Patrick Suskind. Das Parfum
---------------------------------------------------------------
Патрик Зюскинд. Парфюмер. На немецком языке. 1998
OCR, Spellcheck: Илья Франк, http://frank.deutschesprache.ru
---------------------------------------------------------------
Im achtzehnten Jahrhundert lebte in Frankreich ein Mann, der zu den
genialsten und abscheulichsten Gestalten dieser an genialen und
abscheulichen Gestalten nicht armen Epoche gehurte. Seine Geschichte soll
hier erzuhlt werden. Er hieß Jean-Baptiste Grenouille, und wenn sein
Name im Gegensatz zu den Namen anderer genialer Scheusale, wie etwa de
Sades, Saint-Justs, Fouches, Bonapartes usw., heute in Vergessenheit geraten
ist, so sicher nicht deshalb, weil Grenouille diesen beruhmteren
Finstermunnern an Selbstuberhebung, Menschenverachtung, Immoralitut, kurz an
Gottlosigkeit nachgestanden hutte, sondern weil sich sein Genie und sein
einziger Ehrgeiz auf ein Gebiet beschrunkte, welches in der Geschichte keine
Spuren hinterlusst: auf das fluchtige Reich der Geruche.
Zu der Zeit, von der wir reden, herrschte in den Studten ein fur uns
moderne Menschen kaum vorstellbarer Gestank. Es stanken die Straßen
nach Mist, es stanken die Hinterhufe nach Urin, es stanken die Treppenhuuser
nach fauligem Holz und nach Rattendreck, die Kuchen nach verdorbenem Kohl
und Hammelfett; die ungelufteten Stuben stanken nach muffigem Staub, die
Schlafzimmer nach fettigen Laken, nach feuchten Federbetten und nach dem
stechend sußen Duft der Nachttupfe. Aus den Kaminen stank der
Schwefel, aus den Gerbereien stanken die utzenden Laugen, aus den
Schlachthufen stank das geronnene Blut. Die Menschen stanken nach
Schweiß und nach ungewaschenen Kleidern; aus dem Mund stanken sie nach
verrotteten Zuhnen, aus ihren Mugen nach Zwiebelsaft und an den Kurpern,
wenn sie nicht mehr ganz jung waren, nach altem Kuse und nach saurer Milch
und nach Geschwulstkrankheiten. Es stanken die Flusse, es stanken die
Plutze, es stanken die Kirchen, es stank unter den Brucken und in den
Palusten. Der Bauer stank wie der Priester, der Handwerksgeselle wie die
Meistersfrau, es stank der gesamte Adel, ja sogar der Kunig stank, wie ein
Raubtier stank er, und die Kunigin wie eine alte Ziege, sommers wie winters.
Denn der zersetzenden Aktivitut der Bakterien war im achtzehnten Jahrhundert
noch keine Grenze gesetzt, und so gab es keine menschliche Tutigkeit, keine
aufbauende und keine zersturende, keine uußerung des aufkeimenden oder
verfallenden Lebens, die nicht von Gestank begleitet gewesen wure.
Und naturlich war in Paris der Gestank am grußten, denn Paris war
die grußte Stadt Frankreichs. Und innerhalb von Paris wiederum gab es
einen Ort, an dem der Gestank ganz besonders infernalisch herrschte,
zwischen der Rue aux Fers und der Rue de la Ferronnerie, numlich den
Cimetiere des Innocents. Achthundert Jahre lang hatte man hierher die Toten
des Krankenhauses Hotel-Dieu und der umliegenden Pfarrgemeinden verbracht,
achthundert Jahre lang Tag fur Tag die Kadaver zu Dutzenden herbeigekarrt
und in lange Gruben geschuttet, achthundert Jahre lang in den Gruften und
Beinhuusern Knuchelchen auf Knuchelchen geschichtet. Und erst sputer, am
Vorabend der Franzusischen Revolution, nachdem einige der Leichengruben
gefuhrlich eingesturzt waren und der Gestank des uberquellenden Friedhofs
die Anwohner nicht mehr zu bloßen Protesten, sondern zu wahren
Aufstunden trieb, wurde er endlich geschlossen und aufgelassen, wurden die
Millionen Knochen und Schudel in die Katakomben von Montmartre geschaufelt,
und man errichtete an seiner Stelle einen Marktplatz fur Viktualien.
Hier nun, am allerstinkendsten Ort des gesamten Kunigreichs, wurde am
17. Juli 1738 Jean-Baptiste Grenouille geboren. Es war einer der
heißesten Tage des Jahres. Die Hitze lag wie Blei uber dem Friedhof
und quetschte den nach einer Mischung aus fauligen Melonen und verbranntem
Hurn riechenden Verwesungsbrodem in die benachbarten Gassen. Grenouilles
Mutter stand, als die Wehen einsetzten, an einer Fischbude in der Rue aux
Fers und schuppte Weißlinge, die sie zuvor ausgenommen hatte. Die
Fische, angeblich erst am Morgen aus der Seine gezogen, stanken bereits so
sehr, dass ihr Geruch den Leichengeruch uberdeckte. Grenouilles Mutter aber
nahm weder den Fisch- noch den Leichengeruch wahr, denn ihre Nase war gegen
Geruche im huchsten Maße abgestumpft, und außerdem schmerzte ihr
Leib, und der Schmerz tutete alle Empfunglichkeit fur uußere
Sinneseindrucke. Sie wollte nur noch, dass der Schmerz aufhure, sie wollte
die eklige Geburt so rasch als muglich hinter sich bringen. Es war ihre
funfte. Alle vorhergehenden hatte sie hier an der Fischbude absolviert, und
alle waren Totgeburten oder Halbtotgeburten gewesen, denn das blutige
Fleisch, das da herauskam, unterschied sich nicht viel von dem Fischgekruse,
das da schon lag, und lebte auch nicht viel mehr, und abends wurde alles
mitsammen weggeschaufelt und hinubergekarrt zum Friedhof oder hinunter zum
Fluss. So sollte es auch heute sein, und Grenouilles Mutter, die noch eine
junge Frau war, gerade Mitte zwanzig, die noch ganz hubsch aussah und noch
fast alle Zuhne im Munde hatte und auf dem Kopf noch etwas Haar und
außer der Gicht und der Syphilis und einer leichten Schwindsucht keine
ernsthafte Krankheit; die noch hoffte, lange zu leben, vielleicht funf oder
zehn Jahre lang, und vielleicht sogar einmal zu heiraten und wirkliche
Kinder zu bekommen als ehrenwerte Frau eines verwitweten Handwerkers oder
so... Grenouilles Mutter wunschte, dass alles schon voruber wure. Und als
die Presswehen einsetzten, hockte sie sich unter ihren Schlachttisch und
gebar dort, wie schon vier Mal zuvor und nabelte mit dem Fischmesser das
neugeborene Ding ab. Dann aber, wegen der Hitze und des Gestanks, den sie
als solchen nicht wahrnahm, sondern nur als etwas Unertrugliches,
Betuubendes - wie ein Feld von Lilien oder wie ein enges Zimmer, in dem zu
viel Narzissen stehen -, wurde sie ohnmuchtig, kippte zur Seite, fiel unter
dem Tisch hervor mitten auf die Straße und blieb dort liegen, das
Messer in der Hand.
Geschrei, Gerenne, im Kreis steht die glotzende Menge, man holt die
Polizei. Immer noch liegt dieFrau mit dem Messer in der Hand auf der
Straße, la ngsam kommt sie zu sich.
Was ihr geschehen sei?
"Nichts."
Was sie mit dem Messer tue?
"Nichts."
Woher das Blut an ihren Rucken komme?
"Von den Fischen."
Sie steht auf, wirft das Messer weg und geht davon, um sich zu waschen.
Da fungt, wider Erwarten, die Geburt unter dem Schlachttisch zu
schreien an. Man schaut nach, entdeckt unter einem Schwurm von Fliegen und
zwischen Gekruse und abgeschlagenen Fischkupfen das Neugeborene, zerrt es
heraus. Von Amts wegen wird es einer Amme gegeben, die Mutter festgenommen.
Und weil sie gestundig ist und ohne weiteres zugibt, dass sie das Ding
bestimmt wurde haben verrecken lassen, wie sie es im ubrigen schon mit vier
anderen getan habe, macht man ihr den Prozess, verurteilt sie wegen
mehrfachen Kindermords und schlugt ihr ein paar Wochen sputer auf der Place
de Greve den Kopf ab.
Das Kind hatte zu diesem Zeitpunkt bereits das dritte Mal die Amme
gewechselt. Keine wollte es lunger als ein paar Tage behalten. Es sei zu
gierig, hieß es, sauge fur zwei, entziehe den anderen Stillkindern die
Milch und damit ihnen, den Ammen, den Lebensunterhalt, da rentables Stillen
bei einem einzigen Suugling unmuglich sei. Der zustundige Polizeioffizier,
ein gewisser La Fosse, war die Sache alsbald leid und wollte das Kind schon
zur Sammelstelle fur Findlinge und Waisen in der uußeren Rue
Saint-Antoine bringen lassen, von wo aus tuglich Kindertransporte ins
staatliche Großfindelheim von Rouen abgingen. Da nun aber diese
Transporte von Lasttrugern vermittels Bastkiepen durchgefuhrt wurden, in
welche man aus Rationalitutsgrunden bis zu vier Suuglinge gleichzeitig
steckte; da deshalb die Sterberate unterwegs außerordentlich hoch war;
da aus diesem Grund die Kiepentruger angehalten waren, nur getaufte
Suuglinge zu befurdern und nur solche, die mit einem ordnungsgemußen
Transportschein versehen waren, welcher in Rouen abgestempelt werden musste;
da das Kind Grenouille aber weder getauft war noch uberhaupt einen Namen
besaß, den man ordnungsgemuß in den Transportschein hutte
eintragen kunnen; da es ferner seitens der Polizei nicht gut angungig
gewesen wure, ein Kind anonymiter vor den Pforten der Sammelstelle
auszusetzen, was allein die Erfullung der ubrigen Formalituten erubrigt
haben wurde... - aus einer Reihe von Schwierigkeiten burokratischer und
verwaltungstechnischer Art also, die sich bei der Abschiebung des Kleinkinds
zu ergeben schienen, und weil im ubrigen die Zeit drungte, nahm der
Polizeioffizier La Fosse von seinem ursprunglichen Entschluss wieder Abstand
und gab Anweisung, den Knaben bei irgendeiner kirchlichen Institution gegen
Aushundigung einer Quittung abzugeben, damit man ihn dort taufe und uber
sein weiteres Schicksal entscheide. Im Kloster von Saint-Merri in der Rue
Saint-Martin wurde man ihn los. Er erhielt die Taufe und den Namen
Jean-Baptiste. Und weil der Prior an diesem Tage gute Laune hatte und seine
karitativen Fonds noch nicht erschupft waren, ließ man das Kind nicht
nach Rouen exportieren, sondern auf Kosten des Klosters aufpuppeln. Es wurde
zu diesem Behuf einer Amme namens Jeanne Bussie in der Rue Saint-Denis
ubergeben, welche bis auf weiteres drei Franc pro Woche fur ihre Bemuhungen
erhielt.
Einige Wochen sputer stand die Amme Jeanne Bussie mit einem Henkelkorb
in der Hand vor der Pforte des Klosters von Saint-Merri und sagte dem
uffnenden Pater Terrier, einem etwa funfzigjuhrigen kahlkupfigen, leicht
nach Essig riechenden Munch "Da!" und stellte den Henkelkorb auf die
Schwelle.
"Was ist das?" sagte Terrier und beugte sich uber den Korb und
schnupperte daran, denn er vermutete Essbares.
"Der Bastard der Kindermurderin aus der Rue aux Fers!"
Der Pater kramte mit dem Finger im Henkelkorb herum, bis er das Gesicht
des schlafenden Suuglings freigelegt hatte.
"Gut schaut er aus. Rosig und wohlgenuhrt."
"Weil er sich an mir vollgefressen hat. Weil er mich leergepumpt hat
bis auf die Knochen. Aber damit ist jetzt Schluss. Jetzt kunnt Ihr ihn
selber weiterfuttern mit Ziegenmilch, mit Brei, mit Rubensaft. Er frisst
alles, der Bastard."
Pater Terrier war ein gemutlicher Mann. In seine Zustundigkeit fiel die
Verwaltung des klusterlichen Karitativfonds, die Verteilung von Geld an Arme
und Bedurftige. Und er erwartete, dass man ihm dafur Danke sagte und ihn des
weiteren nicht belustigte. Technische Einzelheiten waren ihm sehr zuwider,
denn Einzelheiten bedeuteten immer Schwierigkeiten, und Schwierigkeiten
bedeuteten eine Sturung seiner Gemutsruhe, und das konnte er gar nicht
vertragen. Er urgerte sich, dass er die Pforte uberhaupt geuffnet hatte. Er
wunschte, dass diese Person ihren Henkelkorb nuhme und nach Hause ginge und
ihn in Ruhe ließe mit ihren Suuglingsproblemen.
Langsam richtete er sich auf und sog mit einem Atemzug den Duft von
Milch und kusiger Schafswolle ein, den die Amme verstrumte. Es war ein
angenehmer Duft.
"Ich verstehe nicht, was du willst. Ich verstehe wirklich nicht, worauf
du hinauswillst. Ich kann mir nur vorstellen, dass es diesem Suugling
durchaus nicht schaden wurde, wenn er noch geraume Zeit an deinen Brusten
luge."
"Ihm nicht", schnarrte die Amme zuruck, "aber mir. Zehn Pfund habe ich
abgenommen und dabei gegessen fur drei. Und wofur? Fur drei Franc in der
Woche!"
"Ach, ich verstehe", sagte Terrier fast erleichtert, "ich bin im Bilde:
Es geht also wieder einmal ums Geld."
"Nein!" sagte die Amme.
"Doch! Immer geht es ums Geld. Wenn an diese Pforte geklopft wird, geht
es ums Geld. Einmal wunschte ich mir, dass ich uffnete, und es stunde ein
Mensch da, dem es um etwas anderes ginge. Jemand, der beispielsweise eine
kleine Aufmerksamkeit vorbeibruchte. Beispielsweise etwas Obst oder ein paar
Nusse. Es gibt doch im Herbst eine Menge Dinge, die man vorbeibringen
kunnte. Blumen vielleicht. Oder wenn bloß jemand kume und freundlich
sagte: >Gott zum Gruße, Pater Terrier, ich wunsche Ihnen einen
schunen Tag!< Aber das werde ich wohl nie mehr erleben. Wenn es kein
Bettler ist, dann ist es ein Hundler, und wenn es kein Hundler ist, dann ist
es ein Handwerker, und wenn er kein Almosen will, dann prusentiert er eine
Rechnung. Ich kann schon gar nicht mehr auf die Straße gehen. Wenn ich
auf die Straße gehe, bin ich nach drei Schritten umzingelt von
Individuen, die Geld wollen!"
"Nicht von mir", sagte die Amme.
"Aber ich sage dir eines: Du bist nicht die einzige Amme im Sprengel.
Es gibt Hunderte von erstklassigen Ziehmuttern, die sich darum reißen
werden, diesen entzuckenden Suugling fur drei Franc pro Woche an die Brust
zu legen oder ihm Brei oder Sufte oder sonstige Nuhrmittel
einzuflußen..."
"Dann gebt ihn einer von denen!"
"... Andrerseits ist es nicht gut, ein Kind so herumzuschubsen. Wer
weiß, ob es mit anderer Milch so gut gedeiht wie mit deiner. Es ist
den Duft deiner Brust gewuhnt, musst du wissen, und den Schlag deines
Herzens."
Und abermals nahm er einen tiefen Atemzug vom warmen Dunst, den die
Amme verstrumte, und sagte dann, als er merkte, dass seine Worte keinen
Eindruck auf sie gemacht hatten:
"Nimm jetzt das Kind mit nach Hause! Ich werde die Sache mit dem Prior
besprechen. Ich werde ihm vorschlagen, dir kunftig vier Franc in der Woche
zu geben."
"Nein", sagte die Amme.
"Also gut: funf!"
"Nein."
"Wie viel verlangst du denn noch?" schrie Terrier sie an. "Funf Franc
sind ein Haufen Geld fur die untergeordnete Aufgabe, ein kleines Kind zu
ernuhren!"
"Ich will uberhaupt kein Geld", sagte die Amme. "Ich will den Bastard
aus dem Haus haben."
"Aber warum denn, liebe Frau?" sagte Terrier und fingerte wieder in dem
Henkelkorb herum. "Er ist doch ein allerliebstes Kind. Er sieht rosa aus, er
schreit nicht, er schluft gut, und er ist getauft."
"Er ist vom Teufel besessen."
Rasch zog Terrier seine Finger aus dem Korb.
"Unmuglich! Es ist absolut unmuglich, dass ein Suugling vom Teufel
besessen ist. Ein Suugling ist kein Mensch, sondern ein Vormensch und
besitzt noch keine voll ausgebildete Seele. Infolgedessen ist er fur den
Teufel uninteressant. Spricht er vielleicht schon? Zuckt es in ihm? Bewegt
er Dinge im Zimmer? Geht ein ubler Gestank von ihm aus?"
"Er riecht uberhaupt nicht", sagte die Amme.
"Da hast du es! Das ist ein eindeutiges Zeichen. Wenn er vom Teufel
besessen wure, musste er stinken."
Und um die Amme zu beruhigen und seinen eigenen Mut unter Beweis zu
stellen, hob Terrier den Henkelkorb hoch und hielt ihn sich unter die Nase.
"Ich rieche nichts Absonderliches", sagte er, nachdem er eine Weile
geschnuppert hatte, "wirklich nichts Absonderliches. Mir scheint allerdings,
als ob da etwas aus der Windel ruche." Und er hielt ihr den Korb hin, damit
sie seinen Eindruck bestutige."Das meine ich nicht", sagte die Amme unwirsch
und schob den Korb von sich. "Ich meine nicht das, was in der Windel ist.
Seine Exkremente riechen wohl. Er selbst, der Bastard selbst, riecht nicht."
"Weil er gesund ist", rief Terrier, "weil er gesund ist, deshalb riecht
er nicht! Nur kranke Kinder riechen, das ist doch bekannt. Bekanntlich
riecht ein Kind, das Blattern hat, nach Pferdedung, und eines, welches
Scharlachfieber hat, nach alten upfeln, und ein schwindsuchtiges Kind, das
riecht nach Zwiebeln. Es ist gesund, das ist alles, was ihm fehlt. Soll es
denn stinken? Stinken denn deine eigenen Kinder?"
"Nein", sagte die Amme. "Meine Kinder riechen so, wie Menschenkinder
riechen sollen."
Terrier stellte den Henkelkorb vorsichtig auf den Boden zuruck, denn er
fuhlte, wie die ersten Wallungen von Wut uber die Widerborstigkeit der
Person in ihm aufstiegen. Es war nicht auszuschließen, dass er im
Fortgang des Disputes beide Arme zur freieren Gestik benutigte, und er
wollte nicht, dass der Suugling dadurch Schaden nuhme. Vorerst allerdings
verknotete er seine Hunde hinter dem Rucken, streckte der Amme seinen
spitzen Bauch entgegen und fragte scharf: "Du behauptest also zu wissen, wie
ein Menschenkind, das ja immerhin auch - daran muchte ich erinnern, zumal
wenn es getauft ist - ein Gotteskind ist, zu riechen habe?"
"Ja", sagte die Amme.
"Und behauptest ferner, dass, wenn es nicht ruche, wie du meintest,
dass es riechen solle - du, die Amme Jeanne Bussie aus der Rue Saint-Denis!
-, es dann ein Kind des Teufels sei?" Er schwang die Linke hinter seinem
Rucken hervor und hielt ihr drohend den gebogenen Zeigefinger wie ein
Fragezeichen vors Gesicht. Die Amme uberlegte. Es war ihr nicht recht, dass
das Gespruch mit einem Mal zu einem theologischen Verhur ausartete, bei dem
sie nur unterliegen konnte.
"Das will ich nicht gesagt haben", antwortete sie ausweichend. "Ob die
Sache etwas mit dem Teufel zu tun hat oder nicht, das musst Ihr selbst
entscheiden, Pater Terrier, dafur bin ich nicht zustundig. Ich weiß
nur eins: dass mich vor diesem Suugling graust, weil er nicht riecht, wie
Kinder riechen sollen."
"Aha", sagte Terrier befriedigt und ließ seinen Arm wieder
zuruckpendeln. "Das mit dem Teufel nehmen wir also wieder zuruck. Gut. Aber
nun sage mir gefulligst: Wie riecht ein Suugling denn, wenn er so riecht,
wie du glaubst, dass er riechen solle? Na?"
"Gut riecht er", sagte die Amme.
"Was heisst >gut<?" brullte Terrier sie an. "Gut riecht vieles.
Ein Bund Lavendel riecht gut. Suppenfleisch riecht gut. Die Gurten von
Arabien riechen gut. Wie riecht ein Suugling, will ich wissen?"
Die Amme zugerte. Sie wusste wohl, wie Suuglinge rochen, sie wusste es
ganz genau, sie hatte doch schon Dutzende genuhrt, gepflegt, geschaukelt,
gekusst... sie konnte sie nachts mit der Nase finden, sie trug den
Suuglingsgeruch selbst jetzt deutlich in der Nase. Aber sie hatte ihn noch
nie mit Worten bezeichnet.
"Na?" bellte Terrier und knipste ungeduldig an seinen Fingernugeln.
"Also -", begann die Amme, "es ist nicht ganz leicht zu sagen, weil...
weil, sie riechen nicht uberall gleich, obwohl sie uberall gut riechen,
Pater, verstehen Sie, also an den Fußen zum Beispiel, da riechen sie
wie ein glatter warmer Stein - nein eher wie Topfen... oder wie Butter, wie
frische Butter, ja genau: wie frische Butter riechen sie. Und am Kurper
riechen sie wie ... wie eine Galette, die man in Milch gelegt hat. Und am
Kopf, da oben, hinten auf dem Kopf, wo das Haar den Wirbel macht, da,
schauen Sie, Pater, da, wo bei Ihnen nichts mehr ist...", und sie tippte
Terrier, der uber diesen Schwall detaillierter Dummheit fur einen Moment
sprachlos geworden war und gehorsam den Kopf gesenkt hatte, auf die Glatze,
"... hier, genau hier, da riechen sie am besten. Da riechen sie nach
Karamel, das riecht so suß, so wunderbar, Pater, Sie machen sich keine
Vorstellung! Wenn man sie da gerochen hat, dann liebt man sie, ganz gleich
ob es die eignen oder fremde sind. Und so und nicht anders mussen kleine
Kinder riechen. Und wenn sie nicht so riechen, wenn sie da oben gar nicht
riechen, noch weniger als kalte Luft, so wie der da, der Bastard, dann...
