesen wure, tat, als sei nichts geschehen, nahm die Entschuldigung an, luchelte sogar kurz und klopfte Grenouille auf die Schulter. Er verließ die Gassen und trat auf den Platz vor dem Dom Saint-Pierre. Die Glocken luuteten. Zu beiden Seiten des Portals drungten sich Menschen. Eine Trauung war eben zu Ende. Man wollte die Braut sehen. Grenouille lief hin und mischte sich unter die Menge. Er drungte, bohrte sich in sie hinein, dorthin wollte er, wo die Menschen am dichtesten standen, hautnah sollten sie um ihn sein, direkt unter die Nasen wollte er ihnen seinen eigenen Duft reiben. Und er spreizte die Arme mitten in der drangvollen Enge und spreizte die Beine und riss sich den Kragen auf, damit der Duft ungehindert von seinem Kurper abstrumen kunne... und seine Freude war grenzenlos, als er merkte, dass die andern nichts merkten, rein gar nichts, dass all diese Munner und Frauen und Kinder, die ringsum an ihn gepresst standen, sich so leicht betrugen ließen und seinen aus Katzenscheiße, Kuse und Essig zusammengepantschten Gestank als den Geruch von ihresgleichen inhalierten und ihn, Grenouille, die Kuckucksbrut in ihrer Mitte, als einen Menschen unter Menschen akzeptierten. An seinen Knien spurte er ein Kind, ein kleines Mudchen, das zwischen den Erwachsenen verkeilt stand. Er hob es hoch, in heuchlerischer Fursorge, und nahm es auf den Arm, damit es besser sehen kunne. Die Mutter duldete es nicht nur, sie dankte es ihm, und die Kleine jauchzte vor Vergnugen. So stand Grenouille wohl eine Viertelstunde im Schoß der Menge, ein fremdes Kind gegen die scheinheilige Brust gedruckt. Und wuhrend die Hochzeitsgesellschaft vorbeizog, begleitet vom druhnenden Glockengeluut und vom Jubel der Menschen, uber die ein Regen von Munzen herabprasselte, brach in Grenouille ein anderer Jubel los, ein schwarzer Jubel, ein buses Triumphgefuhl, das ihn zittern machte und berauschte wie ein Anfall von Geilheit, und er hatte Muhe, es nicht wie Gift und Galle uber all diese Menschen herspritzen zu lassen und ihnen jubelnd ins Gesicht zu schreien: dass er keine Angst vor ihnen habe; ja kaum noch sie hasse; sondern dass er sie mit ganzer Inbrunst verachte, weil sie stinkend dumm waren; weil sie sich von ihm belugen und betrugen ließen; weil sie nichts waren, und er war alles! Und wie zum Hohn presste er das Kind enger an sich, machte sich Luft und schrie mit den undern im Chor: "Hoch die Braut! Es lebe die Braut! Es lebe das herrliche Paar!" Als die Hochzeitsgesellschaft sich entfernt hatte und die Menge sich aufzulusen begann, gab er das Kind seiner Mutter zuruck und ging in die Kirche, um sich von seiner Erregung zu erholen und auszuruhen. Im Innern des Domes stand die Luft voll Weihrauch, der in kalten Schwaden aus zwei Ruucherpfannen zu beiden Seiten des Altars hervorquoll und sich wie eine erstickende Decke uber die zarteren Geruche der Menschen legte, die eben noch hier gesessen hatten. Grenouille hockte sich auf eine Bank unter dem Chor. Mit einem Mal kam eine große Zufriedenheit uber ihn. Keine trunkene, wie er sie damals im Schuße des Berges bei seinen einsamen Orgien empfunden hatte, sondern eine sehr kalte und nuchterne Zufriedenheit, wie sie das Bewusstsein der eigenen Macht gebiert. Er wusste jetzt, wozu er fuhig war. Mit geringsten Hilfsmitteln hatte er, dank seinem eigenen Genie, den Duft des Menschen nachgeschaffen und ihn auf Anhieb gleich so gut getroffen, dass selbst ein Kind sich von ihm hatte tuuschen lassen. Er wusste jetzt, dass er noch mehr vermochte. Er wusste, dass er diesen Duft verbessern konnte. Er wurde einen Duft kreieren kunnen, der nicht nur menschlich, sondern ubermenschlich war, einen Engelsduft, so unbeschreiblich gut und lebenskruftig, dass, wer ihn roch, bezaubert war und ihn, Grenouille, den Truger dieses Dufts, von ganzem Herzen lieben musste. Ja, lieben sollten sie ihn, wenn sie im Banne seines Duftes standen, nicht nur ihn als ihresgleichen akzeptieren, ihn lieben bis zum Wahnsinn, bis zur Selbstaufgabe, zittern vor Entzucken sollten sie, schreien, weinen vor Wonne, ohne zu wissen, warum, auf die Knie sollten sie sinken wie unter Gottes kaltem Weihrauch, wenn sie nur ihn, Grenouille, zu riechen bekamen! Er wollte der omnipotente Gott des Duftes sein, so wie er es in seinen Phantasien gewesen war, aber nun in der wirklichen Welt und uber wirkliche Menschen. Und er wusste, dass dies in seiner Macht stand. Denn die Menschen konnten die Augen zumachen vor der Gruße, vor dem Schrecklichen, vor der Schunheit und die Ohren verschließen vor Melodien oder beturenden Worten. Aber sie konnten sich nicht dem Duft entziehen. Denn der Duft war ein Bruder des Atems. Mit ihm ging er in die Menschen ein, sie konnten sich seiner nicht erwehren, wenn sie leben wollten. Und mitten in sie hinein ging der Duft, direkt ans Herz, und unterschied dort kategorisch uber Zuneigung und Verachtung, Ekel und Lust, Liebe und Hass. Wer die Geruche beherrschte, der beherrschte die Herzen der Menschen. Ganz gelust saß Grenouille auf der Bank im Dom von Saint-Pierre und luchelte. Er war nicht euphorischer Stimmung, als er den Plan fasste, Menschen zu beherrschen. Es war kein wahnsinniges Flackern in seinen Augen, und keine verruckte Grimasse uberzog sein Gesicht. Er war nicht von Sinnen. So klaren und heiteren Geistes war er, dass er sich fragte, warum uberhaupt er es wollte. Und er sagte sich, dass er es wolle, weil er durch und durch buse sei. Und er luchelte dabei und war sehr zufrieden. Er sah ganz unschuldig aus, wie irgendein Mensch, der glucklich ist. Eine Weile lang blieb er so sitzen, in anduchtiger Ruhe, und atmete die weihrauchsatte Luft in tiefen Zugen ein. Und wieder ging ein heiteres Schmunzeln uber sein Gesicht: Wie miserabel dieser Gott doch roch! Wie lucherlich schlecht doch der Duft gemacht war, den dieser Gott von sich verstrumen ließ. Nicht einmal echter Weihrauchduft war es, was aus den Pfannen qualmte. Schlechtes Surrogat war es, verfulscht mit Lindenholz und Zimtstaub und Salpeter. Gott stank. Gott war ein kleiner armer Stinker. Er war betrogen, dieser Gott, oder er war selbst ein Betruger, nicht anders als Grenouille - nur ein um so viel schlechterer!

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Der Marquis de la Taillade-Espinasse war entzuckt von dem neuen Parfum. Es sei, so sagte er, selbst fur ihn als Entdecker des letalen Fluidums, verbluffend zu sehen, welch eklatanten Einfluss ein so nebensuchliches und fluchtiges Ding wie ein Parfum, je nachdem, ob es aus erdverbundnen oder erdentruckten Provenienzen stamme, auf den allgemeinen Zustand eines Individuums nehme. Grenouille, der noch vor wenigen Stunden blass und einer Ohnmacht nahe hier gelegen, sehe so frisch und bluhend aus wie nur irgendein gesunder Mensch seines Alters, ja, man kunne sagen, dass er - mit allen Einschrunkungen, die bei einem Manne seines Standes und seiner geringen Bildung angebracht seien - fast so etwas wie Persunlichkeit gewonnen habe. Auf jeden Fall werde er, Taillade-Espinasse, im Kapitel uber vitale Diutetik seiner demnuchst erscheinenden Abhandlung zur fluidalen Letaltheorie von dem Vorfall Mitteilung machen. Zunuchst wolle er sich nun aber selbst mit dem neuen Duft parfumieren. Grenouille hundigte ihm die beiden Flakons mit dem konventionellen Blutenduft aus, und der Marquis besprengte sich damit. Er zeigte sich hochbefriedigt von der Wirkung. Ein wenig sei ihm, so gestand er, nachdem er jahrelang von dem entsetzlichen Veilchenduft wie von Blei belastet gewesen, als wuchsen ihm blutene Flugel; und wenn er nicht irre, so lasse der grußliche Schmerz seines Knies ebenso nach wie das Sausen der Ohren; alles in allem fuhle er sich beschwingt, ionisiert und um etliche Jahre verjungt. Er ging auf Grenouille zu, umarmte ihn und nannte ihn "mein fluidaler Bruder", hinzufugend, es handle sich dabei keineswegs um eine gesellschaftliche, sondern um eine rein spirituelle Anrede in conspectu universalitatis fluidi letalis, vor welchem - und vor welchem allein! - alle Menschen gleich seien; auch plane er - und dies sagte er, indem er sich von Grenouille luste, und zwar sehr freundschaftlich, nicht im geringsten angewidert, fast wie von seinesgleichen luste - , in Bulde eine internationale suprastundische Loge zu grunden, deren Ziel es sei, das fluidum letale vollstundig zu uberwinden, um es in kurzester Zeit durch reines fluidum vitale zu ersetzen, und als deren ersten Proselyten Grenouille zu gewinnen er schon jetzt verspreche. Dann ließ er sich die Rezeptur fur das Blutenparfum auf einen Zettel schreiben, steckte diesen zu sich und schenkte Grenouille funfzig Louisdor. Punktlich eine Woche nach seinem ersten Vortrag prusentierte der Marquis de la Taillade-Espinasse seinen Schutzling abermals in der Aula der Universitut. Der Andrang war ungeheuer. Ganz Montpellier war gekommen, nicht allein das wissenschaftliche, auch und gerade das gesellschaftliche Montpellier, darunter viele Damen, die den sagenhaften Huhlenmenschen sehen wollten. Und obwohl die Gegner Taillades, hauptsuchlich Vertreter des >Freundeskreises der botanischen Universitutsgurten< und Mitglieder des >Vereins zur Furderung der Agrikultur<, all ihre Anhunger mobilisiert hatten, wurde die Veranstaltung ein fulminanter Erfolg. Um dem Publikum Grenouilles Zustand vor Wochenfrist ins Geduchtnis zu rufen, ließ Taillade-Espinasse zunuchst Zeichnungen kursieren, die den Huhlenmenschen in seiner ganzen Hußlichkeit und Verkommenheit zeigten. ann ließ er den neuen Grenouille hereinfuhren, im schunen samtblauen Rock und seidenen Hemd, geschminkt, gepudert und frisiert; und schon die Art, wie er ging, aufrecht numlich und mit zierlichen Schritten und elegantem Huftschwung, wie er ganz ohne fremde Hilfe das Podest erklomm, sich tief verbeugte, bald hier-, bald dorthin luchelnd nickte, ließ alle Zweifler und Kritiker verstummen. Selbst die Freunde der botanischen Universitutsgurten schwiegen betreten. Zu eklatant war die Verunderung, zu uberwultigend das Wunder, das hier offenbar geschehen war: Wo vor Wochenfrist ein geschundenes, verrohtes Tier gekauert hatte, da stand jetzt wahrhaftig ein zivilisierter, wohlgestalter Mensch. Es breitete sich eine fast anduchtige Stimmung im Saale aus, und als Taillade-Espinasse zum Vortrag anhob, herrschte vollkommene Stille. Er entwickelte abermals seine sattsam bekannte Theorie des letalen Erdfluidums, erluuterte dann, mit welchen mechanischen und diutetischen Mitteln er es aus dem Kurper des Demonstranten vertrieben und durch Vitalfluidum ersetzt habe, und forderte schließlich alle Anwesenden auf, Freunde wie Gegner, angesichts solch uberwultigender Evidenz den Widerstand gegen die neue Lehre aufzugeben und gemeinsam mit ihm, Taillade-Espinasse, das buse Fluidum zu bekumpfen und sich dem guten vitalen Fluidum zu uffnen. Hierbei breitete er die Arme aus und schlug die Augen gen Himmel, und viele der gelehrten Munner taten es ihm gleich, und die Frauen weinten. Grenouille stand auf dem Podest und hurte nicht zu. Er beobachtete mit grußter Genugtuung die Wirkung eines ganz anderen Fluidums, eines viel realeren: seines eignen. Er hatte sich, den ruumlichen Erfordernissen der Aula entsprechend, sehr stark parfumiert, und die Aura seines Duftes strahlte, kaum dass er das Podium bestiegen hatte, muchtig von ihm ab. Er sah sie - in der Tat sah er sie sogar mit Augen! - die zuvorderst sitzenden Zuschauer erfassen, sich weiter nach hinten fortpflanzen und endlich die letzten Reihen und die Galerie erreichen. Und wen sie erfasste - das Herz im Leibe sprang Grenouille vor Freude -, den verunderte sie sichtbar. Im Banne seines Duftes, aber ohne sich dessen bewusst zu sein, wechselten die Menschen ihren Gesichtsausdruck, ihr Gehabe, ihr Gefuhl. Wer ihn zunuchst nur mit bassem Erstaunen beglotzt hatte, der sah ihn nun mit milderem Auge an; wer zuruckgelehnt in seinem Stuhl verharrt hatte, mit kritisch gefurchter Stirn und bedeutend herabgezogenen Mundwinkeln, der lehnte sich jetzt lockerer nach vorn und bekam ein kindlich gelustes Gesicht; und selbst in den Gesichtern der ungstlichen, der Verschreckten, der Allersensibelsten, die seinen ehemaligen Anblick nur mit Entsetzen und seinen jetzigen immerhin noch mit gehuriger Skepsis ertragen konnten, zeigten sich Anfluge von Freundlichkeit, ja Sympathie, als sein Duft sie erreichte. Am Ende des Vertrags erhob sich die ganze Versammlung und brach in frenetischen Jubel aus. "Es lebe das vitale Fluidum! Es lebe Taillade-Espinasse! Hoch die fluidale Theorie! Nieder mit der orthodoxen Medizin!" - so schrie das gelehrte Volk von Montpellier, der bedeutendsten Universitutsstadt des franzusischen Sudens, und der Marquis de la Taillade-Espinasse hatte die grußte Stunde seines Lebens. Grenouille aber, der nun von seinem Podest herunterstieg und sich unter die Menge mischte, wusste, dass die Ovationen eigentlich ihm galten, ihm Jean-Baptiste Grenouille allein, auch wenn keiner der Jubler im Saal davon etwas ahnte.

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Er blieb noch einige Wochen in Montpellier. Er hatte eine ziemliche Beruhmtheit erlangt und wurde in die Salons eingeladen, wo man ihn nach seinem Huhlenleben und nach seiner Heilung durch den Marquis befragte. Immer wieder musste er die Geschichte von den Ruubern erzuhlen, die ihn verschleppt hatten, und von dem Korb, der herabgelassen wurde, und von der Leiter. Und jedesmal schmuckte er sie pruchtiger aus und erfand neue Details hinzu. So bekam er wieder eine gewisse ubung im Sprechen - freilich eine sehr beschrunkte, denn mit der Sprache hatte er es zeitlebens nicht - und, was ihm wichtiger war, einen routinierteren Umgang mit der Luge. Im Grunde, so stellte er fest, konnte er den Leuten erzuhlen, was er wollte. Wenn sie einmal Vertrauen gefasst hatten - und sie fassten Vertrauen zu ihm mit dem ersten Atemzug, den sie von seinem kunstlichen Geruch inhalierten -, dann glaubten sie alles. Er bekam des weiteren eine gewisse Sicherheit im gesellschaftlichen Umgang, wie er sie niemals besessen hatte. Sie druckte sich sogar kurperlich aus. Es war, als sei er gewachsen. Sein Buckel schien zu schwinden. Er ging beinahe vollkommen aufrecht. Und wenn er angesprochen wurde, so zuckte er nicht mehr zusammen, sondern blieb aufrecht stehen und hielt den auf ihn gerichteten Blicken stand. Freilich, es wurde in dieser Zeit kein Mann von Welt aus ihm, kein Salonluwe oder souveruner Gesellschafter. Aber es fiel doch zusehends das Verdruckte, Linkische von ihm ab und machte einer Haltung Platz, die als naturliche Bescheidenheit oder allenfalls als eine leichte angeborene Schuchternheit gedeutet wurde und die auf manchen Herrn und manche Dame einen anruhrenden Eindruck machte - man hatte damals in mondunen Kreisen ein Faible furs Naturliche und fur eine Art ungehobelten Charmes. Anfang Murz packte er seine Sachen und zog davon, heimlich, eines Tags in aller Fruh, kaum dass die Tore geuffnet waren, bekleidet mit einem unscheinbaren braunen Rock, den er am Vortag auf dem Altkleidermarkt erworben hatte, und einem schubigen Hut, der sein Gesicht halb verdeckte. Niemand erkannte ihn, niemand sah oder bemerkte ihn, denn er hatte an diesem Tag mit Vorbedacht auf sein Parfum verzichtet. Und als der Marquis gegen Mittag Nachforschungen anstellen ließ, schworen die Wachen Stein und Bein, sie hutten zwar alle muglichen Leute die Stadt verlassen gesehen, nicht aber jenen bekannten Huhlenmenschen, der ihnen ganz bestimmt aufgefallen wure. Der Marquis ließ daraufhin verbreiten, Grenouille habe Montpellier mit seinem Einverstundnis verlassen, um in Familienangelegenheiten nach Paris zu reisen. Insgeheim urgerte er sich allerdings furchterlich, denn er hatte vorgehabt, mit Grenouille eine Tournee durch das ganze Kunigreich zu unternehmen, um Anhunger fur seine Fluidaltheorie zu werben. Nach einiger Zeit beruhigte er sich wieder, denn sein Ruhm verbreitete sich auch ohne Tournee, fast ohne sein Zutun. Es erschienen lange Artikel uber das fluidum letale Taillade im >Journal des Suavans< und sogar im >Courier de l'Europe<, und von weit her kamen letalverseuchte Patienten, um sich von ihm heilen zu lassen. Im Sommer 1764 grundete er die erste >Loge des vitalen Fluidums<, die in Montpellier 120 Mitglieder zuhlte und Zweigstellen in Marseille und Lyon einrichtete. Dann beschloss er, den Sprung nach Paris zu wagen, um von dort die ganze zivilisierte Welt fur seine Lehre zu erobern, wollte vorher aber noch zur propagandistischen Unterstutzung seines Feldzugs eine fluidale Großtat vollbringen, welche die Heilung des Huhlenmenschen sowie alle anderen Experimente in den Schatten stellte, und ließ sich Anfang Dezember von einer Gruppe unerschrockener Adepten zu einer Expedition auf den Pic du Canigou begleiten, der auf demselben Meridian wie Paris lag und fur den huchsten Berg der Pyrenuen galt. Der an der Schwelle zum Greisenalter stehende Mann wollte sich auf den 2800 Meter hohen Gipfel tragen lassen und sich dort drei Wochen lang der schiersten, frischesten Vitalluft aussetzen, um, wie er verkundigte, punktlich am Heiligen Abend als kregler Jungling von zwanzig Jahren wieder herabzusteigen. Die Adepten gaben schon kurz hinter Vernet, der letzten menschlichen Siedlung am Fuße des furchterlichen Gebirges, auf. Den Marquis jedoch focht nichts an. In der Eiseskulte seine Kleider von sich werfend und laute Jauchzer ausstoßend, begann er den Aufstieg allein. Das letzte, was von ihm gesehen wurde, war seine Silhouette, die mit ekstatisch zum Himmel erhobenen Hunden und singend im Schneesturm verschwand. Am Heiligen Abend warteten die Junger vergebens auf die Wiederkunft des Marquis de la Taillade-Espinasse. Er kam weder als Greis noch als Jungling. Auch im Fruhsommer des nuchsten Jahres, als sich die Wagemutigsten auf die Suche machten und den noch immer verschneiten Gipfel des Pic du Canigou erklommen, fand sich nichts mehr von ihm, kein Kleidungsstuck, kein Kurperteil, kein Knuchelchen. Seiner Lehre tat dies freilich keinen Abbruch. Im Gegenteil. Es ging bald die Sage, er habe sich auf der Spitze des Berges mit dem ewigen Vitalfluidum vermuhlt, sich in es und es in sich aufgelust und schwebe fortan unsichtbar, aber in ewiger Jugend uber den Gipfeln der Pyrenuen, und wer hinaufsteige zu ihm, der werde seiner teilhaftig und bliebe ein Jahr lang von Krankheit und vom Prozess des Alterns verschont. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein wurde Taillades Fluidaltheorie an manchem medizinischen Lehrstuhl verfochten und in vielen okkulten Vereinen therapeutisch angewendet. Und noch heute gibt es zu beiden Seiten der Pyrenuen, namentlich in Perpignan und Figueras, geheime Tailladistenlogen, die sich einmal im Jahr treffen, um den Pic du Camgou zu besteigen. Dort zunden sie ein großes Feuer an, vorgeblich aus Anlass der Sonnenwende und zu Ehren des heiligen Johannes - in Wirklichkeit aber, um ihrem Meister Taillade-Espinasse und seinem großen Fluidum zu huldigen und um das ewige Leben zu erlangen.