Sie kunnen das erkluren, wie Sie wollen, Pater, aber ich" - und sie
verschrunkte entschlossen die Arme unter ihrem Busen und warf einen so
angeekelten Blick auf den Henkelkorb zu ihren Fußen, als enthielte er
Kruten -, "ich, Jeanne Bussie, werde das da nicht mehr zu mir nehmen!"
Pater Terrier hob langsam den gesenkten Kopf und fuhr sich ein paarmal
mit dem Finger uber die Glatze, als wolle er dort Haare ordnen, legte den
Finger wie zufullig unter seine Nase und schnupperte nachdenklich.
"Wie Karamel...?" fragte er und versuchte, seinen strengen Ton
wiederzufinden... "Karamel! Was weisst du von Karamel? Hast du schon mal
welches gegessen?"
"Nicht direkt", sagte die Amme. "Aber ich war einmal in einem
großen Hotel in der Rue Saint-Honore und habe zugesehen, wie es
gemacht wurde aus geschmolzenem Zucker und Rahm. Es roch so gut, dass ich es
nicht mehr vergessen habe."
"Jaja. Schon recht", sagte Terrier und entfernte den Finger von der
Nase. "Bitte schweige jetzt! Es ist fur mich uberaus anstrengend, mich
weiterhin auf diesem Niveau mit dir zu unterhalten. Ich stelle fest, du
weigerst dich, aus welchen Grunden auch immer, den dir anvertrauten Suugling
Jean-Baptiste Grenouille weiter zu ernuhren, und erstattest ihn hiermit
seinem provisorischen Vormund, dem Kloster von Saint-Merri zuruck. Ich finde
das betrublich, aber ich kann es wohl nicht undern. Du bist entlassen."
Damit packte er den Henkelkorb, nahm noch einen Atemzug von dem
verwehenden warmen, wolligen Milchdunst und warf das Tor ins Schloss. Dann
ging er in sein Buro.
Pater Terrier war ein gebildeter Mann. Er hatte nicht nur Theologie
studiert, sondern auch die Philosophen gelesen und beschuftigte sich
nebenbei mit Botanik und Alchemie. Er hielt einiges auf die Kraft seines
kritischen Geistes. Zwar wure er nicht so weit gegangen, wie manche es
taten, die Wunder, die Orakel oder die Wahrheit der Texte der Heiligen
Schrift in Frage zu stellen, auch wenn sie strenggenommen mit Vernunft
allein nicht zu erkluren waren, ja dieser sogar oft direkt widersprachen.
Von solchen Problemen ließ er lieber seine Finger, sie waren ihm zu
ungemutlich und wurden ihn nur in die peinlichste Unsicherheit und Unruhe
sturzen, wo man doch, gerade um sich seiner Vernunft zu bedienen, der
Sicherheit und der Ruhe bedurfte. Was er aber aufs entschiedenste bekumpfte,
waren die abergluubischen Vorstellungen des einfachen Volkes: Hexerei und
Kartenlesen, Amulettgetrage, buser Blick, Beschwurungen, Vollmondhokuspokus
und was sie sonst noch alles trieben - es war ja tief deprimierend zu sehen,
dass solche heidnischen Gebruuche nach uber tausendjuhriger fester
Installation der christlichen Religion immer noch nicht ausgerottet waren!
Auch die meisten Fulle von sogenannter Teufelsbesessenheit und
Satansbundelei erwiesen sich bei nuherer Betrachtung als abergluubisches
Spektakel. Zwar, die Existenz des Satans selbst zu leugnen, seine Macht zu
bezweifeln - so weit wurde Terrier nicht gehen; solche Probleme zu
entscheiden, die die Grundfesten der Theologie beruhrten, waren andere
Instanzen berufen als ein kleiner einfacher Munch. Auf der anderen Seite lag
es klar zutage, dass, wenn eine einfultige Person wie jene Amme behauptete,
sie habe einen Teufelsspuk entdeckt, der Teufel nie und nimmer seine Hand im
Spiel haben konnte. Gerade dass sie ihn entdeckt zu haben glaubte, war ein
sicherer Beweis dafur, dass da nichts Teuflisches zu entdecken war, denn so
dumm stellte sich der Teufel auch wieder nicht an, dass er sich von der Amme
Jeanne Bussie entlarven ließ. Und noch dazu mit der Nase! Mit dem
primitiven Geruchsorgan, dem niedrigsten der Sinne! Als ruche die Hulle nach
Schwefel und das Paradies nach Weihrauch und Myrrhe! Schlimmster Aberglaube,
wie in dunkelster heidnischster Vorzeit, als die Menschen noch wie Tiere
lebten, als sie noch keine scharfen Augen besaßen, die Farbe nicht
kannten, aber Blut riechen zu kunnen glaubten, meinten, Freund von Feind zu
erriechen, von kannibalischen Riesen und Werwulfen gewittert und von
Erinnyen gerochen zu werden, und ihren scheußlichen Guttern stinkende,
qualmende Brandopfer brachten. Entsetzlich! >Es sieht der Narr mit der
Nase< mehr als mit den Augen, und wahrscheinlich musste das Licht der
gottgegebenen Vernunft noch tausend weitere Jahre leuchten, ehe die letzten
Reste des primitiven Glaubens verscheucht waren.
"Ach, und das arme kleine Kind! Das unschuldige Wesen! Liegt in seinem
Korb und schlummert, ahnt nichts von den ekligen Verduchtigungen, die gegen
es erhoben werden. Du ruchest nicht, wie Menschenkinder riechen sollen, wagt
die unverschumte Person zu behaupten. Ja, was sagen wir denn dazu?
Duziduzi!"
Und er wiegte den Korb sachte auf den Knien, streichelte dem Suugling
mit dem Finger uber den Kopf und sagte von Zeit zu Zeit "duziduzi", was er
fur einen auf Kleinkinder zurtlich und beruhigend wirkenden Ausdruck hielt.
"Nach Karamel sollst du riechen, so ein Unsinn, duziduzi!"
Nach einer Weile zog er den Finger zuruck, hielt ihn sich unter die
Nase, schnupperte, roch aber nichts als das Sauerkraut, das er mittags
gegessen hatte. Er zugerte einen Moment, blickte sich um, ob ihn auch
niemand beobachte, hob den Korb empor, senkte seine dicke Nase hinein. Ganz
knapp, so dass die dunnen rutlichen Kindshaare seine Nustern kitzelten,
schnoberte er uber den Kopf des Suuglings, in der Erwartung, einen Geruch
aufzusaugen. Er wusste nicht so recht, wie Suuglinge am Kopf zu riechen
hatten. Naturlich nicht nach Karamel, so viel stand fest, denn Karamel war
ja geschmolzener Zucker, und wie sollte ein Suugling, der bisher nur Milch
getrunken hatte, nach geschmolzenem Zucker riechen. Nach Milch kunnte er
riechen, nach Ammenmilch. Aber er roch nicht nach Milch. Nach Haaren konnte
er riechen, nach Haut und Haaren und vielleicht nach ein bisschen
Kinderschweiß. Und Terrier schnupperte und stellte sich darauf ein,
Haut, Haare und ein bisschen Kinderschweiß zu riechen. Aber er roch
nichts. Beim besten Willen nichts. Wahrscheinlich riecht ein Suugling nicht,
dachte er, so wird das sein. Ein Suugling, sofern reinlich gehalten, riecht
eben nicht, genausowenig wie er spricht, luuft oder schreibt. Diese Dinge
kommen erst mit dem Alter. Strenggenommen strumt der Mensch sogar erst Duft
aus, wenn er pubertiert. So ist das und nicht anders. Schreibt nicht schon
Horaz "Es buckelt der Jungling, es duftet erbluhend die Jungfrau wie eine
weiße Narzisse..."?- und die Rumer verstanden etwas davon! Der
Menschenduft ist immer ein fleischlicher Duft - also ein sundiger Duft. Wie
sollte also ein Suugling, der doch noch nicht einmal im Traume die
fleischliche Sunde kennt, riechen? Wie sollte er riechen? Duziduzi? Gar
nicht!
Er hatte den Korb wieder auf die Knie gestellt und hutschte ihn sachte.
Das Kind schlief noch immer fest. Seine rechte Faust schaute unter der Decke
hervor, klein und rot, und zuckte manchmal ruhrend gegen die Wange. Terrier
luchelte und kam sich plutzlich sehr gemutlich vor. Fur einen Moment
gestattete er sich den phantastischen Gedanken, er selbst sei der Vater des
Kindes. Er wure kein Munch geworden, sondern ein normaler Burger, ein
rechtschaffener Handwerker vielleicht, hutte ein Weib genommen, ein warmes
wollig und milchig duftendes Weib, und hutte mit ihr einen Sohn gezeugt und
hutschte ihn nun hier auf seinen eigenen Knien, sein eigenes Kind,
duziduziduzi... Es war ihm wohl bei diesem Gedanken. Der Gedanke hatte etwas
so Ordentliches. Ein Vater hutscht seinen Sohn auf den Knien, duziduzi, es
war ein Bild so alt wie die Welt und immer ein neues und richtiges Bild,
solange die Welt bestand, ach ja! Es wurde Terrier ein bisschen warm ums
Herz und sentimental im Gemut.
Da erwachte das Kind. Es erwachte zuerst mit der Nase. Die winzige Nase
bewegte sich, sie zog sich nach oben und schnupperte. Sie sog die Luft ein
und schnaubte sie in kurzen Stußen aus, wie bei einem unvollkommenen
Niesen. Dann rumpfte sich die Nase, und das Kind tat die Augen auf. Die
Augen waren von unbestimmter Farbe, zwischen austerngrau und
opalweiß-cremig, von einer Art schleimigem Schleier uberzogen und
offenbar noch nicht sehr gut zum Sehen geeignet. Terrier hatte den Eindruck,
dass sie ihn gar nicht gewahrten. Anders die Nase. Wuhrend die matten Augen
des Kindes ins Unbestimmte schielten, schien die Nase ein bestimmtes Ziel zu
fixieren, und Terrier hatte das sehr sonderbare Gefuhl, als sei dieses Ziel
er, seine Person, Terrier selbst. Die winzigen Nasenflugel um die zwei
winzigen Lucher mitten im Gesicht des Kindes bluhten sich wie eine
aufgehende Blute. Oder eher wie die Nupfe jener kleinen fleischfressenden
Pflanzen, die man im botanischen Garten des Kunigs hielt. Und wie von diesen
schien ein unheimlicher Sog von ihnen auszugehen. Es war Terrier, als sehe
ihn das Kind mit seinen Nustern, als sehe es ihn scharf und prufend an,
durchdringender, als man es mit Augen kunnte, als verschlunge es etwas mit
seiner Nase, das von ihm, Terrier, ausging, und das er nicht zuruckhalten
und nicht verbergen konnte... Das geruchlose Kind roch ihn schamlos ab, so
war es! Es witterte ihn aus! Und er kam sich mit einem Mal stinkend vor,
nach Schweiß und Essig, nach Sauerkraut und ungewaschenen Kleidern. Er
kam sich nackt und hußlich vor, wie begafft von jemandem, der
seinerseits nichts von sich preisgab. Selbst durch seine Haut schien es
hindurchzuriechen, in sein Innerstes hinein. Die zartesten Gefuhle, die
schmutzigsten Gedanken lagen bloß vor dieser gierigen kleinen Nase,
die noch gar keine rechte Nase war, sondern nur ein Stups, ein sich stundig
kruuselndes und bluhendes und bebendes winziges luchriges Organ. Terrier
schauderte. Er ekelte sich. Er verzog nun seinerseits die Nase wie vor etwas
ubelriechendem, mit dem er nichts zu tun haben wollte. Vorbei der
anheimelnde Gedanke, es handle sich ums eigne Fleisch und Blut. Zerstoben
das sentimentale Idyll von Vater und Sohn und duftender Mutter. Wie
weggerissen der gemutlich umhullende Gedankenschleier, den er sich um das
Kind und sich selbst zurecht phantasiert hatte: Ein fremdes, kaltes Wesen
lag auf seinen Knien, ein feindseliges Animal, und wenn er nicht ein so
besonnener und von Gottesfurcht und rationaler Einsicht geleiteter Charakter
gewesen wure, so hutte er es in einem Anflug von Ekel wie eine Spinne von
sich geschleudert.
Mit einem Ruck stand Terrier auf und setzte den Korb auf den Tisch. Er
wollte das Ding loshaben, muglichst schnell, muglichst gleich, muglichst
sofort.
Und da begann es zu schreien. Es kniff die Augen zusammen, riss seinen
roten Schlund auf und kreischte so widerwurtig schrill, dass Terrier das
Blut in den Adern erstarrte. Er schuttelte den Korb mit ausgestreckter Hand
und schrie "Duziduzi", um das Kind zum Schweigen zu bringen, aber es brullte
nur noch lauter und wurde ganz blau im Gesicht und sah aus, als wolle es vor
Brullen zerplatzen.
Weg damit! dachte Terrier, augenblicklich weg mit diesem...
>Teufel< wollte er sagen und riss sich zusammen und verkniff es
sich,... weg mit diesem Unhold, mit diesem unertruglichen Kind! Aber wohin?
Er kannte ein Dutzend Ammen und Waisenhuuser im Quartier, aber das war ihm
zu nah, zu dicht auf der Haut war ihm das, weiter weg musste das Ding, so
weit, dass man's nicht hurte, so weit, dass man's ihm nicht jede Stunde
wieder vor die Ture stellen konnte, nach Muglichkeit musste es in einen
anderen Sprengel, ans andere Ufer noch besser, am allerbesten extra muros,
in den Faubourg Saint-Antoine, das war's!, dahin kam der schreiende Balg,
weit nach Osten, jenseits der Bastille, wo man nachts die Tore schloss.
Und er raffte seine Soutane und ergriff den brullenden Korb und rannte
davon, rannte durch das Gassengewirr zur Rue du Faubourg Saint-Antoine, die
Seine hinauf nach Osten, zur Stadt hinaus, weit, weit hinaus bis zur Rue de
Charonne und diese fast bis zum Ende, wo er, in der Nuhe des Klosters der
Madeleine de Trenelle, die Adresse einer gewissen Madame Gaillard kannte,
welche Kostkinder jeglichen Alters und jeglicher Art aufnahm, solange nur
jemand dafur zahlte, und dort gab er das immer noch schreiende Kind ab,
zahlte fur ein Jahr im voraus und floh zuruck in die Stadt, warf, im Kloster
angekommen, seine Kleider wie etwas Beflecktes ab, wusch sich von Kopf bis
Fuß und kroch in seiner Kammer ins Bett, wo er viele Kreuze schlug,
lange betete und endlich erleichtert entschlief.
Madame Gaillard, obwohl noch keine dreißig Jahre alt, hatte das
Leben schon hinter sich. uußerlich sah sie so alt aus, wie es ihrem
wirklichen Alter entsprach, und zugleich doppelt und dreimal und hundertmal
so alt, numlich wie die Mumie eines Mudchens; innerlich aber war sie lungst
tot. Als Kind hatte sie von ihrem Vater einen Schlag mit dem Feuerhaken uber
die Stirn bekommen, knapp oberhalb der Nasenwurzel, und seither den
Geruchssinn verloren und jedes Gefuhl fur menschliche Wurme und menschliche
Kulte und uberhaupt jede Leidenschaft. Zurtlichkeit war ihr mit diesem einen
Schlag ebenso fremd geworden wie Abscheu, Freude so fremd wie Verzweiflung.
Sie empfand nichts, als sie sputer ein Mann beschlief, und ebenso nichts,
als sie ihre Kinder gebar. Sie trauerte nicht uber die, die ihr starben, und
freute sich nicht an denen, die ihr blieben. Als ihr Mann sie prugelte,
zuckte sie nicht, und sie verspurte keine Erleichterung, als er im
Hotel-Dieu an der Cholera starb. Die zwei einzigen Sensationen, die sie
kannte, waren eine ganz leichte Gemutsverdusterung, wenn die monatliche
Migrune nahte, und eine ganz leichte Gemutsaufhellung, wenn die Migrune
wieder wich. Sonst spurte diese abgestorbene Frau nichts.
Auf der anderen Seite... oder vielleicht gerade wegen ihrer
vollkommenen Emotionslosigkeit, besaß Madame Gaillard einen
gnadenlosen Ordnungs- und Gerechtigkeitssinn. Sie bevorzugte keines der ihr
anvertrauten Kinder und benachteiligte keines. Sie verabreichte drei
Mahlzeiten am Tag und keinen kleinsten Happen mehr. Sie windelte die Kleinen
dreimal am Tag und nur bis zum zweiten Geburtstag. Wer danach noch in die
Hose schiss, erhielt eine vorwurfslose Ohrfeige und eine Mahlzeit weniger.
Exakt die Hulfte des Kostgelds verwandte sie fur die Zuglinge, exakt die
Hulfte behielt sie fur sich. Sie versuchte in billigen Zeiten nicht, ihren
Gewinn zu erhuhen; aber sie legte in harten Zeiten nicht einen einzigen Sol
zu, auch nicht, wenn es auf Leben und Tod ging. Das Geschuft hutte sich
sonst fur sie nicht mehr gelohnt. Sie brauchte das Geld. Sie hatte sich das
ganz genau ausgerechnet. Im Alter wollte sie sich eine Rente kaufen und
daruberhinaus noch so viel besitzen, dass sie es sich leisten konnte, zu
Hause zu sterben und nicht im Hotel-Dieu zu verrecken wie ihr Mann. Sein Tod
selbst hatte sie kaltgelassen. Aber ihr graute vor diesem uffentlichen
gemeinsamen Sterben mit Hunderten von fremden Menschen. Sie wollte sich
einen privaten Tod leisten, und dazu brauchte sie die volle Marge vom
Kostgeld: Zwar, es gab Winter, da starben ihr von den zwei Dutzend kleinen
Pensionuren drei oder vier. Doch damit lag sie immer noch erheblich besser
als die meisten anderen privaten Ziehmutter und ubertraf die großen
staatlichen oder kirchlichen Findelhuuser, deren Verlustquote oft neun
Zehntel betrug, bei weitem. Es gab ja auch viel Ersatz. Paris produzierte im
Jahr uber zehntausend neue Findelkinder, Bastarde und Waisen. So ließ
sich mancher Ausfall verschmerzen.
Fur den kleinen Grenouille war das Etablissement der Madame Gaillard
ein Segen. Wahrscheinlich hutte er nirgendwo anders uberleben kunnen. Hier
aber, bei dieser seelenarmen Frau gedieh er. Er besaß eine zuhe
Konstitution. Wer wie er die eigene Geburt im Abfall uberlebt hatte,
ließ sich nicht mehr so leicht aus der Welt bugsieren. Er konnte
tagelang wussrige Suppen essen, er kam mit der dunnsten Milch aus, vertrug
das faulste Gemuse und verdorbenes Fleisch. Im Verlauf seiner Kindheit
uberlebte er die Masern, die Ruhr, die Windpocken, die Cholera, einen
Sechsmetersturz in einen Brunnen und die Verbruhung der Brust mit kochendem
Wasser. Zwar trug er Narben davon und Schrunde und Grind und einen leicht
verkruppelten Fuß, der ihn hatschen machte, aber er lebte. Er war zuh
wie ein resistentes Bakterium und genugsam wie ein Zeck, der still auf einem
Baum sitzt und von einem winzigen Blutstrupfchen lebt, das er vor Jahren
erbeutet hat. Ein minimales Quantum an Nahrung und Kleidung brauchte er fur
seinen Kurper. Fur seine Seele brauchte er nichts. Geborgenheit, Zuwendung,
Zurtlichkeit, Liebe - oder wie die ganzen Dinge hießen, deren ein Kind
angeblich bedurfte - waren dem Kinde Grenouille vullig entbehrlich.
Vielmehr, so scheint uns, hatte er sie sich selbst entbehrlich gemacht, um
uberhaupt leben zu kunnen, von Anfang an. Der Schrei nach seiner Geburt, der
Schrei unter dem Schlachttisch hervor, mit dem er sich in Erinnerung und
seine Mutter aufs Schafott gebracht hatte, war kein instinktiver Schrei nach
Mitleid und Liebe gewesen. Es war ein wohlerwogener, fast muchte man sagen
ein reiflich erwogener Schrei gewesen, mit dem sich das Neugeborene gegen
die Liebe und dennoch fur das Leben entschieden hatte. Unter den obwaltenden
Umstunden war dieses ja auch nur ohne jene muglich, und hutte das Kind
beides gefordert, so wure es zweifellos alsbald elend zugrunde gegangen. Es
hutte damals allerdings auch die zweite ihm offenstehende Muglichkeit
ergreifen und schweigen und den Weg von der Geburt zum Tode ohne den Umweg
uber das Leben wuhlen kunnen, und es hutte damit der Welt und sich selbst
eine Menge Unheil erspart. Um aber so bescheiden abzutreten, hutte es eines
Mindestmaßes an eingeborener Freundlichkeit bedurft, und die
besaß Grenouille nicht. Er war von Beginn an ein Scheusal. Er
entschied sich fur das Leben aus reinem Trotz und aus reiner Boshaftigkeit.
Selbstverstundlich entschied er sich nicht, wie ein erwachsener Mensch
sich entscheidet, der seine mehr oder weniger große Vernunft und
Erfahrung gebraucht, um zwischen verschiedenen Optionen zu wuhlen. Aber er
entschied sich doch vegetativ, so wie eine weggeworfene Bohne entscheidet,
ob sie nun keimen soll oder ob sie es besser bleiben lusst.
Oder wie jener Zeck auf dem Baum, dem doch das Leben nichts anderes zu
bieten hat als ein immerwuhrendes uberwintern. Der kleine hußliche
Zeck, der seinen bleigrauen Kurper zur Kugel formt, um der Außenwelt
die geringstmugliche Fluche zu bieten; der seine Haut glatt und derb macht,
um nichts zu verstrumen, kein bisschen von sich hinauszutranspirieren. Der
Zeck, der sich extra klein und unansehnlich macht, damit niemand ihn sehe
und zertrete. Der einsame Zeck, der in sich versammelt auf seinem Baume
hockt, blind, taub und stumm, und nur wittert, jahrelang wittert,
meilenweit, das Blut voruberwandernder Tiere, die er aus eigner Kraft
niemals erreichen wird. Der Zeck kunnte sich fallen lassen. Er kunnte sich
auf den Boden des Waldes fallen lassen, mit seinen sechs winzigen Beinchen
ein paar Millimeter dahin und dorthin kriechen und sich unters Laub zum
Sterben legen, es wure nicht schade um ihn, weiß Gott nicht. Aber der
Zeck, bockig, stur und eklig, bleibt hocken und lebt und wartet. Wartet, bis
ihm der huchst unwahrscheinliche Zufall das Blut in Gestalt eines Tieres
direkt unter den Baum treibt. Und dann erst gibt er seine Zuruckhaltung auf,
lusst sich fallen und krallt und bohrt und beisst sich in das fremde
Fleisch...
So ein Zeck war das Kind Grenouille. Es lebte in sich selbst verkapselt
und wartete auf bessere Zeiten. An die Welt gab es nichts ab als seinen Kot;
kein Lucheln, keinen Schrei, keinen Glanz des Auges, nicht einmal einen
eigenen Duft. Jede andere Frau hutte dieses monstruse Kind verstoßen.
Nicht so Madame Gaillard. Sie roch ja nicht, dass es nicht roch, und sie
erwartete keine seelische Regung von ihm, weil ihre eigene Seele versiegelt
war.
Die andern Kinder dagegen spurten sofort, was es mit Grenouille auf
sich hatte. Vom ersten Tag an war ihnen der Neue unheimlich. Sie mieden die
Kiste, in der er lag, und ruckten auf ihren Schlafgestellen enger zusammen,
als wure es kulter geworden im Zimmer. Die jungeren schrien manchmal des
Nachts; ihnen war, als zuge ein Windzug durch die Kammer. Andere truumten,
es nehme ihnen etwas den Atem. Einmal taten sich die ulteren zusammen, um
ihn zu ersticken. Sie huuften Lumpen und Decken und Stroh auf sein Gesicht
und beschwerten das ganze mit Ziegeln. Als Madame Gaillard ihn am nuchsten
Morgen ausgrub, war er zerknautscht und zerdruckt und blau, aber nicht tot.
Sie versuchten es noch ein paarmal, vergebens. Ihn direkt zu erwurgen, am
Hals, mit eigenen Hunden, oder ihm Mund oder Nase zu verstopfen, was eine
sicherere Methode gewesen wure, das wagten sie nicht. Sie wollten ihn nicht
beruhren. Sie ekelten sich vor ihm wie vor einer dicken Spinne, die man
nicht mit eigner Hand zerquetschen will.
Als er grußer wurde, gaben sie die Mordanschluge auf. Sie hatten
wohl eingesehen, dass er nicht zu vernichten war. Statt dessen gingen sie
ihm aus dem Weg, liefen davon, huteten sich in jedem Fall vor Beruhrung. Sie
hassten ihn nicht. Sie waren auch nicht eifersuchtig oder futterneidisch auf
ihn. Fur solche Gefuhle hutte es im Hause Gaillard nicht den geringsten
Anlass gegeben. Es sturte sie ganz einfach, dass er da war. Sie konnten ihn
nicht riechen. Sie hatten Angst vor ihm.
Dabei besaß er, objektiv gesehen, gar nichts
Angsteinflußendes. Er war, als er heranwuchs, nicht besonders
groß, nicht stark, zwar hußlich, aber nicht so extrem
hußlich, dass man vor ihm hutte erschrecken mussen. Er war nicht
aggressiv, nicht link, nicht hinterhultig, er provozierte nicht. Er hielt
sich lieber abseits. Auch seine Intelligenz schien alles andere als
furchterlich zu sein. Erst mit drei Jahren begann er auf zwei Beinen zu
stehen, sein erstes Wort sprach er mit vier, es war das Wort "Fische", das
in einem Moment plutzlicher Erregung aus ihm hervorbrach wie ein Echo, als
von ferne ein Fischverkuufer die Rue de Charonne heraufkam und seine Ware
ausschrie. Die nuchsten Wurter, derer er sich entuußerte, waren
"Pelargonie", "Ziegenstall", "Wirsing" und "Jacqueslorreur", letzteres der
Name eines Gurtnergehilfen des nahegelegenen Stifts der Filles de la Croix,
der bei Madame Gaillard gelegentlich grubere und grubste Arbeiten
verrichtete und sich dadurch auszeichnete, dass er sich im Leben noch kein
einziges Mal gewaschen hatte. Mit den Zeitwurtern, den Adjektiven und
Fullwurtern hatte er es weniger. Bis auf "ja" und "nein" - die er ubrigens
sehr sput zum ersten Mal aussprach - gab er nur Hauptwurter, ja eigentlich
nur Eigennamen von konkreten Dingen, Pflanzen, Tieren und Menschen von sich,
und auch nur dann, wenn ihn diese Dinge, Pflanzen, Tiere oder Menschen
unversehens geruchlich uberwultigten.
In der Murzsonne auf einem Stapel Buchenscheite sitzend, die in der
Wurme knackten, war es, dass er zum ersten Mal das Wort "Holz" aussprach. Er
hatte hundertmal zuvor schon Holz gesehen, das Wort schon hundertmal gehurt.
Er verstand es auch, war er doch im Winter oft hinausgeschickt worden, um
Holz zu holen. Aber der Gegenstand Holz war ihm nie interessant genug
vorgekommen, als dass er sich die Muhe gegeben hutte, seinen Namen
auszusprechen. Das geschah erst an jenem Murztag, als er auf dem Stapel
saß. Der Stapel war wie eine Bank an der Sudseite des Schuppens von
Madame Gaillard unter einem uberhungenden Dach aufgeschichtet. Brenzlig
suß rochen die obersten Scheite, moosig duftete es aus der Tiefe des
Stapels herauf, und von der Fichtenwand des Schuppens fiel in der Wurme
bruseliger Harzduft ab. Grenouille saß mit ausgestreckten Beinen auf
dem Stapel, den Rucken gegen die Schuppenwand gelehnt, er hatte die Augen
geschlossen und ruhrte sich nicht. Er sah nichts, er hurte und spurte
nichts. Er roch nur den Duft des Holzes, der um ihn herum aufstieg und sich
unter dem Dach wie unter einer Haube fing. Er trank diesen Duft, er ertrank
darin, imprugnierte sich damit bis in die letzte innerste Pore, wurde selbst
Holz, wie eine hulzerne Puppe, wie ein Pinocchio lag er auf dem
Holzstoß, wie tot, bis er, nach langer Zeit, vielleicht nach einer
halben Stunde erst, das Wort "Holz" hervorwurgte. Als sei er angefullt mit
Holz bis uber beide Ohren, als stunde ihm das Holz schon bis zum Hals, als
habe er den Bauch, den Schlund, die Nase ubervoll von Holz, so kotzte er das
Wort heraus. Und das brachte ihn zu sich, errettete ihn, kurz bevor die
uberwultigende Gegenwart des Holzes selbst, sein Duft, ihn zu ersticken
drohte. Er rappelte sich auf, rutschte von dem Stapel herunter und wankte
wie auf hulzernen Beinen davon. Noch Tage sputer war er von dem intensiven
Geruchserlebnis ganz benommen und brabbelte, wenn die Erinnerung daran zu
kruftig in ihm aufstieg, beschwurend "Holz, Holz" vor sich hin.
So lernte er sprechen. Mit Wurtern, die keinen riechenden Gegenstand
bezeichneten, mit abstrakten Begriffen also, vor allem ethischer und
moralischer Natur, hatte er die grußten Schwierigkeiten. Er konnte sie
nicht behalten, verwechselte sie, verwendete sie noch als Erwachsener ungern
und oft falsch: Recht, Gewissen, Gott, Freude, Verantwortung, Demut,
Dankbarkeit usw. - was damit ausgedruckt sein sollte, war und blieb ihm
schleierhaft.
Andrerseits hutte die gungige Sprache schon bald nicht mehr
ausgereicht, all jene Dinge zu bezeichnen, die er als olfaktorische Begriffe
in sich versammelt hatte. Bald roch er nicht mehr bloß Holz, sondern
Holzsorten, Ahornholz, Eichenholz, Kiefernholz, Ulmenholz, Birnbaumholz,
altes, junges, morsches, modriges, moosiges Holz, ja sogar einzelne
Holzscheite, Holzsplitter und Holzbrusel - und roch sie als so deutlich
unterschiedene Gegenstunde, wie andre Leute sie nicht mit Augen hutten
unterscheiden kunnen. uhnlich erging es ihm mit anderen Dingen. Dass jenes
weiße Getrunk, welches Madame Gaillard allmorgendlich ihren Zuglingen
verabreichte, durchweg als Milch bezeichnet wurde, wo es doch nach
Grenouilles Empfinden jeden Morgen durchaus anders roch und schmeckte, je
nachdem wie warm es war, von welcher Kuh es stammte, was diese Kuh gefressen
hatte, wieviel Rahm man ihm belassen hatte und so fort... dass Rauch, dass
ein von hundert Einzelduften schillerndes, minuten-, ja sekundenweis sich
wandelndes und zu neuer Einheit mischendes Geruchsgebilde wie der Rauch des
Feuers nur eben jenen einen Namen "Rauch" besaß... dass Erde,
Landschaft, Luft, die von Schritt zu Schritt und von Atemzug zu Atemzug von
anderem Geruch erfullt und damit von andrer Identitut beseelt waren, dennoch
nur mit jenen drei plumpen Wurtern bezeichnet sein sollten - all diese
grotesken Missverhultnisse zwischen dem Reichtum der geruchlich
wahrgenommenen Welt und der Armut der Sprache, ließen den Knaben
Grenouille am Sinn der Sprache uberhaupt zweifeln; und er bequemte sich zu
ihrem Gebrauch nur, wenn es der Umgang mit anderen Menschen unbedingt
erforderlich machte.
Mit sechs Jahren hatte er seine Umgebung olfaktorisch vollstundig
erfasst. Es gab im Hause der Madame Gaillard keinen Gegenstand, in der
nurdlichen Rue de Charonne keinen Ort, keinen Menschen, keinen Stein, Baum,
Strauch oder Lattenzaun, keinen noch so kleinen Flecken, den er nicht
geruchlich kannte, wiedererkannte und mit der jeweiligen Einmaligkeit fest
im Geduchtnis verwahrte. Zehntausend, hunderttausend spezifische
Eigengeruche hatte er gesammelt und hielt sie zu seiner Verfugung, so
deutlich, so beliebig, dass er sich nicht nur ihrer erinnerte, wenn er sie
wieder roch, sondern dass er sie tatsuchlich roch, wenn er sich ihrer wieder
erinnerte; ja, mehr noch, dass er sie sogar in seiner bloßen Phantasie
untereinander neu zu kombinieren verstand und dergestalt in sich Geruche
erschuf, die es in der wirklichen Welt gar nicht gab. Es war, als
besuße er ein riesiges selbsterlerntes Vokabular von Geruchen, das ihn
befuhigte, eine schier beliebig große Menge neuer Geruchssutze zu
bilden und dies in einem Alter, da andere Kinder mit den ihnen muhsam
eingetrichterten Wurtern die ersten, zur Beschreibung der Welt huchst
unzulunglichen konventionellen Sutze stammelten. Am ehesten war seine
Begabung vielleicht der eines musikalischen Wunderkindes vergleichbar, das
den Melodien und Harmonien das Alphabet der einzelnen Tune abgelauscht hatte
und nun selbst vollkommen neue Melodien und Harmonien komponierte - mit dem
Unterschied freilich, dass das Alphabet der Geruche ungleich grußer
und differenzierter war als das der Tune, und mit dem Unterschied ferner,
dass sich die schupferische Tutigkeit des Wunderkinds Grenouille allein in
seinem Innern abspielte und von niemandem wahrgenommen werden konnte als nur
von ihm selbst.
Nach außen hin wurde er immer verschlossener. Am liebsten
streifte er allein durch den nurdlichen Faubourg Saint-Antoine, durch
Gemusegurten, Weinfelder, uber Wiesen. Manchmal kehrte er abends nicht nach
Hause zuruck, blieb tagelang verschollen. Die fullige Zuchtigung mit dem
Stock ertrug er ohne Schmerzensuußerung. Hausarrest, Essensentzug,
Strafarbeit konnten sein Benehmen nicht undern. Ein eineinhalbjuhriger
sporadischer Besuch der Pfarrschule von Notre Dame de Bon Secours blieb ohne
erkennbare Wirkung. Er lernte ein bisschen buchstabieren und den eignen
Namen schreiben, sonst nichts. Sein Lehrer hielt ihn fur schwachsinnig.
Madame Gaillard hingegen fiel auf, dass er bestimmte Fuhigkeiten und
Eigenheiten besaß, die sehr ungewuhnlich, um nicht zu sagen
ubernaturlich waren: So schien ihm die kindliche Angst vor der Dunkelheit
und der Nacht vullig fremd zu sein. Man konnte ihn jederzeit zu einer
Besorgung in den Keller schicken, wohin sich die anderen Kinder kaum mit
einer Lampe wagten, oder hinaus zum Schuppen zum Holzholen bei
stockfinsterer Nacht. Und nie nahm er ein Licht mit und fand sich doch
zurecht und brachte sofort das Verlangte, ohne einen falschen Griff zu tun,
ohne zu stolpern oder etwas umzustoßen. Noch merkwurdiger freilich
erschien es, dass er, wie Madame Gaillard festgestellt zu haben glaubte,
durch Papier, Stoff, Holz, ja sogar durch festgemauerte Wunde und
geschlossene Turen hindurchzusehen vermochte. Er wusste, wieviel und welche
Zuglinge sich im Schlafraum aufhielten, ohne ihn betreten zu haben. Er
wusste, dass eine Raupe im Blumenkohl steckte, ehe der Kopf zerteilt war.
Und einmal, als sie ihr Geld so gut versteckt hatte, dass sie es selbst
nicht mehr wiederfand (sie underte ihre Verstecke), deutete er, ohne eine
Sekunde zu suchen, auf eine Stelle hinter dem Kaminbalken, und siehe, da war
es! Sogar in die Zukunft konnte er sehen, indem er numlich den Besuch einer
Person lange vor ihrem Eintreffen ankundigte oder das Nahen eines Gewitters
unfehlbar vorauszusagen wusste, ehe noch das kleinste Wulkchen am Himmel
stand. Dass er dies alles freilich nicht sah, nicht mit Augen sah, sondern
mit seiner immer schurfer und pruziser riechenden Nase erwitterte: die Raupe
im Kohl, das Geld hinterm Balken, die Menschen durch Wunde hindurch und uber
eine Entfernung von mehreren Straßenzugen hinweg - darauf wure Madame
Gaillard im Traume nicht gekommen, auch wenn jener Schlag mit dem Feuerhaken
ihren Olfaktorius unbeschudigt gelassen hutte. Sie war davon uberzeugt, der
Knabe musse - Schwachsinn hin oder her - das zweite Gesicht besitzen. Und da
sie wusste, dass Zwiegesichtige Unheil und Tod anziehen, wurde er ihr
unheimlich. Noch unheimlicher, geradezu unertruglich war ihr der Gedanke,
mit jemandem unter einem Dach zu leben, der die Gabe hatte, sorgfultig
verstecktes Geld durch Wunde und Balken hindurch zu sehen, und als sie diese
entsetzliche Fuhigkeit Grenouilles entdeckt hatte, trachtete sie danach, ihn
loszuwerden, und es traf sich gut, dass etwa um die gleiche Zeit -
Grenouille war acht Jahre alt - das Kloster von Saint-Merri seine juhrlichen
Zahlungen ohne Angabe von Grunden einstellte. Madame mahnte nicht nach.
Anstandshalber wartete sie noch eine Woche, und als das fullige Geld dann
immer noch nicht eingetroffen war, nahm sie den Knaben bei der Hand und ging
mit ihm in die Stadt.
In der Rue de la Mortellerie, nahe dem Fluss, kannte sie einen Gerber
namens Grimal, der notorischen Bedarf an jugendlichen Arbeitskruften hatte -
nicht an ordentlichen Lehrlingen oder Gesellen, sondern an billigen Kulis.
Es gab numlich in dem Gewerbe Arbeiten - das Entfleischen verwesender
Tierhuute, das Mischen von giftigen Gerb- und Furbebruhen, das Ausbringen
utzender Lohen -, die so lebensgefuhrlich waren, dass ein
verantwortungsbewusster Meister nach Muglichkeit nicht seine gelernten
Hilfskrufte dafur verschwendete, sondern arbeitsloses Gesindel, Herumtreiber
oder eben herrenlose Kinder, nach denen im Zweifelsfalle niemand mehr
fragte. Naturlich wusste Madame Gaillard, dass Grenouille in Grimals
Gerberwerkstatt nach menschlichem Ermessen keine uberlebenschance
besaß. Aber sie war nicht die Frau, sich daruber Gedanken zu machen.
Ihre Pflicht hatte sie ja getan. Das Pflegeverhultnis war beendet. Was mit
dem Zugling weiterhin geschah, ging sie nichts an. Wenn er durchkam, so
war's gut, wenn er starb, so war's auch gut - Hauptsache, alles ging
rechtens zu. Und so ließ sie sich von Monsieur Grimal die ubergabe des
Knaben schriftlich bestutigen, quittierte ihrerseits den Erhalt von funfzehn
Franc Provision und machte sich wieder auf nach Hause in die Rue de
Charonne. Sie verspurte nicht den geringsten Anflug eines schlechten
Gewissens. Im Gegenteil glaubte sie, nicht nur rechtens, sondern auch
gerecht gehandelt zu haben, denn der Verbleib eines Kindes, fur das niemand
zahlte, wure ja notwendigerweise zu Lasten der anderen Kinder gegangen oder
sogar zu ihren eigenen Lasten und hutte womuglich die Zukunft der anderen
Kinder gefuhrdet oder sogar ihre eigene Zukunft, das heisst ihren eignen,
abgeschirmten, privaten Tod, der das einzige war, was sie sich im Leben noch
wunschte.
Da wir Madame Gaillard an dieser Stelle der Geschichte verlassen und
ihr auch sputer nicht mehr wiederbegegnen werden, wollen wir in ein paar
Sutzen das Ende ihrer Tage schildern. Madame, obwohl als Kind schon
innerlich gestorben, wurde zu ihrem Ungluck sehr, sehr alt. Anno 1782, mit
fast siebzig Jahren, gab sie ihr Gewerbe auf, kaufte sich wie vorgehabt in
eine Rente ein, saß in ihrem Huuschen und wartete auf den Tod. Der Tod
aber kam nicht. Statt seiner kam etwas, womit kein Mensch auf der Welt hutte
rechnen kunnen und was es im Lande noch nie gegeben hatte, numlich eine
Revolution, das heisst eine rasante Umwandlung sumtlicher
gesellschaftlicher, moralischer und transzendentaler Verhultnisse. Zunuchst
hatte diese Revolution keine Auswirkungen auf Madame Gaillards persunliches
Schicksal. Dann aber - sie war nun fast achtzig - hieß es mit einem
Mal, ihr Rentengeber habe emigrieren mussen, sei enteignet und sein Besitz
an einen Hosenfabrikanten versteigert worden. Es sah eine Weile lang noch so
aus, als habe auch dieser Wandel noch keine fatalen Auswirkungen fur Madame
Gaillard, denn der Hosenfabrikant zahlte weiterhin punktlich die Rente. Aber
dann kam der Tag, da sie ihr Geld nicht mehr in harter Munze, sondern in
Form von kleinen bedruckten Papierbluttchen erhielt, und das war der Anfang
ihres materiellen Endes.
Nach Verlauf von zwei Jahren reichte die Rente nicht einmal mehr aus,
das Feuerholz zu bezahlen. Madame sah sich gezwungen, ihr Haus zu verkaufen,
zu lucherlich geringem Preis, denn es gab plutzlich außer ihr Tausende
von anderen Leuten, die ihr Haus ebenfalls verkaufen mussten. Und wieder
bekam sie als Gegenwert nur diese bluden Bluttchen, und wieder waren sie
nach zwei Jahren so gut wie nichts mehr wert, und im Jahre 1797 - sie ging
nun auf die Neunzig zu - hatte sie ihr gesamtes, in muhevoller sukularer
Arbeit zusammengescharrtes Vermugen verloren und hauste in einer winzigen
mublierten Kammer in der Rue des Coquilles. Und nun erst, mit zehn-, mit
zwanzigjuhriger Versputung, kam der Tod herbei und kam in Gestalt einer
langwierigen Geschwulstkrankheit, die Madame an der Kehle packte und ihr
erst den Appetit und dann die Stimme raubte, so dass sie mit keinem Wort
Einspruch erheben konnte, als sie ins Hotel-Dieu fortgeschafft wurde. Dort
brachte man sie in den gleichen, von Hunderten todkranker Menschen
bevulkerten Saal, in dem schon ihr Mann gestorben war, steckte sie in ein
Gemeinschaftsbett zu funf anderen alten wildfremden Weibern, kurperdicht
Leib an Leib lagen sie, und ließ sie dort drei Wochen lang in aller
uffentlichkeit sterben. Dann wurde sie in einen Sack genuht, um vier Uhr
fruh nebst funfzig anderen Leichen auf einen Transportkarren geworfen und
unter dem dunnen Gebimmel eines Gluckchens zum neubegrundeten Friedhof von
Clamart, eine Meile vor den Toren der Stadt, gefahren und dort in einem
Massengrab zur letzten Ruhe gebettet, unter einer dicken Schicht von
ungeluschtem Kalk.
Das war im Jahre 1799. Gott sei Dank ahnte Madame nichts von diesem ihr
bevorstehenden Schicksal, als sie an jenem Tag des Jahres 1747 nach Hause
ging und den Knaben Grenouille und unsere Geschichte verließ. Sie
hutte womuglich ihren Glauben an die Gerechtigkeit verloren und damit an den
einzigen ihr begreiflichen Sinn des Lebens.
Mit dem ersten Blick, den er auf Monsieur Grimal geworfen - nein, mit
dem ersten witternden Atemzug, den er von Grimals Geruchsaura eingesogen
hatte, wusste Grenouille, dass dieser Mann imstande war, ihn bei der
geringsten Unbotmußigkeit zu Tode zu prugeln. Sein Leben galt gerade
noch so viel wie die Arbeit , die er verrichten konnte, es bestand nur noch
aus der Nutzlichkeit, die Grimal ihm beimaß. Und so kuschte
Grenouille, ohne auch nur ein einziges Mal den Versuch einer Auflehnung zu
machen. Von einem Tag zum undern verkapselte er wieder die ganze Energie
seines Trotzes und seiner Widerborstigkeit in sich selbst, verwendete sie
allein dazu, auf zeckenhafte Manier die Epoche der bevorstehenden Eiszeit zu
uberdauern: zuh, genugsam, unauffullig, das Licht der Lebenshoffnung auf
kleinster, aber wohlbehuteter Flamme haltend. Er war nun ein Muster an
Fugsamkeit, Anspruchslosigkeit und Arbeitswillen, gehorchte aufs Wort, nahm
mit jeder Speise vorlieb. Abends ließ er sich brav in einen seitlich
an die Werkstatt gebauten Verschlag sperren, in dem Gerutschaften aufbewahrt
wurden und eingesalzne Rohhuute hingen. Hier schlief er auf dem blanken
gestampften Erdboden. Tagsuber arbeitete er, solange es hell war, im Winter
acht, im Sommer vierzehn, funfzehn, sechzehn Stunden: entfleischte die
bestialisch stinkenden Huute, wusserte, enthaarte, kalkte, utzte, walkte
sie, strich sie mit Beizkot ein, spaltete Holz, entrindete Birken und Eiben,
stieg hinab in die von beißendem Dunst erfullten Lohgruben,
schichtete, wie es ihm die Gesellen befahlen, Huute und Rinden ubereinander,
streute zerquetschte Gallupfel aus, uberdeckte den entsetzlichen
Scheiterhaufen mit Eibenzweigen und Erde. Jahre sputer musste er ihn dann
wieder ausbuddeln und die zu gegerbtem Leder mumifizierten Hautleichen aus
ihrem Grab holen. Wenn er nicht Huute ein- oder ausgrub, dann schleppte er
Wasser. Monatelang schleppte er Wasser vom Fluss herauf, immer zwei Eimer,
Hunderte von Eimern am Tag, denn das Gewerbe verlangte Unmengen von Wasser
zum Waschen, zum Weichen, zum Bruhen, zum Furben. Monatelang hatte er keine
trockene Faser mehr am Leibe vor lauter Wassertragen, abends troffen ihm die
Kleider von Wasser, und seine Haut war kalt, weich und aufgeschwemmt wie
Waschleder.