    DRITTER TEIL

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Wuhrend Grenouille fur die erste Etappe seiner Reise durch Frankreich sieben Jahre gebraucht hatte, brachte er die zweite in weniger als sieben Tagen hinter sich. Er mied die belebten Straßen und die Studte nicht mehr, er machte keine Umwege. Er hatte einen Geruch, er hatte Geld, er hatte Selbstvertrauen, und er hatte es eilig. Schon am Abend des Tages, da er Montpellier verlassen hatte, erreichte er Le Grau-du-Roi, eine kleine Hafenstadt sudwestlich von Aigues-Mortes, wo er sich auf einen Lastensegler nach Marseille einschiffte. In Marseille verließ er den Hafen gar nicht erst, sondern suchte gleich ein Schiff, das ihn weiter die Kuste entlang nach Osten brachte. Zwei Tage sputer war er in Toulon, nach drei weiteren Tagen in Cannes. Den Rest des Weges ging er zu Fuß. Er folgte einem Pfad, der landeinwurts nach Norden fuhrte, die Hugel hinauf. Nach zwei Stunden stand er auf der Kuppe, und vor ihm breitete sich ein mehrere Meilen umfassendes Becken aus, eine Art riesiger landschaftlicher Schussel, deren Umgrenzung ringsum aus sanft ansteigenden Hugeln und schroffen Bergketten bestand und deren weite Mulde mit frischbestellten Feldern, Gurten und Olivenhainen uberzogen war. Es lag ein vullig eignes, sonderbar intimes Klima uber dieser Schussel. Obwohl das Meer so nah war, dass man es von den Hugelkuppen aus sehen konnte, herrschte hier nichts Maritimes, nichts Salzig-Sandiges, nichts Offenes, sondern stille Abgeschiedenheit, ganz so, als wure man viele Tagesreisen von der Kuste entfernt. Und obwohl nach Norden zu die großen Gebirge standen, auf denen noch der Schnee lag und noch lange liegen wurde, war hier nichts Rauhes oder Karges zu spuren und kein kalter Wind. Der Fruhling war weiter vorangeschritten als in Montpellier. Ein milder Dunst deckte die Felder wie eine gluserne Glocke. Aprikosen- und Mandelbuume bluhten, und die warme Luft durchzog der Duft von Narzissen. Am anderen Ende der großen Schussel, vielleicht zwei Meilen entfernt, lag, oder besser gesagt, klebte an den ansteigenden Bergen eine Stadt. Sie machte aus der Entfernung gesehen keinen besonders pompusen Eindruck. Da war kein muchtiger Dom, der die Huuser uberragte, bloß ein kleiner Stumpen von Kirchturm, keine dominierende Feste, kein auffallend pruchtiges Gebuude. Die Mauern schienen alles andere als trutzig, da und dort quollen die Huuser uber ihre Begrenzung hinaus, vor allem nach unten zur Ebene hin, und verliehen dem Weichbild ein etwas zerfleddertes Aussehen. Es war, als sei dieser Ort schon zu oft erobert und wieder entsetzt worden, als sei er es mude, kunftigen Eindringlingen noch ernsthaften Widerstand entgegenzusetzen - aber nicht aus Schwuche, sondern aus Lussigkeit oder sogar aus einem Gefuhl von Sturke. Er sah aus, als habe er es nicht nutig zu prunken. Er beherrschte die große duftende Schussel zu seinen Fußen, und das schien ihm zu genugen. Dieser zugleich unansehnliche und selbstbewusste Ort war die Stadt Grasse, seit einigen Jahrzehnten unumstrittene Produktions- und Handelsmetropole fur Duftstoffe, Parfumeriewaren, Seifen und ule. Giuseppe Baldini hatte ihren Namen immer mit schwurmerischer Verzuckung ausgesprochen. Ein Rom der Dufte sei die Stadt, das gelobte Land der Parfumeure, und wer nicht seine Sporen hier verdient habe, der trage nicht zu Recht den Namen Parfumeur. Grenouille sah mit sehr nuchternem Blick auf die Stadt Grasse. Er suchte kein gelobtes Land der Parfumerie, und ihm ging das Herz nicht auf im Angesicht des Nestes, das da druben an den Hungen klebte. Er war gekommen, weil er wusste, dass es dort einige Techniken der Duftgewinnung besser zu lernen gab als anderswo. Und diese wollte er sich aneignen, denn er brauchte sie fur seine Zwecke. Er zog den Flakon mit seinem Parfum aus der Tasche, betupfte sich sparsam und machte sich auf den Weg. Anderthalb Stunden sputer, gegen Mittag, war er in Grasse. Er aß in einem Gasthof am oberen Ende der Stadt, an der Place aux Aires. Der Platz war der Lunge nach von einem Bach durchschnitten, an dem die Gerber ihre Huute wuschen, um sie anschließend zum Trocknen auszubreiten. Der Geruch war so stechend, dass manchem der Guste der Geschmack am Essen verging. Ihm, Grenouille, nicht. Ihm war der Geruch vertraut, ihm gab er ein Gefuhl von Sicherheit. In allen Studten suchte er immer zuerst die Viertel der Gerber auf. Es war ihm dann, als sei er, aus der Sphure des Gestankes kommend und von dort aus die anderen Regionen des Orts erkundend, kein Fremdling mehr. Den ganzen Nachmittag uber durchstreifte er die Stadt. Sie war unglaublich schmutzig, trotz oder vielmehr gerade wegen des vielen Wassers, das aus Dutzenden von Quellen und Brunnen sprudelte, in ungeregelten Buchen und Rinnsalen stadtabwurts gurgelte und die Gassen unterminierte oder mit Schlamm uberschwemmte. Die Huuser standen in manchen Vierteln so dicht, dass fur die Durchlusse und Treppchen nur noch eine Elle weit Platz blieb und sich die im Schlamm watenden Passanten aneinander vorbeipressen mussten. Und selbst auf den Plutzen und den wenigen breiteren Straßen konnten die Fuhrwerke einander kaum ausweichen. Dennoch, bei allem Schmutz, bei aller Schmuddligkeit und Enge, barst die Stadt vor gewerblicher Betriebsamkeit. Nicht weniger als sieben Seifenkochereien machte Grenouille bei seinem Rundgang aus, ein Dutzend Parfumerie- und Handschuhmachermeister, unzuhlige kleinere Destillen, Pomadeateliers und Spezereien und schließlich einige sieben Hundler, die Dufte en gros vertrieben. Dies waren nun allerdings Kaufleute, die uber wahre Duftstoffgroßkontore verfugten. Anzusehen war es ihren Huusern oftmals kaum. Die zur Straße hin gelegenen Fassaden sahen burgerlich bescheiden aus. Doch was dahinter lagerte, auf Speichern und in riesenhaften Kellern, an Fussern von ul, an Stapeln von feinster Lavendelseife, an Ballons von Blutenwussern, Weinen, Alkoholen, an Ballen von Duftleder, an Sucken und Truhen und Kisten, vollgestopft mit Gewurzen... - Grenouille roch es in allen Einzelheiten durch die dicksten Mauern -, das waren Reichtumer, wie sie Fursten nicht besaßen. Und wenn er schurfer hinroch, durch die zur Straße gelegenen prosaischen Geschufts- und Lagerruume hindurch, dann entdeckte er, dass auf der Ruckseite dieser kleinkarierten Burgerhuuser sich Gebuulichkeiten der luxuriusesten Art befanden. Um kleine, aber reizende Gurten, in denen Oleander und Palmen gediehen und zierliche von Rabatten umfasste Springbrunnen gur gelten, dehnten sich, meist U-furmig nach Suden gebaut, die eigentlichen Flugel der Anwesen aus: sonnendurchflutete, seidentapetenbespannte Schlafgemucher in den Obergeschossen, pruchtige mit exotischem Holz getufelte Salons zu ebener Erde und Speisesule, bisweilen terrassenhaft ins Freie vorgebaut, in denen tatsuchlich, wie Baldini erzuhlt hatte, mit goldenem Besteck von porzellanenen Tellern gegessen wurde. Die Herren, die hinter diesen bescheidenen Kulissen wohnten, rochen nach Gold und nach Macht, nach schwerem gesichertem Reichtum, und sie rochen sturker danach als alles, was Grenouille bisher auf seiner Reise durch die Provinz in dieser Hinsicht gerochen hatte. Vor einem der camouflierten Palazzi blieb er lungere Zeit stehen. Das Haus befand sich am Anfang der Rue Droite, einer Hauptstraße, die die Stadt in ihrer ganzen Lunge von Westen nach Osten durchzog. Es war nicht außergewuhnlich anzusehen, wohl etwas breiter und behubiger an der Front als die Nachbargebuude, aber durchaus nicht imposant. Vor der Toreinfahrt stand ein Wagen mit Fussern, die uber eine Pritsche entladen wurden. Ein zweites Fuhrwerk wartete. Ein Mann ging mit Papieren ins Kontor, kam mit einem anderen Mann wieder heraus, beide verschwanden in der Toreinfahrt. Grenouille stand an der gegenuberliegenden Straßenseite und sah dem Treiben zu. Was da vor sich ging, interessierte ihn nicht. Trotzdem blieb er stehen. Irgendetwas hielt ihn fest. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Geruche, die ihm von dem Gebuude gegenuber zuflogen. Da waren die Geruche der Fusser, Essig und Wein, dann die hundertfultigen schweren Geruche des Lagers, dann die Geruche des Reichtums, die aus den Mauern transpirierten wie feiner goldener Schweiß, und schließlich die Geruche eines Gartens, der auf der anderen Seite des Hauses liegen musste. Es war nicht leicht, diese zarteren Dufte des Gartens aufzufangen, denn sie zogen nur in dunnen Streifen uber den Giebel des Hauses hinweg herab auf die Straße. Grenouille machte Magnolien aus, Hyazinthen, Seidelbast und Rhododendron... - aber da schien noch etwas anderes zu sein, etwas murderisch Gutes, was in diesem Garten duftete, ein Geruch so exquisit, wie er ihn in seinem Leben noch nicht - oder doch nur ein einziges Mal - in die Nase bekommen hatte... Er musste nuher an diesen Duft heran. Er uberlegte, ob er einfach durch die Toreinfahrt in das Anwesen eindringen sollte. Aber da waren unterdessen so viele Leute mit dem Abladen und dem Kontrollieren der Fusser beschuftigt, dass er sicher aufgefallen wure. Er entschloss sich, die Straße zuruckzugehen, um eine Gasse oder einen Durchlaß zu finden, der vielleicht an der Querseite des Hauses entlangfuhrte. Nach wenigen Metern hatte er das Stadttor am Beginn der Rue Droite erreicht. Er durchschritt es, hielt sich scharf links und folgte dem Verlauf der Stadtmauer bergabwurts. Nicht weit, und er roch den Garten, erst schwach, noch mit der Luft der Felder vermischt, dann immer sturker. Schließlich wusste er, dass er ihm ganz nahe war. Der Garten grenzte an die Stadtmauer. Er war direkt neben ihm. Wenn er ein wenig zurucktrat, konnte er uber die Mauer hinweg die obersten Zweige der Orangenbuume sehen. Wieder schloss er die Augen. Die Dufte des Gartens fielen uber ihn her, deutlich und klar konturiert wie die farbigen Bunder eines Regenbogens. Und der eine, der kostbare, der, auf den es ihm ankam, war darunter. Grenouille wurde es heiß vor Wonne und kalt vor Schrecken. Das Blut stieg ihm zu Kopfe wie einem ertappten Buben, und es wich zuruck in die Mitte des Kurpers, und es stieg wieder und wich wieder, und er konnte nichts dagegen tun. Zu plutzlich war diese Geruchsattacke gekommen. Fur einen Augenblick, fur einen Atemzug lang, fur die Ewigkeit schien ihm, als sei die Zeit verdoppelt oder radikal verschwunden, denn er wusste nicht mehr, war jetzt jetzt und war hier hier, oder war nicht vielmehr jetzt damals und hier dort, numlich Rue des Marais in Paris, September 1753: Der Duft, der aus dem Garten heruberwehte, war der Duft des rothaarigen Mudchens, das er damals ermordet hatte. Dass er diesen Duft in der Welt wiedergefunden hatte, trieb ihm Trunen der Gluckseligkeit in die Augen - und dass es nicht wahr sein konnte, ließ ihn zu Tode erschrecken. Ihm schwindelte, und er taumelte ein wenig und musste sich gegen die Mauer stutzen und langsam an ihr herab in die Hocke gleiten lassen. Sich dort versammelnd und seinen Geist bezuhmend, begann er, den fatalen Duft in kurzeren, weniger riskanten Atemzugen einzuziehen. Und er stellte fest, dass der Duft hinter der Mauer dem Duft des rothaarigen Mudchens zwar extrem uhnlich, aber nicht vollkommen gleich war. Freilich stammte er ebenfalls von einem rothaarigen Mudchen, daran war kein Zweifel muglich. Grenouille sah dieses Mudchen in seiner olfaktorischen Vorstellung wie auf einem Bilde vor sich: Es saß nicht still, sondern es sprang hin und her, es erhitzte sich und kuhlte sich wieder ab, offenbar spielte es ein Spiel, bei dem man sich rasch bewegen und rasch wieder stillstehen musste - mit einer zweiten Person ubrigens von vullig unsignifikantem Geruch. Es hatte blendendweiße Haut. Es hatte grunliche Augen. Es hatte Sommersprossen im Gesicht, am Hals und an den Brusten... das heisst - Grenouille stockte fur einen Moment der Atem, dann schnupperte er heftiger und versuchte, die Geruchserinnerung an das Mudchen aus der Rue des Marais zuruckzudrungen -... das heißt, dieses Mudchen hatte noch gar keine Bruste im wahren Sinne des Wortes! Es hatte kaum beginnende Ansutze von Brusten. Es hatte unendlich zart und gering duftende, von Sommersprossen umsprenkelte, sich vielleicht erst seit wenigen Tagen, vielleicht erst seit wenigen Stunden,... seit diesem Augenblick eigentlich erst, sich zu dehnen beginnende Huubchen von Brustchen. Mit einem Wort: Das Mudchen war noch ein Kind. Aber was fur ein Kind! Grenouille stand der Schweiß auf der Stirn. Er wusste, dass Kinder nicht sonderlich rochen, ebensowenig wie die grun aufschießenden Blumen vor ihrer Blute. Diese aber, diese fast noch geschlossene Blute hinter der Mauer, die gerade eben erst, und noch von niemandem als ihm, Grenouille, bemerkt, die ersten duftenden Spitzen hervortrieb, duftete schon jetzt so haarstruubend himmlisch, dass, wenn sie sich erst zu ganzer Pracht entfaltet haben wurde, sie ein Parfum verstrumen wurde, wie es die Welt noch nicht gerochen hatte. Sie riecht schon jetzt besser, dachte Grenouille, als damals das Mudchen aus der Rue des Marais - nicht so kruftig, nicht so voluminus, aber feiner, facettenreicher und zugleich naturlicher. In ein bis zwei Jahren aber wurde dieser Geruch gereift sein und eine Wucht bekommen, der sich kein Mensch, weder Mann noch Frau, wurde entziehen kunnen. Und die Leute wurden uberwultigt sein, entwaffnet, hilflos vor dem Zauber dieses Mudchens, und sie wurden nicht wissen, warum. Und weil sie dumm sind und ihre Nasen nur zum Schnaufen gebrauchen kunnen, alles und jedes aber mit ihren Augen zu erkennen glauben, wurden sie sagen, es sei, weil dieses Mudchen Schunheit besitze und Grazie und Anmut. Sie wurden in ihrer Beschrunktheit seine ebenmußigen Zuge ruhmen, die schlanke Figur, den tadellosen Busen. Und ihre Augen, wurden sie sagen, seien wie Smaragde und die Zuhne wie Perlen und ihre Glieder elfenbeinglatt - und was der idiotischen Vergleiche noch mehr sind. Und sie wurden sie zur Jasminkunigin kuren, und sie wurde gemalt werden von bluden Portrutisten, ihr Bild wurde begafft werden, man wurde sagen, sie sei die schunste Frau Frankreichs. Und Junglinge werden nuchtelang zu Mandolinenklungen heulend unter ihrem Fenster sitzen... dicke reiche alte Munner auf den Knien rutschend ihren Vater um ihre Hand anbetteln... und Frauen jeden Alters werden bei ihrem Anblick seufzen und im Schlaf davon truumen, nur einen Tag lang so verfuhrerisch auszusehen wie sie. Und sie werden alle nicht wissen, dass es nicht ihr Aussehen ist, dem sie in Wahrheit verfallen sind, nicht ihre angeblich makellose uußere Schunheit, sondern einzig ihr unvergleichlicher, herrlicher Duft! Nur er wurde es wissen, er Grenouille, er allein. Er wusste es ja jetzt schon. Ach! Er wollte diesen Duft haben! Nicht auf so vergebliche, tuppische Weise haben wie damals den Duft des Mudchens aus der Rue des Marais. Den hatte er ja nur in sich hineingesoffen und damit zersturt. Nein, den Duft des Mudchens hinter der Mauer wollte er sich wahrhaftig aneignen; ihn wie eine Haut von ihr abziehen und zu seinem eigenen Duft machen. Wie das geschehen sollte, wusste er noch nicht. Aber er hatte ja zwei Jahre Zeit, es zu lernen. Es konnte im Grunde nicht schwieriger sein, als den Duft einer seltenen Blume zu rauben. Er stand auf. Anduchtig fast, als verließe er etwas Heiliges oder eine Schluferin, entfernte er sich, geduckt, leise, dass niemand ihn sehe, niemand ihn hure, niemand auf seinen kustlichen Fund aufmerksam werde. So floh er an der Mauer entlang bis ans entgegengesetzte Ende der Stadt, wo sich das Mudchenparfum endlich verlor und er an der Porte des Feneants wieder Einlass fand. Im Schatten der Huuser blieb er stehen. Der stinkende Dunst der Gassen gab ihm Sicherheit und half ihm, die Leidenschaft, die ihn uberfallen hatte, zu bundigen. Nach einer Viertelstunde war er wieder vollkommen ruhig geworden. Furs erste, dachte er, wurde er nicht mehr in die Nuhe des Gartens hinter der Mauer gehen. Es war nicht nutig. Es erregte ihn zu sehr. Die Blume dort gedieh ohne sein Zutun, und auf welche Weise sie gedeihen wurde, wusste er ohnehin. Er durfte sich nicht zur Unzeit an ihrem Duft berauschen. Er musste sich in Arbeit sturzen. Er musste seine Kenntnisse erweitern und seine handwerklichen Fuhigkeiten vervollkommnen, um fur die Zeit der Ernte gerustet zu sein. Er hatte noch zwei Jahre Zeit.

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Nicht weit von der Porte des Feneants, in der Rue de la Louve, entdeckte Grenouille ein kleines Parfumeuratelier und fragte nach Arbeit. Es erwies sich, dass der Patron, Maitre Parfumeur Honore Arnulfi, im vergangenen Winter verstorben war und dass seine Witwe, eine lebhafte schwarzhaarige Frau von vielleicht dreißig Jahren, das Geschuft allein mit Hilfe eines Gesellen fuhrte. Madame Arnulfi, nachdem sie lange uber die schlechten Zeiten und uber ihre prekure wirtschaftliche Lage geklagt hatte, erklurte, dass sie sich zwar eigentlich keinen zweiten Gesellen leisten kunne, andrerseits aber wegen der vielen anfallenden Arbeit dringend einen brauche; dass sie außerdem einen zweiten Gesellen hier bei sich im Hause gar nicht wurde beherbergen kunnen, andrerseits aber uber eine kleine Kabane auf ihrem Olivengarten hinter dem Franziskanerkloster - keine zehn Minuten von hier - verfuge, in welcher ein anspruchsloser junger Mensch zur Not wurde nuchtigen kunnen; dass sie ferner zwar als ehrliche Meisterin um ihre Verantwortung fur das leibliche Wohl ihrer Gesellen wisse, sich aber andrerseits ganz außerstande sehe, zwei warme Mahlzeiten am Tag zu gewuhren - mit einem Wort: Madame Arnulfi war - was Grenouille freilich schon lungst gerochen hatte - eine Frau von gesundem Wohlstand und gesundem Geschuftssinn. Und da es ihm selber auf Geld nicht ankam und er sich mit zwei Franc Lohn pro Woche und den ubrigen durftigen Bedingungen zufrieden erklurte, wurden sie schnell einig. Der erste Geselle wurde gerufen, ein riesenhafter Mann namens Druot, von dem Grenouille sofort erriet, dass er gewohnt war, Madames Bett zu teilen, und ohne dessen Konsultation sie offenbar gewisse Entscheidungen nicht traf. Er stellte sich vor Grenouille hin, der in Gegenwart dieses Hunen geradezu lucherlich windig aussah, breitbeinig, eine Wolke von Spermiengeruch verbreitend, musterte ihn, fasste ihn scharf ins Auge, als wolle er auf diese Weise irgendwelche unlauteren Absichten oder einen muglichen Nebenbuhler erkennen, grinste schließlich herablassend und gab mit einem Nicken sein Einverstundnis. Damit war alles geregelt. Grenouille erhielt einen Hundedruck, ein kaltes Abendbrot, eine Decke und den Schlussel fur die Kabane, einen fensterlosen Verschlag, der angenehm nach altem Schafmist und Heu roch und in dem er sich, so gut es ging, einrichtete. Am nuchsten Tag trat er seine Arbeit bei Madame Arnulfi an. Es war die Zeit der Narzissen. Madame Arnulfi ließ die Blumen auf eigenen kleinen Parzellen Landes ziehen, die sie unterhalb der Stadt in der großen Schussel besaß, oder sie kaufte sie von den Bauern, mit denen sie um jedes Lot erbittert feilschte. Die Bluten wurden schon in aller Fruh geliefert, kurbeweise in das Atelier geschuttet, zehntausendfach, in voluminusen, aber federleichten duftenden Haufen. Druot unterdessen verflussigte in einem großen Kessel Schweine- und Rindertalg zu einer cremigen Suppe, in die er, wuhrend Grenouille unaufhurlich mit einem besenlangen Spatel ruhren musste, scheffelweise die frischen Bluten schuttete. Wie zu Tode erschreckte Augen lagen sie fur eine Sekunde auf der Oberfluche und erbleichten in dem Moment, da der Spatel sie unterruhrte und das warme Fett sie umschloss. Und fast im selben Moment waren sie auch schon erschlafft und verwelkt, und offenbar kam der Tod so rasch uber sie, dass ihnen gar keine andere Wahl mehr blieb, als ihren letzten duftenden Seufzer eben jenem Medium einzuhauchen, das sie ertrunkte; denn - Grenouille gewahrte es zu seinem unbeschreiblichen Entzucken - je mehr Bluten er in seinem Kessel unterruhrte, desto sturker duftete das Fett. Und zwar waren es nicht etwa die toten Bluten, die im Fett weiterdufteten, nein, es war das Fett selbst, das sich den Duft der Bluten angeeignet hatte. Mitunter wurde die Suppe zu dick, und sie mussten sie rasch durch große Siebe gießen, um sie von den ausgelaugten Leichen zu befreien und fur frische Blutenbereit zu machen. Dann scheffelten und ruhrten und seihten sie weiter, den ganzen Tag uber ohne Pause, denn das Geschuft duldete keine Verzugerung, bis gegen Abend der ganze Blutenhaufen durch den Fettkessel gewandert war. Die Abfulle wurden - damit auch nichts verloren ginge - mit kochendem Wasser uberbruht und in einer Spindelpresse bis zum letzten Tropfen ausgewrungen, was immerhin noch ein zart duftendes ul abgab. Das Gros des Duftes aber, die Seele eines Meeres von Bluten, war im Kessel verblieben, eingeschlossen und bewahrt im unansehnlich grauweißen, nun langsam erstarrenden Fett. Am kommenden Tag wurde die Mazeration, wie man diese Prozedur nannte, fortgesetzt, der Kessel wieder angeheizt, das Fett verflussigt und mit neuen Bluten beschickt. So ging es mehrere Tage lang von fruh bis sput. Die Arbeit war anstrengend. Grenouille hatte bleierne Arme, Schwielen an den Hunden und Schmerzen im Rucken, wenn er abends in seine Kabane wankte. Druot, der wohl dreimal so kruftig wie er war, luste ihn kein einziges Mal beim Ruhren ab, sondern begnugte sich, die federleichten Bluten nachzuschutten, auf das Feuer aufzupassen und gelegentlich, der Hitze wegen, einen Schluck trinken zu gehen. Aber Grenouille muckte nicht auf. Klaglos ruhrte er die Bluten ins Fett, von morgens bis abends, und spurte wuhrend des Ruhrens die Anstrengung kaum, denn er war immer aufs neue fasziniert von dem Prozess, der sich unter seinen Augen und unter seiner Nase abspielte: dem raschen Welken der Bluten und der Absorption ihres Duftes. Nach einiger Zeit entschied Druot, dass das Fett nun gesuttigt sei und keinen weiteren Duft mehr absorbieren kunne. Sie luschten das Feuer, seihten die schwere Suppe zum letzten Mal ab und fullten sie in Tiegel aus Steingut, wo sie sich alsbald zu einer herrlich duftenden Pomade verfestigte. Dies war die Stunde von Madame Arnulfi, die kam, um das kostbare Produkt zu prufen, zu beschriften und die Ausbeute genauestens nach Qualitut und Quantitut in ihren Buchern zu verzeichnen. Nachdem sie die Tiegel huchstpersunlich verschlossen, versiegelt und in die kuhlen Tiefen ihres Kellers getragen hatte, zog sie ihr schwarzes Kleid an, nahm ihren Witwenschleier und machte die Runde bei den Kaufleuten und Parfumhandelshuusern der Stadt. Mit bewegenden Worten schilderte sie den Herren ihre Situation als alleinstehende Frau, ließ sich Angebote machen, verglich die Preise, seufzte und verkaufte endlich - oder verkaufte nicht. Parfumierte Pomade, kuhl gelagert, hielt sich lange. Und wenn die Preise jetzt zu wunschen ubrigließen, wer weiß, vielleicht kletterten sie im Winter oder nuchsten Fruhjahr in die Huhe. Auch war zu uberlegen, ob man nicht, statt diesen Pfeffersucken zu verkaufen, mit andern kleinen Produzenten gemeinsam eine Ladung Pomade nach Genua verschiffen oder sich an einem Konvoi zur Herbstmesse in Beaucaire beteiligen sollte - riskante Unternehmungen, gewiss, doch im Erfolgsfall uußerst eintruglich. Diese verschiedenen Muglichkeiten wog Madame Arnulfi sorgsam gegeneinander ab, und manchmal verband sie sie auch und verkaufte einen Teil ihrer Schutze, hob einen anderen auf und handelte mit einem dritten auf eigenes Risiko. Hatte sie allerdings bei ihren Erkundigungen den Eindruck gewonnen, der Pomademarkt sei ubersuttigt und werde sich in absehbarer Zeit nicht zu ihren Gunsten verknappen, so eilte sie wehenden Schleiers nach Hause und gab Druot den Auftrag, die ganze Produktion einer Lavage zu unterziehen und sie in Essence Absolue zu verwandeln. Und dann wurde die Pomade wieder aus dem Keller geholt, in verschlossenen Tupfen aufs Vorsichtigste erwurmt, mit feinstem Weingeist versetzt und vermittels eines eingebauten Ruhrwerks, welches Grenouille bediente, grundlich durchgemischt und ausgewaschen. Zuruck in den Keller verbracht, kuhlte diese Mischung rasch aus, der Alkohol schied sich vom erstarrenden Fett der Pomade und konnte in eine Flasche abgelassen werden. Er stellte nun quasi ein Parfum dar, allerdings von enormer Intensitut, wuhrend die zuruckbleibende Pomade den grußten Teil ihres Duftes verloren hatte. Abermals also war der Blutenduft auf ein anderes Medium ubergegangen. Doch damit war die Operation noch nicht zu Ende. Nach grundlicher Filtrage durch Gazetucher, in denen auch die kleinsten Klumpchen Fett zuruckgehalten wurden, fullte Druot den parfumierten Alkohol in einen kleinen Alambic und destillierte ihn uber dezentestem Feuer langsam ab. Was nach der Verfluchtigung des Alkohols in der Blase zuruckblieb, war eine winzige Menge blass gefurbter Flussigkeit, die Grenouille wohlbekannt war, die er aber in dieser Qualitut und Reinheit weder bei Baldini noch etwa bei Runel gerochen hatte: Das schiere ul der Bluten, ihr blanker Duft, hunderttausendfach konzentriert zu einerkleinen Pfutze Essence Absolue. Diese Essenz roch nicht mehr lieblich. Sie roch beinahe schmerzhaft intensiv, scharf und beizend. Und doch genugte schon ein Tropfen davon, aufgelust in einem Liter Alkohol, um sie wieder zu beleben und ein ganzes Feld von Blumen geruchlich wiederauferstehen zu lassen. Die Ausbeute war furchterlich gering. Gerade drei kleine Flakons fullte die Flussigkeit aus der Destillierblase. Mehr war von dem Duft von hunderttausend Bluten nicht ubriggeblieben als drei kleine Flakons. Aber sie waren ein Vermugen wert, schon hier in Grasse. Und um wie viel mehr noch, wenn man sie nach Paris verschickte oder nach Lyon, nach Grenoble, nach Genua oder Marseille! Madame Arnulfi bekam einen schmelzend schunen Blick beim Anschauen dieser Fluschchen, sie liebkoste sie mit Augen, und als sie sie nahm und mit fugig geschliffenen Glaspfropfen verstupselte, hielt sie den Atem an, um nur ja nichts vom kostbaren Inhalt zu verblasen. Und damit auch nach dem Verstupseln nicht das kleinste Atom verdunstenderweise entweiche, versiegelte sie die Pfropfen mit flussigem Wachs und umkapselte sie mit einer Fischblase, die sie am Flaschenhals fest verschnurte. Dann stellte sie sie in ein wattegefuttertes Kustchen und brachte sie im Keller hinter Schloss und Riegel.