Nach einem Jahr dieser mehr tierischen als menschlichen Existenz bekam
er den Milzbrand, eine gefurchtete Gerberkrankheit, die ublicherweise
tudlich verluuft. Grimal hatte ihn schon abgeschrieben und sah sich nach
Ersatz um - nicht ohne Bedauern ubrigens, denn einen genugsameren und
leistungsfuhigeren Arbeiter als diesen Grenouille hatte er noch nie gehabt.
Entgegen aller Erwartung jedoch uberstand Grenouille die Krankheit. Ihm
blieben nur die Narben der großen schwarzen Karbunkel hinter den
Ohren, am Hals und an den Wangen, die ihn entstellten und noch
hußlicher machten, als er ohnehin schon war. Ihm blieb ferner -
unschutzbarer Vorteil - eine Resistenz gegen den Milzbrand, so dass er von
nun an sogar mit rissigen und blutigen Hunden die schlechtesten Huute
entfleischen konnte, ohne Gefahr zu laufen, sich erneut anzustecken. Dadurch
unterschied er sich nicht nur von den Lehrlingen und Gesellen, sondern auch
von seinen eigenen potentiellen Nachfolgern. Und weil er nun nicht mehr so
leicht zu ersetzen war wie ehedem, stieg der Wert seiner Arbeit und damit
der Wert seines Lebens. Plutzlich musste er nicht mehr auf der nackten Erde
schlafen, sondern durfte sich im Schuppen ein Holzlager bauen, bekam Stroh
daraufgeschuttet und eine eigene Decke. Zum Schlafen sperrte man ihn nicht
mehr ein. Das Essen war auskummlicher. Grimal hielt ihn nicht mehr wie
irgendein Tier, sondern wie ein nutzliches Haustier.
Als er zwulf Jahre alt war, gab ihm Grimal den halben Sonntag frei, und
mit dreizehn durfte er sogar wochentags am Abend nach der Arbeit eine Stunde
lang weggehen und tun, was er wollte. Er hatte gesiegt, denn er lebte, und
er besaß ein Quantum von Freiheit, das genugte, um weiterzuleben. Die
Zeit des uberwinterns war vorbei. Der Zeck Grenouille regte sich wieder. Er
witterte Morgenluft. Die Jagdlust packte ihn. Das grußte Geruchsrevier
der Welt stand ihm offen: die Stadt Paris.
Es war wie im Schlaraffenland. Allein die nahegelegenen Viertel von
Saint-Jacques-de-la-Boucherie und von Saint-Eustache waren ein
Schlaraffenland. In den Gassen seitab der Rue Saint-Denis und der Rue
Saint-Martin lebten die Menschen so dicht beieinander, drungte sich Haus so
eng an Haus, funf, sechs Stockwerke hoch, dass man den Himmel nicht sah und
die Luft unten am Boden wie in feuchten Kanulen stand und vor Geruchen
starrte. Es mischten sich Menschen- und Tiergeruche, Dunst von Essen und
Krankheit, von Wasser und Stein und Asche und Leder, von Seife und
frischgebackenem Brot und von Eiern, die man in Essig kochte, von Nudeln und
blankgescheuertem Messing, von Salbei und Bier und Trunen, von Fett und
nassem und trockenem Stroh. Tausende und Abertausende von Geruchen bildeten
einen unsichtbaren Brei, der die Schluchten der Gassen anfullte, sich uber
den Duchern nur selten, unten am Boden niemals verfluchtigte. Die Menschen,
die dort lebten, rochen in diesem Brei nichts Besonderes mehr; er war ja aus
ihnen entstanden und hatte sie wieder und wieder durchtrunkt, er war ja die
Luft, die sie atmeten und von der sie lebten, er war wie eine langgetragene
warme Kleidung, die man nicht mehr riecht und nicht mehr auf der Haut spurt.
Grenouille aber roch alles wie zum ersten Mal. Und er roch nicht nur die
Gesamtheit dieses Duftgemenges, sondern er spaltete es analytisch auf in
seine kleinsten und entferntesten Teile und Teilchen. Seine feine Nase
entwirrte das Knuuel aus Dunst und Gestank zu einzelnen Fuden von
Grundgeruchen, die nicht mehr weiter zerlegbar waren. Es machte ihm
unsugliches Vergnugen, diese Fuden aufzudruseln und aufzuspinnen.
Oft blieb er stehen, an eine Hausmauer gelehnt oder in eine dunkle Ecke
gedrungt, mit geschlossenen Augen, halbgeuffnetem Mund und gebluhten
Nustern, still wie ein Raubfisch in einem großen, dunklen, langsam
fließenden Wasser. Und wenn endlich ein Lufthauch ihm das Ende eines
zarten Duftfadens zuspielte, dann stieß er zu und ließ nicht
mehr los, dann roch er nichts mehr als diesen einen Geruch, hielt ihn fest,
zog ihn in sich hinein und bewahrte ihn in sich fur alle Zeit. Es mochte ein
altbekannter Geruch sein oder eine Variation davon, es konnte aber auch ein
ganz neuer sein, einer, der kaum oder gar keine uhnlichkeit mit allem
besaß, was er bis dahin gerochen, geschweige denn gesehen hatte: der
Geruch von gebugelter Seide etwa; der Geruch eines Tees von Quendel, der
Geruch eines Stucks silberbestickten Brokats, der Geruch eines Korkens aus
einer Flasche mit seltenem Wein, der Geruch eines Schildpattkamms. Hinter
solchen ihm noch unbekannten Geruchen war Grenouille her, sie jagte er mit
der Leidenschaft und Geduld eines Anglers und sammelte sie in sich.
Wenn er sich am dicken Brei der Gassen sattgerochen hatte, ging er in
luftigeres Gelunde, wo die Geruche dunner waren, sich mit Wind vermischten
und entfalteten, fast wie ein Parfum: auf den Platz der Hallen etwa, wo in
den Geruchen abends noch der Tag fortlebte, unsichtbar, aber so deutlich,
als wuselten da noch im Gedrunge die Hundler, als stunden da noch die
vollgepackten Kurbe mit Gemuse und Eiern, die Fusser voll Wein und Essig,
die Sucke mit Gewurzen und Kartoffeln und Mehl, die Kusten mit Nugeln und
Schrauben, die Fleischtische, die Tische voll von Stoffen und Geschirr und
Schuhsohlen und all den hundert undern Dingen, die dort tagsuber verkauft
wurden... das ganze Getriebe war bis in die kleinste Einzelheit prusent in
der Luft, die es hinterlassen hatte. Grenouille sah den ganzen Markt
riechend, wenn man so sagen kann. Und er roch ihn genauer, als mancher ihn
sehen kunnte, denn er nahm ihn im nachhinein wahr und deshalb auf huhere
Weise: als Essenz, als den Geist von etwas Gewesenem, der nicht durch die
ublichen Attribute der Gegenwart gesturt war, alsda sind der Lurm, das
Grelle, das eklige Aneinander der leibhaftigen Menschen.
Oder er ging dorthin, wo man seine Mutter gekupft hatte, zur Place de
Greve, die wie eine große Zunge in den Fluss hineinleckte. Hier lagen,
ans Ufer gezogen oder an Pfosten vertuut, die Schiffe und rochen nach Kohle
und Korn und Heu und feuchten Tauen.
Und von Westen her kam durch diese einzige Schneise, die der Fluss
durch die Stadt schnitt, ein breiter Windstrom und brachte Geruche vom Land
her, von den Wiesen bei Neuilly, von den Wuldern zwischen Saint-Germain und
Versailles, von weit entfernt gelegenen Studten wie Rouen oder Caen und
manchmal sogar vom Meer. Das Meer roch wie ein gebluhtes Segel, in dem sich
Wasser, Salz und eine kalte Sonne fingen. Es roch simpel, das Meer, aber
zugleich roch es groß und einzigartig, so dass Grenouille zugerte,
seinen Geruch aufzuspalten in das Fischige, das Salzige, das Wussrige, das
Tangige, das Frische und so weiter. Er ließ den Geruch des Meeres
lieber beisammen, verwahrte ihn als ganzes im Geduchtnis und genoss ihn
ungeteilt. Der Geruch des Meeres gefiel ihm so gut, dass er sich wunschte,
ihn einmal rein und unvermischt und in solchen Mengen zu bekommen, dass er
sich dran besaufen kunnte. Und sputer, als er aus Erzuhlungen erfuhr, wie
groß das Meer sei und dass man darauf tagelang mit Schiffen fahren
konnte, ohne Land zu sehen, da war ihm nichts lieber als die Vorstellung, er
suße auf so einem Schiff, hoch oben im Korb auf dem vordersten Mast,
und fluge dahin durch den unendlichen Geruch des Meeres, der ja eigentlich
gar kein Geruch war, sondern ein Atem, ein Ausatmen, das Ende aller Geruche,
und luse sich auf vor Vergnugen in diesem Atem. Aber dahin sollte es nie
kommen, denn Grenouille, der an der Place de Greve am Ufer stand und
mehrmals einen kleinen Fetzen Meerwind, den er in die Nase bekommen hatte,
aus- und einatmete, sollte das Meer, das eigentliche Meer, den großen
Ozean, der im Westen lag, in seinem Leben niemals sehen und sich nie mit
diesem Geruch vermischen durfen.
Das Viertel zwischen Saint-Eustache und dem Hotel de Ville hatte er
bald so genau durchrochen, dass er sich darin bei stockfinsterer Nacht
zurechtfand. Und so dehnte er sein Jagdgebiet aus, zunuchst nach Westen hin
zum Faubourg Saint-Honore, dann die Rue Saint-Antoine hinauf bis zur
Bastille, und schließlich sogar auf die andere Seite des Flusses
hinuber in das Sorbonneviertel und in den Faubourg Saint-Germain, wo die
reichen Leute wohnten. Durch die Eisengitter der Toreinfahrten roch es nach
Kutschenleder und nach dem Puder in den Perucken der Pagen, und uber die
hohen Mauern hinweg strich aus den Gurten der Duft des Ginsters und der
Rosen und der frisch geschnittenen Liguster. Hier war es auch, dass
Grenouille zum ersten Mal Parfums im eigentlichen Sinn des Wortes roch:
einfache Lavendel- oder Rosenwusser, mit denen bei festlichen Anlussen die
Springbrunnen der Gurten gespeist wurden, aber auch komplexere, kostbarere
Dufte von Moschustinktur gemischt mit dem ul von Neroli und Tuberose,
Joncquille, Jasmin oder Zimt, die abends wie ein schweres Band hinter den
Equipagen herwehten. Er registrierte diese Dufte, wie er profane Geruche
registrierte, mit Neugier, aber ohne besondere Bewunderung. Zwar merkte er,
dass es die Absicht der Parfums war, berauschend und anziehend zu wirken,
und er erkannte die Gute der einzelnen Essenzen, aus denen sie bestanden.
Aber als ganzes erschienen sie ihm doch eher grob und plump, mehr
zusammengepanscht als komponiert, und er wusste, dass er ganz andere
Wohlgeruche wurde herstellen kunnen, wenn er nur uber die gleichen
Grundstoffe verfugte.
Viele dieser Grundstoffe kannte er schon von den Blumen- und
Gewurzstunden des Marktes her; andere waren ihm neu, und diese filterte er
aus den Duftgemischen heraus und bewahrte sie namenlos im Geduchtnis: Amber,
Zibet, Patschuli, Sandelholz, Bergamotte, Vetiver, Opoponax, Benzoe,
Hopfenblute, Bibergeil...
Wuhlerisch ging er nicht vor. Zwischen dem, was landluufig als guter
oder schlechter Geruch bezeichnet wurde, unterschied er nicht, noch nicht.
Er war gierig. Das Ziel seiner Jagden bestand darin, schlichtweg alles zu
besitzen, was die Welt an Geruchen zu bieten hatte, und die einzige
Bedingung war, dass die Geruche neu seien. Der Duft eines schweißenden
Pferds galt ihm ebensoviel wie der zarte grune Geruch schwellender
Rosenknospen, der stechende Gestank einer Wanze nicht weniger als der Dunst
von gespicktem Kalbsbraten, der aus den Herrschaftskuchen quoll. Alles,
alles fraß er, saugte er in sich hinein. Und auch in der
synthetisierenden Geruchskuche seiner Phantasie, in der er stundig neue
Duftkombinationen zusammenstellte, herrschte noch kein usthetisches Prinzip.
Es waren Bizarrerien, die er schuf und alsbald wieder zersturte wie ein
Kind, das mit Bauklutzen spielt, erfindungsreich und destruktiv, ohne
erkennbares schupferisches Prinzip.
Am 1. September 1753, dem Jahrestag der Thronbesteigung des Kunigs,
ließ die Stadt Paris am Pont Royal ein Feuerwerk abbrennen. Es war
nicht so spektakulur wie das Feuerwerk zur Feier der Verehelichung des
Kunigs oder wie jenes legendure Feuerwerk aus Anlass der Geburt des Dauphin,
aber es war immerhin ein sehr beeindruckendes Feuerwerk. Man hatte goldene
Sonnenruder auf die Masten der Schiffe montiert. Von der Brucke spieen
sogenannte Feuerstiere einen brennenden Sternenregen in den Fluss. Und
wuhrend alluberall unter betuubendem Lurm Petarden platzten und Knallfrusche
uber das Pflaster zuckten, stiegen Raketen in den Himmel und malten
weiße Lilien an das schwarze Firmament. Eine vieltausendkupfige Menge,
welche sowohl auf der Brucke als auch auf den Quais zu beiden Seiten des
Flusses versammelt war, begleitete das Spektakel mit begeisterten Ahs und
Ohs und Bravos und sogar mit Vivats - obwohl der Kunig seinen Thron schon
vor achtunddreißig Jahren bestiegen und den Huhepunkt seiner
Beliebtheit lungst uberschritten hatte. So viel vermag ein Feuerwerk.
Grenouille stand stumm im Schatten des Pavillon de Flore, am rechten
Ufer, dem Pont Royal gegenuber. Er ruhrte keine Hand zum Beifall, er schaute
nicht einmal hin, wenn die Raketen aufstiegen. Er war gekommen, weil er
glaubte, irgend etwas Neues erschnuppern zu kunnen, aber es stellte sich
bald heraus, dass das Feuerwerk geruchlich nichts zu bieten hatte. Was da in
verschwenderischer Vielfalt funkelte und spruhte und krachte und pfiff,
hinterließ ein huchst eintuniges Duftgemisch von Schwefel, ul und
Salpeter.
Er war schon im Begriff, die langweilige Veranstaltung zu verlassen, um
an der Galerie des Louvre entlang heimwurts zu gehen, als ihm der Wind etwas
zutrug, etwas Winziges, kaum Merkliches, ein Bruselchen, ein Duftatom, nein,
noch weniger: eher die Ahnung eines Dufts als einen tatsuchlichen Duft - und
zugleich doch die sichere Ahnung von etwas Niegerochenem. Er trat wieder
zuruck an die Mauer, schloss die Augen und bluhte die Nustern. Der Duft war
so ausnehmend zart und fein, dass er ihn nicht festhalten konnte, immer
wieder entzog er sich der Wahrnehmung, wurde verdeckt vom Pulverdampf der
Petarden, blockiert von den Ausdunstungen der Menschenmassen, zerstuckelt
und zerrieben von den tausend andren Geruchen der Stadt. Aber dann,
plutzlich, war er wieder da, ein kleiner Fetzen nur, eine kurze Sekunde lang
als herrliche Andeutung zu riechen... und verschwand alsbald. Grenouille
litt Qualen. Zum ersten Mal war es nicht nur sein gieriger Charakter, dem
eine Krunkung widerfuhr, sondern tatsuchlich sein Herz, das litt. Ihm
schwante sonderbar, dieser Duft sei der Schlussel zur Ordnung aller anderen
Dufte, man habe nichts von den Duften verstanden, wenn man diesen einen
nicht verstand, und er Grenouille, hutte sein Leben verpfuscht, wenn es ihm
nicht gelunge, diesen einen zu besitzen. Er musste ihn haben, nicht um des
schieren Besitzes, sondern um der Ruhe seines Herzens willen.
Ihm wurde fast schlecht vor Aufregung. Er hatte noch nicht einmal
herausbekommen, aus welcher Richtung der Duft uberhaupt kam. Manchmal
dauerten die Intervalle, ehe ihm wieder ein Fetzchen zugeweht wurde,
minutenlang, und jedesmal uberfiel ihn die grußliche Angst, er hutte
ihn auf immer verloren. Endlich rettete er sich in den verzweifelten
Glauben, der Duft komme vom anderen Ufer des Flusses, irgendwoher aus
sudustlicher Richtung.
Er luste sich von der Mauer des Pavillon de Flore, tauchte in die
Menschenmenge ein und bahnte sich seinen Weg uber die Brucke. Alle paar
Schritte blieb er stehen, stellte sich auf die Zehenspitzen, um uber die
Kupfe der Menschen hinwegzuschnuppern, roch zunuchst nichts vor lauter
Erregung, roch dann endlich doch etwas, erschnupperte sich den Duft, sturker
sogar als zuvor, wusste sich auf der richtigen Fuhrte, tauchte unter, wuhlte
sich weiter durch die Menge der Gaffer und der Feuerwerker, die alle
Augenblicke ihre Fackeln an die Lunten der Raketen hielten, verlor im
beißenden Qualm des Pulvers seinen Duft, geriet in Panik, stieß
und rempelte weiter und wuhlte sich fort, erreichte nach endlosen Minuten
das andere Ufer, das Hotel de Mailly, den Quai Malaquest, die Einmundung der
Rue de Seine...
Hier blieb er stehen, sammelte sich und roch. Er hatte ihn. Er hielt
ihn fest. Wie ein Band kam der Geruch die Rue de Seine herabgezogen,
unverwechselbar deutlich, dennoch weiterhin sehr zart und sehr fein.
Grenouille spurte, wie sein Herz pochte, und er wusste, dass es nicht die
Anstrengung des Laufens war, die es pochen machte, sondern seine erregte
Hilflosigkeit vor der Gegenwart dieses Geruches. Er versuchte, sich an
irgend etwas Vergleichbares zu erinnern und musste alle Vergleiche
verwerfen. Dieser Geruch hatte Frische; aber nicht die Frische der Limetten
oder Pomeranzen, nicht die Frische von Myrrhe oder Zimtblatt oder
Krauseminze oder Birken oder Kampfer oder Kiefernnadeln, nicht von Mairegen
oder Frostwind oder von Quellwasser..., und er hatte zugleich Wurme; aber
nicht wie Bergamotte, Zypresse oder Moschus, nicht wie Jasmin und Narzisse,
nicht wie Rosenholz und nicht wie Iris... Dieser Geruch war eine Mischung
aus beidem, aus Fluchtigem und Schwerem, keine Mischung davon, eine Einheit,
und dazu gering und schwach und dennoch solid und tragend, wie ein Stuck
dunner schillernder Seide... und auch wieder nicht wie Seide, sondern wie
honigsuße Milch, in der sich Biskuit lust - was j a nun beim besten
Willen nicht zusammenging: Milch und Seide! Unbegreiflich dieser Duft,
unbeschreiblich, in keiner Weise einzuordnen, es durfte ihn eigentlich gar
nicht geben. Und doch war er da in herrlichster Selbstverstundlichkeit.
Grenouille folgte ihm, mit bunglich pochendem Herzen, denn er ahnte, dass
nicht er dem Duft folgte, sondern dass der Duft ihn gefangengenommen hatte
und nun unwiderstehlich zu sich zog.
Er ging die Rue de Seine hinauf. Niemand war auf der Straße. Die
Huuser standen leer und still. Die Leute waren unten am Fluss beim
Feuerwerk. Kein hektischer Menschengeruch sturte, kein beißender
Pulvergestank. Die Straße duftete nach den ublichen Duften von Wasser,
Kot, Ratten und Gemuseabfall. Daruber aber schwebte zart und deutlich das
Band, das Grenouille leitete. Nach wenigen Schritten war das wenige
Nachtlicht des Himmels von den hohen Huusern verschluckt, und Grenouille
ging weiter im Dunkeln. Er brauchte nichts zu sehen. Der Geruch fuhrte ihn
sicher.
Nach funfzig Metern bog er rechts ab in die Rue des Marais, eine
womuglich noch dunklere, kaum eine Armspanne breite Gasse. Sonderbarerweise
wurde der Duft nicht sehr viel sturker. Er wurde nur reiner, und dadurch,
durch seine immer grußer werdende Reinheit, bekam er eine immer
muchtigere Anziehungskraft. Grenouille ging ohne eigenen Willen. An einer
Stelle zog ihn der Geruch hart nach rechts, scheinbar mitten in die Mauer
eines Hauses hinein. Ein niedriger Gang tat sich auf, der in den Hinterhof
fuhrte. Traumwandlerisch durchschritt Grenouille diesen Gang, durchschritt
den Hinterhof, bog um eine Ecke, gelangte in einen zweiten, kleineren
Hinterhof, und hier nun endlich war Licht: Der Platz umfasste nur wenige
Schritte im Geviert. An der Mauer sprang ein schruges Holzdach vor. Auf
einem Tisch darunter klebte eine Kerze. Ein Mudchen saß an diesem
Tisch und putzte Mirabellen. Sie nahm die Fruchte aus einem Korb zu ihrer
Linken, entstielte und entkernte sie mit einem Messer und ließ sie in
einen Eimer fallen. Sie mochte dreizehn, vierzehn Jahre alt sein. Grenouille
blieb stehen. Er wusste sofort, was die Quelle des Duftes war, den er uber
eine halbe Meile hinweg bis ans andere Ufer des Flusses gerochen hatte:
nicht dieser schmuddelige Hinterhof, nicht die Mirabellen. Die Quelle war
das Mudchen.
Fur einen Moment war er so verwirrt, dass er tatsuchlich dachte, er
habe in seinem Leben noch nie etwas so Schunes gesehen wie dieses Mudchen.
Dabei sah er nur ihre Silhouette von hinten gegen die Kerze. Er meinte
naturlich, er habe noch nie so etwas Schunes gerochen. Aber da er doch
Menschengeruche kannte, viele Tausende, Geruche von Munnern, Frauen,
Kindern, wollte er nicht begreifen, dass ein so exquisiter Duft einem
Menschen entstrumen konnte. ublicherweise rochen Menschen nichtssagend oder
miserabel. Kinder rochen fad, Munner urinus, nach scharfem Schweiß und
Kuse, Frauen nach ranzigem Fett und verderbendem Fisch. Durchaus
uninteressant, abstoßend rochen die Menschen... Und so geschah es,
dass Grenouille zum ersten Mal in seinem Leben seiner Nase nicht traute und
die Augen zuhilfe nehmen musste, um zu glauben, was er roch. Die
Sinnesverwirrung dauerte freilich nicht lange. Es war tatsuchlich nur ein
Augenblick, den er benutigte, um sich optisch zu vergewissern und sich
alsdann desto ruckhaltloser den Wahrnehmungen seines Geruchssinns
hinzugeben. Nun roch er, dass sie ein Mensch war, roch den Schweiß
ihrer Achseln, das Fett ihrer Haare, den Fischgeruch ihres Geschlechts, und
roch mit grußtem Wohlgefallen. Ihr Schweiß duftete so frisch wie
Meerwind, der Talg ihrer Haare so suß wie Nussul, ihr Geschlecht wie
ein Bouquet von Wasserlilien, die Haut wie Aprikosenblute..., und die
Verbindung all dieser Komponenten ergab ein Parfum so reich, so balanciert,
so zauberhaft, dass alles, was Grenouille bisher an Parfums gerochen, alles,
was er selbst in seinem Innern an Geruchsgebuuden spielerisch erschaffen
hatte, mit einem Mal zu schierer Sinnlosigkeit verkam. Hunderttausend Dufte
schienen nichts mehr wert vor diesem einen Duft. Dieser eine war das huhere
Prinzip, nach dessen Vorbild sich die undern ordnen mussten. Er war die
reine Schunheit.
Fur Grenouille stand fest, dass ohne den Besitz des Duftes sein Leben
keinen Sinn mehr hatte. Bis in die kleinste Einzelheit, bis in die letzte
zarteste Verustelung musste er ihn kennenlernen; die bloße komplexe
Erinnerung an ihn genugte nicht. Er wollte wie mit einem Prugestempel das
apotheotische Parfum ins Kuddelmuddel seiner schwarzen Seele pressen, es
haargenau erforschen und fortan nur noch nach den inneren Strukturen dieser
Zauberformel denken, leben, riechen.
Er ging langsam auf das Mudchen zu, immer nuher, trat unter das Vordach
und blieb einen Schritt hinter ihr stehen. Sie hurte ihn nicht.
Sie hatte rote Haare und trug ein graues Kleid ohne urmel. Ihre Arme
waren sehr weiß und ihre Hunde gelb vom Saft der aufgeschnittenen
Mirabellen. Grenouille stand uber sie gebeugt und sog ihren Duft jetzt
vullig unvermischt ein, so wie er aufstieg von ihrem Nacken, ihren Haaren,
aus dem Ausschnitt ihres Kleides, und ließ ihn in sich hineinstrumen
wie einen sanften Wind. Ihm war noch nie so wohl gewesen. Dem Mudchen aber
wurde es kuhl.
Sie sah Grenouille nicht. Aber sie bekam ein banges Gefuhl, ein
sonderbares Frusteln, wie man es bekommt, wenn einen plutzlich eine alte
abgelegte Angst befullt. Ihr war, als herrsche da ein kalter Zug in ihrem
Rucken, als habe jemand eine Ture aufgestoßen, die in einen
riesengroßen kalten Keller fuhrt. Und sie legte ihr Kuchenmesser weg,
zog die Arme an die Brust und wandte sich um.
Sie war so starr vor Schreck, als sie ihn sah, dass er viel Zeit hatte,
ihr seine Hunde um den Hals zu legen. Sie versuchte keinen Schrei, ruhrte
sich nicht, tat keine abwehrende Bewegung. Er seinerseits sah sie nicht an.
Ihr feines sommersprossenubersprenkeltes Gesicht, den roten Mund, die
großen funkelnd grunen Augen sah er nicht, denn er hielt seine Augen
fest geschlossen, wuhrend er sie wurgte, und hatte nur die eine Sorge, von
ihrem Duft nicht das geringste zu verlieren.
Als sie tot war, legte er sie auf den Boden mitten in die
Mirabellenkerne, riss ihr Kleid auf, und der Duftstrom wurde zur Flut, sie
uberschwemmte ihn mit ihrem Wohlgeruch. Er sturzte sein Gesicht auf ihre
Haut und fuhr mit weitgebluhten Nustern von ihrem Bauch zurBrust, zum Hals,
in ihr Gesicht und durch die Haare und zuruck zum Bauch, hinab an ihr
Geschlecht, an ihre Schenkel, an ihre weißen Beine. Er roch sie ab vom
Kopf bis an die Zehen, er sammelte die letzten Reste ihres Dufts am Kinn, im
Nabel und in den Falten ihrer Armbeuge.
Als er sie welkgerochen hatte, blieb er noch eine Weile neben ihr
hocken, um sich zu versammeln, denn er war ubervoll von ihr. Er wollte
nichts von ihrem Duft verschutten. Erst musste er die innern Schotten dicht
verschließen. Dann stand er auf und blies die Kerze aus...... Um diese
Zeit kamen die ersten Heimkehrer singend und vivatrufend die Rue de Seine
herauf. Grenouille roch sich im Dunkeln auf die Gasse und zur Rue des Petits
Augustins hinuber, die parallel zur Rue de Seine zum Fluss fuhrte. Wenig
sputer entdeckte man die Tote. Geschrei erhob sich. Fackeln wurden
angezundet. Die Wache kam. Grenouille war lungst am anderen Ufer.
In dieser Nacht erschien ihm sein Verschlag wie ein Palast und seine
Bretterpritsche wie ein Himmelbett. Was Gluck sei, hatte er in seinem Leben
bisher nicht erfahren. Er kannte allenfalls sehr seltene Zustunde von
dumpfer Zufriedenheit. Jetzt aber zitterte er vor Gluck und konnte vor
lauter Gluckseligkeit nicht schlafen. Ihm war, als wurde er zum zweiten Mal
geboren, nein, nic ht zum zweiten, zum ersten Mal, denn bisher hatte er
bloß animalisch existiert in huchst nebuluser Kenntnis seiner selbst.
Mit dem heutigen Tag aber schien ihm, als wisse er endlich, wer er wirklich
sei: numlich nichts anderes als ein Genie; und dass sein Leben Sinn und
Zweck und Ziel und huhere Bestimmung habe: numlich keine geringere, als die
Welt der Dufte zu revolutionieren; und dass er allein auf der Welt dazu alle
Mittel besitze: numlich seine exquisite Nase, sein phunomenales Geduchtnis
und, als Wichtigstes von allem, den prugenden Duft dieses Mudchens aus der
Rue des Marais, in welchem zauberformelhaft alles enthalten war, was einen
großen Duft, was ein Parfum ausmachte: Zartheit, Kraft, Dauer,
Vielfalt und erschreckende, unwiderstehliche Schunheit. Er hatte den Kompass
fur sein kunftiges Leben gefunden. Und wie alle genialen Scheusale, denen
durch ein uußeres Ereignis ein gerades Geleis ins Spiralenchaos ihrer
Seelen gelegt wird, wich Grenouille von dem, was er als Richtung seines
Schicksals erkannt zu haben glaubte, nicht mehr ab. Jetzt wurde ihm klar,
weshalb er so zuh und verbissen am Leben hing: Er musste ein Schupfer von
Duften sein. Und nicht nur irgendeiner. Sondern der grußte Parfumeur
aller Zeiten.
Noch in derselben Nacht inspizierte er, wachend erst und dann im Traum,
das riesige Trummerfeld seiner Erinnerung. Er prufte die Millionen und
Abermillionen von Duftbauklutzen und brachte sie in eine systematische
Ordnung: Gutes zu Gutem, Schlechtes zu Schlechtem, Feines zu Feinem, Grobes
zu Grobem, Gestank zu Gestank, Ambrosisches zu Ambrosischem. Im Verlauf der
nuchsten Woche wurde diese Ordnung immer feiner, der Katalog der Dufte immer
reichhaltiger und differenzierter, die Hierarchie immer deutlicher. Und bald
schon konnte er beginnen, die ersten planvollen Geruchsgebuude aufzurichten:
Huuser, Mauern, Stufen, Turme, Keller, Zimmer, geheime Gemucher... eine
tuglich sich erweiternde, tuglich sich verschunende und perfekter gefugte
innere Festung der herrlichsten Duftkompositionen. Dass am Anfang dieser
Herrlichkeit ein Mord gestanden hatte, war ihm, wenn uberhaupt bewusst,
vollkommen gleichgultig. An das Bild des Mudchens aus der Rue des Marais, an
ihr Gesicht, an ihren Kurper, konnte er sich schon nicht mehr erinnern. Er
hatte ja das Beste von ihr aufbewahrt und sich zu eigen gemacht: das Prinzip
ihres Dufts.
Zu jener Zeit gab es in Paris ein gutes Dutzend Parfumeure. Sechs von
ihnen lebten am rechten Ufer, sechs am linken Ufer, und einer akkurat
dazwischen, numlich auf dem Pont au Change, welcher das rechte Ufer mit der
Ile de la Citu verband. Diese Brucke war zu beiden Seiten so dicht mit
vierstuckigen Huusern bebaut, dass man beim uberschreiten den Fluss an
keiner Stelle zu Gesicht bekam, sondern sich auf einer ganz normalen, fest
fundierten und obendrein noch uußerst eleganten Straße wuhnte.
In der Tat galt der Pont au Change fur eine der feinsten Geschuftsadressen
der Stadt. Hier befanden sich die renommiertesten Luden, hier saßen
die Goldschmiede, die Ebenisten, die besten Peruckenmacher und Taschner, die
Verfertiger feinster Dessous und Strumpfe, Rahmenmacher, Reitstiefelhundler,
Epaulettensticker, Goldknupfegießer und Bankiers. Und hier lag auch
das Geschufts- und Wohnhaus des Parfumeurs und Handschuhmachers Giuseppe
Baldini. uber sein Schaufenster spannte sich ein pruchtiger grunlackierter
Baldachin, daneben hing Baldinis Wappen, ganz in Gold, ein goldener Flacon,
aus dem ein Strauß von goldenen Blumen wuchs, und vor der Ture lag ein
roter Teppich, der ebenfalls Baldinis Wappen trug, als goldene Stickerei.
uffnete man die Ture, dann erklang ein persisches Glockenspiel, und zwei
silberne Reiher begannen, aus ihren Schnubeln Veilchenwasser in eine
vergoldete Schale zu speien, die ihrerseits die Flakonform von Baldinis
Wappen besaß.
Hinter dem Kontor aus hellem Buchsbaum aber stand Baldini selbst, alt
und starr wie eine Suule, in silberbepuderter Perucke und blauem
goldbetresstem Rock. Eine Wolke von Frangipaniwasser, mit dem er sich
allmorgendlich bespruhte, umgab ihn geradezu sichtbar und ruckte seine
Person in nebelhafte Ferne. In seiner Unbeweglichkeit sah er aus wie sein
eignes Inventar. Nur wenn das Glockenspiel erklang und wenn die Reiher spien
- beides geschah nicht allzu oft -, wurde plutzlich Leben in ihn kommen,
wurde seine Gestalt in sich zusammensinken, klein und wuselig werden und
unter vielen Bucklingen hinter dem Kontor hervorgesaust kommen, so schnell,
dass die Frangipaniwasserwolke kaum zu folgen vermuchte, und den Kunden
bitten, Platz zu nehmen zur Vorfuhrung erlesenster Dufte und Kosmetika.
Baldini hatte deren Tausende. Sein Angebot reichte von Essences
absolues, Blutenulen, Tinkturen, Auszugen, Sekreten, Balsamen, Harzen und
sonstigen Drogen in trockener, flussiger oder wachsartiger Form, uber
diverse Pomaden, Pasten, Puder, Seifen, Cremes, Sachets, Bandolinen,
Brillantinen, Bartwichsen, Warzentropfen und Schunheitspflusterchen bis hin
zu Badewussern, Lotionen, Riechsalzen, Toilettenessigen und einer Unzahl
echter Parfums. Doch Baldini begnugte sich nicht mit diesen Produkten der
klassischen Schunheitspflege. Sein Ehrgeiz bestand darin, in seinem Laden
alles zu versammeln, was irgendwie duftete oder in irgendeiner Weise dem
Duft diente. Und so fanden sich neben Ruucherpastillen, Ruucherkerzen und
Ruucherbundern auch sumtliche Gewurze vom Anissamen bis zur Zimtrinde,
Sirups, Likure und Obstwusser, Weine aus Zypern, Malaga und Korinth, Honige,
Kaffees, Tees, getrocknete und kandierte Fruchte, Feigen, Bonbons,
Schokoladen, Maronen, ja sogar eingelegte Kapern, Gurken und Zwiebeln und
marinierter Thunfisch. Und dann wieder duftender Siegellack, parfumiertes
Briefpapier, nach Rosenul riechende Liebestinte, Schreibmappen aus
spanischem Leder, Federhalter aus weißem Sandelholz, Kustchen und
Truhen aus Zedernholz, Potpourris und Schalen fur Blutenblutter,
Weihrauchbehulter aus Messing, Flakons und Tiegelchen aus Kristall mit
geschliffenen Stupseln aus Bernstein, riechende Handschuhe, Taschentucher,
mit Muskatblute gefullte Nuhnadelkissen und moschusbedampfte Tapeten, die
ein Zimmer lunger als einhundert Jahre mit Duft erfullen konnten.
Naturlich hatten all diese Waren nicht im pompusen, zur Straße
(oder zur Brucke) hin gelegenen Laden Platz, und so mussten, in Ermanglung
eines Kellers, nicht nur der Speicher des Hauses, sondern der gesamte erste
und zweite Stock sowie fast sumtliche zum Fluss hin gelegenen Ruume des
Erdgeschosses als Lager dienen. Die Folge davon war, dass im Hause Baldini
ein unbeschreibliches Chaos von Duften herrschte. So erlesen die Qualitut
der einzelnen Produkte war - denn Baldini kaufte nur allererste Qualitut -,
so unertruglich war ihr geruchlicher Zusammenklang, gleich einem
tausendkupfigen Orchester, in welchem jeder Musiker eine andre Melodie
fortissimo spielt. Baldini selbst und seine Angestellten waren gegen dieses
Chaos abgestumpft wie alternde Dirigenten, die ja sumtlich schwerhurig sind,
und auch seine Frau, die im dritten Stock wohnte und diesen erbittert gegen
ein weiteres Vordringen der Lagerruume verteidigte, nahm die vielen Geruche
kaum noch als sturend wahr. Anders der Kunde, der zum ersten Mal Baldinis
Laden betrat. Ihm schlug das herrschende Duftgemisch wie eine Faust ins
Gesicht, machte ihn, je nach Konstitution, exaltiert oder benommen,
verwirrte in jedem Falle seine Sinne derart, dass er oft nicht mehr wusste,
weshalb er uberhaupt gekommen war. Laufburschen vergaßen ihre
Bestellungen. Trutzigen Herren wurde es mulmig. Und manche Dame erlitt einen
halb hysterischen, halb klaustrophobischen Anfall, sank in Ohnmacht und
konnte nur noch mit schurfstem Riechsalz aus Nelkenul, Ammoniak und
Kampfersprit wiederhergestellt werden.
Unter diesen Umstunden war es eigentlich nicht verwunderlich, dass das
persische Glockenspiel von Giuseppe Baldinis Ladenture immer seltener
erklang und die silbernen Reiher immer seltener spien.
"Chenier!" rief Baldini hinter dem Kontor hervor, wo er seit Stunden
suulenstarr gestanden und die Ture angestarrt hatte, "ziehen Sie Ihre
Perucke an!" Und zwischen Olivenulfussern und hungenden Schinken aus Bayonne
erschien Chenier, Baldinis Geselle, etwas junger als dieser, aber auch schon
ein alter Mann, und kam nach vorn in die feinere Abteilung des Ladens. Er
zog seine Perucke aus der Rocktasche und stulpte sie sich uber. "Sie gehen
aus, Herr Baldini?"
"Nein", sagte Baldini, "ich werde mich fur einige Stunden in mein
Arbeitszimmer zuruckziehen und wunsche, absolut nicht gesturt zu werden."
"Ah, ich verstehe! Sie entwerfen ein neues Parfum."
baldini So ist es. Zur Beduftung einer spanischen Haut fur den Grafen
Verhamont. Er verlangt etwas vollkommen Neues. Er verlangt etwas wie... wie
... ich glaube, es hieß >Amor und Psyche<, was er verlangte, und
stammt angeblich von diesem... diesem Stumper aus der Rue Saint-Andre des
Arts, diesem... diesem... chenier Pelissier.
baldini Ja. Pelissier. Richtig. So heisst der Stumper.
>Amor und Psyche< von Pelissier. Kennen Sie es?
chenier Jaja. Dochdoch. Man riecht es jetzt uberall. An jeder
Straßenecke riecht man es. Aber wenn Sie mich fragen - nichts
Besonderes! Es kann sich bestimmt in keiner Weise messen mit dem, welches
Sie komponieren werden, Herr Baldini.
baldini Naturlich nicht.
chenier Es riecht uußerst gewuhnlich, dieses >Amor und
Psyche<.
baldini Vulgur?
chenier Durchaus vulgur, wie alles von Pelissier. Ich glaube, es ist
Limettenul darin.
baldini Wirklich? Was noch?
chenier Orangenblutenessenz vielleicht. Und vielleicht Rosmarintinktur.
Aber ich kann es nicht sicher sagen.
baldini Es ist mir auch vullig gleichgultig.
chenier Naturlich.
baldini Es ist mir schnurzegal, was der Stumper Pelissier in sein
Parfum gepanscht hat. Ich werde mich nicht einmal davon inspirieren lassen!
chenier Da haben Sie Recht, Monsieur.
baldini Wie Sie wissen, lasse ich mich nie inspirieren. Wie Sie wissen,
erarbeite ich meine Parfums.
chenier Ich weiß, Monsieur.
baldini Gebure sie allein aus mir!
chenier Ich weiß.
baldini Und ich gedenke, fur den Grafen Verhamont etwas zu kreieren,
was wirklich Furore macht.
chenier Davon bin ich uberzeugt, Herr Baldini.
baldini Sie ubernehmen den Laden. Ich brauche Ruhe. Halten Sie mir
alles vom Leibe, Chenier...
Und damit schlurfte er, nun gar nicht mehr statuarisch, sondern, wie es
seinem Alter zukam, gebeugt, ja fast wie geprugelt, davon und stieg langsam
die Treppe zum ersten Stock hinauf, wo sein Arbeitszimmer lag. Chenier nahm
den Platz hinterm Kontor ein, stellte sich genauso hin, wie zuvor der
Meister gestanden hatte, und schaute mit starrem Blick zur Ture. Er wusste,
was in den nuchsten Stunden passieren wurde: numlich gar nichts im Laden,
und oben im Arbeitszimmer Baldinis die ubliche Katastrophe. Baldini wurde
seinen blauen, von Frangipaniwasserdurchtrunkten Rock ausziehen, sich an den
Schreibtisch setzen und auf eine Eingebung warten. Diese Eingebung wurde
nicht kommen. Er wurde hierauf an den Schrank mit den Hunderten von
Probefluschchen eilen und aufs Geratewohl etwas zusammenmixen. Diese
Mischung wurde missraten. Er wurde fluchen, das Fenster aufreißen und
sie in den Fluss hinunterwerfen. Er wurde etwas anderes probieren, auch das
wurde missraten, er wurde nun schreien und toben und in dem schon betuubend
riechenden Zimmer einen Heulkrampf bekommen. Er wurde gegen sieben Uhr
abends elend herunterkommen, zittern und weinen und sagen:
"Chenier, ich habe keine Nase mehr, ich kann das Parfum nicht geburen,
ich kann die spanische Haut fur den Grafen nicht liefern, ich bin verloren,
ich bin innerlich tot, ich will sterben, bitte, Chenier, helfen Sie mir zu
sterben!" Und Chenier wurde vorschlagen, dass man zu Pelissier schickte um
eine Flasche >Amor und Psyche<, und Baldini wurde zustimmen unter der
Bedingung, dass kein Mensch von dieser Schande erfuhre, Chenier wurde
schwuren, und nachts wurden sie heimlich das Leder fur den Grafen Verhamont
mit dem fremden Parfum beduften. So wurde es sein und nicht anders, und
Chenier wunschte nur, er hutte das ganze Theater schon hinter sich. Baldini
war kein großer Parfumeur mehr. Ja, fruher, in seiner Jugend, vor
dreißig, vierzig Jahren, da hatte er >Rose des Sudens< erfunden
und >Baldinis galantes Bouquet< zwei wirklich große Dufte, denen
er sein Vermugen verdankte. Aber jetzt war er alt und verbraucht und kannte
die Moden der Zeit nicht mehr und den neuen Geschmack der Menschen, und wenn
er uberhaupt noch einmal einen eigenen Duft zusammenstoppelte, dann war es
vollkommen demodiertes, unverkuufliches Zeug, das sie ein Jahr sputer
zehnfach verdunnten und als Springbrunnenwasserzusatz verhukerten. Schade um
ihn, dachte Chenier und uberprufte den Sitz seiner Perucke im Spiegel,
schade um den alten Baldini; schade um sein schunes Geschuft, denn er wird's
herunterbringen; und schade um mich, denn bis er's heruntergebracht haben
wird, bin ich zu alt, um es zu ubernehmen...