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Im April mazerierten sie Ginster und Orangenblute, im Mai ein Meer von Rosen, deren Duft die Stadt fur einen ganzen Monat in einen cremigsußen unsichtbaren Nebel tauchte. Grenouille arbeitete wie ein Pferd. Bescheiden, mit fast sklavenhafter Bereitschaft fuhrte er all die untergeordneten Tutigkeiten aus, die Druot ihm auftrug. Aber wuhrend er scheinbar stumpfsinnig ruhrte, spachtelte, Bottiche wusch, die Werkstatt putzte oder Feuerholz schleppte, entging seiner Aufmerksamkeit nichts von den wesentlichen Dingen des Geschufts, nichts von der Metamorphose der Dufte. Genauer als Druot es je vermocht hutte, mit seiner Nase numlich, verfolgte und uberwachte Grenouille die Wanderung der Dufte von den Bluttern der Bluten uber das Fett und den Alkohol bis in die kustlichen kleinen Flakons. Er roch, lange ehe Druot es bemerkte, wann sich das Fett zu stark erhitzte, er roch, wann die Blute erschupft, wann die Suppe mit Duft gesuttigt war, er roch, was im Innern der Mischgefuße geschah und zu welchem pruzisen Moment der Destillationsprozess beendet werden musste. Und gelegentlich gab er sich zu verstehen, freilich ganz unverbindlich und ohne seine unterwurfige Attitude abzulegen. Ihm komme so vor, sagte er, als sei das Fett jetzt womuglich zu heiß geworden; er glaube fast, man kunne demnuchst abseihen; er habe es irgendwie im Gefuhl, als sei der Alkohol im Alambic jetzt verdunstet... Und Druot, der zwar nicht gerade fabelhaft intelligent, aber auch nicht vullig dumpfkupfig war, bekam mit der Zeit heraus, dass er mit seinen Entscheidungen justament dann am besten fuhr, wenn er das tat oder anordnete, was Grenouille gerade "so glaubte" oder "irgendwie im Gefuhl" hatte. Und da Grenouille niemals vorlaut oder besserwisserisch uußerte, was er glaubte oder im Gefuhl hatte, und weil er niemals und vor allem niemals in Gegenwart von Madame Arnulfi - Druots Autoritut und seine pruponderante Stellung als des ersten Gesellen auch nur ironisch in Zweifel gezogen hutte, sah Druot keinen Anlass, Grenouilles Ratschlugen nicht zu folgen, ja, ihm sogar nicht mit der Zeit immer mehr Entscheidungen ganz offen zu uberlassen. Immer huufiger geschah es, dass Grenouille nicht mehr nur ruhrte, sondern zugleich auch beschickte, heizte und siebte, wuhrend Druot auf einen Sprung in die >Quatre Dauphins< verschwand, fur ein Glas Wein, oder hinauf zu Madame, um dort nach dem Rechten zu sehn. Er wusste, dass er sich auf Grenouille verlassen konnte. Und Grenouille, obwohl er doppelte Arbeit verrichtete, genoss es, allein zu sein, sich in der neuen Kunst zu perfektionieren und gelegentlich kleine Experimente zu machen. Und mit diebischer Freude stellte er fest, dass die von ihm bereitete Pomade ungleich feiner, dass seine Essence Absolue um Grade reiner war als die gemeinsam mit Druot erzeugte. Ende Juli begann die Zeit des Jasmins, im August die der Nachthyazinthe. Beide Blumen waren von so exquisitem und zugleich fragilem Parfum, dass ihre Bluten nicht nur vor Sonnenaufgang gepfluckt werden mussten, sondern auch die speziellste, zarteste Verarbeitung erheischten. Wurme verminderte ihren Duft, das plutzliche Bad im heißen Mazerationsfett hutte ihn vullig zersturt. Diese edelsten aller Bluten ließen sich ihre Seele nicht einfach entreißen, man musste sie ihnen regelrecht abschmeicheln. In einem besonderen Beduftungsraum wurden sie auf mit kuhlem Fett bestrichene Platten gestreut oder locker in ulgetrunkte Tucher gehullt und mussten sich langsam zu Tode schlafen. Erst nach drei oder vier Tagen waren sie verwelkt und hatten ihren Duft an das benachbarte Fett und ul abgeatmet. Dann zupfte man sie vorsichtig ab und streute frische Bluten aus. Der Vorgang wurde wohl zehn, zwanzig Mal wiederholt, und bis sich die Pomade sattgesogen hatte und das duftende ul aus den Tuchern abgepresst werden konnte, war es September geworden. Die Ausbeute war noch um ein Wesentliches geringer als bei der Mazeration. Die Qualitut aber einer solchen durch kalte Enfleurage gewonnenen Jasminpaste oder eines Huile Antique de Tubereuse ubertraf die jedes anderen Produkts der parfumistischen Kunst an Feinheit und Originaltreue. Namentlich beim Jasmin schien es, als habe sich der sußhaftende, erotische Duft der Blute auf den Fettplatten wie in einem Spiegel abgebildet und strahle nun vullig naturgetreu zuruck - cum grano salis freilich. Denn Grenouilles Nase erkannte selbstverstundlich noch den Unterschied zwischen dem Geruch der Blute und ihrem konservierten Duft: Wie ein zarter Schleier lag da der Eigengeruch des Fetts - es mochte so rein sein, wie es wollte - uber dem Duftbild des Originals, milderte es, schwuchte das Eklatante sanft ab, machte vielleicht sogar seine Schunheit fur gewuhnliche Menschen uberhaupt erst ertruglich... In jedem Falle aber war die kalte Enfleurage das raffinierteste und wirksamste Mittel, zarte Dufte einzufangen. Ein besseres gab es nicht. Und wenn die Methode auch nicht genugte, Grenouilles Nase vollkommen zu uberzeugen, so wusste er doch, dass sie zur Dupierung einer Welt von Dumpfnasen tausendmal hinreichte. Schon nach kurzer Zeit hatte er seinen Lehrmeister Druot, ebenso wie beim Mazerieren, auch in der Kunst der kalten Beduftung uberflugelt und ihm dies auf die bewuhrte, unterwurfig diskrete Weise klargemacht. Druot uberließ es ihm gerne, hinaus zum Schlachthof zu gehen und dort die geeignetsten Fette zu kaufen, sie zu reinigen, auszulassen, zu filtrieren und ihr Mischverhultnis zu bestimmen - eine fur Druot immer huchst diffizile und gefurchtete Aufgabe, denn ein unreines, ranziges oder zu sehr nach Schwein, Hammel oder Rind riechendes Fett konnte die kostbarste Pomade ruinieren. Er uberließ es ihm, den Abstand der Fettplatten im Beduftungsraum, den Zeitpunkt des Blutenwechsels, den Suttigungsgrad der Pomade zu bestimmen, uberließ ihm bald alle prekuren Entscheidungen, die er, Druot, uhnlich wie seinerzeit Baldini, immer nur ungefuhr nach angelernten Regeln treffen konnte, die Grenouille aber mit dem Wissen seiner Nase traf - was Druot freilich nicht ahnte. "Er hat eine gluckliche Hand", sagte Druot, "er hat ein gutes Gefuhl fur die Dinge." Und manchmal dachte er auch: "Er ist ganz einfach viel begabter als ich, er ist ein hundertmal besserer Parfumeur." Und zugleich hielt er ihn fur einen ausgemachten Trottel, da Grenouille, wie er glaubte, nicht das geringste Kapital aus seiner Begabung schlug, er aber, Druot, es mit seinen bescheideneren Fuhigkeiten demnuchst zum Meister bringen wurde. Und Grenouille besturkte ihn in dieser Meinung, gab sich mit Fleiß dummlich, zeigte nicht den geringsten Ehrgeiz, tat, als wisse er gar nichts von seiner eigenen Genialitut, sondern als handle er nur nach den Anordnungen des viel erfahreneren Druot, ohne den er ein Nichts wure. Auf diese Weise kamen sie recht gut miteinander aus. Dann wurde es Herbst und Winter. In der Werkstatt ging es ruhiger zu. Die Blutendufte lagen in Tiegeln und Flakons gefangen im Keller, und wenn nicht Madame die eine oder andre Pomade auszuwaschen wunschte oder einen Sack getrockneter Gewurze destillieren ließ, war nicht mehr allzu viel zu tun. Oliven gab es noch, Woche fur Woche ein paar Kurbe voll. Sie pressten ihnen das Jungfernul ab und gaben den Rest in die ulmuhle. Und Wein, von dem Grenouille einen Teil zu Alkohol destillierte und rektifizierte. Druot ließ sich immer weniger blicken. Er tat seine Pflicht im Bett von Madame, und wenn er erschien, nach Schweiß und Samen stinkend, so nur, um alsbald in die >Quatre Dauphins< zu verschwinden. Auch Madame kam selten herunter. Sie beschuftigte sich mit ihren Vermugensangelegenheiten und mit der Umarbeitung ihrer Garderobe fur die Zeit nach dem Trauerjahr. Oft sah Grenouille tagelang niemanden außer der Magd, bei der er mittags Suppe bekam und abends Brot und Oliven. Er ging kaum aus. Am korporativen Leben, namentlich den regelmußigen Gesellentreffen und Umzugen beteiligte er sich gerade so huufig, dass er weder durch seine Abwesenheit noch durch seine Gegenwart auffiel. Freundschaften oder nuhere Bekanntschaften hatte er keine, achtete aber peinlich darauf, nicht womuglich als arrogant oder außenseiterisch zu gelten. Er uberließ es den anderen Gesellen, seine Gesellschaft fad und unergiebig zu finden. Er war ein Meister in der Kunst, Langeweile zu verbreiten und sich als unbeholfenen Trottel zu geben - freilich nie so ubertrieben, dass man sich mit Genuss uber ihn lustig machen oder ihn als Opfer fur irgendeinen der derben Zunftspuße gebrauchen hutte kunnen. Es gelang ihm, als vollstundig uninteressant zu gelten. Man ließ ihn in Ruhe. Und nichts anderes wollte er.

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Er verbrachte seine Zeit im Atelier. Druot gegenuber behauptete er, er wolle ein Rezept fur Kulnisches Wasser erfinden. In Wirklichkeit aber experimentierte er mit ganz anderen Duften. Sein Parfum, das er in Montpellier gemischt hatte, ging, obwohl er es sehr sparsam verwendete, allmuhlich zu Ende. Er kreierte ein neues. Aber diesmal begnugte er sich nicht mehr damit, aus hastig zusammengesetzten Materialien den Menschengrundgeruch schlecht und recht zu imitieren, sondern er setzte seinen Ehrgeiz daran, sich einen persunlichen Duft oder vielmehr eine Vielzahl persunlicher Dufte zuzulegen. Zunuchst machte er sich einen Unauffulligkeitsgeruch, ein mausgraues Duftkleid fur alle Tage, bei dem der kusigsuuerliche Duft des Menschlichen zwar noch vorhanden war, sich aber gleichsam nur noch wie durch eine dicke Schicht von leinenen und wollenen Gewundern, die uber trockne Greisenhaut gelegt sind, an die Außenwelt verstrumte. So riechend konnte er sich bequem unter Menschen begeben. Das Parfum war stark genug, um die Existenz einer Person olfaktorisch zu begrunden, und zugleich so diskret, dass es niemanden behelligte. Grenouille war damit geruchlich eigentlich nicht vorhanden und dennoch in seiner Prusenz immer aufs Bescheidenste gerechtfertigt - ein Zwitterzustand, der ihm sowohl im Hause Arnulfi als auch bei seinen gelegentlichen Gungen durch die Stadt sehr zupass kam. Bei gewissen Gelegenheiten freilich erwies sich der bescheidene Duft als hinderlich. Wenn er im Auftrag von Druot Besorgungen zu machen hatte oder fur sich selbst bei einem Hundler etwas Zibet oder ein paar Kurner Moschus kaufen wollte, konnte es geschehen, dass man ihn in seiner perfekten Unauffulligkeit entweder vullig ubersah und nicht bediente oder zwar sah, aber falsch bediente oder wuhrend des Bedienens wieder vergaß. Fur solche Anlusse hatte er sich ein etwas rasseres, leicht schweißiges Parfum zurechtgemixt, mit einigen olfaktorischen Ecken und Kanten, das ihm eine derbere Erscheinung verlieh und die Leute glauben machte, es sei ihm eilig und ihn trieben dringende Geschufte. Auch mit einer Imitation von Druots aura seminalis, die er mittels Beduftung eines fettigen Leintuchs durch eine Paste von frischen Enteneiern und angegorenem Weizenmehl tuuschend uhnlich herzustellen wusste, hatte er gute Erfolge, wenn es darum ging, ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit zu erregen. Ein anderes Parfum aus seinem Arsenal war ein mitleiderregender Duft, der sich bei Frauen mittleren und huheren Alters bewuhrte. Er roch nach dunner Milch und sauberem weichem Holz. Grenouille wirkte damit - auch wenn er unrasiert, finsterer Miene und bemuntelt auftrat - wie ein armer blasser Bub in einem abgewetzten Juckchen, dem geholfen werden musste. Die Marktweiber, wenn sie seiner anruchig wurden, steckten ihm Nusse und trockne Birnen zu, weil er so hungrig und hilflos aussah, wie sie fanden. Und bei der Frau des Metzgers, einer an und fur sich unerbittlich strengen Vettel, durfte er sich alte stinkende Fleisch- und Knochenreste aussuchen und gratis mitnehmen, denn sein Unschuldsduft ruhrte ihr mutterliches Herz. Aus diesen Resten wiederum bezog er durch direktes Digerieren mit Alkohol die Hauptkomponente eines Geruchs, den er sich zulegte, wenn er unbedingt allein und gemieden sein wollte. Der Geruch schuf um ihn eine Atmosphure leisen Ekels, einen fauligen Hauch, wie er beim Erwachen aus alten ungepflegten Mundern schlugt. Er war so wirkungsvoll, dass sogar der wenig zimperliche Druot sich unwillkurlich abwenden und das Freie aufsuchen musste, ohne sich freilich ganz deutlich bewusst zu werden, was ihn wirklich abgestoßen hatte. Und ein paar Tropfen des Repellents, auf die Schwelle der Kabane getruufelt, genugten, jeden muglichen Eindringling, Mensch oder Tier, fernzuhalten. Im Schutz dieser verschiedenen Geruche, die er je nach den uußeren Erfordernissen wie die Kleider wechselte und die ihm alle dazu dienten, in der Welt der Menschen unbehelligt zu sein und in seinem Wesen unerkannt zu bleiben, widmete sich Grenouille nun seiner wirklichen Leidenschaft: der subtilen Jagd nach Duften. Und weil er ein großes Ziel vor der Nase hatte und noch uber ein Jahr lang Zeit, ging er nicht nur mit brennendem Eifer, sondern auch ungemein planvoll und systematisch vor beim Schurfen seiner Waffen, beim Ausfeilen seiner Techniken, bei der allmuhlichen Perfektionierung seiner Methoden. Er fing dort an, wo er bei Baldini aufgehurt hatte, bei der Gewinnung der Dufte lebloser Dinge: Stein, Metall, Glas, Holz, Salz, Wasser, Luft... Was damals mit Hilfe des groben Verfahrens der Destillation kluglich misslungen war, gelang nun dank der starken absorbierenden Kraft der Fette. Einen messingnen Turknauf, dessen kuhl-schimmliger, belegter Duft ihm gefiel, umkleidete Grenouille fur ein paar Tage mit Rindertalg. Und siehe, als er den Talg herunterschabte und prufte, so roch er, in zwar sehr geringem Maße, aber doch eindeutig nach eben jenem Knauf. Und selbst nach einer Lavage in Alkohol war der Geruch noch da, unendlich zart, entfernt, vom Dunst des Weingeists uberschattet und auf der Welt wohl nur von Grenouilles feiner Nase wahrnehmbar aber eben doch da, und das hieß: zumindest im Prinzip verfugbar. Hutte er zehntausend Knuufe und wurde er sie tausend Tage lang mit Talg umkleiden, er kunnte einen winzigen Tropfen Essence Absolue von Messingknaufduft erzeugen, so stark, dass jedermann die Illusion des Originals ganz unabweisbar vor der Nase hutte. Das gleiche gelang ihm mit dem porusen Kalkduft eines Steins, den er auf dem Olivenfeld vor seiner Kabane gefunden hatte. Er mazerierte ihn und gewann ein kleines Butzchen Steinpomade, deren infinitesimaler Geruch ihn unbeschreiblich ergutzte. Er kombinierte ihn mit anderen, von allen muglichen Gegenstunden aus dem Umkreis seiner Hutte abgezogenen Geruchen und produzierte nach und nach ein olfaktorisches Miniaturmodell jenes Olivenhains hinter dem Franziskanerkloster, das er in einem winzigen Flakon verschlossen mit sich fuhren und wann es ihm gefiel geruchlich auferstehen lassen konnte. Es waren virtuose Duftkunststucke, die er vollbrachte, wunderschune kleine Spielereien, die freilich niemand außer ihm selbst wurdigen oder uberhaupt nur zur Kenntnis nehmen konnte. Er selbst aber war entzuckt von den sinnlosen Perfektionen, und es gab in seinem Leben weder fruher noch sputer Momente eines tatsuchlich unschuldigen Glucks wie zu jener Zeit, da er mit spielerischem Eifer duftende Landschaften, Stilleben und Bilder einzelner Gegenstunde erschuf. Denn bald ging er zu lebenden Objekten uber. Er machte Jagd auf Winterfliegen, Larven, Ratten, kleinere Katzen und ertrunkte sie in warmem Fett. Nachts schlich er sich in Stulle, um Kuhe, Ziegen und Ferkel fur ein paar Stunden mit fettbeschmierten Tuchern zu umhullen oder in ulige Bandagen einzuwickeln. Oder er stahl sich in ein Schafgehege, um heimlich ein Lamm zu scheren, dessen duftende Wolle er in Weingeist wusch. Die Ergebnisse waren zunuchst noch nicht recht befriedigend. Denn anders als die geduldigen Dinge Knauf und Stein ließen sich die Tiere ihren Duft nur widerwillig abnehmen. Die Schweine schabten die Bandagen an den Pfosten ihrer Koben ab. Die Schafe schrien, wenn er sich nachts mit dem Messer nuherte. Die Kuhe schuttelten stur die fetten Tucher von den Eutern. Einige Kufer, die er fing, produzierten, wuhrend er sie verarbeiten wollte, eklig stinkende Sekrete, und Ratten, wohl aus Angst, schissen ihm in seine olfaktorisch hochempfindlichen Pomaden. Jene Tiere, die er mazerieren wollte, gaben, anders als die Bluten, ihren Duft nicht klaglos oder nur mit einem stummen Seufzer ab, sondern wehrten sich verzweifelt gegen das Sterben, wollten sich partout nicht unterruhren lassen, strampelten und kumpften und erzeugten dadurch unverhultnismußig hohe Mengen Angst- und Todesschweiß, die das arme Fett durch ubersuuerung verdarben. So konnte man naturlich nicht vernunftig arbeiten. Die Objekte mussten ruhiggestellt werden, und zwar so plutzlich, dass sie gar nicht mehr dazu kamen, Angst zu haben oder sich zu widersetzen. Er musste sie tuten. Als erstes probierte er es mit einem kleinen Hund. Druben vor dem Schlachthaus lockte er ihn mit einem Stuck Fleisch von seiner Mutter weg bis in die Werkstatt, und wuhrend das Tier mit freudig erregtem Hecheln nach dem Fleisch in Grenouilles Linker schnappte, schlug er ihm mit einem Holzscheit, den er in der Rechten hielt, kurz und derb auf den Hinterkopf. Der Tod kam so plutzlich uber den kleinen Hund, dass der Ausdruck des Glucks noch um seine Lefzen und in seinen Augen war, als Grenouille ihn lungst im Beduftungsraum auf einen Rost zwischen die Fettplatten gebettet hatte, wo er nun seinen reinen, von Angstschweiß ungetrubten Hundeduft verstrumte. Freilich galt es aufzupassen! Leichen, ebenso wie abgepfluckte Bluten, waren rasch verderblich. Und so hielt Grenouille bei seinem Opfer Wache, etwa zwulf Stunden lang, bis er bemerkte, dass die ersten Schlieren des zwar angenehmen, doch verfulschend riechenden Leichendufts aus dem Kurper des Hundes quollen. Sofort unterbrach er die Enfleurage, schaffte die Leiche weg und barg das wenige beduftete Fett in einem Kessel, wo er es sorgfultig auswusch. Er destillierte den Alkohol bis auf die Menge eines Fingerhutes ab und fullte diesen Rest in ein winziges Glasruhrchen. Das Parfum roch deutlich nach dem feuchten, frischtalgigen und ein wenig scharfen Duft des Hundefells, es roch sogar erstaunlich stark danach. Und als Grenouille die alte Hundin vom Schlachthaus daran schnuppern ließ, da brach sie in Freudengeheul aus und winselte und wollte ihre Nustern nicht mehr von dem Ruhrchen nehmen. Grenouille aber verschloss es dicht und steckte es zu sich und trug es noch lange bei sich als Erinnerung an jenen Tag des Triumphs, an dem es ihm zum ersten Mal gelungen war, einem lebenden Wesen die duftende Seele zu rauben. Dann, sehr allmuhlich und mit uußerster Vorsicht, machte er sich an die Menschen heran. Er pirschte zunuchst aus sicherer Distanz mit weitmaschigem Netz, denn es kam ihm weniger darauf an, große Beute zu machen, als vielmehr, das Prinzip seiner Jagdmethode zu erproben. Mit seinem leichten Duft der Unauffulligkeit getarnt, mischte er sich im Wirtshaus zu den >Quatre Dauphins< abends unter die Guste und heftete winzige Fetzen ul- und fettgetrunkten Stoffs unter Bunke und Tische und in verborgene Nischen. Ein paar Tage sputer sammelte er sie wieder ein und prufte. Tatsuchlich atmeten sie neben allen muglichen Kuchendunsten, Tabaksqualm- und Weingeruchen auch ein wenig Menschenduft ab. Er blieb aber sehr vage und verschleiert, war mehr die Ahnung eines allgemeinen Brodems als ein persunlicher Geruch. Eine uhnliche Massenaura, doch reiner und ins Erhaben- Schwitzige gesteigert, war in der Kathedrale zu gewinnen, wo Grenouille seine Probefuhnchen am 24. Dezember unter den Bunken aushungte und sie am 26. wieder einholte, nachdem nicht weniger als sieben Messen uber ihnen abgesessen worden waren: Ein schauerliches Duftkonglomerat aus Afterschweiß, Menstruationsblut, feuchten Kniekehlen und verkrampften Hunden, durchmischt mit ausgestoßner Atemluft aus tausend chorsingenden und avemarianuschelnden Kehlen und dem beklemmenden Dampf des Weihrauchs und der Myrrhe hatte sich auf den imprugnierten Fetzchen abgebildet: schauerlich in seiner nebulusen, unkonturierten, ubelkeiterregenden Ballung und doch schon unverkennbar menschlich. Den ersten Individualgeruch ergatterte Grenouille im Hospiz der Charite. Es gelang ihm, das eigentlich zur Verbrennung bestimmte Bettlaken eines frisch an Schwindsucht verstorbenen Sucklergesellen zu entwenden, in welchem dieser zwei Monate umhullt gelegen war. Das Tuch war so stark vom Eigentalg des Sucklers durchsogen, dass es dessen Ausdunstungen wie eine Enfleuragepaste absorbiert hatte und direkt der Lavage unterzogen werden konnte. Das Resultat war gespenstisch: Unter Grenouilles Nase erstand der Suckler aus der Weingeistsolution olfaktorisch von den Toten auf, schwebte, wenngleich durch die eigentumliche Reproduktionsmethode und die zahlreichen Miasmen seiner Krankheit schemenhaft entstellt, doch leidlich erkenntlich als individuelles Duftbild im Raum: ein kleiner Mann von dreißig Jahren, blond, mit plumper Nase, kurzen Gliedern, platten kusigen Fußen, geschwollenem Geschlecht, galligem Temperament und fadem Mundgeruch - kein schuner Mensch, geruchlich, dieser Suckler, nicht wert, wie jener kleine Hund, lunger aufbewahrt zu werden. Und dennoch ließ ihn Grenouille eine ganze Nacht lang als Duftgeist durch seine Kabane flattern und schnupperte ihn immer wieder an, begluckt und tiefbefriedigt vom Gefuhl der Macht, die er uber die Aura eines undern Menschen gewonnen hatte. Am nuchsten Tag schuttete er ihn weg. Noch einen Test unternahm er in diesen Wintertagen. Einer stummen Bettlerin, die durch die Stadt zog, bezahlte er einen Franc dafur, dass sie einen Tag lang mit verschiedenen Fett- und ulmischungen pruparierte Luppchen auf der nackten Haut trug. Es fand sich, dass eine Kombination von Lammnierenfett und mehrfach geluutertem Schweins- und Kuhtalg im Verhultnis zwei zu funf zu drei unter Hinzufuhrung geringer Mengen von Jungfernul fur die Aufnahme des menschlichen Geruchs am besten geeignet war. Damit ließ es Grenouille bewenden. Er verzichtete darauf, sich irgendeines lebenden Menschen im ganzen zu bemuchtigen und ihn parfumistisch zu verarbeiten. So etwas wure immer mit Risiken verbunden gewesen und hutte keine neuen Erkenntnisse gebracht. Er wusste, dass er nun die Techniken beherrschte, eines Menschen Duft zu rauben, und es war nicht nutig, dass er es sich erneut bewies. Des Menschen Duft an und fur sich war ihm auch gleichgultig. Des Menschen Duft konnte er hinreichend gut mit Surrogaten imitieren. Was er begehrte, war der Duft gewisser Menschen: jener uußerst seltenen Menschen numlich, die Liebe inspirieren. Diese waren seine Opfer.