Zwar hatte Giuseppe Baldini seinen duftenden Rock ausgezogen, aber nur
aus alter Gewohnheit. Der Duft des Frangipaniwassers sturte ihn schon lungst
nicht mehr beim Riechen, er trug ihn ja schon seit Jahrzehnten mit sich
herum und nahm ihn uberhaupt nicht mehr wahr. Er hatte auch die Ture des
Arbeitszimmers zugeschlossen und sich Ruhe ausgebeten, aber er setzte sich
nicht an den Schreibtisch, um zu grubeln und auf eine Eingebung zu warten,
denn er wusste viel besser als Chenier, dass er keine Eingebung haben wurde;
er hatte numlich noch nie eine gehabt. Zwar war er alt und verbraucht, das
stimmte, und auch kein großer Parfumeur mehr; aber er wusste, dass er
im Leben noch nie einer gewesen war. >Rose des Sudens< hatte er von
seinem Vater geerbt und das Rezept fur >Baldinis galantes Bouquet<
einem durchreisenden Genueser Gewurzhundler abgekauft. Die ubrigen seiner
Parfums waren altbekannte Gemische. Erfunden hatte er noch nie etwas. Er war
kein Erfinder. Er war ein sorgfultiger Verfertiger von bewuhrten Geruchen,
wie ein Koch war er, der mit Routine und guten Rezepten eine große
Kuche macht und doch noch nie ein eigenes Gericht erfunden hat. Den ganzen
Hokuspokus mit Labor und Experimentieren und Inspiration und Geheimnistuerei
fuhrte er nur auf, weil das zum stundischen Berufsbild eines Maitre
Parfumeur et Gantier gehurte. Ein Parfumeur, das war ein halber Alchimist,
der Wunder schuf, so wollten es die Leute - gut so! Dass seine Kunst ein
Handwerk war wie jedes andere auch, das wusste nur er selbst, und das war
sein Stolz. Er wollte gar kein Erfinder sein. Erfindung war ihm sehr
suspekt, denn sie bedeutete immer den Bruch einer Regel. Er dachte auch gar
nicht daran, fur den Grafen Verhamont ein neues Parfum zu erfinden. Er wurde
sich allerdings auch nicht am Abend von Chenier uberreden lassen, >Amor
und Psyche< von Pelissier zu besorgen. Er hatte es schon. Da stand es,
auf dem Schreibtisch vor dem Fenster, in einem kleinen Glasflakon mit
geschliffenem Stupsel. Schon vor ein paar Tagen hatte er es gekauft.
Naturlich nicht persunlich. Er konnte doch nicht persunlich zu Pelissier
gehen und ein Parfum kaufen! Sondern durch einen Mittelsmann, und dieser
wieder durch einen Mittelsmann... Vorsicht war geboten. Denn Baldini wollte
das Parfum nicht einfach zum Beduften der spanischen Haut verwenden, dazu
hutte die geringe Menge auch gar nicht ausgereicht. Er hatte etwas
Schlimmeres im Sinn: Er wollte es kopieren.
Das war ubrigens nicht verboten. Es war nur außerordentlich
unfein. Das Parfum eines Konkurrenten heimlich nachzumachen und unter
eigenem Namen zu verkaufen, war schrecklich unfein. Aber noch unfeiner war
es, sich dabei ertappen zu lassen, und darum durfte Chenier nichts davon
wissen, denn Chenier war geschwutzig.
Ach, wie schlimm, dass man sich als rechtschaffener Mann gezwungen sah,
so krumme Wege zu gehen! Wie schlimm, dass man das Kostbarste, was man
besaß, die eigene Ehre, auf so schubige Weise befleckte! Aber was
sollte er tun? Immerhin war der Graf Verhamont ein Kunde, den er keinesfalls
verlieren durfte. Er hatte ja ohnehin kaum noch einen Kunden. Er musste der
Kundschaft ja schon wieder nachlaufen wie zu Beginn der zwanziger Jahre, als
er am Anfang seiner Karriere stand und mit dem Bauchladen durch die
Straßen zog. Weiß Gott kam er, Giuseppe Baldini, Inhaber der
grußten Duftstoffhandlung von Paris, in bester Geschuftslage,
finanziell nur noch uber die Runden, wenn er mit dem Kufferchen in der Hand
Hausbesuche machte. Und das gefiel ihm gar nicht, denn er war schon weit
uber sechzig und hasste es, in kalten Vorzimmern zu warten und alten
Marquisen Tausendblumenwasser und Vierruuberessig vorzufuhren oder ihnen
eine Migrunesalbe aufzuschwatzen. Außerdem herrschte in diesen
Vorzimmern eine ganz ekelhafte Konkurrenz. Da war dieser Emporkummling
Brouet aus der Rue Dauphine, der von sich behauptete, er habe das
grußte Pomadenprogramm Europas; oder Calteau aus der Rue Mauconseil,
der es zum Hoflieferanten der Comtesse von Artois gebracht hatte; oder
dieser vullig unberechenbare Antoine Pelissier aus der Rue
Saint-Andre-des-Arts, der in jeder Saison einen neuen Duft lancierte, nach
welchem die ganze Welt verruckt war. >So ein Parfum von Pelissier konnte
den ganzen Markt in Unordnung bringen. War in einem Jahr Ungarisches Wasser
in Mode, und hatte sich Baldini entsprechend mit Lavendel, Bergamotte und
Rosmarin eingedeckt, um den Bedarf zu befriedigen - so kam Pelissier mit
>Air de Musc< heraus, einem ultraschweren Moschusduft. Jeder Mensch
musste plutzlich tierisch riechen, und Baldini konnte sein Rosmarin zu
Haarwasser verarbeiten und den Lavendel in Riechsuckchen nuhen. Hatte er
dagegen fur das nuchste Jahr entsprechende Mengen an Moschus, Zibet und
Castoreum bestellt, so fiel es Pelissier ein, ein Parfum namens
>Waldblume< zu kreieren, was prompt ein Erfolg wurde. Und hatte
Baldini endlich in nuchtelangen Versuchen oder durch hohe Bestechungsgelder
herausgefunden, woraus >Waldblumen< bestand - da trumpfte Pelissier
schon wieder auf mit >Turkische Nuchte< oder >Lissabonner Duft<
oder >Bouquet de la Cour< oder weiß der Teufel womit sonst.
Dieser Mensch war auf jeden Fall in seiner zugellosen Kreativitut eine
Gefahr fur das ganze Gewerbe. Man wunschte sich die Rigiditut des alten
Zunftrechts zuruck. Man wunschte sich die drakonischsten Maßnahmen
gegen diesen Aus-Der-Reihe-Tunzer, gegen diesen Duftinflationur. Das Patent
gehurte ihm entzogen, ein saftiges Berufsverbot auferlegt..., und uberhaupt
sollte der Kerl erst einmal eine Lehre machen! Denn ein gelernter Parfumeur-
und Handschuhmachermeister war er nicht, dieser Pelissier. Sein Vater war
nichts als ein Essigsieder gewesen, und Essigsieder war auch Pelissier,
nichts anderes. Und bloß weil er als Essigsieder berechtigt war, mit
Spirituosen umzugehen, konnte er uberhaupt ins Gehege der echten Parfumeure
einbrechen und darin herumwuten wie ein Stinktier. - Wozu brauchte man in
jeder Saison einen neuen Duft? War das nutig? Das Publikum war fruher auch
sehr zufrieden gewesen mit Veilchenwasser und einfachen Blumenbouquets, die
man vielleicht alle zehn Jahre einmal geringfugig underte. Jahrtausendelang
hatten die Menschen mit Weihrauch und Myrrhe, ein paar Balsamen, ulen und
getrockneten Wurzkruutern vorlieb genommen. Und auch als sie gelernt hatten,
mit Kolben und Alambic zu destillieren, vermittels Wasserdampf den Kruutern,
Blumen und Hulzern das duftende Prinzip in Form von utherischem ul zu
entreißen, es mit eichenen Pressen aus Samen und Kernen und
Fruchtschalen zu quetschen oder mit sorgsam gefilterten Fetten den
Blutenbluttern zu entlocken, war die Zahl der Dufte noch bescheiden gewesen.
Damals wure eine Figur wie Pelissier gar nicht muglich gewesen, denn damals
brauchte es schon zur Erzeugung einer simplen Pomade Fuhigkeiten, von denen
sich dieser Essigpanscher gar nichts truumen ließ. Man musste nicht
nur destillieren kunnen, man musste auch Salbenmacher sein und Apotheker,
Alchimist und Handwerker, Hundler, Humanist und Gurtner zugleich. Man musste
Hammelnierenfett von jungem Rindertalg unterscheiden kunnen und ein
Viktoriaveilchen von einem solchen aus Parma. Man musste die lateinische
Sprache beherrschen. Man musste wissen, wann der Heliotrop zu ernten ist und
wann das Pelargonium bluht und dass die Blute des Jasmins mit aufgehender
Sonne ihren Duft verliert. Von diesen Dingen hatte dieser Pelissier
selbstredend keine Ahnung. Wahrscheinlich hatte er Paris noch nie verlassen,
in seinem Leben bluhenden Jasmin noch nie gesehen. Geschweige denn, dass er
einen Schimmer von der gigantischen Schufterei besaß, deren es
bedurfte, um aus hunderttausend Jasminbluten einen kleinen Klumpen Concrete
oder ein paar Tropfen Essence Absolue herauszuwringen. Wahrscheinlich kannte
er nur diese, kannte Jasmin nur als konzentrierte dunkelbraune Flussigkeit,
die in einem kleinen Fluschchen neben vielen anderen Fluschchen, aus denen
er seine Modeparfums mixte, im Tresorschrank stand. Nein, eine Figur wie
dieser Schnusel Pelissier hutte in den guten alten handwerklichen Zeiten
kein Bein auf den Boden gebracht. Dazu fehlte ihm alles: Charakter, Bildung,
Genugsamkeit und der Sinn fur zunftische Subordination. Seine
parfumistischen Erfolge verdankte er einzig und allein einer Entdeckung, die
vor nunmehr zweihundert Jahren der geniale Mauritius Frangipani - ein
Italiener ubrigens! - gemacht hatte und die darin bestand, dass Duftstoffe
in Weingeist luslich sind. Indem Frangipani seine Riechpulverchen mit
Alkohol vermischte und damit ihren Duft auf eine fluchtige Flussigkeit
ubertrug, hatte er den Duft befreit von der Materie, hatte den Duft
vergeistigt, den Duft als reinen Duft erfunden, kurz: das Parfum erschaffen.
Was fur eine Tat! Welch epochale Leistung! Vergleichbar wirklich nur den
grußten Errungenschaften des Menschengeschlechts wie der Erfindung der
Schrift durch die Assyrer, der euklidischen Geometrie, den Ideen des Plato
und der Verwandlung von Trauben in Wein durch die Griechen. Eine wahrhaft
prometheische Tat! Und doch, wie alle großen Geistestaten nicht nur
Licht, sondern auch Schatten werfen und der Menschheit neben Wohltaten auch
Verdruss und Elend bereiten, so hatte leider auch die herrliche Entdeckung
Frangipanis uble Folgen: Denn nun, da man gelernt hatte, den Geist der
Blumen und Kruuter, der Hulzer, Harze und der tierischen Sekrete in
Tinkturen festzubannen und auf Fluschchen abzufullen, entglitt die Kunst des
Parfumierens nach und nach den wenigen universalen handwerklichen Kunnern
und stand Quacksalbern offen, sofern sie nur eine leidlich feine Nase
besaßen, wie zum Beispiel diesem Stinktier Pelissier. Ohne sich darum
zu bekummern, wie der wunderbare Inhalt seiner Fluschchen je entstanden war,
konnte er einfach seinen olfaktorischen Launen folgen und zusammenmischen,
was ihm gerade einfiel oder was das Publikum gerade wunschte.
Bestimmt besaß dieser Bastard Pelissier mit seinen
funfunddreißig Jahren schon jetzt ein grußeres Vermugen als er,
Baldini, es sich in der dritten Generation durch harte beharrliche Arbeit
endlich angehuuft hatte. Und Pelissiers nahm tuglich zu, wuhrend seins,
Baldinis, sich tuglich verminderte. So etwas wure fruher doch gar nicht
muglich gewesen! Dass ein angesehener Handwerker und eingefuhrter Commergant
um seine schiere Existenz zu kumpfen hatte, das gab es doch erst seit
wenigen Jahrzehnten! Seitdem uberall und in allen Bereichen die hektische
Neuerungssucht ausgebrochen ist, dieser hemmungslose Tatendrang, diese
Experimentierwut, diese Großmannssucht im Handel, im Verkehr und in
den Wissenschaften!
Oder der Geschwindigkeitswahnsinn! Wozu brauchte man die vielen neuen
Straßen, die uberall gebuddelt wurden, und die neuen Brucken? Wozu?
War es von Vorteil, wenn man bis Lyon in einer Woche reisen konnte? Wem war
daran gelegen? Wem nutzte es? Oder uber den Atlantik zu fahren, in einem
Monat nach Amerika zu rasen - als wure man nicht jahrtausendelang sehr gut
ohne diesen Kontinent ausgekommen. Was hatte der zivilisierte Mensch im
Urwald der Indianer verloren oder bei den Negern? Sogar nach Lappland gingen
sie, das lag im Norden, im ewigen Eise, wo Wilde lebten, die rohe Fische
fraßen. Und noch einen weiteren Kontinent wollten sie entdecken, der
angeblich in der Sudsee lag, wo immer das war. Und wozu dieser Wahnsinn?
Weil die anderen es auch taten, die Spanier, die verfluchten Englunder, die
impertinenten Hollunder, mit denen man sich dann herumschlagen musste, was
man sich uberhaupt nicht leisten konnte. 300000 Livres kostet so ein
Kriegsschiff gut und gerne, und versenkt ist es in funf Minuten mit einem
einzigen Kanonenschuss, auf Nimmerwiedersehn, bezahlt von unseren Steuern.
Den zehnten Teil auf alle Einkunfte verlangt der Herr Finanzminister
neuerdings, und das ist ruinus, auch wenn man diesen Teil nicht zahlt, denn
schon die ganze Geisteshaltung ist verderblich.
Das Ungluck des Menschen ruhrt daher, dass er nicht still in seinem
Zimmer bleiben will, dort, wo er hingehurt. Sagt Pascal. Aber Pascal war ein
großer Mann gewesen, ein Frangipani des Geistes, ein Handwerker recht
eigentlich, und ein solcher ist heute nicht mehr gefragt. Jetzt lesen sie
aufwieglerische Bucher von Hugenotten oder Englundern. Oder sie schreiben
Traktate oder sogenannte wissenschaftliche Großwerke, in denen sie
alles und jedes in Frage stellen. Nichts mehr soll stimmen, alles soll jetzt
plutzlich anders sein. In einem Glas Wassers sollen neuerdings ganz kleine
Tierchen schwimmen, die man fruher nicht gesehen hat; die Syphilis soll eine
ganz normale Krankheit sein und keine Strafe Gottes mehr; Gott soll die Welt
nicht an sieben Tagen erschaffen haben, sondern in Jahrmillionen, wenn er es
uberhaupt war; die Wilden sind Menschen wie wir; unsere Kinder erziehen wir
falsch; und die Erde ist nicht mehr rund wie bisher, sondern oben und unten
platt wie eine Melone - als ob es darauf ankume! In jedem Bereich wird
gefragt und gebohrt und geforscht und geschnuffelt und herumexperimentiert.
Es genugt nicht mehr, dass man sagt, was ist und wie es ist - es muss jetzt
alles noch bewiesen werden, am besten mit Zeugen und Zahlen und
irgendwelchen lucherlichen Versuchen. Diese Diderots und d'Alemberts und
Voltaires und Rousseaus und wie die Schreiberlinge alle hießen - sogar
geistliche Herren sind darunter und Herren von Adel! -, sie haben es
wahrhaft geschafft, ihre eigne perfide Ruhelosigkeit, die schiere Lust am
Nichtzufriedensein und des um alles in der Welt Sich-nicht-begnugen-kunnens,
kurz: das grenzenlose Chaos, das in ihren Kupfen herrscht, auf die gesamte
Gesellschaft auszudehnen!
Wo man hinsah, herrschte Hektik. Leute lasen Bucher, sogar Frauen.
Priester hockten im Kaffeehaus. Und wenn die Polizei mal eingriff und einen
dieser Oberschurken ins Gefungnis steckte, dann heulten die Verleger auf und
reichten Petitionen ein, und huchste Herren und Damen machten ihren Einfluss
geltend, bis man ihn nach ein paar Wochen wieder freisetzte oder ins Ausland
ziehen ließ, wo er dann hemmungslos weiterpamphletisierte. In den
Salons palaverte man nur noch uber Kometenbahnen und Expeditionen, uber
Hebelkraft und Newton, uber Kanalbau, Blutkreislauf und den Durchmesser des
Erdballs.
Und selbst der Kunig ließ sich irgendeinen neumodischen Unsinn
vorfuhren, eine Art kunstliches Gewitter namens Elektrizitut: Im Angesicht
des ganzen Hofes rieb ein Mensch an einer Flasche, und es funkte, und Seine
Majestut, so hurt man, zeigte sich tief beeindruckt. Unvorstellbar, dass
sein Urgroßvater, der wahrhaft große Ludwig, unter dessen
segensreicher Herrschaft Baldini lange Jahre noch das Gluck hatte gelebt zu
haben, eine so lucherliche Demonstration vor seinen Augen geduldet hutte!
Aber das war der Geist der neuen Zeit, und buse wurde alles enden!
Denn wenn man schon ungeniert und auf die frechste Art die Autoritut
von Gottes Kirche in Zweifel ziehen konnte; wenn man uber die nicht minder
gottgewollte Monarchie und die geheiligte Person des Kunigs sprach, als
seien beide bloß variable Posten in einem ganzen Katalog von anderen
Regierungsformen, die man nach Gusto auswuhlen kunne; wenn man sich
schließlich noch so weit verstieg, wie das geschah, Gott selbst, den
Allmuchtigen, Ihn Huchstpersunlich, als entbehrlich hinzustellen und allen
Ernstes zu behaupten, es seien Ordnung, Sitte und das Gluck auf Erden ohne
Ihn zu denken, rein aus der eingeborenen Moralitut und der Vernunft der
Menschen selber... o Gott, o Gott! - dann allerdings brauchte man sich nicht
zu wundern, wenn sich alles von oben nach unten kehrte und die Sitten
verlotterten und die Menschheit das Strafgericht dessen, den sie
verleugnete, auf sich herabzog. Buse wird es enden. Der große Komet
von 1681, uber den sie sich lustig gemacht haben, den sie als nichts als
einen Haufen von Sternen bezeichnet haben, er war eben doch ein warnendes
Vorzeichen Gottes gewesen, denn er hatte jetzt wusste man es ja - ein
Jahrhundert der Auflusung angezeigt, der Zersetzung, des geistigen und
politischen und religiusen Sumpfes, den sich die Menschheit selber schuf, in
dem sie dereinst selbst versinken wird und in dem nur noch schillernde und
stinkende Sumpfbluten gediehen wie dieser Pelissier!
Er stand am Fenster, der alte Mann Baldini, und schaute mit gehussigem
Blick gegen die schrugstehende Sonne auf den Fluss hinaus. Lastkuhne
tauchten unter ihm auf und glitten langsam nach Westen auf den Pont Neuf und
den Hafen vor den Galerien des Louvre zu. Keiner wurde hier gegen die
Strumung herauf gestakt, sie nahmen den Flussarm auf der anderen Seite der
Insel. Hier strumte alles nur weg, die leeren und die beladenen Schiffe, die
Ruderboote und die flachen Kuhne der Fischer, das schmutzigbraune Wasser und
das golden gekruuselte, alles strumte weg, langsam, breit und unaufhaltsam.
Und wenn Baldini ganz steil nach unten blickte, hart an der Hauswand
entlang, dann war es, als suge das strumende Wasser die Fundamente der
Brucke davon, und es schwindelte ihm.
Es war ein Fehler gewesen, das Haus auf der Brucke zu kaufen, und ein
doppelter Fehler, eines auf der westlich gelegenen Seite zu nehmen. Nun
hatte er dauernd den wegstrumenden Fluss vor Augen, und es war ihm, als
strume er selbst und sein Haus und sein in vielen Jahrzehnten erworbener
Reichtum davon wie der Fluss und als sei er zu alt und zu schwach, sich noch
gegen diese gewaltige Strumung zu stemmen. Manchmal, wenn er auf dem linken
Ufer zu tun hatte, im Viertel um die Sorbonne oder bei Saint-Sulpice, dann
ging er nicht uber die Insel und den Pont Saint-Michel, sondern er nahm den
lungeren Weg uber den Pont Neuf, denn diese Brucke war unbebaut. Und dann
stellte er sich an die ustliche Brustung und schaute flussaufwurts, um
wenigstens ein Mal alles auf sich zustrumen zu sehen; und fur einige
Augenblicke schwelgte er in der Vorstellung, die Tendenz seines Lebens habe
sich umgekehrt, die Geschufte florierten, die Familie gediehe, die Frauen
flugen ihm zu und seine Existenz, statt zu zerrinnen, mehre und mehre sich.
Aber dann, wenn er den Blick nur ein klein wenig hob, sah er in einigen
hundert Metern Entfernung sein eigenes Haus gebrechlich schmal und hoch auf
dem Pont au Change, und er sah das Fenster seines Arbeitszimmers im ersten
Stock und sah sich selbst dort am Fenster stehen, sah sich hinaussehen auf
den Fluss und das wegstrumende Wasser beobachten, wie jetzt. Und damit war
der schune Traum verflogen, und Baldini, auf dem Pont Neuf stehend, wandte
sich ab, niedergeschlagener als zuvor, niedergeschlagen wie jetzt, da er
sich vom Fenster abwendete, zum Schreibtisch ging und sich setzte.
Vor ihm stand der Flakon mit Pelissiers Parfum. Die Flussigkeit
schimmerte goldbraun im Sonnenlicht, klar, ohne die geringste Trubung. Ganz
unschuldig sah sie aus, wie heller Tee - und enthielt doch neben vier
Funfteln Alkohol ein Funftel eines geheimnisvollen Gemisches, das eine ganze
Stadt in Aufregung versetzen konnte. Dieses Gemisch wiederum mochte aus drei
oder aus dreißig verschiedenen Stoffen bestehen, die in einem ganz
bestimmten von unzuhligen muglichen Volumenverhultnissen zueinander standen.
Es war die Seele des Parfums - soweit man bei einem Parfum dieses eiskalten
Geschuftemachers Pelissier von Seele reden konnte -, und ihren Aufbau galt
es nun herauszufinden.
Baldini schneuzte sich sorgfultig die Nase und ließ die Jalousie
am Fenster etwas herunter, denn das direkte Sonnenlicht war jedem Riechstoff
und jeder feineren geruchlichen Konzentration abtruglich. Aus der Schublade
des Schreibtischs holte er ein frisches weißes Spitzentaschentuch und
entfaltete es. Dann uffnete er den Flakon durch eine leichte Drehung des
Stupsels. Den Kopf hielt er dabei weit zuruck und kniff die Nasenflugel
zusammen, denn er wollte um Gottes willen nicht einen vorschnellen
Geruchseindruck direkt aus der Flasche erwischen. Parfum musste in
entfaltetem, luftigem Zustand gerochen werden, niemals konzentriert. Er
sprenkelte einige Tropfen auf das Taschentuch, wedelte es durch die Luft, um
den Alkohol davonzujagen, und hielt es sich dann unter die Nase. Mit drei
ganz kurzen, ruckartigen Stußen riss er den Duft in sich hinein wie
ein Pulver, blies ihn sofort wieder aus, fuchelte sich Luft zu, schnuffelte
noch einmal im Dreierrhythmus und nahm zum Abschluss einen ganz tiefen
Atemzug, den er langsam und mehrmals verhaltend, gleichsam ihn wie uber eine
lange flache Treppe gleiten lassend, ausstrumte. Er warf das Taschentuch auf
den Tisch und ließ sich gegen die Sessellehne zuruckfallen.
Das Parfum war ekelhaft gut. Dieser miserable Pelissier war leider ein
Kunner. Ein Meister, Gott sei's geklagt, und wenn er tausendmal nichts
gelernt hatte! Baldini wunschte, es wure von ihm, dieses >Amor und
Psyche<. Es war keine Spur ordinur. Absolut klassisch, rund und
harmonisch war es. Und trotzdem faszinierend neu. Es war frisch, aber nicht
reißerisch. Es war blumig, ohne schmalzig zu sein. Es besaß
Tiefe, eine herrliche, haftende, schwelgerische, dunkelbraune Tiefe - und
war doch kein bisschen uberladen oder schwulstig.
Baldini stand fast ehrfurchtig auf und hielt sich das Taschentuch noch
einmal unter die Nase. "Wunderbar, wunderbar..." murmelte er und schnuffelte
gierig, "es hat einen heiteren Charakter, es ist lieblich, es ist wie eine
Melodie, es macht direkt gute Laune... Unsinn, gute Laune!" Und er
schleuderte das Tuchlein wutend auf den Tisch zuruck, wandte sich ab und
ging in die hinterste Ecke des Zimmers, als schume er sich seiner
Begeisterung.
Lucherlich! Sich zu solchen Elogen hinreißen zu lassen. >Wie
eine Melodie. Heiter. Wunderbar. Gute Laune.< - Bludsinn! Kindischer
Bludsinn. Eindruck des Augenblicks. Alter Fehler. Temperamentsfrage.
Wahrscheinlich italienisches Erbteil. Urteile nicht, solange du riechst! Das
ist die erste Regel, Baldini, alter Schafskopf! Rieche, wenn du riechst, und
urteile, wenn du gerochen hast! >Amor und Psyche< ist ein nicht
unebenes Parfum. Ein durchaus gelungenes Produkt. Ein geschickt
zusammengestelltes Machwerk. Um nicht zu sagen ein Blendwerk. Und etwas
anderes als ein Blendwerk war von einem Mann wie Pelissier auch gar nicht zu
erwarten. Naturlich fabrizierte ein Kerl wie Pelissier kein Dutzendparfum.
Der Schurke blendete mit huchster Kunnerschaft, verwirrte den Geruchssinn
mit perfekter Harmonie, ein Wolf im Schafspelz klassischer Geruchskunst war
dieser Mensch, mit einem Wort: ein Scheusal mit Talent. Und das war
schlimmer als ein Pfuscher mit dem rechten Glauben.
Aber du, Baldini, wirst dich nicht beturen lassen. Du warst nur einen
Augenblick lang uberrascht vom ersten Eindruck des Machwerks. Aber
weiß man denn, wie es in einer Stunde riechen wird, wenn seine
fluchtigsten Substanzen sich verflogen haben und sein Mittelbau hervortritt?
Oder wie es heute Abend riechen wird, wenn nur noch jene schweren, dunklen
Komponenten wahrzunehmen sind, die jetzt geruchlich wie im Zwielicht unter
angenehmen Blutenschleiern liegen? Wart es ab, Baldini!
Die zweite Regel sagt: Das Parfum lebt in der Zeit; es hat seine
Jugend, seine Reife und sein Alter. Und nur wenn es in allen drei
verschiedenen Lebensaltern auf gleich angenehme Weise Duft verstrumt, ist es
als gelungen zu bezeichnen. Wie oft hatten wir nicht schon den Fall, dass
eine Mischung, die wir machten, bei der ersten Probe herrlich frisch roch,
nach kurzer Zeit nach faulem Obst und endlich nur noch ekelhaft nach reinem
Zibet, das wir zu hoch dosierten. Vorsicht uberhaupt mit Zibet! Ein Tropfen
zu viel schafft Katastrophen. Alte Fehlerquelle. Wer weiß - vielleicht
hat Pelissier zu viel Zibet erwischt? Vielleicht bleibt bis heut Abend von
seinem ambitiusen >Amor und Psyche< nur noch ein Hauch von Katzenpisse
ubrig? Wir werden's sehn.
Wir werden's riechen. So wie ein scharfes Beil den Holzklotz in die
kleinsten Scheite teilt, wird unsre Nase sein Parfum in jede Einzelheit
zerspalten. Dann wird sich zeigen, dass dieser angebliche Zauberduft auf
sehr normalem, wohlbekanntem Weg entstanden ist. Wir, Baldini, Parfumeur,
werden dem Essigmischer Pelissier auf die Schliche kommen. Wir werden ihm
die Maske von der Fratze reißen und dem Neuerer beweisen, wozu das
alte Handwerk in der Lage ist. Haargenau wird es ihm nachgemischt, sein
modisches Parfum. Es wird unter unsern Hunden neu entstehen, so perfekt
kopiert, dass es der Windhund selbst nicht mehr von seinem eignen
unterscheiden kann. Nein! Das genugt uns nicht! Wir werden's noch
verbessern! Wir werden ihm Fehler nachweisen und sie ausmerzen und es ihm
auf diese Weise unter die Nase reiben: Du bis ein Pfuscher, Pelissier! Ein
kleiner Stinker bist du! Ein Emporkummling im Duftgewerbe, und sonst nichts!
An die Arbeit jetzt, Baldini! Die Nase geschurft und gerochen ohne
Sentimentalitut! Den Duft zerlegt nach den Regeln der Kunst! Bis heute Abend
musst du im Besitz der Formel sein! Und er sturzte zuruck an den
Schreibtisch, holte Papier, Tinte und ein frisches Taschentuch heraus, legte
sich alles zurecht und begann seine analytische Arbeit. Das geschah so, dass
er das mit frischem Parfum getrunkte Tuch rasch unter der Nase vorbeizog und
aus der voruberfliegenden Duftwolke den einen oder anderen Bestandteil
aufzufangen suchte, ohne allzusehr von der komplexen Mischung aller Teile
abgelenkt zu sein; um dann, wuhrend er das Taschentuch mit ausgestrecktem
Arm weit von sich hielt, den Namen des gefundenen Bestandteils rasch zu
notieren und hierauf neuerdings das Tuch an der Nase vorbeifliegen zu
lassen, das nuchste Duftfragment zu erhaschen und so fort...
Er arbeitete zwei Stunden lang ununterbrochen. Und immer hektischer
wurden seine Bewegungen, immer fahriger das Gekrakel seiner Feder auf dem
Papier, immer huher die Dosen des Parfums, das er aus dem Flakon in sein
Taschentuch schuttete und sich unter die Nase hielt.
Er roch jetzt kaum noch etwas, er war lungst betuubt von den
utherischen Substanzen, die er einatmete, konnte nicht einmal mehr
wiedererkennen, was er zu Beginn seines Probierens zweifelsfrei analysiert
zu haben glaubte. Er wusste, dass es sinnlos war, weiterzuriechen. Er wurde
nie herausbekommen, woraus dieses neumodische Parfum zusammengesetzt war,
heute schon uberhaupt nicht mehr, aber auch morgen nicht, wenn sich seine
Nase, so Gott wollte, wieder erholt haben wurde. Er hatte dieses zersetzende
Riechen nie gelernt. Es war ihm eine unselig widerwurtige Beschuftigung,
einen Duft zu zerspalten; ein Ganzes, ein gut oder weniger gut Gefugtes,
aufzuteilen in seine simplen Fragmente. Es interessierte ihn nicht. Er
wollte nicht mehr.
Aber mechanisch fuhr seine Hand fort, mit jener tausendmal geubten
zierlichen Bewegung das Spitzentaschentuch zu trunken, es zu schutteln und
rasch am Gesicht vorbeizuwedeln, und mechanisch riss er bei jedem
Voruberflug eine Portion duftgetrunkter Luft in sich hinein, um sie
kunstgerecht verhalten ausstrumen zu lassen. Bis ihn endlich seine eigene
Nase von der Qual befreite, indem sie von innen her allergisch schwoll und
sich wie mit einem wuchsernen Pfropfen selbst verschloss. Jetzt konnte er
gar nichts mehr riechen, kaum noch atmen. Wie von einem schweren Schnupfen
zugelutet war die Nase, und in seinen Augenwinkeln sammelten sich kleine
Trunen. Gott im Himmel sei Dank! Nun konnte er guten Gewissens ein Ende
machen. Nun hatte er seine Pflicht getan, nach besten Kruften, nach allen
Regeln der Kunst, und war, wie schon so oft, gescheitert. Ultra posse nemo
obligatur. Feierabend. Morgen fruh wurde er zu Pelissier schicken um eine
große Flasche >Amor und Psyche< und damit die spanische Haut fur
den Grafen Verhamont beduften, wie bestellt. Und danach wurde er sein
Kufferchen nehmen, mit den altmodischen Seifen, Sentbons, Pomaden und
Sachets, und seine Runde machen durch die Salons greiser Herzoginnen. Und
eines Tages wurde die letzte greise Herzogin gestorben sein und damit seine
letzte Kundin. Und dann wurde er selbst ein Greis sein und wurde sein Haus
verkaufen mussen, an Pelissier oder an irgendeinen anderen dieser
aufstrebenden Hundler, vielleicht bekume er noch ein paar tausend Livre
dafur. Und wurde ein, zwei Koffer packen und mit seiner alten Frau, wenn die
bis dahin noch nicht tot war, nach Italien reisen. Und wenn er die Reise
uberlebte, wurde er sich ein kleines Huuschen auf dem Lande bei Messina
kaufen, wo es billig war. Und dort wurde er sterben, Giuseppe Baldini, einst
grußter Parfumeur von Paris, in bitterster Armut, wann immer Gott es
gefiel. Und so war es gut.
Er stupselte den Flakon zu, legte die Feder aus der Hand und wischte
sich ein letztes Mal mit dem getrunkten Taschentuch uber die Stirn. Er
spurte die Kuhle des verdunstenden Alkohols, sonst nichts mehr. Dann ging
die Sonne unter.
Baldini erhob sich. Er uffnete die Jalousie, und sein Kurper tauchte
bis herab zu den Knien ins Abendlicht und gluhte auf wie eine abgebrannte
glosende Fackel. Er sah den tiefroten Saum der Sonne hinterm Louvre und das
zartere Feuer auf den Schieferduchern der Stadt. Unter ihm der Fluss glunzte
wie Gold , die Schiffe waren verschwunden. Und es kam wohl ein Wind auf,
denn uber die Wasserfluche fielen die Buen wie Schuppen, und es glitzerte da
und dort und immer nuher, als streue eine riesige Hand Millionen von
Louisdor-Stucken ins Wasser, und die Richtung des Flusses schien sich fur
einen Moment umgekehrt zu haben: er strumte auf Baldini zu, eine
gleißende Flut von purem Gold. Baldinis Augen waren feucht und
traurig. Eine Weile lang stand er still und beobachtete das herrliche Bild.
Dann, plutzlich, riss er das Fenster auf, schlug die beiden Flugel weit
auseinander und warf den Flakon mit Pelissiers Parfum in hohem Bogen hinaus.
Er sah, wie er aufplatschte und fur einen Augenblick den glitzernden
Wasserteppich zerriss.
Frische Luft strumte ins Zimmer. Baldini schupfte Atem und merkte, wie
sich die Schwellung seiner Nase luste. Dann schloss er das Fenster. Fast im
gleichen Moment wurde es Nacht, ganz plutzlich. Das goldglunzende Bild der
Stadt und des Flusses erstarrte zu einer aschgrauen Silhouette. Im Zimmer
war es mit einem Schlag duster geworden. Baldini stand wieder in der
gleichen Haltung wie zuvor und starrte zum Fenster hinaus. "Ich werde morgen
nicht zu Pelissier schicken", sagte er und umklammerte mit beiden Hunden die
Ruckenlehne seines Stuhles. "Ich werde es nicht tun. Und ich werde auch
nicht meine Tour durch die Salons machen. Sondern ich werde morgen zum Notar
gehen und mein Haus und mein Geschuft verkaufen. Das werde ich tun. E
basta!"
Er hatte einen trotzigen, bubenhaften Gesichtsausdruck bekommen und
fuhlte sich auf einmal sehr glucklich. Er war wieder der alte, der junge
Baldini, mutig, und entschlossen wie je, dem Schicksal die Stirn zu bieten -
auch wenn das Stirnbieten in diesem Fall nur Ruckzug war. Und wenn schon! Es
blieb ja nichts anderes ubrig. Die dumme Zeit ließ keine andre Wahl.
Gott gibt gute und schlechte Zeiten, aber er will nicht, dass wir in
schlechten Zeiten jammern und wehklagen, sondern dass wir uns munnlich
bewuhren. Und Er hatte ein Zeichen gegeben. Das blutrot-goldene Trugbild der
Stadt war eineWarnung gewesen: Handle, Baldini, eh es zu sput ist! Noch
steht dein Haus fest, noch sind deine Lager gefullt, noch wirst du einen
guten Preis fur dein niedergehendes Geschuft erzielen kunnen. Noch liegen
die Entscheidungen in deiner Hand. In Messina bescheiden alt zu werden, das
ist zwar nicht dein Lebensziel gewesen - aber es ist doch ehrenwerter und
gottgefulliger als in Paris pompus zugrunde zu gehen. Sollen die Brouets,
Calteaux und Pelissiers ruhig triumphieren. Giuseppe Baldini ruumt das Feld.
Aber er tat es aus freien Stucken und ungebeugt!
Er war jetzt direkt stolz auf sich. Und unendlich erleichtert. Zum
ersten Mal seit vielen Jahren wich der subalterne Krampf aus seinem Rucken,
der den Nacken verspannte und die Schultern immer devoter gewulbt hatte, und
er stand ohne Anstrengung aufrecht, gelust und frei und freute sich. Sein
Atem ging leicht durch die Nase. Er nahm den Geruch von >Amor und
Psyche<, der das Zimmer beherrschte, deutlich wahr, aber er ließ
sich nichts mehr von ihm anhaben. Baldini hatte sein Leben geundert und
fuhlte sich wunderbar. Er wurde jetzt zu seiner Frau hinaufgehen und sie von
seinen Entschlussen in Kenntnis setzen und dann nach Notre-Dame
hinuberpilgern und eine Kerze anzunden, um Gott zu danken fur den gnudigen
Fingerzeig und fur die unglaubliche Charaktersturke, die Er ihm, Giuseppe
Baldini, verliehen hatte.
Mit beinahe jugendlichem Elan warf er die Perucke auf seinen kahlen
Schudel, schlupfte in den blauen Rock, ergriff den Leuchter, der auf dem
Schreibtischstand, und verließ das Arbeitszimmer. Er hatte gerade die
Kerze am Talglicht des Treppenhauses angezundet, um sich den Weg hinauf zur
Wohnung zu beleuchten, als er es unten im Erdgeschoss klingeln hurte. Es war
nicht das schune persische Geluute der Ladentur, sondern die scheppernde
Klingel des Dienstboteneingangs, ein ekelhaftes Geruusch, das ihn schon
immer gesturt hatte. Oft wollte er das Ding entfernen und durch eine
angenehmere Glocke ersetzen lassen, aber dann war es ihm immer um die
Ausgabe leid gewesen, und jetzt, fiel ihm plutzlich ein, und er kicherte bei
dem Gedanken, jetzt war's egal; er wurde die aufdringliche Klingel samt dem
Haus verkaufen. Sollte sein Nachfolger sich daruber urgern!
Wieder schepperte die Klingel. Er lauschte nach unten. Offenbar hatte
Chenier den Laden schon verlassen. Auch das Dienstmudchen machte keine
Anstalten zu kommen. So stieg Baldini selbst hinab, um zu uffnen.
Er riss den Riegel zuruck, schwenkte die schwere Tur auf - und sah
nichts. Die Dunkelheit verschluckte den Schein der Kerze vollstundig. Dann,
sehr allmuhlich, konnte er eine kleine Gestalt ausmachen, ein Kind oder
einen halbwuchsigen Jungen, der etwas uber dem Arm trug.
"Was willst du?"
"Ich komme von Maitre Grimal, ich bringe das Ziegenleder", sagte die
Gestalt und trat nuher und hielt Baldini den abgewinkelten Arm mit einigen
ubereinandergehungten Huuten entgegen. Im Lichtschein erkannte Baldini das
Gesicht eines Jungen mit ungstlich lauernden Augen. Seine Haltung war
geduckt. Es schien, als verstecke er sich hinter seinem vorgehaltenen Arm
wie einer, der Schluge erwartet. Es war Grenouille.
Das Ziegenleder fur die spanische Haut! Baldini erinnerte sich. Er
hatte die Huute vor ein paar Tagen bei Grimal bestellt, feinstes weichstes
Waschleder fur die Schreibunterlage des Grafen Verhamont, funfzehn Franc das
Stuck. Aber jetzt brauchte er sie eigentlich nicht mehr, er konnte sich das
Geld sparen. Andrerseits, wenn er den Jungen einfach zuruckschickte...? Wer
weiß - es kunnte einen ungunstigen Eindruck machen, man wurde
vielleicht reden, Geruchte kunnten entstehen: Baldini sei unzuverlussig
geworden, Baldini bekomme keine Auftruge mehr, Baldini kunne nicht mehr
zahlen... und so etwas war nicht gut, nein, nein, denn so etwas druckte
womuglich den Verkaufswert des Geschufts. Es war besser, diese nutzlosen
Ziegenhuute anzunehmen. Niemand brauchte zur Unzeit zu erfahren, dass
Giuseppe Baldini sein Leben geundert hatte.
"Komm herein!"
Er ließ den Jungen eintreten, und sie gingen in den Laden
hinuber, Baldini mit dem Leuchter voran, Grenouille mit seinen Huuten
hinterdrein. Es war das erste Mal, dass Grenouille eine Parfumerie betrat,
einen Ort, wo Geruche nicht Beiwerk waren, sondern ganz unverblumt im
Mittelpunkt des Interesses standen. Naturlich kannte er sumtliche Parfum -
und Drogenhandlungen der Stadt, nuchtelang war er vor den Auslagen
gestanden, hatte seine Nase an die Spalten der Turen gedruckt. Er kannte
sumtliche Dufte, die hier gehandelt wurden, und hatte sie in seinem Innern
schon oft zu herrlichsten Parfums zusammengedacht. Es erwartete ihn also
nichts Neues. Aber ebenso wie ein musikalisches Kind darauf brennt, ein
Orchester aus der Nuhe zu sehen oder einmal in der Kirche auf die Empore
hinaufzusteigen, zum verborgenen Manual der Orgel, so brannte Grenouille
darauf, eine Parfumerie von innen zu sehen, und er hatte, als er hurte, es
solle Leder zu Baldini geliefert werden, alles daran gesetzt, diese
Besorgung ubernehmen zu durfen.
Und nun stand er in Baldinis Laden, an dem Ort von Paris, an dem die
grußte Anzahl professioneller Dufte auf engstem Raum versammelt war.
Viel sah er nicht im voruberfliegenden Kerzenlicht, nur kurz den Schatten
des Kontors mit der Waage, die beiden Reiher uber dem Becken, einen Sessel
fur die Kunden, die dunklen Regale an den Wunden, das kurze Aufblinken von
Messinggerut und weißen Etiketten auf Glusern und Tiegeln; und er roch
auch nicht mehr, als er schon von der Straße her gerochen hatte. Aber
er spurte sofort den Ernst, der in diesen Ruumen herrschte, fast muchte man
sagen, den heiligen Ernst, wenn das Wort "heilig" fur Grenouille irgendeine
Bedeutung besessen hutte; den kalten Ernst spurte er, die handwerkliche
Nuchternheit, den trockenen Geschuftssinn, die an jedem Mubel, an jedem
Gerut, an den Bottichen und Flaschen und Tupfen klebten. Und wuhrend er
hinter Baldini herging, in Baldinis Schatten, denn Baldini nahm sich nicht
die Muhe, ihm zu leuchten, uberkam ihn der Gedanke, dass er hierhergehure
und nirgendwo anders hin, dass er hier bleiben werde, dass er von hier die
Welt aus den Angeln heben wurde.
Dieser Gedanke war naturlich von geradezu grotesker Unbescheidenheit.
Es gab nichts, aber schon wirklich rein gar nichts, was einen
dahergelaufenen Gerbereihilfsarbeiter dubioser Abkunft, ohne Verbindung oder
Protektion, ohne die geringste stundische Position, zu der Hoffnung
berechtigte, in der renommiertesten Duftstoffhandlung von Paris Fuß zu
fassen; um so weniger, als, wie wir wissen, die Auflusung des Geschufts
bereits beschlossene Sache war. Aber es handelte sich ja auch nicht um eine
Hoffnung, die sich in Grenouilles unbescheidenen Gedanken ausdruckte,
sondern um eine Gewissheit. Diesen Laden, so wusste er, wurde er nur noch
verlassen, um seine Kleider bei Grimal abzuholen, und dann nicht mehr. Der
Zeck hatte Blut gewittert. Jahrelang war er still gewesen, in sich
verkapselt, und hatte gewartet. Jetzt ließ er sich fallen auf Gedeih
und Verderb, vollkommen hoffnungslos. Und deshalb war seine Sicherheit so
groß.
Sie hatten den Laden durchquert. Baldini uffnete den nach der
Flussseite gelegenen Hinterraum, der teils als Lager, teils als Werkstatt
und Labor diente, wo die Seifen gekocht und die Pomaden geruhrt und die
Riechwusser in bauchigen Flaschen gemischt wurden. "Da!" sagte er und wies
auf einen großen Tisch, der vor dem Fenster stand, "da leg sie hin!"
Grenouille trat aus Baldinis Schatten heraus, legte die Leder auf den
Tisch, sprang dann rasch wieder zuruck und stellte sich zwischen Baldini und
die Tur. Baldini blieb noch eine Weile stehen. Er hielt die Kerze etwas
beiseite, damit keine Wachstropfen auf den Tisch fielen, und strich mit dem
Fingerrucken uber die glatte Fluche des Leders. Dann schlug er das oberste
um und fuhr uber die samtige, zugleich rauhe und weiche Innenseite. Es war
sehr gut, dieses Leder. Wie geschaffen fur eine spanische Haut. Es wurde
sich beim Trocknen kaum verziehen, es wurde, wenn man es richtig mit dem
Falzbein strich, wieder geschmeidig werden, er spurte das sofort, wenn er es
nur zwischen Daumen und Zeigefinger druckte; es konnte Duft fur funf oder
zehn Jahre aufnehmen; es war ein sehr, sehr gutes Leder - vielleicht wurde
er Handschuhe daraus machen, drei Paar fur sich und drei Paar fur seine
Frau, fur die Reise nach Messina.