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Im Januar ehelichte die Witwe Arnulfi ihren ersten Gesellen Dominique Druot, der damit zum Maitre Gantier et Parfumeur avancierte. Es gab ein großes Essen fur die Gildenmeister, ein bescheideneres fur die Gesellen, Madame kaufte eine neue Matratze fur ihr Bett, das sie nun offiziell mit Druot teilte, und holte ihre bunte Garderobe aus dem Schrank. Sonst blieb alles beim alten. Sie behielt den guten alten Namen Arnulfi bei, behielt das ungeteilte Vermugen, die finanzielle Leitung des Geschufts und die Schlussel zum Keller; Druot erfullte tuglich seine sexuellen Pflichten und erfrischte sich danach beim Wein; und Grenouille, obwohl nun erster und einziger Geselle, verrichtete das Gros der anfallenden Arbeit fur unverundert kleinen Lohn, bescheidene Verpflegung und karge Unterkunft. Das Jahr begann mit der gelben Flut von Kassien, mit Hyazinthen, Veilchenblute und narkotischen Narzissen. An einem Sonntag im Murz - es mochte etwa ein Jahr seit seiner Ankunft in Grasse vergangen sein - machte sich Grenouille auf, nach dem Stand der Dinge im Garten hinter der Mauer am anderen Ende der Stadt zu sehen. Er war diesmal auf den Duft vorbereitet, wusste ziemlich genau, was ihn erwartete... und doch, als er sie dann erwitterte, an der Porte Neuve schon, auf halbem Wege erst zu jener Stelle an der Mauer, da klopfte sein Herz lauter, und er spurte, wie das Blut in seinen Adern prickelte vor Gluck: sie war noch da, die unvergleichlich schune Pflanze, sie hatte den Winter unbeschadet uberdauert, stand im Saft, wuchs, dehnte sich, trieb pruchtigste Blutenstunde! Ihr Duft war, wie er es erwartet hatte, kruftiger geworden, ohne an Feinheit einzubußen. Was noch vor einem Jahr sich zart versprenkelt und vertrupfelt hatte, war nun gleichsam legiert zu einem leicht pastosen Duftfluss, der in tausend Farben schillerte und trotzdem jede Farbe band und nicht mehr abriss. Und dieser Fluss, so stellte Grenouille selig fest, speiste sich aus sturker werdender Quelle. Ein Jahr noch, nur noch ein Jahr, nur noch zwulf Monate, dann wurde diese Quelle uberborden, und er kunnte kommen, sie zu fassen und den wilden Ausstoß ihres Duftes einzufangen. Er lief an der Mauer entlang bis zur bewussten Stelle, hinter der sich der Garten befand. Obwohl das Mudchen offenbar nicht im Garten, sondern im Haus war, in einer Kammer hinter geschlossenen Fenstern, wehte ihr Duft wie eine stete sanfte Brise herab. Grenouille stand ganz still. Er war nicht berauscht oder benommen wie das erste Mal, als er sie gerochen hatte. Er war vom Glucksgefuhl des Liebhabers erfullt, der seine Angebetete von fern belauscht oder beobachtet und weiß, er wird sie heimholen ubers Jahr. Wahrhaftig, Grenouille, der soliture Zeck, das Scheusal, der Unmensch Grenouille, der Liebe nie empfunden hatte und Liebe niemals inspirieren konnte, stand an jenem Murztag an der Stadtmauer von Grasse und liebte und war zutiefst begluckt von seiner Liebe. Freilich liebte er nicht einen Menschen, nicht etwa das Mudchen im Haus dort hinter der Mauer. Er liebte den Duft. Ihn allein und nichts anderes, und ihn nur als den kunftigen eigenen. Er wurde ihn heimholen ubers Jahr, das schwor er sich bei seinem Leben. Und nach diesem absonderlichen Gelubnis, oder Verlubnis, diesem sich selbst und seinem kunftigen Duft gegebenen Treueversprechen, verließ er den Ort frohgemut und kehrte durch die Porte du Cours in die Stadt zuruck. Als er nachts in der Kabane lag, holte er den Duft noch einmal aus der Erinnerung herauf- er konnte der Versuchung nicht widerstehen - und tauchte in ihm unter, liebkoste ihn und ließ sich selbst von ihm liebkosen, so eng, so traumhaft nah, als besuße er ihn schon wirklich, seinen Duft, seinen eigenen Duft, und er liebte ihn an sich und sich durch ihn eine berauschte kustliche Weile lang. Er wollte dieses selbstverliebte Gefuhl mit in den Schlaf hinubernehmen. Aber gerade m dem Moment, als er die Augen schloss und nur noch einen Atemzug lang Zeit gebraucht hutte, um einzuschlummern, da verließ es ihn, war plutzlich weg, und anstatt seiner stand der kalte scharfe Ziegenstallgeruch im Raum. Grenouille schrak auf. "Was ist", so dachte er, "wenn dieser Duft, den ich besitzen werde... was ist, wenn er zu Ende geht? Es ist nicht wie in der Erinnerung, wo alle Dufte unvergunglich sind. Der wirkliche verbraucht sich an die Welt. Er ist fluchtig. Und wenn er aufgebraucht sein wird, dann wird es die Quelle, aus der ich ihn genommen habe, nicht mehr geben. Und ich werde nackt sein wie zuvor und mir mit meinen Surrogaten weiterhelfen mussen. Nein, schlimmer wird es sein als zuvor! Denn ich werde ja inzwischen ihn gekannt und besessen haben, meinen eigenen herrlichen Duft, und ich werde ihn nicht vergessen kunnen, denn ich vergesse nie einen Duft. Und also werde ich zeitlebens von meiner Erinnerung an ihn zehren, wie ich schon jetzt, fur einen Moment, aus meiner Vorerinnerung an ihn, den ich besitzen werde, gezehrt habe... Wozu also brauche ich ihn uberhaupt?" Dieser Gedanke war Grenouille uußerst unangenehm. Es erschreckte ihn maßlos, dass er den Duft, den er noch nicht besaß, wenn er ihn besuße, unweigerlich wieder verlieren musste. Wie lange wurde er vorhalten? Einige Tage? Ein paar Wochen? Vielleicht einen Monat lang, wenn er sich ganz sparsam damit parfumierte? Und dann? Er sah sich schon den letzten Tropfen aus der Flasche schutteln, den Flakon mit Weingeist spulen, damit auch nicht der kleinste Rest verlorenginge, und sah dann, roch es, wie sich sein geliebter Duft fur immer und unwiederbringlich verfluchtigte. Es wurde sein wie ein langsames Sterben, eine Art umgekehrten Erstickens, ein qualvolles allmuhliches Hinausverdunsten seiner selbst in die grußliche Welt. Er frustelte. Es uberkam ihn das Verlangen, seine Plune aufzugeben, hinaus in die Nacht zu gehen und davonzuziehen. uber die verschneiten Berge wollte er wandern, ohne Rast, hundert Meilen weit in die Auvergne, und dort in seine alte Huhle kriechen und sich zutode schlafen. Aber er tat es nicht. Er blieb sitzen und gab dem Verlangen nicht nach, obwohl es stark war. Er gab ihm nicht nach, weil es ein altes Verlangen von ihm war, davonzuziehen und sich in einer Huhle zu verkriechen. Erkannte das schon. Was er allerdings noch nicht kannte, war der Besitz eines menschlichen Duftes, so herrlich wie der Duft des Mudchens hinter der Mauer. Und wenn er auch wusste, dass er den Besitz dieses Duftes mit seinem anschließenden Verlust wurde entsetzlich teuer bezahlen mussen, so schienen ihm doch Besitz und Verlust begehrenswerter als der lapidare Verzicht auf beides. Denn verzichtet hatte er Zeit seines Lebens. Besessen und verloren aber noch nie. Allmuhlich wichen die Zweifel und mit ihnen das Frusteln. Er spurte, wie das warme Blut ihn wieder belebte und wie der Wille, das zu tun, was er sich vorgenommen hatte, wieder Besitz von ihm ergriff. Und zwar muchtiger als zuvor, da dieser Wille nun nicht mehr einer reinen Begierde entsprang, sondern dazu noch einem erwogenen Entschluss. Der Zeck Grenouille, vor die Wahl gestellt, in sich selbst zu vertrocknen oder sich fallenzulassen, entschied sich fur das zweite, wohl wissend, dass dieser Fall sein letzter sein wurde. Er legte sich aufs Lager zuruck, wohlig ins Stroh, wohlig unter die Decke, und kam sich sehr heroisch vor. Grenouille wure aber nicht Grenouille gewesen, wenn ihn ein fatalistisch-heroisches Gefuhl lange befriedigt hutte. Dazu besaß er einen zu zuhen Selbstbehauptungswillen, ein zu durchtriebenes Wesen und einen zu raffinierten Geist. Gut - er hatte sich entschlossen, jenen Duft des Mudchens hinter der Mauer zu besitzen. Und wenn er ihn nach wenigen Wochen wieder verlure und an dem Verlust sturbe, so sollte auch das gut sein. Besser aber wure es, nicht zu sterben und den Duft trotzdem zu besitzen, oder zumindest seinen Verlust so lange als irgend muglich hinauszuzugern. Man musste ihn haltbarer machen. Man musste seine Fluchtigkeit bannen, ohne ihm seinen Charakter zu rauben - ein parfumistisches Problem. Es gibt Dufte, die haften jahrzehntelang. Ein mit Moschus eingeriebener Schrank, ein mit Zimtul getrunktes Stuck Leder, eine Amberknolle, ein Kustchen aus Zedernholz besitzen geruchlich fast das ewige Leben. Und andere - Limettenul, Bergamotte, Narzissen- und Tuberosenextrakte und viele Blutendufte verhauchen sich schon nach wenigen Stunden, wenn man sie rein und ungebunden der Luft aussetzt. Der Parfumeur begegnet diesem fatalen Umstand, indem er die allzu fluchtigen Dufte durch haftende bindet, ihnen also gleichsam Fesseln anlegt, die ihren Freiheitsdrang zugeln, wobei die Kunst darin besteht, die Fesseln so locker zu lassen, dass der gebundene Geruch seine Freiheit scheinbar behult, und sie doch so eng zu schnuren, dass er nicht fliehen kann. Grenouille war dieses Kunststuck einmal in perfekter Weise beim Tuberosenul gelungen, dessen ephemeren Duft er mit winzigen Mengen von Zibet, Vanille, Labdanum und Zypresse gefesselt und damit erst recht eigentlich zur Geltung gebracht hatte. Warum sollte etwas uhnliches nicht auch mit dem Duft des Mudchens muglich sein? Weshalb sollte er diesen kostbarsten und fragilsten aller Dufte pur verwenden und verschwenden? Wie plump! Wie außerordentlich unraffiniert! Ließ man Diamanten ungeschliffen? Trug man Gold in Brocken um den Hals? War er, Grenouille, etwa ein primitiver Duftstoffruuber wie Druot und wie die anderen Mazeratoren, Destillierer und Blutenquetscher? Oder war er nicht vielmehr der grußte Parfumeur der Welt? Er schlug sich vor den Kopf vor Entsetzen, dass er nicht schon fruher darauf gekommen war: Naturlich durfte dieser einzigartige Duft nicht roh verwendet werden. Er musste ihn fassen wie den kostbarsten Edelstein. Ein Duftdiadem musste er schmieden, an dessen erhabenster Stelle, zugleich eingebunden in andere Dufte und sie beherrschend, sein Duft strahlte. Ein Parfum wurde er machen nach allen Regeln der Kunst, und der Duft des Mudchens hinter der Mauer sollte die Herznote sein. Als Adjuvantien freilich, als Basis-, Mittel- und Kopfnote, als Spitzengeruch und als Fixateur waren nicht Moschus und Zibet, nicht Rosenul oder Neroli geeignet, das stand fest. Fur ein solches Parfum, fur ein Menschenparfum, bedurfte es anderer Ingredienzen.

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Im Mai desselben Jahres fand man in einem Rosenfeld, halben Wegs zwischen Grasse und dem ustlich gelegenen Flecken Opio, die nackte Leiche eines funfzehnjuhrigen Mudchens. Es war mit einem Knuppelhieb auf den Hinterkopf erschlagen worden. Der Bauer, der es entdeckt hatte, war von dem grausigen Fund so verwirrt, dass er sich fast selbst in Verdacht brachte, indem er dem Polizeilieutenant mit zitternder Stimme meldete, er habe so etwas Schunes noch nie gesehen - wo er doch eigentlich hatte sagen wollen, er habe so etwas Entsetzliches noch nie gesehen. Tatsuchlich war das Mudchen von exquisiter Schunheit. Es gehurte jenem schwerblutigen Typ von Frauen an, die wie aus dunklem Honig sind, glatt und suß und ungeheuer klebrig; die mit einer zuhflussigen Geste, einem Haarwurf, einem einzigen langsamen Peitschenschwung ihres Blickes den Raum beherrschen und dabei ruhig wie im Zentrum eines Wirbelsturmes stehen, der eigenen Gravitationskraft scheinbar unbewusst, mit der sie Sehnsuchte und Seelen von Munnern wie von Frauen unwiderstehlich an sich reißen. Und sie war jung, blutjung, der Reiz des Typus war noch nicht ins Sumige verflossen. Noch waren ihre schweren Glieder glatt und fest, die Bruste wie aus dem Ei gepellt, und ihr fluchiges Gesicht, vom schwarzen starken Haar umflogen, besaß noch zarteste Konturen und geheimste Stellen. Das Haar selbst freilich war weg. Der Murder hatte es ihr abgeschnitten und mitgenommen, ebenso wie die Kleider. Man verduchtigte die Zigeuner. Den Zigeunern war alles zuzutrauen. Zigeuner woben bekanntlich Teppiche aus alten Kleidern und stopften Menschenhaar in ihre Kissen und fertigten aus Haut und Zuhnen von Gehenkten kleine Puppen. Fur ein so perverses Verbrechen kamen nur Zigeuner in Frage. Es waren aber zu der Zeit keine Zigeuner da, weit und breit nicht, das letzte Mal hatten Zigeuner die Gegend im Dezember durchzogen. In Ermangelung von Zigeunern verduchtigte man daraufhin italienische Wanderarbeiter. Italiener waren aber auch keine da, fur sie war es zu fruh im Jahr, sie wurden erst im Juni zur Jasminernte ins Land kommen, sie konnten's also nicht gewesen sein. Schließlich gerieten die Peruckenmacher in Verdacht, bei denen man nach dem Haar des ermordeten Mudchens fahndete. Vergeblich. Dann sollten es die Juden gewesen sein, dann die angeblich geilen Munche des Benediktinerklosters - die freilich alle schon weit uber siebzig waren -, dann die Zisterzienser, dann die Freimaurer, dann die Geisteskranken aus der Charitu, dann die Kuhler, dann die Bettler und zu guter Letzt der sittenlose Adel, insbesondere der Marquis von Cabris, denn der war schon zum dritten Mal verheiratet, veranstaltete, wie es hieß, in seinen Kellern orgiastische Messen und trank dabei Jungfrauenblut, um seine Potenz zu steigern. Konkretes ließ sich freilich nicht beweisen. Niemand hatte den Mord beobachtet, Kleider und Haare der Toten wurden nicht gefunden. Nach einigen Wochen stellte der Polizeilieutenant seine Nachforschungen ein. Mitte Juni kamen die Italiener, viele mit ihren Familien, um sich als Pflucker zu verdingen. Die Bauern beschuftigten sie zwar, verboten aber, eingedenk des Mordes, ihren Frauen und Tuchtern den Umgang mit ihnen. Sicher war sicher. Denn obwohl die Wanderarbeiter fur den geschehenen Mord tatsuchlich nicht verantwortlich waren, so hutten sie doch prinzipiell dafur verantwortlich sein kunnen, und deshalb war es besser, vor ihnen auf der Hut zu sein. Nicht lange nach Beginn der Jasminernte geschahen zwei weitere Morde. Wieder waren die Opfer bildschune Mudchen, wieder gehurten sie jenem schwerblutigen schwarzhaarigen Typus an, wieder fand man sie nackt und geschoren und mit einer stumpfen Wunde am Hinterkopf in den Blumenfeldern liegen. Wieder fehlte vom Tuter jede Spur. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer, und es drohten schon Feindseligkeiten gegen das zugezogene Volk auszubrechen, als bekannt wurde, dass beide Opfer Italienerinnen waren, Tuchter eines Genueser Tagluhners. Nun legte sich die Furcht uber das Land. Die Leute wussten nicht mehr, auf wen sie ihre ohnmuchtige Wut richten sollten. Wohl gab es noch welche, die die Irren oder den obskuren Marquis verduchtigten, aber so recht wollte niemand daran glauben, denn jene standen Tag und Nacht unter Aufsicht, und dieser war schon vor langer Zeit nach Paris abgereist. Also ruckte man nuher zusammen. Die Bauern uffneten den Zugewanderten, die bis dahin auf freiem Feld gelagert hatten, ihre Scheunen. Die Studter richteten in jedem Viertel einen nuchtlichen Patrouillendienst ein. Der Polizeilieutenant versturkte die Wachen an den Toren. Doch alle Vorkehrungen nutzten nichts. Wenige Tage nach dem Doppelmord fand man wieder eine Mudchenleiche, ebenso zugerichtet wie die vorigen. Diesmal handelte es sich um eine sardische Wuscherin aus dem bischuflichen Palais, die nahe dem großen Wasserbecken an der Fontaine de la Foux, also direkt vor den Toren der Stadt, erschlagen worden war. Und obwohl die Konsuln, von der erregten Burgerschaft gedrungt, weitere Maßnahmen ergriffen - schurfste Kontrollen an den Toren, Versturkung der Nachtwachen, Ausgangsverbot fur alle weiblichen Personen nach Einbruch der Dunkelheit -, verging in diesem Sommer keine Woche mehr, in der nicht die Leiche eines jungen Mudchens gefunden wurde. Und immer waren es solche, die gerade erst begonnen hatten, Frauen zu sein, und immer waren es die schunsten und meist jener dunkle, haftende Typus. - Obwohl der Murder bald auch nicht mehr den in der einheimischen Bevulkerung vorherrschenden weichen, weißhuutigen und etwas beleibteren Mudchenschlag verschmuhte. Sogar brunette, sogar dunkelblonde - sofern sie nicht zu mager waren - fielen ihm neuerdings zum Opfer. Er spurte sie uberall auf, nicht mehr nur im Umland von Grasse, sondern mitten in der Stadt, ja sogar in den Huusern. Die Tochter eines Tischlers wurde in ihrer Kammer im funften Stock erschlagen aufgefunden, und niemand im Haus hatte das geringste Geruusch gehurt, und keiner der Hunde, die sonst jeden Fremden witterten und verbellten, hatte angeschlagen. Der Murder schien unfassbar, kurperlos, wie ein Geist zu sein. Die Menschen empurten sich und beschimpften die Obrigkeit. Das kleinste Gerucht fuhrte zu Zusammenrottungen. Ein fahrender Hundler, der Liebespulver und andere Quacksalbereien verkaufte, wurde fast massakriert, denn es hieß, seine Mittelchen enthielten gemahlenes Mudchenhaar. Auf das Hotel de Cabris und auf das Hospiz der Charitu wurden Brandanschluge verubt. Der Tuchhundler Alexandre Misnard erschoss seinen eigenen Hausdiener bei dessen nuchtlicher Heimkehr, weil er ihn fur den beruchtigten Mudchenmurder hielt. Wer es sich leisten konnte, schickte seine heranwachsenden Tuchter zu entfernten Verwandten oder in Pensionate nach Nizza, Aix oder Marseille . Der Polizeilieutenant wurde auf Drungen des Stadtrats seines Postens enthoben. Sein Nachfolger ließ die Leichen der geschorenen Schunheiten von einem urztekollegium auf ihren virginalen Zustand untersuchen. Es fand sich, dass sie alle unberuhrt geblieben waren. Sonderbarerweise vermehrte diese Erkenntnis das Entsetzen, anstatt es zu mindern, denn insgeheim hatte jedermann angenommen, dass die Mudchen missbraucht worden seien. Man hutte dann wenigstens ein Motiv des Murders gekannt. Nun wusste man nichts mehr, nun war man vullig ratlos. Und wer an Gott glaubte, rettete sich ins Gebet, es muge doch wenigstens das eigene Haus von der teuflischen Heimsuchung verschont bleiben. Der Stadtrat, ein Gremium der dreißig reichsten und angesehensten Großburger und Adligen von Grasse, in ihrer Mehrzahl aufgeklurte und antiklerikale Herren, die den Bischof bisher einen guten Mann hatten sein lassen und aus den Klustern und Abteien am liebsten Warenlager oder Fabriken gemacht hutten - die stolzen, muchtigen Herren des Stadtrats ließen sich in ihrer Not herbei, Monseigneur den Bischof in einer unterwurfig abgefassten Petition zu bitten, er muge das mudchenmordende Monster, dessen die weltliche Macht nicht habhaft werden kunne, verfluchen und mit Bann belegen, ebenso, wie es sein erlauchter Vorgunger im Jahre 1708 mit den entsetzlichen Heuschrecken gemacht habe, die damals das Land bedrohten. Und in der Tat wurde Ende September der Grasser Mudchenmurder, der bis dahin nicht weniger als vierundzwanzig der schunsten Jungfrauen aus allen Schichten des Volkes hinweggerafft hatte, per schriftlichem Anschlag sowie mundlich von sumtlichen Kanzeln der Stadt, darunter der Kanzel von Notre-Dame-du-Puy, durch den Bischof persunlich in feierlichen Bann und Fluch getan. Der Erfolg war durchschlagend. Die Morde hurten auf, von einem Tag zum anderen. Oktober und November vergingen ohne Leiche. Anfang Dezember kamen Berichte aus Grenoble, dass dort neuerdings ein Mudchenmurder umgehe, der seine Opfer erdrossle und ihnen die Kleider in Fetzen vom Leibe und die Haare in Buscheln vom Kopfe reiße. Und obwohl diese grobschluchtigen Verbrechen keineswegs in Einklang mit den sauber ausgefuhrten Grasser Morden standen, war doch alle Welt davon uberzeugt, es handle sich um ein und denselben Tuter. Die Grasser schlugen drei Kreuze vor Erleichterung, dass die Bestie nicht mehr bei ihnen, sondern im sieben Tagereisen entfernten Grenoble wutete. Sie organisierten einen Fackelzug zu Ehren des Bischofs und hielten am 24. Dezember einen großen Dankgottesdienst ab. Zum 1. Januar 1766 wurden die versturkten Sicherheitsvorkehrungen gelockert und die nuchtliche Ausgangssperre fur Frauen aufgehoben. Mit unglaublicher Schnelligkeit kehrte die Normalitut ins uffentliche und private Leben zuruck. Die Angst war wie weggeblasen, niemand redete mehr von dem Grauen, das noch vor wenigen Monaten Stadt und Umland beherrscht hatte. Nicht einmal in den betroffenen Familien sprach man noch davon. Es war, als habe der bischufliche Fluch nicht nur den Murder, sondern auch jede Erinnerung an ihn verbannt. Und den Menschen war es recht so. Nur wer eine Tochter hatte, die gerade in das wundersame Alter kam, der ließ sie immer noch nicht gerne ohne Aufsicht, dem wurde bange, wenn es dummerte, und morgens, wenn er sie gesund und munter vorfand, war er glucklich - freilich ohne sich den Grund dafur recht eingestehen zu wollen.

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Einen Mann aber gab es in Grasse, der traute dem Frieden nicht. Er hieß Antoine Richis, bekleidete das Amt des Zweiten Konsuls und wohnte in einem stattlichen Anwesen am Beginn der Rue Droite. Richis war Witwer und hatte eine Tochter namens Laure. Obwohl keine vierzig Jahre alt und von ungebrochner Vitalitut, gedachte er eine neuerliche Verehelichung noch einige Zeit hinauszuschieben. Erst wollte er seine Tochter an den Mann bringen. Und zwar nicht an den ersten besten, sondern an einen von Stande. Es gab da einen Baron von Bouyon, Besitzer eines Sohnes und eines Lehens bei Vence, von guter Reputation und lausiger Finanzlage, mit dem Richis schon Abmachungen uber eine kunftige Heirat der Kinder getroffen hatte. Wenn Laure dann unter der Haube wure, wollte er selbst seine freierlichen Fuhler in Richtung der hochangesehenen Huuser Dree, Maubert oder Fontmichel ausstrecken - nicht weil er eitel war und auf Teufel komm raus ein adeliges Bettgemahl besitzen musste, sondern weil er eine Dynastie grunden und seine Nachkommenschaft auf ein Geleise setzen wollte, welches zu huchstem gesellschaftlichem Ansehen und politischem Einfluss fuhrte. Dazu brauchte er noch mindestens zwei Suhne, deren einer sein Geschuft ubernahm, wuhrend der andere via juristische Laufbahn und das Parlament in Aix selbst in den Adel aufruckte. Solche Ambitionen konnte er jedoch als Mann seines Standes nur dann mit Aussicht auf Erfolg hegen, wenn er seine Person und seine Familie aufs engste mit der provenzalischen Nobilitut verband. Was ihn uberhaupt zu derartig hochfliegenden Plunen berechtigte, war sein sagenhafter Reichtum. Antoine Richis war der mit Abstand vermugendste Burger weit und breit. Er besaß Latifundien nicht nur im Grasser Raum, wo er Orangen, ul, Weizen und Hanf anbauen ließ, sondern auch bei Vence und gegen Antibes zu, wo er verpachtet hatte. Er besaß Huuser in Aix, Huuser auf dem Lande, Anteile an Schiffen, die nach Indien fuhren, ein stundiges Kontor in Genua und das grußte Handelslager fur Duftstoffe, Spezereien, ule und Leder Frankreichs. Das Kostbarste jedoch, was Richis besaß, war seine Tochter. Sie war sein einziges Kind, gerade sechzehn Jahre alt, mit dunkelroten Haaren und grunen Augen. Sie hatte ein so entzuckendes Gesicht, dass Besucher jeden Alters und Geschlechts augenblicks erstarrten und den Blick nicht mehr von ihr nehmen konnten, ihr Gesicht geradezu leckten mit den Augen, als leckten sie Eis mit der Zunge, und dabei den fur solch leckende Beschuftigung typischen Ausdruck von dummlicher Hingegebenheit annahmen. Selbst Richis, wenn er die eigne Tochter ansah, ertappte sich dabei, dass er fur unbestimmte Zeit, fur eine Viertelstunde, fur eine halbe Stunde vielleicht, die Welt und damit seine Geschufte vergaß - was ihm sonst nicht einmal im Schlaf passierte -, sich vollkommen aufluste in des herrlichen Mudchens Betrachtung und hinterher nicht mehr zu sagen wusste, was er eigentlich getan hatte. Und neuerdings - er nahm es mit Unbehagen wahr -, abends beim Zubettbringen oder manchmal morgens, wenn er ging, um sie zu wecken, und sie lag noch schlafend, wie von Gotteshunden hingelegt, und durch den Schleier ihres Nachtgewands druckten sich die Formen ihrer Huften und ihrer Bruste ab, und aus dem Geviert von Busen, Achselschwung, Ellenbogen und glattem Unterarm, in das sie ihr Gesicht gelegt hatte, stieg ihr ausgestoßner Atem ruhig und heiß... - da ballte es sich ihm elend im Magen, und die Kehle wurde ihm eng, und er schluckte, und, weiß Gott! er verfluchte sich, dass er der Vater dieser Frau war und nicht ein Fremder, nicht irgendein Mann, vor dem sie so luge wie jetzt vor ihm, und der sich ohne Bedenken an sie, auf sie, in sie legen kunnte mit all seiner Begehrlichkeit. Und der Schweiß brach ihm aus, und seine Glieder zitterten, indes er diese grauenvolle Lust in sich erwurgte und sich hinabbeugte zu ihr, um sie mit keuschem vuterlichem Kuss zu wecken. Im vergangenen Jahr, zur Zeit der Morde, waren solch fatale Anfechtungen noch nicht uber ihn gekommen. Der Zauber, den seine Tochter damals auf ihn ausgeubt hatte, war - so wollte ihm wenigstens scheinen - noch ein kindlicher Zauber gewesen. Und deshalb hatte er auch nie ernstlich befurchtet, dass Laure Opfer jenes Murders werden kunnte, der, wie man wusste, weder Kinder noch Frauen, sondern ausschließlich erwachsene jungfruuliche Mudchen anfiel. Zwar hatte er die Bewachung seines Hauses versturkt, die Fenster des Obergeschosses mit neuen Gittern versehen lassen und die Zofe angewiesen, ihre Schlafkammer mit Laure zu teilen. Aber es widerstrebte ihm, sie wegzuschicken, wie es seine Standesgenossen mit ihren Tuchtern, ja sogar mit ihren ganzen Familien taten. Er fand dieses Verhalten veruchtlich und unwurdig eines Mitglieds des Rates und Zweiten Konsuln, der, wie er meinte, seinen Mitburgern ein Vorbild an Gelassenheit, Mut und Unbeugsamkeit sein sollte. Außerdem war er ein Mann, der sich seine Entschlusse nicht von anderen vorschreiben ließ, nicht von einer in Panik geratenen Menge und schon gar nicht von einem einzelnen anonymen Lump von Verbrecher. Und so war er wuhrend der ganzen schrecklichen Zeit einer der wenigen in der Stadt gewesen, die gegen das Fieber der Angst gefeit waren und einen kuhlen Kopf behielten. Doch dies, sonderbarerweise, underte sich nun. Wuhrend numlich die Menschen draußen, als hutten sie den Murder schon gehenkt, das Ende seines Treibens feierten und die unselige Zeit bald ganz vergaßen, kehrte in das Herz Antoine Richis' die Angst ein wie ein hußliches Gift. Lange Zeit wollte er sich's nicht zugeben, dass es die Angst war, die ihn bewog, lungst fullige Reisen hinauszuzugern, ungern das Haus zu verlassen, Besuche und Sitzungen abzukurzen, damit er nur rasch wieder heimkehren kunne. Er entschuldigte sich vor sich selbst mit Unpußlichkeit und uberarbeitung, gestand sich wohl auch zu, dass er ein wenig besorgt sei, wie eben jeder Vater besorgt ist, der eine Tochter in mannbarem Alter besitzt, eine durchaus normale Sorge... War denn nicht schon der Ruhm ihrer Schunheit nach draußen gedrungen? Reckten sich nicht schon die Hulse, wenn man mit ihr sonntags in die Kirche ging? Machten nicht schon gewisse Herren im Rat Avancen, im eigenen Namen oder in dem ihrer Suhne...?

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Aber dann, eines Tages im Murz, saß Richis im Salon und sah, wie Laure hinaus in den Garten ging. Sie trug ein blaues Kleid, uber das ihr rotes Haar fiel, es loderte im Sonnenlicht, er hatte sie noch nie so schun gesehen. Hinter einer Hecke verschwand sie. Und dann dauerte es vielleicht nur zwei Herzschluge lunger, als er erwartet hatte, bevor sie wieder auftauchte - und er war zutode erschrocken, denn er hatte zwei Herzschluge lang gedacht, er habe sie fur immer verloren. In der gleichen Nacht wachte er aus einem entsetzlichen Traum auf, an dessen Inhalt er sich nicht mehr erinnern konnte, der aber mit Laure zu tun hatte, und er sturzte in ihr Zimmer, uberzeugt, sie sei tot, luge gemordet, geschundet und geschoren im Bett - und fand sie unversehrt. Er ging zuruck in sein Gemach, schweißnass und bebend vor Aufregung, nein, nicht vor Aufregung, sondern vor Angst, jetzt endlich gestand er es sich ein, dass die schiere Angst ihn gepackt hatte, und indem er es sich eingestand, wurde er ruhiger und klarer im Kopf. Wenn er ehrlich war, so hatte er von Anfang an nicht an die Wirkung des bischuflichen Bannfluchs geglaubt; auch nicht daran, dass der Murder jetzt in Grenoble umgehe; auch nicht daran, dass er die Stadt uberhaupt verlassen hatte. Nein, er lebte noch hier, mitten unter den Grassern, und irgendwann wurde er wieder zuschlagen. Im August und September hatte Richis einige der ermordeten Mudchen gesehen. Der Anblick hatte ihn entsetzt und zugleich, wie er zugeben musste, fasziniert, denn sie waren alle, und jede auf sehr spezielle Weise, von ausgesuchter Schunheit gewesen. Niemals hutte er gedacht, dass es in Grasse so viel unerkannte Schunheit gab. Der Murder hatte ihm die Augen geuffnet. Der Murder besaß einen exquisiten Geschmack. Und er besaß ein System. Nicht nur, dass die Morde alle auf die gleiche ordentliche Weise ausgefuhrt waren, auch die Wahl der Opfer verriet eine beinahe ukonomisch planende Absicht. Zwar wusste Richis nicht, was der Murder eigentlich von seinem Opfer begehrte, denn ihr Bestes: die Schunheit und den Reiz ihrer Jugend konnte er ihnen ja nicht geraubt haben... oder doch? Auf jeden Fall aber schien ihm der Murder, so absurd das klingen mochte, kein destruktiver Geist zu sein, sondern ein sorgfultig sammelnder. Wenn man sich numlich - so dachte Richis all die Opfer nicht mehr als einzelne Individuen, sondern als Teile eines huheren Prinzips vorstellte und sie wie in idealistischer Weise ihre jeweiligen Eigenschaffen als zu einem einheitlichen Ganzen verschmolzen duchte, dann musste das aus solchen Mosaiksteinen zusammengesetzte Bild das Bild der Schunheit schlechthin sein, und der Zauber, der von ihm ausginge, wure nicht mehr von menschlicher, sondern von guttlicher Art. (Wie wir sehen, war Richis ein aufgeklurt denkender Mensch, der auch vor blasphemischen Schlussfolgerungen nicht zuruckschreckte, und wenn er nicht in geruchlichen, sondern in optischen Kategorien dachte, so kam er doch der Wahrheit sehr nahe.) Gesetzt nun den Fall - so dachte Richis weiter -, der Murder war solch ein Sammler von Schunheit und arbeitete am Bildnis der Vollkommenheit, und sei es auch nur in der Phantasie seines kranken Hirns; gesetzt ferner, er war ein Mann von huchstem Geschmack und perfekter Methode, wie er es in der Tat zu sein schien, dann konnte man nicht annehmen, dass er auf den kostbarsten Baustein zu jenem Bildnis verzichtete, den es auf Erden zu finden gab: auf die Schunheit von Laure. Sein ganzes bisheriges Mordwerk wure nichts wert ohne sie. Sie war der Schlussstein seines Gebuudes. Richis, wuhrend er diese entsetzliche Folgerung zog, saß im Nachtgewand auf seinem Bett und wunderte sich daruber, wie ruhig er geworden war. Er frustelte und zitterte nicht mehr. Die unbestimmte Angst, die ihn seit Wochen geplagt hatte, war verschwunden und dem Bewusstsein einer konkreten Gefahr gewichen: Des Murders Sinn und Trachten war ganz offenbar auf Laure gerichtet, von Anfang an. Und alle andern Morde waren Beiwerk fur diesen letzten krunenden Mord. Zwar blieb unklar, welchen materiellen Zweck die Morde haben sollten und ob sie einen solchen uberhaupt besaßen. Aber das Wesentliche, numlich des Murders systematische Methode und sein ideelles Motiv, hatte Richis durchschaut. Und je lunger er daruber nachdachte, desto besser gefielen ihm beide und desto grußer wurde seine Hochachtung vor dem Murder - eine Hochachtung freilich, die sogleich wie aus einem blanken Spiegel auf ihn selbst zuruckstrahlte, denn immerhin war er, Richis, es ja gewesen, der mit seinem feinen analytischen Verstand dem Gegner auf die Schliche gekommen war. Wenn er, Richis, selbst ein Murder wure und von des Murders selben leidenschaftlichen Ideen besessen, hutte er auch nicht anders vorgehen kunnen, als jener bisher vorgegangen war, und wurde wie dieser alles daransetzen, sein Wahnsinnswerk durch einen Mord an Laure, der herrlichen, der einzigartigen, zu krunen. Dieser letzte Gedanke gefiel ihm ganz besonders gut. Dass er in der Lage war, sich gedanklich in die Lage des kunftigen Murders seiner Tochter zu versetzen, machte ihn dem Murder numlich haushoch uberlegen. Denn der Murder, das stand fest, war bei all seiner Intelligenz gewiss nicht in der Lage, sich in Richis' Lage zu versetzen - und sei's nur, weil er gewiss nicht ahnen konnte, dass Richis sich lungst in seine, des Murders Lage versetzt hatte. Im Grunde war das nicht anders als im Geschuftsleben auch - mutatis mutandis, versteht sich. Einem Konkurrenten, dessen Absichten man durchschaut hatte, war man uberlegen; von ihm ließ man sich nicht mehr aufs Kreuz legen; nicht, wenn man Antoine Richis hieß, mit allen Wassern gewaschen war und eine Kumpfernatur besaß. Schließlich waren ihm der grußte Duftstoffhandel Frankreichs, sein Reichtum und das Amt des Zweiten Konsuls nicht gnadenhalber in den Schoß gefallen, sondern er hatte sie sich erkumpft, ertrotzt, erschlichen, indem er Gefahren beizeiten erkannt, die Plune der Konkurrenten schlau erraten und Widersacher ausgestochen hatte. Und seine kunftigen Ziele, die Macht und Nobilitut seiner Nachkommenschaft, wurde er ebenso erreichen. Und nicht anders wurde er die Plune jenes Murders durchkreuzen, seines Konkurrenten um den Besitz an Laure - und wure es nur deshalb, weil Laure auch den Schlussstein im Gebuude seiner, Richis', eigenen Plune bildete. Er liebte sie, gewiss; aber er brauchte sie auch. Und was er brauchte zur Verwirklichung seiner huchsten Ambitionen, das ließ er sich von niemandem entwinden, das hielt er fest mit Zuhnen und mit Klauen. Nun war ihm wohler. Nachdem es ihm gelungen war, seine nuchtlichen uberlegungen betreffs Kampf mit dem Dumon auf die Ebene einer geschuftlichen Auseinandersetzung herabzudrucken, spurte er, wie frischer Mut, ja ubermut ihn erfasste. Verflogen war der letzte Rest von Angst, verschwunden das Gefuhl von Verzagtheit und grumlicher Sorge, das ihn wie einen senilen Tattergreis gequult hatte, weggeblasen der Nebel von dusteren Ahnungen, in dem er seit Wochen herumtappte. Er befand sich auf vertrautem Terrain und fuhlte sich jeder Herausforderung gewachsen.

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Erleichtert, vergnugt fast, sprang er aus dem Bett, zog am Klingelband und befahl seinem schlaftrunken hereintaumelnden Diener, Kleider und Proviant zu packen, da er geduchte, bei Tagesanbruch in Begleitung seiner Tochter nach Grenoble zu reisen. Dann zog er sich an und scheuchte das ubrige Personal aus den Betten. Mitten in der Nacht erwachte das Haus in der Rue Droite zu emsigem Leben. In der Kuche flammten die Feuer auf, durch die Gunge huschten die aufgeregten Mugde, treppauf treppab eilte der Diener, in den Kellergewulben klapperten die Schlussel des Lagerverwalters, im Hof leuchteten Fackeln, Knechte liefen um Pferde, andere zerrten die Maultiere aus den Stullen, es wurde gezuumt, gesattelt, gerannt und geladen - man hutte glauben kunnen, die austrosardischen Horden seien plundernd und sengend im Anmarsch wie anno 1746 und der Hausherr ruste in panischer Eile zur Flucht. Doch keineswegs! Der Hausherr saß souverun wie ein Marschall von Frankreich am Schreibtisch seines Kontors, trank Milchkaffee und erließ seine Anweisungen an die stundig hereinsturzenden Domestiken. Nebenher schrieb er Briefe an den Burgermeister und Ersten Konsul, an seinen Notar, an seinen Anwalt, an seinen Bankier in Marseille, an den Baron de Bouyon und an diverse Geschuftspartner. Gegen sechs Uhr fruh hatte er die Korrespondenz erledigt und alle zu seinen Plunen notwendigen Verfugungen getroffen. Er steckte zwei kleine Reisepistolen zu sich, schnallte sich seinen Geldgurtel um und sperrte den Schreibtisch zu. Dann ging er seine Tochter wecken. Um acht setzte sich die kleine Karawane in Bewegung. Richis ritt voran, er war pruchtig anzusehen in einem weinroten, goldbetressten Rock, schwarzer Redingote und schwarzem Hut mit kessem Federbusch. Ihm folgte seine Tochter, bescheidener gekleidet, aber so strahlend schun, dass das Volk auf der Straße und an den Fenstern nur Augen fur sie hatte, dass anduchtige Ahs und Ohs durch die Menge gingen und die Munner ihren Hut zogen - scheinbar vor dem zweiten Konsul, in Wahrheit aber vor ihr, der kuniglichen Frau. Dann kam, fast unbeachtet, die Zofe, dann Richis' Diener mit zwei Packpferden - die Verwendung eines Wagens verbot sich wegen des beruchtigt schlechten Zustands der Grenobler Route -, und den Abschluss des Zuges bildeten ein Dutzend mit allen muglichen Waren beladene Maultiere unter Aufsicht zweier Knechte. An der Porte du Cours prusentierten die Wachen das Gewehr und ließen es erst wieder sinken, als das letzte Maultier vorubergetippelt war. Kinder liefen hinterher, noch eine ganze Weile lang, winkten dem Tross nach, der sich langsam auf dem steilen, gewundenen Weg bergwurts entfernte. Auf die Menschen machte der Auszug des Antoine Richis mit seiner Tochter einen seltsam tiefen Eindruck. Ihnen war, als hutten sie einem archaischen Opfergang beigewohnt. Es hatte sich herumgesprochen, dass Richis nach Grenoble reiste, in jene Stadt also, wo neuerdings das mudchenmordende Monster hauste. Die Leute wussten nicht, was sie davon halten sollten. War es struflicher Leichtsinn, was Richis tat, oder bewundernswerter Mut? War es eine Herausforderung oder eine Besunftigung der Gutter? Sie ahnten nur sehr undeutlich, dass sie das schune Mudchen mit den roten Haaren soeben zum letzten Mal gesehen hatten. Sie ahnten, dass Laure Richis verloren war. Diese Ahnung sollte sich als richtig erweisen, obwohl sie auf vullig falschen Voraussetzungen beruhte. Richis zog numlich keineswegs nach Grenoble. Der pompuse Auszug war nichts als eine Finte gewesen. Anderthalb Meilen nordwestlich von Grasse, in der Nuhe des Dorfes Saint-Vallier, ließ er anhalten. Er hundigte seinem Diener Vollmachten und Begleitschreiben aus und befahl ihm, den Maultiertreck allein mit den Knechten nach Grenoble zu bringen. Er selbst wandte sich mit Laure und der Zofe in Richtung Cabris, wo er eine Mittagspause einlegte, und ritt dann quer durch das Gebirge des Tanneron nach Suden. Der Weg war uußerst beschwerlich, aber er gestattete es, Grasse und das Grasser Becken in einem weiten westlichen Bogen zu umgehen und bis zum Abend unerkannt die Kuste zu erreichen... Am folgenden Tag - so Richis' Plan - wollte er sich mit Laure nach den Lerinischen Inseln ubersetzen lassen, auf deren kleinerer sich das wohlbefestigte Kloster Saint-Honorat befand. Es wurde von einem Huuflein greiser, aber noch durchaus wehrfuhiger Munche bewirtschaftet, mit denen Richis gut bekannt war, denn er kaufte und vertrieb schon seit Jahren die gesamte klusterliche Produktion an Eukalyptuslikur, Pinienkernen und Zypressenul. Und eben dort, im Kloster Saint-Honorat, dem neben dem Zuchthaus von Chateau d'If und dem Staatsgefungnis der Ile Sainte-Mar-guerite wohl sichersten Ort der Provence, gedachte er seine Tochter furs erste unterzubringen. Er selbst wurde unverzuglich wieder aufs Festland zuruckkehren, Grasse diesmal via Antibes und Cagnes ustlich umgehen, um noch am Abend desselben Tages in Vence einzutreffen. Dorthin hatte er bereits seinen Notar bestellt zwecks einer zu treffenden Vereinbarung mit dem Baron de Bouyon uber die Verehelichung ihrer Kinder Laure und Alphonse. Er wollte Bouyon ein Angebot machen, das dieser nicht wurde ablehnen kunnen: ubernahme von Schulden in Huhe von 40000 Livre, Mitgift bestehend aus einer Summe in gleicher Huhe sowie diversen Lundereien und einer ulmuhle bei Maganosc, eine juhrliche Rente von 3000 Livre fur das junge Paar. Einzige Bedingung Richis' war, dass die Ehe innerhalb von zehn Tagen eingegangen und am Hochzeitstag vollzogen wurde, und dass das Paar anschließend Wohnung in Vence nahm. Richis wusste, dass er durch ein so eiliges Vorgehen den Preis fur die Verbindung seines Hauses mit dem Haus derer von Bouyon ganz unverhultnismußig in die Huhe trieb. Bei lungerem Zuwarten hutte er sie billiger bekommen. Gebettelt hutte der Baron darum, die Tochter des burgerlichen Großhundlers durch seinen Sohn standesmußig erhuhen zu durfen, denn der Ruhm von Laures Schunheit wurde ja noch wachsen, ebenso wie Richis' Reichtum und wie Bouyons finanzielle Misere. Aber sei's drum! Nicht der Baron war bei diesem Handel der Gegner, sondern der unbekannte Murder war es. Ihm galt es das Geschuft zu versalzen. Eine verheiratete Frau, defloriert und womuglich schon geschwungert, passte nicht mehr in seine exklusive Galerie. Der letzte Mosaikstein wure blind geworden, Laure hutte fur den Murder jeden Wert verloren, sein Werk wure gescheitert. Und diese Niederlage sollte er zu spuren bekommen! Richis wollte die Hochzeit in Grasse abhalten, mit großem Pomp und in aller uffentlichkeit. Und wenn er seinen Gegner auch nicht kannte und niemals kennen wurde, so sollte es ihm doch ein Genuss sein, zu wissen, dass dieser dem Ereignis beiwohnte und mit eignen Augen zusehen musste, wie ihm das Begehrteste vor der Nase weggeschnappt wurde. Der Plan war fein ausgedacht. Und wieder mussen wir Richis' Gespur bewundern, mit dem er der Wahrheit nahekam. Denn in der Tat hutte die Heimfuhrung der Laure Richis durch den Sohn des Baron de Bouyon fur den Grasser Mudchenmurder eine vernichtende Niederlage bedeutet. Aber noch war der Plan nicht verwirklicht. Noch hatte Richis seine Tochter nicht unter die rettende Haube gebracht. Noch hatte er sie nicht in das sichere Kloster von Saint-Honorat ubergesetzt. Noch schlugen sich die drei Reiter durch das unwirtliche Gebirge des Tanneron. Manchmal waren die Wege so schlecht, dass man von den Pferden absitzen musste. Es ging alles sehr langsam. Gegen Abend hofften sie das Meer bei Napoule zu erreichen, einem kleinen Ort westlich von Cannes.

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Zu dem Zeitpunkt, da Laure Richis mit ihrem Vater Grasse verließ, befand sich Grenouille am andern Ende der Stadt im Arnulfischen Atelier und mazerierte Jonquillen. Er war allein, und er war guter Dinge. Seine Zeit in Grasse neigte sich dem Ende zu. Der Tag des Triumphes stand bevor. Draußen in der Kabane lagen in einem wattegepolsterten Kustchen vierundzwanzig winzige Flakons mit der zu Tropfen geronnenen Aura von vierundzwanzig Jungfrauen - kostbarste Essenzen, die Grenouille im vergangenen Jahr durch kalte Fettenfleurage der Kurper, Digerieren von Haaren und Kleidern, Lavage und Destillation gewonnen hatte. Und die funfundzwanzigste, die kustlichste und wichtigste, wollte er sich heute holen. Er hatte schon ein Tiegelchen mit mehrfach gereinigtem Fett, ein Tuch von feinstem Leinen und einen Ballon hochrektifizierten Alkohols fur diesen letzten Fischzug vorbereitet. Das Terrain war aufs genaueste sondiert. Es herrschte Neumond. Er wusste, dass ein Einbruchsversuch in das gut gesicherte Anwesen an der Rue Droite sinnlos war. Deshalb wollte er sich schon bei Anbruch der Dummerung, ehe noch die Tore geschlossen wurden, einschleichen und im Schutz der eigenen Geruchlosigkeit, die ihn wie eine Tarnkappe der Wahrnehmung von Mensch und Tier entzog, in irgendeinem Winkel des Hauses verbergen. Sputer dann, wenn alles schlief, wurde er, vom Kompass seiner Nase durch die Dunkelheit gefuhrt, zur Kammer seines Schatzes hinaufsteigen. Er wurde ihn an Ort und Stelle im fettgetrunkten Tuch verarbeiten. Nur Haar und Kleider wurde er wie gewuhnlich mitnehmen, da diese Teile direkt in Weingeist ausgewaschen werden konnten, was sich bequemer in der Werkstatt machen ließ. Fur die Endverarbeitung der Pomade und das Abdestillieren zu Konzentrat veranschlagte er eine weitere Nacht. Und wenn alles gutging - und er hatte keinen Grund, daran zu zweifeln, dass alles gutgehen wurde -, dann war er ubermorgen im Besitz sumtlicher Essenzen fur das beste Parfum der Welt, und er wurde Grasse verlassen als der bestriechende Mensch auf Erden. Gegen Mittag war er mit seinen Jonquillen fertig. Er luschte das Feuer, deckte den Fettkessel zu und ging vor die Werkstatt, um sich abzukuhlen. Der Wind kam von Westen. Schon mit dem ersten Atemzug merkte er, dass etwas nicht stimmte. Die Atmosphure war nicht in Ordnung. Im Duftkleid der Stadt, diesem vieltausendfudig gewebten Schleier, fehlte der goldene Faden. Wuhrend der letzten Wochen war dieser duftende Faden so kruftig geworden, dass Grenouille ihn sogar noch jenseits der Stadt bei seiner Kabane deutlich wahrgenommen hatte. Jetzt war er weg, verschwunden, durch intensivstes Schnuppern nicht mehr aufzuspuren. Grenouille war wie geluhmt vor Schreck. Sie ist tot, dachte er. Dann, noch entsetzlicher: Es ist mir ein anderer zuvorgekommen. Ein anderer hat meine Blume abgerupft und ihren Duft an sich gebracht! Einen Schrei brachte er nicht heraus, dazu war seine Erschutterung zu groß, aber zu Trunen reichte es, die in seinen Augenwinkeln schwollen und plutzlich beiderseits der Nase herabsturzten. Da kam Druot aus den >Quatre Dauphins< zum Mittagessen nach Hause und erzuhlte en passant, heute fruh sei der Zweite Konsul mit zwulf Maultieren und einer Tochter nach Grenoble gezogen. Grenouille schluckte die Trunen hinunter und rannte davon, quer durch die Stadt zur Porte du Cours. Auf dem Platz vor dem Tor hielt er an und schnupperte. Und im reinen, von den Stadtgeruchen unberuhrten Westwind fand er tatsuchlich seinen goldenen Faden wieder, dunn und schwach zwar, aber dennoch unverkennbar. Allerdings wehte der geliebte Duft nicht von Nordwesten her, wohin die Straße nach Grenoble fuhrte, sondern eher aus Richtung Cabris - wo nicht gar aus Sudwesten. Grenouille fragte die Wache, welche Straße der Zweite Konsul genommen habe. Der Posten wies nach Norden. Nicht die Straße nach Cabris? Oder die andere, die sudlich nach Auribeau und La Napoule fuhrte? - Bestimmt nicht, sagte der Posten, er habe es mit eigenen Augen gesehen. Grenouille rannte zuruck durch die Stadt zu seiner Kabane, packte Leintuch, Pomadentopf, Spatel, Schere und eine kleine glatte Keule aus Olivenholz in seinen Reisesack und machte sich unverzuglich auf den Weg - nicht auf den Weg nach Grenoble, sondern auf den Weg, den ihm seine Nase wies: nach Suden. Dieser Weg, der direkte Weg nach Napoule, fuhrte an den Ausluufern des Tanneron entlang durch die Flusssenken von Frayere und Siagne. Er war bequem zu gehen. Grenouille kam rasch voran. Als zu seiner Rechten Auribeau auftauchte, oben an den Bergkuppen hungend, roch er, dass er die Fluchtenden fast eingeholt hatte. Wenig sputer war er auf gleicher Huhe mit ihnen. Er roch sie jetzt einzeln, er roch sogar den Dunst ihrer Pferde. Sie konnten huchstens eine halbe Meile westlich sein, irgendwo in den Wuldern des Tanneron. Sie hielten nach Suden, aufs Meer zu. Genau wie er. Gegen funf Uhr nachmittag erreichte Grenouille La Napoule. Er ging in das Gasthaus, aß und bat um ein billiges Lager. Er sei ein Gerbergeselle aus Nizza, sagte er, auf dem Weg nach Marseille . Er kunne im Stall nuchtigen, hieß es. Dort legte er sich in eine Ecke und ruhte aus. Er roch, dass die drei Reiter sich nuherten. Er brauchte nur noch zu warten. Zwei Stunden sputer - es dummerte schon stark kamen sie an. Um ihr Inkognito zu wahren, hatten sie die Kleider gewechselt. Die beiden Frauen trugen nun dunkle Gewunder und Schleier, Richis einen schwarzen Rock. Er gab sich als Edelmann aus, kommend von Castellane; morgen wolle er auf die Lerinischen Inseln ubersetzen, der Wirt solle fur ein Boot sorgen, das bei Sonnenaufgang bereitstunde. Ob außer ihm und seinen Leuten noch andere Guste im Haus seien? Nein, sagte der Wirt, nur ein Gerbergeselle aus Nizza, der nuchtige im Stall. Richis schickte die Frauen auf die Zimmer. Er selbst ging in den Stall, um noch etwas aus den Satteltaschen zu holen, wie er sagte. Zunuchst konnte er den Gerbergesellen nicht finden, er musste sich vom Rossknecht eine Laterne geben lassen. Dann sah er ihn, in einem Winkel auf Stroh und einer alten Decke liegend, den Kopf gegen seinen Reisesack gelehnt, tief schlafend. Er sah so vollkommen unscheinbar aus, dass Richis fur einen Moment den Eindruck hatte, er sei gar nicht vorhanden, sondern nur eine von den schwankenden Schatten der Laternenkerze hingeworfene Schimure. Jedenfalls stand fur Richis augenblicklich fest, dass von diesem geradezu ruhrend harmlosen Wesen nicht die geringste Gefahr zu befurchten war, und er entfernte sich leise, um seinen Schlaf nicht zu sturen, und kehrte ins Haus zuruck. Das Abendessen nahm er gemeinsam mit seiner Tochter auf dem Zimmer ein. Er hatte sie uber Zweck und Ziel der seltsamen Reise nicht aufgeklurt, und er tat es auch jetzt nicht, obwohl sie ihn darum bat. Morgen werde er sie einweihen, sagte er, und sie kunne sich darauf verlassen, dass alles, was er plane und tue, zu ihrem Besten und zukunftigen Gluck ausschlagen werde. Nach dem Essen spielten sie einige Partien L'hombre, die er alle verlor, weil er statt in seine Karten immerfort in ihr Gesicht schaute, um sich an ihrer Schunheit zu ergutzen. Gegen neun Uhr brachte er sie in ihr Zimmer, das dem seinen gegenuberlag, kusste sie zur Nacht und versperrte die Ture von außen. Dann ging er selbst zu Bett. Er war mit einem Mal sehr mude von den Anstrengungen des Tages und der vergangenen Nacht und zugleich sehr zufrieden mit sich und dem Gang der Dinge. Ohne den geringsten Gedanken der Sorge, ohne dustere Ahnungen, wie sie ihn noch bis gestern jedesmal nach dem Luschen der Lampe gequult und wach gehalten hatten, schlief er sofort ein, und schlief ohne Traum, ohne Gestuhn, ohne krampfhaftes Zucken oder nervuses Um- und Umwulzen des Kurpers. Zum ersten Mal seit langer Zeit fand Richis einen tiefen, ruhigen, erquickenden Schlaf. Um die gleiche Zeit erhob sich Grenouille von seinem Lager im Stall. Auch er war zufrieden mit sich und dem Gang der Dinge und fuhlte sich uußerst erfrischt, obwohl er keine Sekunde lang geschlafen hatte. Als Richis in den Stall gekommen war, um ihn aufzusuchen, hatte er sich nur schlafend gestellt, um den Eindruck von Harmlosigkeit, den er an und fur sich schon wegen seines Unauffulligkeitsgeruchs ausstrahlte, noch augenscheinlicher zu machen. Anders als Richis ihn, hatte ubrigens er Richis uußerst pruzise wahrgenommen, olfaktorisch numlich, und Richis' Erleichterung angesichts seiner war ihm keineswegs entgangen. Und so hatten sich beide bei ihrer kurzen Begegnung gegenseitig von ihrer Arglosigkeit uberzeugt, zu Unrecht und zu Recht, und das war gut so, wie Grenouille fand, denn seine scheinbare und Richis' wirkliche Arglosigkeit erleichterten ihm, Grenouille, das Geschuft - eine Anschauung ubrigens, die Richis im umgekehrten Fall durchaus geteilt hutte.

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Mit professioneller Beduchtigkeit ging Grenouille ans Werk. Er uffnete den Reisesack, entnahm ihm Leintuch, Pomade und Spatel, breitete das Tuch uber die Decke, auf der er gelegen hatte, und begann es mit der Fettpaste zu bestreichen. Das war eine Arbeit, die ihre Zeit brauchte, denn es kam darauf an, das Fett hier in dickerer, dort in dunnerer Schicht aufzutragen, je nachdem, an welche Stelle des Kurpers die jeweilige Partie des Tuches zu liegen kume. Mund und Achsel, Brust, Geschlecht und Fuße gaben grußere Duftmengen ab als etwa Schienbeine, Rucken und Ellbogen; Handfluchen grußere als Handrucken; Brauen grußere als Lider etc. - und mussten dementsprechend kruftiger mit Fett versehen werden. Grenouille modellierte also gleichsam ein Duftdiagramm des zu behandelnden Kurpers auf das Leintuch, und dieser Teil der Arbeit war ihm eigentlich der befriedigendste, denn es handelte sich um eine kunstlerische Technik, die Sinne, Phantasie und Hunde gleichermaßen beschuftigte und obendrein den Genuss des zu erwartenden Endergebnisses auf ideelle Weise vorwegnahm. Als er das ganze Tupfchen Pomade aufgebraucht hatte, tupfte er noch da und dort, nahm an einer Stelle des Tuches Fett ab, fugte an einer anderen zu, retuschierte, uberprufte noch einmal die modellierte Fettlandschaft - mit der Nase ubrigens, nicht mit den Augen, denn das ganze Geschuft spielte sich in vollkommener Finsternis ab, was vielleicht ein weiterer Grund fur Grenouilles ausgeglichen freudige Stimmung war. In dieser Neumondnacht lenkte ihn nichts ab. Die Welt war nichts als nur Geruch und ein wenig Brandungsgeruusch vom Meer her. Er war in seinem Element. Dann schlug er das Tuch zusammen wie eine Tapete, so dass die befetteten Fluchen aufeinanderlagen. Es war ihm dies eine schmerzliche Handlung, denn er wusste wohl, dass sich selbst bei aller Vorsicht Teile der ausgeformten Konturen dadurch abplatteten und verschoben. Aber es gab keine andere Muglichkeit, das Tuch zu transportieren. Nachdem er es soweit gefaltet hatte, dass er es ohne allzugroße Behinderung uber den Unterarm gelegt tragen konnte, steckte er Spatel, Schere und die kleine Olivenholzkeule zu sich und schlich hinaus ins Freie. Der Himmel war bedeckt. Im Haus brannte kein Licht mehr. Der einzige Funken in dieser stockfinsteren Nacht zuckte im Osten auf dem Leuchtturm des Forts auf der Ile Sainte-Marguerite, uber eine Meile entfernt, ein winziger heller Nadelstich in rabenschwarzem Tuch. Aus der Bucht kam ein leichter fischiger Wind. Die Hunde schliefen. Grenouille ging zur uußeren Tennenluke, an die eine Leiter gelehnt stand. Er hob die Leiter ab und balancierte sie aufrecht, drei Sprossen unter den freien rechten Arm geklemmt, den uberstand gegen die rechte Schulter gepresst, uber den Hof bis unter ihr Fenster. Das Fenster stand halb offen. Als er die Leiter hinaufstieg, bequem wie auf einer Treppe, begluckwunschte er sich zu dem Umstand, den Duft des Mudchens hier in Napoule ernten zu durfen. In Grasse, bei vergitterten Fenstern und streng bewachtem Haus, wure alles sehr viel schwieriger gewesen. Hier schlief sie sogar allein. Er brauchte nicht einmal die Zofe auszuschalten. Er druckte den Fensterflugel auf, schlupfte in die Kammer und legte das Laken ab. Dann wandte er sich dem Bett zu. Der Duft ihres Haares dominierte, denn sie lag auf dem Bauch, und sie hatte das Gesicht, vom Armwinkel umrahmt, ins Kissen gedruckt, so dass sich ihr Hinterkopf in geradezu idealer Weise dem Keulenschlag prusentierte. Das Geruusch des Schlages war dumpf und knirschend. Er hasste es. Er hasste es allein deshalb, weil es ein Geruusch war, ein Geruusch in seinem ansonsten lautlosen Geschuft. Nur mit zusammengebissenen Zuhnen konnte er dieses ekelhafte Geruusch ertragen, und nachdem es voruber war, stand er noch eine Weile lang steif und verbissen da, die Hand um die Keule gekrampft, als furchte er, das Geruusch kunne zuruckkehren als widerhallendes Echo von irgendwoher. Es kehrte aber nicht zuruck, sondern die Stille kehrte zuruck in die Kammer, eine vermehrte Stille sogar, da nun nicht einmal mehr der schlurfende Atem des Mudchens ging. Und alsbald luste sich Grenouilles verspannte Haltung (die man vielleicht auch als eine Ehrfurchtshaltung oder eine Art verkrampfter Schweigeminute hutte deuten kunnen), und sein Kurper sank geschmeidig in sich zusammen. Er steckte die Keule weg und war nun nur noch von emsiger Betriebsamkeit erfullt. Als erstes faltete er das Beduftungstuch auseinander, breitete es locker mit der Ruckseite uber Tisch und Stuhle und achtete darauf, dass die Fettseite unberuhrt blieb. Dann schlug er die Bettdecke zuruck. Der herrliche Duft des Mudchens, der plutzlich warm und massiv aufquoll, beruhrte ihn nicht. Er kannte ihn ja, und genießen, genießen bis zum Rausch, wurde er ihn sputer, wenn er ihn erst wirklich besaß. Jetzt ging es darum, muglichst viel davon einzufangen, muglichst wenig verstrumen zu lassen, jetzt waren Konzentration und Eile geboten. Mit raschen Scherenschnitten schlitzte er das Nachtgewand auf, zog es ihr aus, ergriff das befettete Laken und warf es uber ihren nackten Kurper. Dann hob er sie hoch, strich ihr das uberhungende Tuch unter, rollte sie ein wie ein Bucker den Strudel, falzte die Enden, umhullte sie von den Zehen bis an die Stirn. Nur ihr Haar schaute noch aus dem Mumienverband hervor. Er schnitt es dicht uber der Kopfhaut ab, packte es in ihr Nachthemd, das er zu einem Bundel verknotete. Zuletzt klappte er ein freigelassenes Stuck Tuch uber den geschorenen Schudel, strich das uberlappende Ende glatt, tupfte es mit zartem Fingerdruck fest. Er uberprufte das ganze Paket. Kein Schlitz, kein Luchlein, kein aufgekniffenes Fultlein klaffte mehr, an dem der Duft des Mudchens hutte entweichen kunnen. Sie war perfektverpackt. Es blieb nichts mehr zu tun, als zu warten, sechs Stunden lang, bis der Morgen graute. Er nahm den kleinen Sessel, auf dem ihre Kleider lagen, trug ihn ans Bett und setzte sich. In dem weiten schwarzen Gewand hing noch der zarte Hauch ihres Duftes, vermischt mit dem Geruch von Anisplutzchen, die sie als Reiseproviant in die Tasche gesteckt hatte. Er legte seine Fuße auf den Bettrand, in die Nuhe ihrer Fuße, deckte sich mit ihrem Kleid zu und aß die Anisplutzchen. Er war mude. Aber er wollte nicht schlafen, denn es gehurte sich nicht, dass man wuhrend der Arbeit schlief, auch wenn die Arbeit nur aus Warten bestand. Er erinnerte sich an die Nuchte, die er in der Werkstatt Baldinis beim Destillieren verbracht hatte: an den rußgeschwurzten Alambic, an das flackernde Feuer, an das leise spuckende Geruusch, mit dem das Destillat aus dem Kuhlrohr in die Florentinerflasche trupfelte. Von Zeit zu Zeit hatte man nach dem Feuer sehen mussen, hatte Destillierwasser nachfullen, die Florentinerflasche wechseln, das erschupfte Destilliergut ersetzen mussen. Und dennoch war ihm immer gewesen, als wache man nicht, um diese gelegentlich anfallenden Tutigkeiten zu verrichten, sondern als habe die Wache ihren eigenen Sinn. Selbst hier in dieser Kammer, wo sich der Prozess der Enfleurage ganz von allein vollzog, ja, wo sogar ein unzeitiges Prufen, Wenden und Betun des duftenden Pakets nur sturend hutte wirken kunnen selbst hier, so schien Grenouille, war seine wachende Gegenwart wichtig. Der Schlaf hutte den Geist des Gelingens gefuhrdet. Es fiel ihm im ubrigen nicht schwer, wachzubleiben und zu warten, trotz seiner Mudigkeit. Dieses Warten liebte er. Auch bei den vierundzwanzig anderen Mudchen hatte er es geliebt, denn es war ja kein dumpfes Dahinwarten und auch kein sehnsuchtiges Herbeiwarten, sondern ein begleitendes, sinnvolles, gewissermaßen ein tutiges Warten. Es tat sich etwas wuhrend dieses Wartens. Das Wesentliche tat sich. Und wenn er es auch nicht selbst tat, so tat es sich doch durch ihn. Er hatte sein Bestes gegeben. Er hatte all seine Kunstfertigkeit aufgebracht. Kein Fehler war ihm unterlaufen. Das Werk war einzigartig. Es wurde von Erfolg gekrunt sein... Nur noch ein paar Stunden warten musste er. Es befriedigte ihn zutiefst, dieses Warten. Er hatte sich in seinem Leben nie so wohl gefuhlt, so ruhig, so ausgeglichen, so eins und einig mit sich selbst - auch damals nicht in seinem Berg - wie in diesen Stunden der handwerklichen Pause, da er in tiefster Nacht bei seinen Opfern saß und wachend wartete. Es waren die einzigen Momente, da sich in seinem dusteren Hirn fast heitere Gedanken bildeten. Sonderbarerweise gingen diese Gedanken nicht in die Zukunft. Er dachte nicht an den Duft, den er in ein paar Stunden ernten wurde, nicht an das Parfum aus funfundzwanzig Mudchenauren, nicht an kunftige Plune, Gluck und Erfolg. Nein, er gedachte seiner Vergangenheit. Er erinnerte sich an die Stationen seines Lebens vom Hause der Madame Gaillard und dem feuchtwarmen Holzstoß davor bis zu seiner heutigen Reise in das kleine fischig riechende Dorf Napoule. Er gedachte des Gerbers Grimal, Giuseppe Baldinis, des Marquis de la Taillade-Espinasse. Er gedachte der Stadt Paris, ihres großen tausendfach schillernden ublen Brodems, er gedachte des rothaarigen Mudchens in der Rue des Marais, des freien Landes, des dunnen Winds, der Wulder. Er gedachte auch des Bergs in der Auvergne - er umging diese Erinnerung keineswegs -, seiner Huhle, der menschenleeren Luft. Er gedachte auch seiner Truume. Und er gedachte all dieser Dinge mit großem Wohlgefallen. Ja, es schien ihm, wenn er so zuruckdachte, dass er ein vom Gluck besonders begunstigter Mensch sei und dass sein Schicksal ihn auf zwar verschlungenen, doch letzten Endes richtigen Wegen gefuhrt habe - wie wure es sonst muglich gewesen, dass er hierhergefunden hutte, in diese dunkle Kammer, ans Ziel seiner Wunsche? Er war, wenn er sich's recht uberlegte, ein wirklich begnadetes Individuum! Ruhrung stieg in ihm auf, Demut und Dankbarkeit. "Ich danke dir", sagte er leise, "ich danke dir, Jean-Baptiste Grenouille, dass du so bist, wie du bist!" So ergriffen war er von sich selbst. Dann schloss er die Lider - nicht, um zu schlafen, sondern um sich ganz dem Frieden dieser Heiligen Nacht hinzugeben. Der Friede erfullte sein Herz. Aber es schien ihm, als herrsche er auch ringsum. Er roch den friedlichen Schlaf der Zofe im Nebenzimmer, den tiefbefriedigten Schlaf des Antoine Richis jenseits des Ganges, er roch den friedlichen Schlummer des Wirts und der Knechte, der Hunde, der Tiere im Stall, des ganzen Orts und des Meeres. Der Wind hatte sich gelegt. Alles war still. Nichts sturte den Frieden. Einmal bog er seinen Fuß zur Seite und beruhrte ganz sacht den Fuß von Laure. Nicht ihren Fuß eigentlich, sondern gerade eben das Tuch, das ihn umhullte, mit der dunnen Schicht Fett darunter, die sich mit ihrem Duft trunkte, mit ihrem herrlichen Duft, mit seinem.

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Als die Vugel zu schreien begannen - also noch geraume Zeit vor Anbruch der Morgendummerung -, erhob er sich und vollendete seine Arbeit. Er schlug das Tuch auseinander und zog es wie ein Pflaster von der Toten ab. Das Fett schulte sich gut von der Haut. Nur an den verwinkelten Stellen blieben einige Reste hungen, die er mit dem Spatel abstreichen musste. Die ubrigen Pomadeschlieren wischte er mit Laures eigenem Unterhemd auf, mit dem er zuletzt auch noch den Kurper von Kopf bis Fuß abrubbelte, so grundlich, dass sich selbst noch das Porenfett in Krumeln von der Haut rieb, und mit ihm die letzten Fusselchen und Fitzelchen ihres Duftes. Jetzt erst war sie fur ihn wirklich tot, abgewelkt, blass und schlaff wie Blutenabfall. Er warf das Unterhemd ins große enfleurierte Tuch, in dem allein sie weiterlebte, legte das Nachtgewand mit ihren Haaren dazu und rollte alles zu einem kleinen festen Paket zusammen, das er sich unter den Arm klemmte. Er nahm sich nicht die Muhe, die Leiche auf dem Bett zuzudecken. Und obwohl die Nachtschwurze sich schon ins Blaugraue der Morgendummerung verwandelt hatte und die Dinge im Zimmer Kontur anzunehmen begannen, warf er keinen Blick mehr auf ihr Bett, um sie wenigstens ein einziges Mal in seinem Leben mit Augen zu sehen. Ihre Gestalt interessierte ihn nicht. Sie war fur ihn als Kurper gar nicht mehr vorhanden, nur noch als kurperloser Duft. Und diesen trug er unterm Arm und nahm ihn mit sich. Leise schwang er sich auf die Brustung des Fensters und stieg die Leiter hinab. Draußen war wieder Wind aufgekommen, und der Himmel klarte auf und goss ein kaltes dunkelblaues Licht uber das Land. Eine halbe Stunde sputer schlug die Magd in der Kuche Feuer. Als sie vor das Haus trat, um Holz zu holen, sah sie die angelehnte Leiter, war aber noch zu verschlafen, sich irgendeinen Reim darauf zu machen. Kurz nach sechs ging die Sonne auf. Riesig und goldrot hob sie sich zwischen den beiden Lerinischen Inseln aus dem Meer. Keine Wolke war am Himmel. Ein strahlender Fruhlingstag begann. Richis, dessen Zimmer nach Westen lag, erwachte um sieben. Er hatte zum ersten Mal seit Monaten wirklich pruchtig geschlafen und blieb entgegen seiner Gewohnheit noch eine Viertelstunde lang liegen, rukelte sich und seufzte vor Vergnugen und lauschte dem angenehmen Rumoren, das aus der Kuche heraufdrang. Als er dann aufstand und das Fenster weit uffnete und draußen das schune Wetter gewahrte und die frische wurzige Morgenluft einsog und die Brandung des Meeres hurte, da kannte seine gute Laune keine Grenzen mehr, und er spitzte die Lippen und pfiff eine muntere Melodie. Wuhrend er sich ankleidete, pfiff er weiter und pfiff immer noch, als er sein Zimmer verließ und mit beschwingtem Schritt uber den Gang an die Kammerture seiner Tochter trat. Er pochte. Und pochte wieder, ganz leise, um sie nicht aufzuschrecken. Es kam keine Antwort. Er luchelte. Er verstand gut, dass sie noch schlief. Vorsichtig schob er den Schlussel ins Loch und drehte den Riegel, leise, ganz leise, bedacht, sie nicht zu wecken, begierig fast, sie noch im Schlaf vorzufinden, aus dem er sie wachkussen wollte, noch einmal, zum letzten Mal, ehe er sie einem undern Mann geben musste. Die Ture sprang auf, er trat ein, und das Sonnenlicht fiel ihm voll ins Gesicht. Die Kammer war wie von gleißendem Silber gefullt, alles strahlte, und er musste vor Schmerz fur einen Moment die Augen schließen. Als er sie wieder uffnete, sah er Laure auf dem Bett liegen, nackt und tot und kahlrasiert und blendend weiß. Es war wie in dem Alptraum, den er vorvergangene Nacht in Grasse gehabt und wieder vergessen hatte, und dessen Inhalt ihm jetzt wie ein Blitzschlag ins Geduchtnisuhr. Alles war mit einem Mal haargenau wie in jenem Traum, nur sehr viel heller.

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Die Nachricht vom Mord an Laure Richis verbreitete sich so schnell im Grasser Land, als hutte es geheißen "Der Kunig ist tot!" oder "Es gibt Krieg!" oder "Die Piraten sind an der Kuste gelandet!", und uhnlichen, schlimmeren Schrecken luste sie aus. Mit einem Mal war die sorgfultig vergessene Angst wieder da, virulent wie im vergangenen Herbst, mit all ihren Begleiterscheinungen: der Panik, der Empurung, der Wut, den hysterischen Verduchtigungen, der Verzweiflung. Die Menschen blieben nachts in den Huusern, sperrten ihre Tuchter ein, verbarrikadierten sich, misstrauten einander und schliefen nicht mehr. Jedermann dachte, es werde nun weitergehen wie damals, jede Woche ein Mord. Die Zeit schien um ein halbes Jahr zuruckgesetzt. Luhmender noch als vor einem halben Jahr war die Angst, denn die plutzliche Ruckkunft der lungst uberwunden geglaubten Gefahr verbreitete ein Gefuhl von Hilflosigkeit unter den Menschen. Wenn selbst des Bischofs Fluch versagte! Wenn Antoine Richis, der große Richis, der reichste Burger der Stadt, der Zweite Konsul, ein muchtiger, besonnener Mann, dem alle Hilfsmittel zu Gebote standen, sein eigenes Kind nicht schutzen konnte! Wenn des Murders Hand nicht einmal vor der heiligen Schunheit Laures zuruckschreckte - denn in der Tat wie eine Heilige erschien sie allen, die sie gekannt hatten, vor allem jetzt, hinterher, als sie tot war. Was gab es da noch fur Hoffnung, dem Murder zu entgehen? Er war grausamer als die Pest, denn vor der Pest konnte man fliehen, vor diesem Murder aber nicht, wie das Beispiel Richis' bewies. Er besaß offenbar uberirdische Fuhigkeiten. Er stand ganz gewiss mit dem Teufel im Bund, wenn er nicht selbst der Teufel war. Und so wussten sich viele, vor allem die einfultigeren Gemuter, keinen anderen Rat, als in die Kirche zu gehen und zu beten, ein jeder Berufsstand zu seinem Patron, die Schlosser zum Heiligen Aloysius, die Weber zum Heiligen Krispinius, die Gurtner zum Heiligen Antonius, die Parfumeure zum Heiligen Josephus. Und sie nahmen ihre Frauen und Tuchter mit, beteten gemeinsam, aßen und schliefen in der Kirche, verließen sie selbst am Tage nicht mehr, uberzeugt, im Schutz der verzweifelten Gemeinschaft und im Angesicht der Madonna die einzig mugliche Sicherheit vor dem Ungeheuer zu finden, sofern es uberhaupt noch Sicherheit gab. Andere, gewitztere Kupfe, schlossen sich, da die Kirche bereits schon einmal versagt hatte, zu okkulten Gruppen zusammen, engagierten fur viel Geld eine approbierte Hexe aus Gourdon, verkrochen sich in eine der vielen Kalksteingrotten des Grasser Untergrunds und veranstalteten Satansmessen, um sich den Leibhaftigen geneigt zu machen. Wieder andere, vornehmlich Mitglieder des gehobenen Burgertums und des gebildeten Adels, setzten auf modernste wissenschaftliche Methoden, magnetisierten ihre Huuser, hypnotisierten ihre Tuchter, bildeten fluidale Schweigekreise in ihren Salons und versuchten, mit gemeinschaftlich produzierten Gedankenemissionen den Geist des Murders telepathisch zu bannen. Die Korporationen organisierten eine Bußprozession von Grasse nach Napoule und zuruck. Die Munche aus den funf Klustern der Stadt richteten einen permanenten Bittgottesdienst ein, mit Dauergesungen, so dass bald an dieser, bald an jener Ecke der Stadt ein ununterbrochenes Lamento zu huren war, bei Tag und bei Nacht. Gearbeitet wurde kaum noch. So harrte das Volk von Grasse in fieberhafter Untutigkeit, beinahe mit Ungeduld, des nuchsten Mordanschlags. Dass er bevorstand, bezweifelte niemand. Und insgeheim sehnte jeder die Schreckensnachricht herbei, in der einzigen Hoffnung, dass sie nicht ihn selbst, sondern einen anderen betrufe. Die Obrigkeit allerdings in Stadt, Land und Provinz ließ sich diesmal nicht von der hysterischen Stimmung des Volkes anstecken. Zum ersten Mal, seitdem der Mudchenmurder aufgetreten war, kam es zu planvoller und ersprießlicher Zusammenarbeit zwischen den Vogteien von Grasse, Draguignan und Toulon, zwischen Magistraten, Polizei, Intendant, Parlament und Marine. Der Grund fur dieses solidarische Vorgehen der Muchtigen war einerseits die Befurchtung eines allgemeinen Volksaufstandes, andrerseits die Tatsache, dass man seit dem Mord an Laure Richis Anhaltspunkte hatte, die eine systematische Verfolgung des Murders uberhaupt erst ermuglichten. Der Murder war gesehen worden. Offensichtlich handelte es sich um jenen ominusen Gerbergesellen, der sich in der Mordnacht im Stall des Gasthofs von Napoule aufgehalten hatte und am nuchsten Morgen spurlos verschwunden war. Nach ubereinstimmenden Angaben des Wirts, des Stallknechts und Richis' war er ein unscheinbarer, kleingewachsener Mann mit bruunlichem Rock und grobleinenem Reisesack. Obwohl ansonsten die Erinnerung der drei Zeugen seltsam vage blieb, sie etwa Gesicht, Haarfarbe oder Sprache des Mannes nicht hutten beschreiben kunnen, wusste der Wirt doch noch zu sagen, dass ihm, wenn er sich nicht tuusche, an Haltung und Gang des Fremden etwas Linkisches, Hinkendes aufgefallen sei, wie von einer Beinverletzung oder einem verkruppelten Fuß. Mit diesen Indizien versehen nahmen schon gegen Mittag des Mordtags zwei Reiterabteilungen der Marechaussee die Verfolgung des Murders in Richtung Marseille auf - eine an der Kuste entlang, die andere uber den Weg im Landesinnern. Die nuhere Umgebung von Napoule ließ man von Freiwilligen durchkummen. Zwei Kommissionure des Grasser Landgerichts reisten nach Nizza, um dort Nachforschungen uber den Gerbergesellen anzustellen. In den Hufen von Frejus, Cannes und Antibes wurden alle auslaufenden Schiffe kontrolliert, an der Grenze nach Savoyen jeder Weg gesperrt, Reisende hatten sich auszuweisen. Eine steckbriefliche Beschreibung des Tuters erschien fur die, die lesen konnten, an allen Stadttoren von Grasse, Vence, Gourdon und an den Kirchturen der Durfer. Dreimal tuglich wurde sie ausgeschrieen. Die Sache mit dem vermuteten Klumpfuß besturkte freilich die Ansicht, es handle sich bei dem Tuter um den Teufel selbst, und schurte deshalb eher die Panik in der Bevulkerung, als dass man verwertbare Hinweise erhielt. Erst nachdem der Grasser Gerichtsprusident im Auftrag Richis' eine Belohnung von nicht weniger als zweihundert Livres fur Hinweise zur Ergreifung des Tuters ausgeschrieben hatte, fuhrten Denunziationen zur Festnahme einiger Gerbergesellen in Grasse, Opio und Gourdon, von denen einer tatsuchlich das Ungluck hatte, zu hinken. Diesen gedachte man schon trotz seinem durch mehrere Zeugen gefestigten Alibi der Folter zu unterziehen, als sich, am zehnten Tag nach geschehenem Mord, ein Mann der Stadtwache bei der Magistratur meldete und den Richtern folgende Aussage machte: Am Mittag jenes Tages sei er, Gabriel Tagliasco, Hauptmann der Wache, an der Porte du Cours wie gewuhnlich Dienst tuend, von einem Individuum, auf welches, wie er jetzt wisse, die steckbriefliche Beschreibung ziemlich passe, angesprochen und wiederholt und in dringlicher Weise nach dem Weg gefragt worden, auf welchem der Zweite Konsul mit seiner Karawane am Morgen die Stadt verlassen habe. Dem Vorfall selbst habe er weder damals noch sputer irgendeine Bedeutung beigemessen, und auch an das Individuum hutte er sich aus eigener Kraft mit Bestimmtheit nicht mehr erinnern kunnen - es sei so durchaus unbemerkenswert gewesen -, wenn er es nicht gestern zufullig wieder gesehen hutte, und zwar hier in Grasse, in der Rue de la Louve, vor dem Atelier des Maitre Druot und der Madame Arnulfi, bei welcher Gelegenheit ihm auch aufgefallen sei, dass der Mensch, in die Werkstatt zuruckkehrend, deutlich gehinkt habe. Eine Stunde sputer wurde Grenouille verhaftet. Der Wirt und sein Stallknecht aus Napoule, die sich wegen der Identifizierung der anderen Verduchtigen in Grasse aufhielten, erkannten ihn sofort als den Gerbergesellen wieder, der bei ihnen ubernachtet hatte: Dieser sei's und kein anderer, dieser musse der gesuchte Murder sein. Man untersuchte die Werkstatt, man untersuchte die Kabane im Olivengarten hinter dem Franziskanerkloster. In einer Ecke, kaum versteckt, lagen das zerschnittene Nachtgewand, das Unterhemd und die roten Haare der Laure Richis. Und als man den Boden aufgrub, kamen nach und nach die Kleider und Haare der anderen vierundzwanzig Mudchen zum Vorschein. Die Holzkeule fand sich, mit der die Opfer erschlagen worden waren, und der leinene Reisesack. Die Indizien waren uberwultigend. Man ließ die Kirchenglocken luuten. Der Gerichtsprusident gab durch Ausruf und Anschlag bekannt, dass der beruchtigte Mudchenmurder, nach dem man fast ein Jahr lang gefahndet habe, endlich gefasst und in festem Gewahrsam sei.

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Zunuchst glaubten die Leute nicht an die Verlautbarung. Sie hielten sie fur eine Finte, mit der die Behurden ihre eigene Unfuhigkeit kaschieren und die gefuhrlich gereizte Stimmung des Volkes beruhigen wollten. Zu gut erinnerte man sich noch der Zeit, da es geheißen hatte, der Murder sei nach Grenoble abgezogen. Zu fest hatte sich diesmal die Angst in die Seelen der Menschen gefressen. Erst als am folgenden Tag auf dem Kirchplatz vor der Pruvotu die Beweisstucke uffentlich ausgestellt wurden - es war ein schauerliches Bild, die funfundzwanzig Gewunder mit den funfundzwanzig Haarbuscheln, wie Vogelscheuchen an Stangen aufgezogen, an der Stirnseite des Platzes, der Kathedrale gegenuber, aufgereiht zu sehen - da wandelte sich die uffentliche Meinung. Zu vielen Hunderten defilierten die Menschen an der makabren Galerie voruber. Angehurige der Opfer, die die Kleider wiedererkannten, brachen schreiend zusammen. Die ubrige Menge, teils aus Sensationslust, teils um vullig uberzeugt zu sein, begehrte den Murder zu sehen. Die Rufe nach ihm wurden bald so laut, die Unruhe auf dem kleinen, menschenwogenden Platz so bedrohlich, dass der Prusident sich entschloss, Grenouille aus seiner Zelle heraufbringen zu lassen und ihn an einem Fenster des ersten Stocks der Pruvotu zu prusentieren. Als Grenouille ans Fenster trat, verstummte das Gebrull. Es war mit einem Mal so vollstundig still wie an einem heißen Sommertag zur Mittagsstunde, wenn alles draußen auf den Feldern ist oder sich in den Schatten der Huuser verkriecht. Kein Tritt, kein Ruuspern, kein Atmen war mehr zu huren. Die Menge war nur noch Auge und offener Mund, minutenlang. Kein Mensch konnte es fassen, dass der windige, kleine, geduckte Mann dort oben am Fenster, dieses Wurstchen, dieses armselige Huuflein, dieses Nichts, uber zwei Dutzend Morde begangen haben sollte. Er sah einem Murder einfach nicht gleich. Niemand hutte zwar sagen kunnen, wie er sich den Murder, diesen Teufel, eigentlich vorgestellt hatte, aber alle waren sich einig: so nicht! Und dennoch - obwohl der Murder den Vorstellungen der Leute so gar nicht entsprach und seine Prusentation daher, wie man wurde meinen kunnen, wenig uberzeugend hutte wirken sollen, ging paradoxerweise allein von der Leibhaftigkeit dieses Menschen am Fenster und von der Tatsache, dass eben nur er und kein anderer als Murder prusentiert wurde, eine uberzeugende Wirkung aus. Sie dachten alle: Das kann doch nicht wahr sein! - und wussten im selben Moment, dass es wahr sein musse. Freilich, erst als die Wachen das Munnlein wieder zuruck ins Dunkel des Zimmers gezogen hatten, erst als es also nicht mehr gegenwurtig und sichtbar, sondern nur noch, wenn auch fur kurzeste Zeit, als Erinnerung, fast muchte man sagen als Begriff in den Hirnen der Menschen existierte, als Begriff eines abscheulichen Murders - da erst wich die Verbluffung der Menge und schaffte Raum fur eine angemessene Reaktion: Die Munder klappten zu, die tausend Augen belebten sich wieder. Und dann erscholl es in einem einzigen donnernden Wut- und Racheschrei: "Wir wollen ihn haben!" Und sie schickten sich an, die Pruvotu zu sturmen, um ihn mit eigenen Hunden zu erwurgen, zu zerreißen und zu zerstuckeln. Die Wachen hatten alle Muhe, das Tor zu verrammeln und den Mob zuruckzudrungen. Grenouille wurde schleunigst in sein Verlies gebracht. Der Prusident trat ans Fenster und versprach ein schnelles und exemplarisch strenges Verfahren. Trotzdem dauerte es noch Stunden, ehe sich die Menge verlaufen, noch Tage, eh sich die Stadt leidlich beruhigt hatte. In der Tat ging der Prozess gegen Grenouille uußerst zugig vonstatten, da nicht nur die Beweismittel erdruckend waren, sondern der Angeklagte selbst bei den Vernehmungen ohne Umschweife die ihm zur Last gelegten Morde gestand. Allein nach seinen Motiven befragt, wusste er keine befriedigende Antwort zu geben. Er wiederholte immer nur, er habe die Mudchen gebraucht und sie deshalb erschlagen. Wozu er sie gebraucht habe und was das uberhaupt bedeuten sollte, "er habe sie gebraucht" - dazu schwieg er. Man uberantwortete ihn daraufhin der Folter, hungte ihn stundenlang an den Fußen auf, pumpte ihm sieben Finten Wasser ein, setzte Fußzwingen - ohne den geringsten Erfolg. Der Mensch schien gegen kurperliche Schmerzen unempfindlich, gab keinen Laut von sich und sagte, wenn er abermals befragt wurde, nichts als: "Ich habe sie gebraucht. " Die Richter hielten ihn fur geisteskrank. Sie setzten die Folter ab und beschlossen, das Verfahren ohne weitere Vernehmungen zu Ende zu bringen. Die einzige Verzugerung, die sich noch ergab, war ein juristisches Geplunkel mit dem Magistrat von Draguignan, in dessen Vogtei La Napoule gelegen war, und dem Parlament in Aix, welche beide den Prozess an sich bringen wollten. Aber die Grasser Richter ließen sich die Sache nicht mehr entwinden. Sie waren es gewesen, die den Tuter gefasst hatten, in ihrem Zustundigkeitsbereich war die uberwiegende Anzahl der Morde begangen worden, und ihnen drohte der geballte Volkszorn, wenn sie den Murder einem anderen Gericht uberließen. Sein Blut musste in Grasse fließen. Am 15. April 1766 wurde das Urteil gefullt und dem Angeklagten in seiner Zelle verlesen: "Der Parfumeurgeselle Jean-Baptiste Grenouille", so hieß es da, "soll binnen achtundvierzig Stunden auf den Cours vor die Tore der Stadt gefuhrt, dort, das Gesicht zum Himmel, auf ein Holzkreuz gebunden werden, bei lebendigem Leib zwulf Schluge mit einer eisernen Stange erhalten, die ihm die Gelenke der Arme, Beine, Huften und Schultern zerschmettern, und danach auf dem Kreuze angeflochten aufgestellt werden bis zu seinem Tode." Die ubliche Gnadenpraxis, den Delinquenten nach dem Zerschmettern mittels eines Fadens zu erwurgen, wurde dem Scharfrichter ausdrucklich untersagt, auch wenn der Todeskampf sich uber Tage hinziehen sollte. Die Leiche sei nuchtens auf dem Schindanger zu vergraben, der Ort nicht zu kennzeichnen. Grenouille nahm den Spruch ohne Regung entgegen. Der Gerichtsdiener fragte ihn nach seinem letzten Wunsch. "Nichts", sagte Grenouille; er habe alles, was er brauche. Ein Priester ging in die Zelle, um ihm die Beichte abzunehmen, kam aber schon nach einer Viertelstunde unverrichteter Dinge wieder heraus. Der Verurteilte habe ihn bei der Erwuhnung des Namens Gottes so absolut verstundnislos angeschaut, als hure er diesen Namen soeben zum ersten Mal, sich dann auf seiner Pritsche ausgestreckt, um sofort in tiefsten Schlaf zu versinken. Jedes weitere Wort sei sinnlos gewesen. In den folgenden zwei Tagen kamen viele Menschen, um den beruhmten Murder aus der Nuhe zu sehen. Die Wurter ließen sie durch die Klappe an der Zellenture einen Blick tun und verlangten sechs Sol pro Blick. Ein Kupferstecher, der eine Skizze anfertigen wollte, musste zwei Franc bezahlen. Das Motiv war aber eher enttuuschend. Der Gefangene, an Fuß- und Handgelenken angekettet, lag die ganze Zeit auf der Pritsche und schlief. Das Gesicht hatte er zur Wand gekehrt, und er reagierte weder auf Klopfzeichen noch auf Zurufe. Der Zutritt zur Zelle war Besuchern strikt verwehrt, und die Wurter wagten es trotz verlockender Angebote nicht, sich uber dies Verbot hinwegzusetzen. Man furchtete, der Gefangene kunne von einem Angehurigen seiner Opfer zur Unzeit ermordet werden. Aus dem gleichen Grund durfte ihm auch kein Essen zugeschoben werden. Es hutte vergiftet sein kunnen. Wuhrend der ganzen Gefangenschaft erhielt Grenouille sein Essen aus der Gesindekuche des bischuflichen Palastes, welches der Gefungnisoberaufseher vorzukosten hatte. Die letzten beiden Tage aß er freilich gar nichts. Er lag und schlief. Gelegentlich klirrten seine Ketten, und wenn der Wurter an die Turklappe eilte, konnte er ihn einen Schluck aus der Wasserflasche nehmen, sich wieder aufs Lager werfen und weiterschlafen sehen. Es schien, als sei dieser Mensch seines Lebens derart mude, dass er nicht einmal mehr die letzten Stunden davon in wachem Zustand miterleben wollte. Unterdessen wurde der Cours fur die Hinrichtung vorbereitet. Zimmerleute bauten ein Schafott, drei mal drei Meter groß und zwei Meter hoch, mit Gelunder und einer soliden Treppe - ein so pruchtiges hatte man in Grasse noch nie gehabt. Dazu eine Holztribune fur die Honoratioren und einen Zaun gegen das gemeine Volk, das in gewisser Distanz gehalten werden sollte. Die Fensterplutze in den Huusern links und rechts der Porte du Cours und im Gebuude der Wache waren lungst zu exorbitanten Preisen vermietet. Sogar in der etwas seitwurts gelegenen Charitu hatte der Gehilfe des Scharfrichters den Kranken ihre Zimmer abgehandelt und mit hohem Gewinn an Schaulustige weitervermietet. Die Limonadenverkuufer mischten kannenweise Lakritzenwasser auf Vorrat, der Kupferstecher druckte seine im Gefungnis genommene und aus der Phantasie noch ein wenig rasanter gestaltete Skizze des Murders in vielen hundert Exemplaren, fliegende Hundler strumten zu Dutzenden in die Stadt, die Bucker buken Gedenkplutzchen. Der Scharfrichter, Monsieur Papon, der schon seit Jahren keinen Delinquenten mehr zu zerbrechen gehabt hatte, ließ sich eine schwere vierkantige Eisenstange schmieden und ging damit in den Schlachthof, um an Tierkadavern seine Hiebe zu uben. Zwulf Schluge durfte er nur fuhren, und mit diesen mussten die zwulf Gelenke sicher zerbrochen werden, ohne dass wertvolle Teile des Kurpers, wie etwa Brust oder Kopf, beschudigt wurden - ein diffiziles Geschuft, das grußtes Fingerspitzengefuhl erforderte. Die Burger bereiteten sich auf das Ereignis wie auf einen hohen Festtag vor. Dass nicht gearbeitet werden wurde, verstand sich von selbst. Die Frauen bugelten ihr Feiertagshabit, die Munner staubten ihre Rucke aus und ließen sich die Stiefel glunzend putzen. Wer eine Militurcharge oder ein Amt besaß, wer Gildenmeister war, Advokat, Notar, Direktor einer Bruderschaft oder sonst etwas Bedeutendes, der legte Uniform und offizielle Tracht an, mit Orden, Schurpen, Ketten und mit kreideweiß gepuderter Perucke. Die Gluubigen gedachten sich post festum zum Gottesdienst zu versammeln, die Satansjunger zu einer deftigen luziferischen Dankmesse, die gebildete Noblesse zur magnetischen Seance in den Hotels der Cabris', Villeneuves und Fontmichels. In den Kuchen wurde schon gebacken und gebraten, aus den Kellern Wein geholt und vom Markt der Blumenschmuck, in der Kathedrale probten Organist und Kirchenchor. Im Hause Richis an der Rue Drohe blieb es still. Richis hatte sich jede Zurustung fur den "Tag der Befreiung", als welchen das Volk den Hinrichtungstag des Murders bezeichnete, verbeten. Ihm war alles ein Ekel. Die plutzlich wiederaufbrechende Furcht der Menschen war ihm ein Ekel gewesen, ihre fiebrige Vorfreude war ihm ein Ekel. Sie selbst, die Menschen, alle miteinander, waren ihm ein Ekel. Er hatte sich nicht an der Prusentation des Tuters und seiner Opfer auf dem Platz vor der Kathedrale beteiligt, nicht am Prozess, nicht am widerwurtigen Defilee der Sensationslusternen vor der Zelle des Verurteilten. Zur Identifikation der Haare und Kleider seiner Tochter hatte er das Gericht zu sich nach Hause bestellt, kurz und gefasst seine Aussage gemacht und gebeten, man muge ihm die Dinge als Reliquien uberlassen, was auch geschah. Er trug sie in Laures Kammer, legte das zerschnittene Nachthemd und das Leibchen auf ihr Bett, breitete die roten Haare ubers Kissen und setzte sich davor und verließ die Kammer Tag und Nacht nicht mehr, als wolle er durch diese sinnlose Wache gutmachen, was er in der Nacht von La Napoule versuumt hatte. Er war so erfullt von Ekel, Ekel vor der Welt und vor sich selbst, dass er nicht weinen konnte. Auch vor dem Murder empfand er Ekel. Er wollte ihn nicht mehr als Menschen sehen, nur noch als Opfer, das geschlachtet wurde. Erst bei der Hinrichtung wollte er ihn sehen, wenn er auf dem Kreuz lag und die zwulf Schluge auf ihn niederkrachten, dann wollte er ihn sehen, ganz nah wollte er ihn dann sehen, er hatte sich einen Platz in vorderster Reihe reservieren lassen. Und wenn sich das Volk verlaufen hutte, nach ein paar Stunden, dann wollte er hinaufsteigen zu ihm aufs Blutgerust und sich neben ihn setzen und Wache halten, nuchtelang, tagelang, wenn es sein musste, und ihm dabei in die Augen schauen, dem Murder seiner Tochter, und ihm den ganzen Ekel in die Augen truufeln, der in ihm war, den ganzen Ekel in seinen Todeskampf hineinschutten wie eine brennende Suure, so lange, bis das Ding verreckt war... Danach? Was er danach tun wurde? Er wusste es nicht. Vielleicht wieder sein gewohntes Leben aufnehmen, vielleicht heiraten, vielleicht einen Sohn zeugen, vielleicht nichts tun, vielleicht sterben. Es war ihm vullig gleichgultig. Daruber nachzudenken erschien ihm so sinnlos, als duchte er daruber nach, was er nach seinem eigenen Tode tun sollte: nichts naturlich. Nichts, was er jetzt schon wissen kunnte.

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Die Hinrichtung war auf funf Uhr nachmittags angesetzt. Schon am Morgen kamen die ersten Schaulustigen und sicherten sich Plutze. Sie brachten Stuhle und Trittbunkchen mit, Sitzkissen, Verpflegung, Wein und ihre Kinder. Als gegen Mittag die Landbevulkerung aus allen Himmelsrichtungen in Massen herbeistrumte, war der Cours schon so dicht besetzt, dass die Neuankummlinge auf den terrassenfurmig ansteigenden Gurten und Feldern jenseits des Platzes und auf der Straße nach Grenoble lagern mussten. Die Hundler machten bereits gute Geschufte, man aß, man trank, es summte und brodelte wie bei einem Jahrmarkt. Bald waren wohl an die zehntausend Menschen zusammengekommen, mehr als zum Fest der Jasminkunigin, mehr als zur grußten Prozession, mehr als jemals zuvor in Grasse. Bis weit die Hunge hinauf standen sie. Sie hingen in den Buumen, sie hockten auf den Mauern und Duchern, sie drungten sich zu zehnt, zu zwulft in den Fensteruffnungen. Nur im Zentrum des Cours, geschutzt vom Barrikadenzaun, wie herausgestochen aus dem Teig der Menschenmenge, blieb noch ein freier Platz fur die Tribune und fur das Schafott, das sich plutzlich ganz klein ausmachte, wie ein Spielzeug oder wie die Buhne eines Puppentheaters. Und eine Gasse wurde freigehalten, vom Richtplatz zur Porte du Cours und in die Rue Droite hinein. Kurz nach drei erschienen Monsieur Papon und seine Gehilfen. Beifall rauschte auf. Sie trugen das aus Holzbalken gefugte Andreaskreuz zum Schafott und brachten es auf die geeignete Arbeitshuhe, indem sie es mit vier schweren Tischlerbucken unterstutzten. Ein Tischlergeselle nagelte es fest. Jeder Handgriff der Henkersknechte und des Tischlers wurde von der Menge mit Applaus bedacht. Als dann Papon mit der Eisenstange herbeitrat, das Kreuz umging, seine Schritte ausmaß, bald von dieser, bald von jener Seite einen imaginierten Schlag fuhrte, brach regelrechter Jubel aus. Um vier begann sich die Tribune zu fullen. Es gab viel feine Leute zu bestaunen, reiche Herren mit Lakaien und guten Manieren, schune Damen, große Hute, glitzernde Kleider. Der gesamte Adel aus Stadt und Land war zugegen. Die Herren des Rats erschienen in geschlossenem Zug, angefuhrt von den beiden Konsuln. Richis trug schwarze Kleider, schwarze Strumpfe, schwarzen Hut. Hinter dem Rat marschierte der Magistrat ein, unter Leitung des Gerichtsprusidenten. Als letzter kam der Bischof im offenen Tragstuhl, in leuchtend violettem Ornat und grunem Hutchen. Wer noch bedeckt war, nahm sputestens jetzt die Mutze ab. Es wurde feierlich. Dann geschah etwa zehn Minuten lang nichts. Die Herrschaften hatten Platz genommen, das Volk harrte reglos, niemand aß mehr, alles wartete. Papon und seine Knechte standen auf der Buhne des Schafotts wie angeschraubt. Die Sonne hing groß und gelb uber dem Esterei. Aus dem Grasser Becken kam ein lauer Wind und trug den Duft der Orangenbluten herauf. Es war sehr warm und geradezu unwahrscheinlich still. Endlich, als man schon meinte, die Spannung kunne nicht lunger andauern, ohne in einen tausendfachen Schrei, einen Tumult, eine Raserei oder ein sonstiges Massenereignis zu zerplatzen, hurte man in der Stille Pferdegetrappel und das Knirschen von Rudern. Die Rue Droite herunter kam ein geschlossener zweispunniger Wagen gefahren, der Wagen des Polizeilieutenants. Er passierte das Stadttor und erschien, nun fur jedermann sichtbar, in der schmalen Gasse, die zum Richtplatz fuhrte. Der Polizeilieutenant hatte auf diese Art der Vorfuhrung bestanden, da er anders die Sicherheit des Delinquenten nicht garantieren zu kunnen glaubte. ublich war sie durchaus nicht. Das Gefungnis lag kaum funf Minuten vom Richtplatz entfernt, und wenn ein Verurteilter diese kurze Strecke, aus welchem Grunde immer, zu Fuß nicht mehr bewultigte, so hutte es ein offner Eselskarren auch getan. Dass einer zur eigenen Hinrichtung in der Karosse vorfuhr, mit Kutscher, livrierten Dienern und Reiterbegleitung, das hatte man noch nicht erlebt. Trotzdem kam in der Menge nicht Unruhe oder Unmut auf, im Gegenteil. Man war zufrieden, dass uberhaupt etwas geschah, hielt die Sache mit der Kutsche fur einen gelungenen Einfall, uhnlich wie im Theater, wo man es schutzt, wenn ein bekanntes Stuck auf uberraschend neue Weise prusentiert wird. Viele fanden sogar, der Auftritt sei angemessen. Einem so außergewuhnlich abscheulichen Verbrecher gebuhrte eine außerordentliche Behandlung. Man konnte ihn nicht wie einen ordinuren Straßenruuber in Ketten auf den Platz zerren und erschlagen. Daran wure nichts Sensationelles gewesen. Ihn vom Equipagenpolster weg auf das Andreaskreuz zu fuhren - das war von ungleich einfallsreicherer Grausamkeit. Die Kutsche hielt zwischen Schafott und Tribune. Die Lakaien sprangen ab, uffneten den Schlag und klappten das Treppchen herunter. Der Polizeilieutenant stieg aus, nach ihm ein Offizier der Wache und endlich Grenouille. Er trug einen blauen Rock, ein weißes Hemd, weiße Seidenstrumpfe und schwarze Schnallenschuhe. Er war nicht gefesselt. Niemand fuhrte ihn am Arm. Er entstieg der Kutsche wie ein freier Mann. Und dann geschah ein Wunder. Oder so etwas uhnliches wie ein Wunder, numlich etwas dermaßen Unbegreifliches, Unerhurtes und Unglaubliches, dass alle Zeugen es im nachhinein als Wunder bezeichnet haben wurden, wenn sie uberhaupt noch jemals darauf zu sprechen gekommen wuren, was nicht der Fall war, da sie sich sputer allesamt schumten, uberhaupt daran beteiligt gewesen zu sein. Es war numlich so, dass die zehntausend Menschen auf dem Cours und auf den umliegenden Hungen sich von einem Moment zum anderen von dem unerschutterlichen Glauben durchtrunkt fuhlten, der kleine Mann im blauen Rock, der soeben aus der Kutsche gestiegen war, kunne unmuglich ein Murder sein. Nicht dass sie an seiner Identitut zweifelten! Da stand derselbe Mensch, den sie vor wenigen Tagen auf dem Kirchplatz am Fenster der Pruvotu gesehen hatten und den sie, wuren sie damals seiner habhaft geworden, in wutendem Hass gelyncht hutten. Derselbe, der zwei Tage zuvor aufgrund erdruckender Beweise und eigenen Gestundnisses rechtskruftig verurteilt worden war. Derselbe, dessen Erschlagung durch den Scharfrichter sie noch vor einer Minute gierig ersehnt hatten. Er war's, unzweifelhaft! Und doch - er war es auch nicht, er konnte es nicht sein, er konnte kein Murder sein. Der Mann, der auf dem Richtplatz stand, war die Unschuld in Person. Das wussten in diesem Moment alle vom Bischof bis zum Limonadenverkuufer, von der Marquise bis zur kleinen Wuscherin, vom Prusidenten des Gerichts bis zum Gassenjungen. Auch Papon wusste es. Und seine Fuuste, die den Eisenstab umklammert hielten, zitterten. Ihm war mit einem Mal so schwach in seinen starken Armen, so weich in den Knien, so bang im Herzen wie einem Kind. Er wurde diesen Stab nicht heben kunnen, niemals im Leben wurde er die Kraft aufbringen, ihn gegen den kleinen unschuldigen Mann zu erheben, ach, er furchtete den Moment, da er heraufgefuhrt wurde, er schlotterte, er musste sich auf seinen murderischen Stab stutzen, um nicht vor Schwuche in die Knie zu sinken, der große, starke Papon! Nicht anders erging es den zehntausend Munnern und Frauen und Kindern und Greisen, die versammelt waren: Sie wurden schwach wie kleine Mudchen, die dem Charme ihres Liebhabers erliegen. Es uberkam sie ein muchtiges Gefuhl von Zuneigung, von Zurtlichkeit, von toller kindischer Verliebtheit, ja, weiß Gott, von Liebe zu dem kleinen Murdermann, und sie konnten, sie wollten nichts dagegen tun. Es war wie ein Weinen, gegen das man sich nicht wehren kann, wie ein lange zuruckgehaltenes Weinen, das aus dem Bauch aufsteigt und alles Widerstundliche wunderbar zersetzt, alles verflussigt und ausschwemmt. Nur noch liquide waren die Menschen, innerlich in Geist und Seele aufgelust, nur noch von amorpher Flussigkeit, und einzig ihr Herz spurten sie als haltlosen Klumpen in ihrem Innern schwanken und legten es, eine jede, ein jeder, in die Hand des kleinen Mannes im blauen Rock, auf Gedeih und Verderb: Sie liebten ihn. Grenouille stand nun wohl schon mehrere Minuten lang am geuffneten Schlag der Kutsche und ruhrte sich nicht. Der Lakai neben ihm war in die Knie gesunken und sank noch immer weiter bis hin zu jener vullig prostrativen Haltung, wie sie im Orient vor dem Sultan und vor Allah ublich ist. Und selbst in dieser Haltung zitterte und schwankte er noch und wollte weitersinken, sich flach auf die Erde legen, in sie hinein, unter sie. Bis ans andre Ende der Welt wollte er sinken vor lauter Ergebenheit. Der Offizier der Wache und der Polizeilieutenant, beides trutzige Munner, deren Aufgabe es gewesen wure, den Verurteilten jetzt aufs Blutgerust zu fuhren und seinem Henker auszuliefern, konnten keine koordinierten Handlungen mehr zustande bringen. Sie weinten und nahmen ihre Hute ab, setzten sie wieder auf, warfen sie zu Boden, fielen sich gegenseitig in die Arme, lusten sich, fuchtelten unsinnig mit den Armen in der Luft herum, rangen die Hunde, zuckten und grimassierten wie vom Veitstanz Befallene. Die weiter entfernt befindlichen Honoratioren gaben sich ihrer Ergriffenheit auf kaum diskretere Weise hin. Ein jeder ließ dem Drang seines Herzens freien Lauf. Da waren Damen, die sich beim Anblick Grenouilles die Fuuste in den Schoß stemmten und seufzten vor Wonne; und andere, die vor sehnsuchtigem Verlangen nach dem herrlichen Jungling - denn so erschien er ihnen - sang- und klanglos in Ohnmacht versanken. Da waren Herren, die in einem fort von ihren Sitzen aufspritzten und sich wieder niederließen und wieder aufsprangen, muchtig schnaufend und die Fuuste um die Degengriffe ballend, als wollten sie ziehen, und, indem sie schon zogen, den Stahl wieder zuruckstießen, dass es in den Scheiden nur so klapperte und knackte; und andere, die die Augen stumm zum Himmel richteten und ihre Hunde zum Gebet verkrampften; und Monseigneur, der Bischof, der, als sei ihm ubel, mit dem Oberkurper vornuberklappte und die Stirn auf seine Knie schlug, bis ihm das grune Hutchen vom Kopfe kollerte; und dabei war ihm gar nicht ubel, sondern er schwelgte nur zum ersten Mal in seinem Leben in religiusem Entzucken, denn ein Wunder war geschehen vor aller Augen, der Herrgott huchstpersunlich war dem Henker in den Arm gefallen, indem er den als Engel offenbarte, der vor der Welt ein Murder schien - o dass dergleichen noch geschah im 18. Jahrhundert. Wie groß war der Herr! Und wie klein und windig war man selbst, der man einen Bannfluch gesprochen hatte, ohne daran zu glauben, bloß zur Beruhigung des Volkes! O welche Anmaßung, o welche Kleingluubigkeit! Und nun tat der Herr ein Wunder! O welch herrliche Demutigung, welch suße Erniedrigung, welche Gnade, als Bischof von Gott so gezuchtigt zu werden. Das Volk jenseits der Barrikade gab sich unterdessen immer schamloser dem unheimlichen Gefuhlsrausch hin, den Grenouilles Erscheinen ausgelust hatte. Wer zu Beginn bei seinem Anblick nur Mitgefuhl und Ruhrung verspurt hatte, der war nun von nackter Begehrlichkeit erfullt, wer zunuchst bewundert und begehrt hatte, den trieb es zur Ekstase. Alle hielten den Mann im blauen Rock fur das schunste, attraktivste und vollkommenste Wesen, das sie sich denken konnten: Den Nonnen erschien er als der Heiland in Person, den Satansgluubigen als strahlender Herr der Finsternis, den Aufgeklurten als das Huchste Wesen, den jungen Mudchen als ein Murchenprinz, den Munnern als ein ideales Abbild ihrer selbst. Und alle fuhlten sie sich von ihm an ihrer empfindlichsten Stelle erkannt und gepackt, er hatte sie im erotischen Zentrum getroffen. Es war, als besitze der Mann zehntausend unsichtbare Hunde und als habe er jedem der zehntausend Menschen, die ihn umgaben, die Hand aufs Geschlecht gelegt und liebkose es auf just jene Weise, die jeder einzelne, ob Mann oder Frau, in seinen geheimsten Phantasien am sturksten begehrte. Die Folge war, dass die geplante Hinrichtung eines der verabscheuungswurdigsten Verbrechers seiner Zeit zum grußten Bacchanal ausartete, das die Welt seit dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert gesehen hatte: Sittsame Frauen rissen sich die Blusen auf, entblußten unter hysterischen Schreien ihre Bruste, warfen sich mit hochgezogenen Rucken auf die Erde. Munner stolperten mit irren Blicken durch das Feld von geilem aufgespreiztem Fleisch, zerrten mit zitternden Fingern ihre wie von unsichtbaren Frusten steifgefrorenen Glieder aus der Hose, fielen uchzend irgendwohin, kopulierten in unmuglichster Stellung und Paarung, Greis mit Jungfrau, Tagluhner mit Advokatengattin, Lehrbub mit Nonne, Jesuit mit Freimaurerin, alles durcheinander, wie's gerade kam. Die Luft war schwer vom sußen Schweißgeruch der Lust und laut vom Geschrei, Gegrunze und Gestuhn der zehntausend Menschentiere. Es war infernalisch. Grenouille stand und luchelte. Vielmehr erschien es den Menschen, die ihn sahen, als luchle er mit dem unschuldigsten, liebevollsten, bezauberndsten und zugleich verfuhrerischsten Lucheln der Welt. Aber es war in Wirklichkeit kein Lucheln, sondern ein hußliches, zynisches Grinsen, das auf seinen Lippen lag und das seinen ganzen Triumph und seine ganze Verachtung widerspiegelte. Er, Jean-Baptiste Grenouille, geboren ohne Geruch am stinkendsten Ort der Welt, stammend aus Abfall, Kot und Verwesung, aufgewachsen ohne Liebe, lebend ohne warme menschliche Seele einzig aus Widerborstigkeit und der Kraft des Ekels, klein, gebuckelt, hinkend, hußlich, gemieden, ein Scheusal innen wie außen - er hatte es erreicht, sich vor der Welt beliebt zu machen. Was heißt beliebt! Geliebt! Verehrt! Verguttert! Er hatte die prometheische Tat vollbracht. Den guttlichen Funken, den andre Menschen mir nichts, dir nichts in die Wiege gelegt bekommen und der ihm als einzigem vorenthalten worden war, hatte er sich durch unendliches Raffinement ertrotzt. Mehr noch! Er hatte ihn sich recht eigentlich selbst in seinem Innern geschlagen. Er war noch grußer als Prometheus. Er hatte sich eine Aura erschaffen, strahlender und wirkungsvoller, als sie je ein Mensch vor ihm besaß. Und er verdankte sie niemandem - keinem Vater, keiner Mutter und am allerwenigsten einem gnudigen Gott - als einzig sich selbst. Er war in der Tat sein eigener Gott, und ein herrlicherer Gott als jener weihrauchstinkende Gott, der in den Kirchen hauste. Vor ihm lag ein leibhaftiger Bischof auf den Knien und winselte vor Vergnugen. Die Reichen und Muchtigen, die stolzen Herren und Damen erstarben in Bewunderung, indes das Volk im weiten Rund, darunter Vuter, Mutter, Bruder, Schwestern seiner Opfer, ihm zu Ehren und in seinem Namen Orgien feierten. Ein Wink von ihm, und alle wurden ihrem Gott abschwuren und ihn, den Großen Grenouille anbeten. Ja, er war der Große Grenouille! Jetzt trat's zutage. Er war's, wie einst in seinen selbstverliebten Phantasien, so jetzt in Wirklichkeit. Er erlebte in diesem Augenblick den grußten Triumph seines Lebens. Und er wurde ihm furchterlich. Er wurde ihm furchterlich, denn er konnte keine Sekunde davon genießen. In dem Moment, da er aus der Kutsche auf den sonnenhellen Platz getreten war, angetan mit dem Parfum, das vor den Menschen beliebt macht, mit dem Parfum, an dem er zwei Jahre lang gearbeitet hatte, dem Parfum, das zu besitzen er sein Leben lang gedurstet hatte... in diesem Moment, da er sah und roch, wie unwiderstehlich es wirkte und wie mit Windeseile sich verbreitend es die Menschen um ihn her gefangennahm, - in diesem Moment stieg der ganze Ekel vor den Menschen wieder in ihm auf und vergullte ihm seinen Triumph so grundlich, dass er nicht nur keine Freude, sondern nicht einmal das geringste Gefuhl von Genugtuung verspurte. Was er sich immer ersehnt hatte, dass numlich die undern Menschen ihn liebten, wurde ihm im Augenblick seines Erfolges unertruglich, denn er selbst liebte sie nicht, er hasste sie. Und plutzlich wusste er, dass er nie in der Liebe, sondern immer nur im Hass Befriedigung funde, im Hassen und Gehasstwerden. Aber der Hass, den er fur die Menschen empfand, blieb von den Menschen ohne Echo. Je mehr er sie in diesem Augenblick hasste, desto mehr vergutterten sie ihn, denn sie nahmen von ihm nichts wahr als seine angemaßte Aura, seine Duftmaske, sein geraubtes Parfum, und dies in der Tat war zum Verguttern gut. Er hutte sie jetzt am liebsten alle vom Erdboden vertilgt, die stupiden, stinkenden, erotisierten Menschen, genauso wie er damals im Land seiner rabenschwarzen Seele die fremden Geruche vertilgt hatte. Und er wunschte sich, dass sie merkten, wie sehr er sie hasste, und dass sie ihn darum, um dieses seines einzigen jemals wahrhaft empfundenen Gefuhls willen widerhassten und ihn ihrerseits vertilgten, wie sie es ja ursprunglich vorgehabt hatten. Er wollte sich ein Mal im Leben entuußern. Er wollte ein Mal im Leben sein wie andere Menschen auch und sich seines Innern entuußern: wie sie ihrer Liebe und ihrer dummen Verehrung, so er seines Hasses. Er wollte ein Mal, nur ein einziges Mal, in seiner wahren Existenz zur Kenntnis genommen werden und von einem anderen Menschen eine Antwort erhalten auf sein einziges wahres Gefuhl, den Hass. Aber daraus wurde nichts. Daraus konnte nichts werden. Und heute schon gar nicht. Denn er war ja maskiert mit dem besten Parfum der Welt, und er trug unter dieser Maske kein Gesicht, sondern nichts als seine totale Geruchlosigkeit. Da wurde ihm plutzlich ubel, denn er fuhlte, dass die Nebel wieder stiegen. Wie damals in der Huhle im Traum im Schlaf im Herzen in seiner Phantasie stiegen mit einem Mal die Nebel, die entsetzlichen Nebel seines eigenen Geruchs, den er nicht riechen konnte, weil er geruchlos war. Und wie damals wurde ihm unendlich bang und angst, und er glaubte, ersticken zu mussen. Anders als damals aber war dies kein Traum und kein Schlaf, sondern die blanke Wirklichkeit. Und anders als damals lag er nicht allein in einer Huhle, sondern stand auf einem Platz im Angesicht von zehntausend Menschen. Und anders als damals half hier kein Schrei, der ihn erwachen ließe und befreite, und half keine Flucht zuruck in die gute, warme, rettende Welt. Denn dies, hier und jetzt, war die Welt, und dies, hier und jetzt, war sein verwirklichter Traum. Und er selbst hatte es so gewollt. Die furchterlichen stickigen Nebel stiegen weiter aus dem Morast seiner Seele, indes um ihn das Volk in orgiastischen und orgastischen Verzuckungen uchzte. Ein Mann kam auf ihn zugelaufen. Von der vordersten Reihe der Honoratiorentribune war er aufgesprungen, so heftig, dass ihm sein schwarzer Hut vom Kopf gefallen war, und flatterte nun mit wehendem schwarzem Rock uber den Richtplatz wie ein Rabe oder wie ein ruchender Engel. Es ar Richis. Er wird mich tuten, dachte Grenouille. Er ist der einzige, der sich nicht von meiner Maske tuuschen lusst. Er kann sich nicht tuuschen lassen. Der Duft seiner Tochter klebt an mir, so verruterisch deutlich wie Blut. Er muss mich erkennen und tuten. Er muss es tun. Und er breitete seine Arme aus, um den heransturzenden Engel zu empfangen. Schon glaubte er, den Dolch- oder Degenstoß als herrlich prickelnden Schlag gegen die Brust zu spuren und die Klinge, die durch alle Duftpanzer und stickigen Nebel hindurchging, mitten in sein kaltes Herz hinein - endlich, endlich etwas in seinem Herzen, etwas anderes als er selbst! Er fuhlte sich fast schon erlust. Doch dann lag mit einem Mal Richis an seiner Brust, kein ruchender Engel, sondern ein erschutterter, kluglich schluchzender Richis, und umfing ihn mit den Armen, krallte sich regelrecht fest an ihm, als funde er sonst keinen Halt in einem Meer von Gluckseligkeit. Kein befreiender Dolchstoß, kein Stich ins Herz, nicht einmal in Fluch oder nur ein Schrei des Hasses. Statt dessen Richis' trunennasse Wange an der seinen klebend und ein zitternder Mund, der ihm zuwinselte: "Vergib mir, mein Sohn, mein lieber Sohn, vergib mir!" Da wurde es ihm von innen her weiß vor Augen, und die uußere Welt wurde rabenschwarz. Die gefangenen Nebel gerannen zu einer tobenden Flussigkeit wie kochende, schuumende Milch. Sie uberfluteten ihn, pressten mit unertruglichem Druck gegen die innere Schalenwand seines Kurpers, ohne Auslass zu finden. Er wollte fliehen, um Himmels willen fliehen, aber wohin... Er wollte zerplatzen, explodieren wollte er, um nicht an sich selbst zu ersticken. Endlich sank er nieder und verlor das Bewusstsein.

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Als er wieder zu sich kam, lag er im Bett der Laure Richis. Ihre Reliquien, Kleider und ihr Haar, waren weggeruumt worden. Eine Kerze brannte auf dem Nachttisch. Durch das angelehnte Fenster hurte er von Ferne den Jubel der feiernden Stadt. Antoine Richis saß auf einem Schemel neben dem Bett und wachte. Er hatte Grenouilles Hand in die seine gelegt und streichelte sie. Noch bevor er die Augen aufschlug, prufte Grenouille die Atmosphure. Im Innern war sie still. Nichts brodelte und presste mehr. Es herrschte wieder die gewohnte kalte Nacht in seiner Seele, die er brauchte, um sein Bewusstsein frostig und klar zu machen und nach außen zu lenken: Dort roch er sein Parfum. Es hatte sich verundert. Die Spitzen waren etwas schwucher geworden, so dass nun die Herznote von Laures Geruch noch herrlicher hervortrat, ein mildes, dunkles, funkelndes Feuer. Er fuhlte sich sicher. Er wusste, dass er noch fur Stunden unangreifbar war, und uffnete die Augen. Richis' Blick ruhte auf ihm. Unendliches Wohlwollen lag in diesem Blick, Zurtlichkeit, Ruhrung und die hohle, dummliche Tiefe des Liebenden. Er luchelte und druckte Grenouilles Hand fester und sagte: "Es wird jetzt alles gut werden. Der Magistrat hat dein Urteil kassiert. Alle Zeugen haben abgeschworen. Du bist frei. Du kannst tun, was du willst. Aber ich will, dass du bei mir bleibst. Ich habe eine Tochter verloren, ich will dich als meinen Sohn gewinnen. Du bist ihr uhnlich. Du bist schun wie sie, deine Haare, dein Mund, deine Hand... Ich habe die ganze Zeit deine Hand gehalten, deine Hand ist wie die ihre. Und wenn ich in deine Augen sehe, so ist mir, als schaue sie mich an. Du bist ihr Bruder, und ich will, dass du mein Sohn wirst, meine Freude, mein Stolz, mein Erbe. Leben deine Eltern noch?" Grenouille schuttelte den Kopf, und Richis' Gesicht wurde puterrot vor Gluck. "Dann wirst du mein Sohn werden?" stammelte er und fuhr von seinem Schemel hoch, um sich auf den Rand des Bettes zu setzen und auch Grenouilles zweite Hand zu pressen. "Wirst du? Wirst du? Willst du mich zu deinem Vater haben? Sage nichts! Sprich nicht! Du bist noch zu schwach, um zu sprechen. Nicke nur!" Grenouille nickte. Da brach Richis das Gluck wie roter Schweiß aus allen Poren, und er beugte sich zu Grenouille herab und kusste ihn auf den Mund. "Schlaf jetzt, mein lieber Sohn!" sagte er, als er sich wieder aufgerichtet hatte. "Ich werde bei dir wachen, solange bis du eingeschlafen bist." Und nachdem er ihn eine lange Zeit in stummer Seligkeit betrachtet hatte: "Du machst mich sehr, sehr glucklich." Grenouille zog die Mundwinkel leicht auseinander, wie er es den Menschen abgeschaut hatte, die lucheln. Dann schloss er die Augen. Er wartete eine Weile, ehe er seinen Atem ruhiger und tiefer gehen ließ, wie es die Schlufer tun. Er spurte Richis' liebenden Blick auf seinem Gesicht. Einmal spurte er, wie Richis sich abermals vorbeugte, um ihn zu kussen, es dann aber unterließ, aus Scheu, ihn zu wecken. Endlich wurde die Kerze ausgeblasen, und Richis schlich sich auf Zehenspitzen aus der Kammer. Grenouille blieb liegen, bis er in Haus und Stadt kein Geruusch mehr hurte. Als er dann aufstand, dummerte es schon. Er kleidete sich an und machte sich davon, leise uber den Flur, leise die Stiege hinab und durch den Salon hinaus auf die Terrasse. Von hier aus konnte man uber die Stadtmauersehen, uber die Schussel des Grasser Landes, bei klarem Wetter wohl auch bis zum Meer. Jetzt hing ein dunner Nebel, ein Dunst eher, uber den Feldern, und die Dufte, die von dorther kamen, Gras, Ginster und Rose, waren wie gewaschen, rein, simpel, trustlich einfach. Grenouille durchquerte den Garten und stieg uber die Mauer. Oben am Cours musste er sich noch einmal durch Menschendunste kumpfen, ehe er das freie Land gewann. Der ganze Platz und die Hunge glichen einem riesigen verlotterten Heerlager. Zu Tausenden lagen die betrunkenen, von den Ausschweifungen des nuchtlichen Festes erschupften Gestalten herum, manche nackt, manche halb entblußt und halb bedeckt von Kleidern, unter die sie sich wie unter ein Stuck Decke verkrochen hatten. Es stank nach saurem Wein, nach Schnaps, nach Schweiß und Pisse, nach Kinderscheiße und nach verkohltem Fleisch. Da und dort qualmten noch die Feuerstellen, an denen sie gebraten, gesoffen und getanzt hatten. Hie und da gluckste noch aus dem tausendfachen Geschnarche ein Lallen oder ein Geluchter auf. Es mag auch sein, dass manch einer noch wachte und sich die letzten Fetzen von Bewusstsein aus dem Gehirn zechte. Aber niemand sah Grenouille, der uber die verstreuten Leiber stieg, vorsichtig und rasch zugleich, wie durch Morast. Und wer ihn sah, der erkannte ihn nicht. Er duftete nicht mehr. Das Wunder war vorbei. Am Ende des Cours angelangt, nahm er nicht die Straße nach Grenoble, nicht die nach Cabris, sondern er ging querfeldein in westliche Richtung davon, ohne sich noch ein einziges Mal umzuschauen. Als die Sonne aufstieg, fett und gelb und stechendheiß, war er lungst verschwunden. Die Grasser erwachten mit einem entsetzlichen Kater. Selbst denen, die nicht getrunken hatten, war bleischwer im Kopf und speiubel in Magen und Gemut. Auf dem Cours, in hellstem Sonnenlicht, suchten biedere Bauern nach den Kleidern, die sie im Exzess der Orgie von sich geschleudert hatten, suchten sittsame Frauen nach ihren Munnern und Kindern, schulten sich wildfremde Menschen entsetzt aus intimster Umarmung, standen sich Bekannte, Nachbarn, Gatten plutzlich in peinlichster uffentlicher Nacktheit gegenuber. Vielen erschien dieses Erlebnis so grauenvoll, so vollstundig unerklurlich und unvereinbar mit ihren eigentlichen moralischen Vorstellungen, dass sie es buchstublich im Augenblick seines Stattfindens aus ihrem Geduchtnis luschten und sich infolgedessen auch sputer wahrhaftig nicht mehr daran zuruckerinnern konnten. Andere, die ihren Wahrnehmungsapparat nicht so souverun beherrschten, versuchten, wegzuschauen und wegzuhuren und wegzudenken was nicht ganz einfach war, denn die Schande war zu offensichtlich und zu allgemein. Wer seine Habseligkeiten und seine Angehurigen gefunden hatte, machte sich so rasch und so unauffullig wie muglich davon. Gegen Mittag war der Platz wie leergefegt. Die Leute in der Stadt kamen, wenn uberhaupt, erst gegen Abend aus den Huusern, um die dringendsten Besorgungen zu erledigen. Man grußte sich nur fluchtig beim Begegnen, sprach nur uber das Belangloseste. uber die Ereignisse des Vortags und der vergangenen Nacht fiel kein Wort. So hemmungslos und frisch heraus man sich gestern noch gegeben hatte, so schamhaft war man jetzt. Und alle waren so, denn alle waren schuldig. Nie schien das Einvernehmen unter den Grasser Burgern besser als in jener Zeit. Man lebte wie in Watte. Manche freilich mussten sich allein kraft ihres Amtes direkter mit dem befassen, was geschehen war. Die Kontinuitut des uffentlichen Lebens, die Unverbruchlichkeit von Recht und Ordnung erforderten rasche Maßnahmen. Schon am Nachmittag tagte der Stadtrat. Die Herren, darunter auch der Zweite Konsul, umarmten sich stumm, als gelte es, das Gremium durch diese verschwurerische Geste neu zu konstituieren. Dann beschloss man una anima und ohne dass der Vorkommnisse oder gar des Namens Grenouille auch nur Erwuhnung getan worden wure, "die Tribune und das Schafott auf dem Cours unverzuglich abreißen zu lassen und den Platz und die umliegenden zertrampelten Felder wieder in ihren vormaligen ordentlichen Zustand versetzen zu lassen". Hierfur wurden hundertsechzig Livre bewilligt. Gleichzeitig tagte das Gericht in der Pruvotu. Der Magistrat kam ohne Aussprache uberein, den "Fall G." als erledigt zu betrachten, die Akten zu schließen und ohne Registratur zu archivieren und ein neues Verfahren gegen einen bislang unbekannten Murder von funfundzwanzig Jungfrauen im Grasser Raum zu eruffnen. An den Polizeilieutenant erging der Befehl, die Untersuchungen unverzuglich aufzunehmen. Schon am nuchsten Tag wurde er fundig. Aufgrund eindeutiger Verdachtsmomente verhaftete man Dominique Druot, Maitre Parfumeur in der Rue de la Louve, in dessen Kabane ja schließlich die Kleider und Haare sumtlicher Opfer gefunden worden waren. Von seinem anfunglichen Leugnen ließen sich die Richter nicht tuuschen. Nach vierzehnstundiger Folter gestand er alles und bat sogar um eine muglichst baldige Hinrichtung, die ihm schon fur den folgenden Tag gewuhrt wurde. Man knupfte ihn im Morgengrauen auf, ohne großes Tamtam, ohne Schafott und Tribunen, im Beisein lediglich des Henkers, einiger Mitglieder des Magistrats, eines Arztes und eines Priesters. Die Leiche ließ man, nachdem der Tod eingetreten, festgestellt und protokollarisch niedergelegt war, unverzuglich beisetzen. Damit war der Fall erledigt. Die Stadt hatte ihn ohnehin schon vergessen, und zwar so vollstundig, dass Reisende, die in den folgenden Tagen eintrafen und sich beiluufig nach dem beruchtigten Grasser Mudchenmurder erkundigten, nicht einen einzigen vernunftigen Menschen fanden, der ihnen Auskunft hutte erteilen kunnen. Nur ein paar Narren aus der Charitu, notorische Geisteskranke, plapperten noch irgend etwas daher von einem großen Fest auf der Place du Cours, dessentwegen sie hutten ihre Zimmer ruumen mussen. Und bald hatte sich das Leben gunzlich normalisiert. Die Leute arbeiteten fleißig und schliefen gut und gingen ihren Geschuften nach und hielten sich rechtschaffen. Das Wasser sprudelte wie eh und je aus den vielen Quellen und Brunnen und schwemmte den Schlamm durch die Gassen. Die Stadt stand wieder schubig und stolz an den Hungen uber dem fruchtbaren Becken. Die Sonne schien warm. Bald war es Mai. Man erntete Rosen.

    VIERTER TEIL

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Grenouille ging nachts. Wie zu Beginn seiner Reise wich er den Studten aus, mied die Straßen, legte sich bei Tagesanbruch schlafen, stand abends auf und ging weiter. Er fraß, was er am Wege fand: Gruser, Pilze, Bluten, tote Vugel, Wurmer. Er durchzog die Provence, uberquerte in einem gestohlenen Kahn die Rhone sudlich von Orange, folgte dem Lauf der Arduche bis tief in die Cevennen hinein und dann dem Allier nach Norden. In der Auvergne kam er dem Plomb du Cantal nahe. Er sah ihn westlich liegen, groß und silbergrau im Mondlicht, und er roch den kuhlen Wind, der von ihm kam. Aber es verlangte ihn nicht hinzugehen. Er hatte keine Sehnsucht mehr nach dem Huhlenleben. Diese Erfahrung war ja schon gemacht und hatte sich als unlebbar erwiesen. Ebenso wie die andere Erfahrung, die des Lebens unter den Menschen. Man erstickte da und dort. Er wollte uberhaupt nicht mehr leben. Er wollte nach Paris gehen und sterben. Das wollte er. Von Zeit zu Zeit griff er in seine Tasche und schloss die Hand um den kleinen glusernen Flakon mit seinem Parfum. Das Fluschchen war noch fast voll. Fur den Auftritt in Grasse hatte er bloß einen Tropfen verbraucht. Der Rest wurde genugen, um die ganze Welt zu bezaubern. Wenn er wollte, kunnte er sich in Paris nicht nur von Zehn-, sondern von Hunderttausenden umjubeln lassen; oder nach Versailles spazieren, um sich vom Kunig die Fuße kussen zu lassen; dem Papst einen parfumierten Brief schreiben und sich als der neue Messias offenbaren; in Notre-Dame vor Kunigen und Kaisern sich selbst zum Oberkaiser salben, ja sogar zum Gott auf Erden - falls man sich als Gott uberhaupt noch salbte... All das kunnte er tun, wenn er nur wollte. Er besaß die Macht dazu. Er hielt sie in der Hand. Eine Macht, die sturker war als die Macht des Geldes oder die Macht des Terrors oder die Macht des Todes: die unuberwindliche Macht, den Menschen Liebe einzuflußen. Nur eines konnte diese Macht nicht: sie konnte ihn nicht vor sich selber riechen machen. Und mochte er auch vor der Welt durch sein Parfum erscheinen als ein Gott - wenn er sich selbst nicht riechen konnte und deshalb niemals wusste, wer er sei, so pfiff er drauf, auf die Welt, auf sich selbst, auf sein Parfum. Die Hand, die den Flakon umschlossen hatte, duftete ganz zart, und wenn er sie an seine Nase fuhrte und schnupperte, dann wurde ihm wehmutig, und fur ein paar Sekunden vergaß er zu laufen und blieb stehen und roch. Niemand weiß, wie gut dies Parfum wirklich ist, dachte er. Niemand weiß, wie gut es gemacht ist. Die andern sind nur seiner Wirkung untertan, ja, sie wissen nicht einmal, dass es ein Parfum ist, das auf sie wirkt und sie bezaubert. Der einzige, der es jemals in seiner wirklichen Schunheit erkannt hat, bin ich, weil ich es selbst geschaffen habe. Und zugleich bin ich der einzige, den es nicht bezaubern kann. Ich bin der einzige, fur den es sinnlos ist. Und ein andermal, da war er schon in Burgund: Als ich an der Mauer stand, unterhalb des Gartens, in dem das rothaarige Mudchen spielte, und ihr Duft zu mir heruberwehte... oder vielmehr das Versprechen ihres Dufts, denn ihr sputerer Duft existierte ja noch gar nicht - vielleicht war das, was ich damals empfand, demjenigen uhnlich, was die Menschen auf dem Cours empfanden, als ich sie mit meinem Parfum uberschwemmte...? Aber dann verwarf er den Gedanken: Nein, es war etwas anderes. Denn ich wusste ja, dass ich den Duft begehrte, nicht das Mudchen. Die Menschen aber glaubten, sie begehrten mich, und was sie wirklich begehrten, blieb ihnen ein Geheimnis. Dann dachte er nichts mehr, denn das Denken war nicht seine Sturke, und er war auch schon im Orleanais. Er uberquerte die Loire bei Sully. Einen Tag sputer hatte er den Duft von Paris in der Nase. Am 25. Juni 1767 betrat er die Stadt durch die Rue Saint-Jacques fruhmorgens um sechs. Es wurde ein heißer Tag, der heißeste bisher in diesem Jahr. Die tausendfultigen Geruche und Gestunke quollen wie aus tausend aufgeplatzten Eiterbeulen. Kein Wind regte sich. Das Gemuse an den Marktstunden erschlaffte, eh es Mittag war. Fleisch und Fische verwesten. In den Gassen stand die verpestete Luft. Selbst der Fluss schien nicht mehr zu fließen, sondern nur noch zu stehen und zu stinken. Es war wie am Tag von Grenouilles Geburt. Er ging uber den Pont Neuf ans rechte Ufer, und weiter zu den Hallen und zum Cimetiere des Innocents. In den Arkaden der Gebeinhuuser lungs der Rue aux Fers ließ er sich nieder. Das Gelunde des Friedhofs lag wie ein zerbombtes Schlachtfeld vor ihm, zerwuhlt, zerfurcht, von Gruben durchzogen, von Schudeln und Gebeinen ubersut, ohne Baum, Strauch oder Grashalm, eine Schutthalde des Todes. Kein lebender Mensch ließ sich blicken. Der Leichengestank war so schwer, dass selbst die Totengruber sich verzogen hatten. Sie kamen erst nach Sonnenuntergang wieder, um bei Fackellicht bis in die Nacht hinein Gruben fur die Toten des nuchsten Tages auszuheben. Nach Mitternacht erst - die Totengruber waren schon gegangen - belebte sich der Ort mit allem muglichen Gesindel, Dieben, Murdern, Messerstechern, Huren, Deserteuren, jugendlichen Desperados. Ein kleines Lagerfeuer wurde angezundet, zum Kochen und damit sich der Gestank verzehre. Als Grenouille aus den Arkaden kam und sich unter diese Menschen mischte, nahmen sie ihn zunuchst gar nicht wahr. Er konnte unbehelligt an ihr Feuer treten, als sei er einer von ihnen. Das besturkte sie sputer in der Meinung, es musse sich bei ihm um einen Geist oder einen Engel oder sonst etwas ubernaturliches gehandelt haben. Denn ublicherweise reagierten sie huchst empfindlich auf die Nuhe eines Fremden. Der kleine Mann in seinem blauen Rock aber sei plutzlich einfach dagewesen, wie aus dem Boden herausgewachsen, mit einem kleinen Fluschchen in der Hand, das er entstupselte. Dies war das erste, woran sich alle erinnern konnten: dass da einer stand und ein Fluschchen entstupselte. Und dann habe er sich mit dem Inhalt dieses Fluschchens uber und uber besprenkelt und sei mit einem Mal von Schunheit ubergussen gewesen wie von strahlendem Feuer. Fur einen Moment wichen sie zuruck aus Ehrfurcht und bassem Erstaunen. Aber im selben Moment spurten sie schon, dass das Zuruckweichen mehr wie ein Anlaufnehmen war, dass ihre Ehrfurcht in Begehren umschlug, ihr Erstaunen in Begeisterung. Sie fuhlten sich zu diesem Engelsmenschen hingezogen. Ein rabiater Sog ging von ihm aus, eine reißende Ebbe, gegen die kein Mensch sich stemmen konnte, um so weniger, als sich kein Mensch gegen sie hutte stemmen wollen, denn es war der Wille selbst, den diese Ebbe unterspulte und in ihre Richtung trieb: hin zu ihm. Sie hatten einen Kreis um ihn gebildet, zwanzig, dreißig Personen und zogen diesen Kreis nun enger und enger. Bald fasste der Kreis sie nicht mehr alle, sie begannen zu drucken, zu schieben und zu drungeln, jeder wollte dem Zentrum am nuchsten sein. Und dann brach mit einem Schlag die letzte Hemmung in ihnen, der Kreis in sich zusammen. Sie sturzten sich auf den Engel, fielen uber ihn her, rissen ihn zu Boden. Jeder wollte ihn beruhren, jeder wollte einen Teil von ihm haben, ein Federchen, ein Flugelchen, einen Funken seines wunderbaren Feuers. Sie rissen ihm die Kleider, die Haare, die Haut vom Leibe, sie zerrupften ihn, sie schlugen ihre Krallen und Zuhne in sein Fleisch, wie die Hyunen fielen sie uber ihn her. Aber so ein Menschenkurper ist ja zuh und lusst sich nicht so einfach auseinanderreißen, selbst Pferde haben da die grußte Muhe. Und so blitzten bald die Dolche auf und stießen zu und schlitzten auf, und uxte und Schlagmesser sausten auf die Gelenke herab, zerhieben krachend die Knochen. In kurzester Zeit war der Engel in dreißig Teile zerlegt, und ein jedes Mitglied der Rotte grapschte sich ein Stuck, zog sich, von wollustiger Gier getrieben, zuruck und fraß es auf. Eine halbe Stunde sputer war Jean-Baptiste Grenouille in jeder Faser vom Erdboden verschwunden. Als sich die Kannibalen nach gehabter Mahlzeit wieder m Feuer zusammenfanden, sprach keiner ein Wort. Der eine oder andere stieß ein wenig auf, spie ein Knuchelchen aus, schnalzte leise mit der Zunge, stupste mit dem Fuß einen ubriggebliebenen Fetzen des blauen Rocks in die Flammen: Sie waren alle ein bisschen verlegen und trauten sich nicht, einander anzusehen. Einen Mord oder ein anderes niedertruchtiges Verbrechen hatte jeder von ihnen, ob Mann oder Frau, schon einmal begangen. Aber einen Menschen aufgefressen? Zu so etwas Entsetzlichem, dachten sie, seien sie nie und nimmer imstande. Und sie wunderten sich, wie leicht es ihnen doch gefallen war und dass sie, bei aller Verlegenheit, nicht den geringsten Anflug von schlechtem Gewissen verspurten. Im Gegenteil! Es war ihnen, wenngleich im Magen etwas schwer, im Herzen durchaus leicht zumute. In ihren finsteren Seelen schwankte es mit einem Mal so angenehm heiter. Und auf ihren Gesichtern lag ein mudchenhafter, zarter Glanz von Gluck. Daher vielleicht die Scheu, den Blick zu heben und sich gegenseitig in die Augen zu sehen. Als sie es dann wagten, verstohlen erst und dann ganz offen, da mussten sie lucheln. Sie waren außerordentlich stolz. Sie hatten zum ersten Mal etwas aus Liebe getan. Тексты в оригинале на английском, немецком и других языках смотрите в библиотеке на сайте

    Текст проверил Илья Франк


Популярность: 16, Last-modified: Tue, 07 Jan 2003 17:14:16 GmT