Er zog seine Hand zuruck. Ruhrend sah der Arbeitstisch aus: wie alles
bereit lag; die Glaswanne fur das Duftbad, die Glasplatte zum Trocknen, die
Reibschalen zum Anmischen der Tinktur, Pistill und Spatel, Pinsel und
Falzbein und Schere. Es war, als schliefen die Dinge nur, weil es dunkel
war, und als wurden sie morgen wieder lebendig. Vielleicht sollte er den
Tisch mitnehmen nach Messina? Und einen Teil seines Werkzeugs, nur die
wichtigsten Stucke...? Man saß und arbeitete sehr gut an diesem Tisch.
Er bestand aus Eichenbrettern, und das Gestell ebenfalls, und er war quer
verstrebt, da zitterte und wackelte nichts an diesem Tisch, dem machte keine
Suure etwas aus und kein ul und kein Messerschnitt - und ein Vermugen wurde
es kosten, ihn nach Messina zu bringen! Selbst mit dem Schiff! Und darum
wird er verkauft, der Tisch, morgen wird er verkauft, und alles, was darauf,
darunter und daneben ist, wird ebenfalls verkauft! Denn er, Baldini, hatte
zwar ein sentimentales Herz, aber er hatte auch einen starken Charakter, und
deshalb wurde er, so schwer es ihm fiel, seinen Entschluss durchfuhren; mit
Trunen in den Augen gab er alles weg, aber er wurde es trotzdem tun, denn er
wusste, dass es richtig war, er hatte ein Zeichen bekommen.
Er drehte sich um, um zu gehen. Da stand dieser kleine verwachsene
Mensch in der Tur, den hatte er fast schon vergessen. "Es ist gut", sagte
Baldini. "Richte dem Meister aus, das Leder ist gut. Ich werde in den
nuchsten Tagen vorbeikommen, um zu bezahlen."
"Jawohl", sagte Grenouille und blieb stehen und verstellte Baldini, der
sich anschickte, seine Werkstatt zu verlassen, den Weg. Baldini stutzte ein
wenig, hielt aber in seiner Ahnungslosigkeit das Verhalten des Jungen nicht
fur Chuzpe, sondern fur Schuchternheit.
"Was ist?" fragte er. "Hast du mir noch etwas zu bestellen? Nun? Sag es
nur!" Grenouille stand geduckt und schaute Baldini mit jenem Blick an, der
scheinbar ungstlichkeit verriet, in Wirklichkeit aber einer lauernden
Gespanntheit entsprang.
"Ich will bei Ihnen arbeiten, Maitre Baldini. Bei Ihnen, in Ihrem
Geschuft will ich arbeiten."
Das war nicht bittend gesagt, sondern fordernd, und es war auch nicht
eigentlich gesagt, sondern herausgepresst, hervorgezischelt, schlangenhaft.
Und wieder verkannte Baldini das unheimliche Selbstbewusstsein Grenouilles
als knabenhafte Unbeholfenheit. Er luchelte ihn freundlich an. "Du bist
Gerberlehrling, mein Sohn", sagte er, "ich habe keine Verwendung fur einen
Gerberlehrling. Ich habe selbst einen Gesellen, und einen Lehrling brauche
ich nicht."
"Sie wollen diese Ziegenleder riechen machen, Maitre Baldini? Diese
Leder, die ich Ihnen gebracht habe, die wollen Sie doch riechen machen?"
zischelte Grenouille, als habe er Baldinis Antwort gar nicht zur Kenntnis
genommen.
"In der Tat", sagte Baldini.
"Mit >Amor und Psyche< von Pelissier?" fragte Grenouille und
duckte sich noch tiefer zusammen. Jetzt zuckte ein milder Schrecken durch
Baldinis Kurper. Nicht weil er sich fragte, woher der Bursche so genau
Bescheid wusste, sondern einfach wegen der Namensnennung dieses verhassten
Parfums, an dessen Entrutselung er heute gescheitert war.
"Wie kommst du auf die absurde Idee, ich wurde ein fremdes Parfum
benutzen, um..."
"Sie riechen danach!" zischelte Grenouille. "Sie tragen es auf der
Stirn, und in der rechten Rocktasche haben Sie ein Tuch, das ist getrunkt
davon. Es ist nicht gut, dieses >Amor und Psyche<, es ist schlecht, es
ist zu viel Bergamotte darin und zu viel Rosmarin und zu wenig Rosenul."
"Aha", sagte Baldini, der von der Wendung des Gespruchs ins Exakte
vullig uberrascht war, "was noch?"
"Orangenblute, Limette, Nelke, Moschus, Jasmin, Weingeist und etwas,
von dem ich den Namen nicht kenne, hier, sehen Sie, da! In dieser Flasche!"
Und er deutete mit dem Finger ins Dunkle. Baldini hielt den Leuchter in die
angegebene Richtung, sein Blick folgte dem Zeigefinger des Jungen und fiel
auf eine Flasche im Regal, die mit einem graugelben Balsam gefullt war.
"Storax?" fragte er.
Grenouille nickte. "Ja. Das ist drin. Storax." Und dann krummte er sich
wie von einem Krampf zusammengezogen und murmelte mindestens ein dutzendmal
das Wort >Storax< vor sich hin:
"Storaxstoraxstoraxstorax..."
Baldini hielt die Kerze gegen das storaxkruchzende Huuflein Mensch und
dachte: Entweder ist er besessen, oder er ist ein betrugerischer Gauner,
oder er ist ein begnadetes Talent. Denn dass die angegebenen Stoffe in
richtiger Zusammensetzung das Parfum >Amor und Psyche< ergeben
konnten, war durchaus muglich; es war sogar wahrscheinlich. Rosenul, Nelke
und Storax - nach diesen drei Komponenten hatte er heute Nachmittag so
verzweifelt gesucht; mit ihnen fugten sich die anderen Teile der Komposition
- die auch er erkannt zu haben glaubte - wie Segmente zu einem hubschen
runden Kuchen. Es war jetzt nur noch die Frage, in welchem exakten
Verhultnis zueinander man sie fugen musste. Um das herauszufinden, wurde er,
Baldini, tagelang herumexperimentieren mussen, eine entsetzliche Arbeit,
fast noch schlimmer als das bloße Identifizieren der Teile, denn nun
galt es, zu messen und zu wugen und zu notieren und dabei doch hullisch
aufzupassen, denn die kleinste Unaufmerksamkeit - ein Zittern mit der
Pipette, ein Fehler beim Tropfenzuhlen - konnte alles verderben. Und jeder
verpatzte Versuch war grußlich teuer. Jede verdorbene Mischung kostete
ein kleines Vermugen... Er wollte den kleinen Menschen auf die Probe
stellen, wollte ihn nach der exakten Formel von >Amor und Psyche<
fragen. Wenn er sie wusste, auf Gramm und Tropfen genau - dann war er
offenkundig ein Betruger, der sich auf irgendeine Weise das Rezept von
Pelissier ergaunert hatte, um sich bei Baldini Zutritt und Anstellung zu
verschaffen. Erriet er sie aber ungefuhr, dann war er ein Geruchsgenie und
forderte als solches Baldinis professionelles Interesse heraus. Nicht dass
Baldini seinen gefassten Entschluss, das Geschuft aufzugeben, in Frage
stellte! Es kam ihm nicht auf das Parfum von Pelissier als solches an.
Selbst wenn der Bursche es ihm literweise verschaffte, Baldini dachte nicht
im Traum daran, die spanische Haut des Grafen Verhamont damit zu beduften,
aber... Aber man war doch nicht sein Leben lang Parfumeur gewesen, hatte
sich nicht ein Leben lang mit der Zusammensetzung von Duften beschuftigt, um
von einer Stunde zur anderen seine ganze professionelle Leidenschaft zu
verlieren! Es interessierte ihn jetzt, die Formel dieses verfluchten Parfums
herauszubekommen, und mehr noch, das Talent dieses unheimlichen Jungen zu
erforschen, der ihm einen Duft von der Stirne abgelesen hatte. Er wollte
wissen, was da dahintersteckte. Er war ganz einfach neugierig.
"Du hast, so scheint es, eine feine Nase, junger Mann", sagte er,
nachdem Grenouille mit seinem Gekruchze aufgehurt hatte, und trat zuruck in
die Werkstatt, um den Leuchter vorsichtig auf dem Arbeitstisch abzustellen,
"eine zweifellos feine Nase, aber..."
"Ich habe die beste Nase von Paris, Maitre Baldini",schnarrte
Grenouille dazwischen. "Ich kenne alle Geruche der Welt, alle, die in Paris
sind, alle, nur kenne ich von manchen die Namen nicht, aber ich kann auch
die Namen lernen, alle Geruche, die Namen haben, das sind nicht viele, das
sind nur einige Tausende, ich werde sie alle lernen, ich werde den Namen des
Balsams nie vergessen, Storax, der Balsam heisst Storax heisst er,
Storax..."
"Schweig!" rief Baldini, "unterbrich mich nicht, wenn ich spreche! Du
bist vorlaut und anmaßend. Kein Mensch kennt tausend Geruche beim
Namen. Selbst ich kenne nicht tausend beim Namen, sondern nur einige
hundert, denn mehr gibt es nicht in unserem Gewerbe als einige hundert,
alles andre ist nicht Geruch, sondern Gestank!"
Grenouille, der sich wuhrend seiner lungeren eruptiven Zwischenrede
beinahe kurperlich entfaltet, in der Erregung sogar fur einen Moment mit
beiden Armen im Kreis gefuchtelt hatte, um das >alles, alles<, was er
kenne, zu umschreiben, klappte bei Baldinis Entgegnung augenblicks wieder in
sich zusammen wie eine kleine schwarze Krute und verharrte auf der
Turschwelle, bewegungslos lauernd.
"Ich bin mir", fuhr Baldini fort, "selbstverstundlich lungst daruber im
klaren, dass >Amor und Psyche< aus Storax, Rosenul und Nelke sowie
Bergamott und Rosmarinextrakt et cetera besteht. Um das herauszufinden,
bedarf es, wie gesagt, bloß einer leidlich feinen Nase, und es mag
durchaus sein, dass Gott dir eine leidlich feine Nase gegeben hat, wie
vielen, vielen anderen Menschen auch - namentlich in deinem Alter. Der
Parfumeur jedoch" - und hier hob Baldini den Zeigefinger und wulbte seine
Brust heraus - "der Parfumeur jedoch braucht mehr als eine leidlich feine
Nase. Er braucht ein uber viele Jahrzehnte geschultes, unbestechlich
arbeitendes Riechorgan, das ihn in Stand versetzt, auch komplizierteste
Geruche nach Art und Menge sicher zu entrutseln, ebenso wie neue, unbekannte
Duftgemische zu kreieren. Eine solche Nase" - und er tippte mit dem Finger
an die seine "hat man nicht, junger Mann! Eine solche Nase erwirbt man sich
mit Ausdauer und Fleiß. Oder kunntest du mir vielleicht auf Anhieb die
exakte Formel von >Amor und Psyche< nennen? Nun? Kunntest du das?"
Grenouille antwortete nicht.
"Kunntest du sie mir vielleicht ungefuhr verraten?" sagte Baldini und
beugte sich ein wenig vor, um die Krute in der Tur genauer zu sehen, "nur so
in etwa, schutzungsweise? Nun? Sprich, du beste Nase von Paris!"
Doch Grenouille schwieg.
"Siehst du?" sagte Baldini gleichermaßen befriedigt wie
enttuuscht und richtete sich wieder auf, "du kannst es nicht. Naturlich
nicht. Wie solltest du es auch kunnen. Du bist wie einer, der beim Essen
schmeckt, ob Kerbel oder Petersilie in der Suppe ist. Nun gut das ist schon
etwas. Aber deshalb bist du noch lange kein Koch. In jeder Kunst und auch in
jedem Handwerk - merke dir das, bevor du gehst! - gilt das Talent so gut wie
nichts, aber alles die Erfahrung, die durch Bescheidenheit und Fleiß
erworben wird."
Er griff nach dem Leuchter auf dem Tisch, als Grenouilles gePresste
Stimme von der Tur her schnarrte:
"Ich weiß nicht, was eine Formel ist, Mahre, das weiß ich
nicht, sonst weiß ich alles!"
"Eine Formel ist das A und O jeden Parfums", erwiderte Baldini streng,
denn er wollte dem Gespruch nun ein Ende machen. "Sie ist die akribische
Anweisung, in welchem Verhultnis die einzelnen Ingredienzen zu mischen sind,
damit der eine gewunschte, unverwechselbare Duft entstehe; das ist die
Formel. Sie ist das Rezept - wenn du dieses Wort besser verstehst." "Formel,
Formel", kruchzte Grenouille und wurde etwas grußer in der Tur, "ich
brauche keine Formel. Ich habe das Rezept in meiner Nase. Soll ich es fur
Sie mischen, Maitre, soll ich es mischen, soll ich?"
"Wie denn?" rief Baldini mit ziemlicher Lautsturke und hielt dem Gnom
die Kerze vors Gesicht. "Wie denn mischen?"
Grenouille zuckte zum ersten Mal nicht mehr zuruck. "Aber sie sind doch
alle da, die man braucht, die Geruche, sind doch alle da, in diesem Raum",
sagte er und deutete wieder ins Dunkle. "Rosenul da! Orangenblute da! Nelke
da! Rosmarin da...!"
"Freilich sind sie da!" brullte Baldini. "Alle sind sie da! Aber ich
sage dir doch, Holzkopf, das nutzt nichts, wenn man die Formel nicht hat!"
"...Jasmin da! Weingeist da! Bergamotte da! Storax da!" kruchzte
Grenouille weiter und deutete bei jedem Namen auf einen anderen Punkt im
Raum, wo es so dunkel war, dass man den Schatten der Regale mit den Flaschen
huchstens ahnen konnte.
"Du siehst wohl auch bei Nacht, he?" fuhr Baldini ihn an, "du hast
nicht nur die feinste Nase, sondern auch die schurfsten Augen von Paris,
wie? Wenn du nur leidlich gute Ohren hast, dann mach sie auf, denn ich sage
dir: Du bist ein kleiner Betruger. Wahrscheinlich hast du irgend etwas
aufgeschnappt bei Pelissier, hast was ausspioniert, wie? Und glaubst, du
kunntest mich hinters Licht fuhren?"
Grenouille stand jetzt ganz auseinandergefaltet, sozusagen in voller
Kurpergruße in der Ture, mit leicht auseinandergestellten Beinen und
leicht abgespreizten Armen, so dass er aussah wie eine schwarze Spinne, die
sich an Schwelle und Rahmen festkrallte. "Geben Sie mir zehn Minuten", sagte
er in ziemlich flussiger Rede, "und ich werde Ihnen das Parfum >Amor und
Psyche< herstellen. Jetzt gleich und hier in diesem Raum. Maitre, geben
Sie mir funf Minuten!"
"Du glaubst, ich lasse dich in meiner Werkstatt herumpantschen? Mit
Essenzen, die ein Vermugen wert sind? Dich?"
"Ja", sagte Grenouille.
"Pah!" rief Baldini und stieß dabei den ganzen Atem, den er
hatte, auf einmal heraus. Dann holte er tief Luft, sah den spinnenhaften
Grenouille lange an und uberlegte. Im Grunde ist es egal, dachte er, denn
morgen hat sowie soalles ein Ende. Ich weiß zwar, dass er das, was er
behauptet, nicht kann, ja gar nicht kunnen kann, er wure denn noch
grußer als der große Frangipani. Aber warum soll ich mir das,
was ich weiß, nicht noch vor Augen demonstrieren lassen? Womuglich
kommt mir sonst in Messina eines Tages man wird ja manchmal sonderbar im
Alter und versteift sich auf die verrucktesten Ideen - der Gedanke, ich
hutte ein olfaktorisches Genie, ein Wesen, auf dem die Gnade Gottes
uberreichlich ruhte, ein Wunderkind, als solches nicht erkannt... - Es ist
ganz ausgeschlossen. Nach allem, was mir der Verstand sagt, ist es
ausgeschlossen - aber Wunder gibt es, das steht fest. Nun, wenn ich dereinst
sterbe in Messina, und auf dem Sterbelager kommt mir der Gedanke: Damals in
Paris, an jenem Abend, hast du vor einem Wunder die Augen zugemacht...? Das
wure nicht sehr angenehm, Baldini! Soll der Narr die paar Tropfen Rosenul
und Moschustinktur verkleckern, du selbst huttest sie auch verkleckert, wenn
dich das Parfum von Pelissier noch wirklich interessierte. Und was sind
schon die paar Tropfen - wiewohl teuer, sehr, sehr teuer! - gemessen an der
Sicherheit des Wissens und an einem ruhigen Lebensabend?
"Pass auf!" sagte er mit kunstlich strenger Stimme, "pass auf! Ich... -
wie heisst du uberhaupt?"
"Grenouille", sagte Grenouille. "Jean-Baptiste Grenouille."
"Aha", sagte Baldini. "Also pass auf, Jean-Baptiste Grenouille! Ich
habe es mir uberlegt. Du sollst die Gelegenheit bekommen, jetzt, sofort,
deine Behauptung zu beweisen. Dies ist zugleich eine Gelegenheit fur dich,
durch ein eklatantes Scheitern die Tugend der Bescheidenheit zu lernen,
welche - in deinem jungen Alter vielleicht verzeihlicherweise noch kaum
entwickelt - eine unabdingbare Voraussetzung fur dein sputeres Fortkommen
als Mitglied deiner Zunft und deines Standes, als Ehemann, als Untertan, als
Mensch und als ein guter Christ sein wird. Ich bin bereit, dir diese Lehre
auf meine Kosten zu erteilen, denn aus bestimmten Grunden bin ich heute
spendabel aufgelegt, und, wer weiß, vielleicht wird mir eines Tages
die Ruckerinnerung an diese Szene etwas Heiterkeit bereiten. Aber glaube
nicht, du kunntest mich ubertulpeln! Giuseppe Baldinis Nase ist alt, aber
sie ist scharf, scharf genug, auch den kleinsten Unterschied zwischen deiner
Mixtur und diesem Produkt hier" - und dabei zog er sein >Amor und
Psyche< - getrunktes Tuchlein aus der Tasche und wedelte es Grenouille
vor die Nase - "sofort festzustellen. Tritt nuher, beste Nase von Paris!
Tritt nuher an diesen Tisch und zeige, was du kannst! Doch gib acht, dass du
mir nichts umstußt und herunterwirfst! Ruhre mir nichts an! Erst will
ich mehr Licht machen. Wir wollen große Beleuchtung haben fur dieses
kleine Experiment, nicht wahr?"
Und damit nahm er zwei andere Leuchter, die am Rand des großen
Eichentisches standen, und zundete sie an. Er postierte sie alle drei
nebeneinander an der hinteren Lungsseite, schob das Leder beiseite, ruumte
den mittleren Teil des Tisches frei. Dann, mit zugleich ruhigen und raschen
Griffen, holte er die Gerute, die das Geschuft erforderte, von einem kleinen
Gestell: die große bauchige Mischflasche, den glusernen Trichter, die
Pipette, das kleine und das große Messglas, und stellte sie
wohlgeordnet vor sich auf die Eichenplatte.
Grenouille hatte sich inzwischen vom Turrahmen gelust. Schon wuhrend
Baldinis pompuser Rede war das Versteifte, lauernd Verdruckte von ihm
abgefallen. Er hurte nur die Zustimmung, nur das Ja, mit dem innern Jubel
eines Kindes, das sich ein Zugestundnis ertrotzt hat und auf die
Einschrunkungen, Bedingungen und moralischen Ermahnungen, die sich daran
knupfen, pfeift. Locker dastehend, einem Menschen zum ersten Mal uhnlicher
als einem Tier, ließ er den Rest von Baldinis Suada uber sich ergehen
und wusste, dass er diesen Mann, der ihm nun nachgab, schon uberwultigt
hatte.
Wuhrend Baldini noch mit seinen Kerzenleuchtern auf dem Tisch
hantierte, schlupfte Grenouille schon in das seitliche Dunkel der Werkstatt,
wo die Regale mit den kostbaren Essenzen, ulen und Tinkturen standen, und
griff sich, der sicheren Witterung seiner Nase folgend, die benutigten
Fluschchen von den Borden. Neun waren es an der Zahl: Orangenblutenessenz,
Limettenul, Nelken- und Rosenul, Jasmin-, Bergamotte- und Rosmarinextrakt,
Moschustinktur und Storaxbalsam, die er sich rasch herunterpfluckte und am
Rand des Tisches zurechtstellte. Als letztes schleppte er einen Ballon mit
hochprozentigem Weingeist heran. Dann stellte er sich hinter Baldini, der
noch immer mit beduchtiger Pedanterie seine Mischgefuße arrangierte,
dieses Glas ein wenig dahin ruckte, jenes noch ein wenig dorthin, damit
alles seine gute altgewohnte Ordnung habe und sich im vorteilhaftesten Licht
der Leuchter prusentiere - und wartete, zitternd vor Ungeduld, dass der Alte
sich entferne und ihm Platz mache.
"So!" sagte Baldini endlich und trat zur Seite. "Hier ist alles
aufgereiht, was du fur dein - nennen wir es freundlicherweise
>Experiment< benutigst. Zerbrich mir nichts, vertropfe mir nichts!
Denn merke: Diese Flussigkeiten, mit denen du jetzt funf Minuten lang
hantieren darfst, sind von einer Kostbarkeit und Seltenheit, wie du sie nie
wieder in deinem Leben in so konzentrierter Form in Hunden halten wirst!"
"Wie viel soll ich Ihnen machen, Maitre?" fragte Grenouille."Was
machen...?" sagte Baldini, der seine Rede noch nicht beendet hatte. "Wie
viel von dem Parfum?" schnarrte Grenouille, "wie viel davon wollen Sie
haben? Soll ich diese dicke Flasche bis zum Rand vollfullen?" Und er deutete
auf eine Mischflasche, die gut und gerne drei Liter fasste.
"Nein, das sollst du nicht!" schr ie Baldini entsetzt, und es schrie
aus ihm die ebenso tief verwurzelte wie spontane Angst vor der Verschwendung
seines Eigentums. Und als geniere er sich uber diesen entlarvenden Schrei,
brullte er gleich hinterher: "Und in die Rede fallen sollst du mir auch
nicht!" um dann in ruhigerem, ironisch eingefurbtem Ton fortzufahren: "Wozu
brauchen wir drei Liter von einem Parfum, das wir beide nicht schutzen? Im
Grunde genugte ein halber Messbecher voll. Da solch kleine Quantituten
jedoch unpruzis zu mischen sind, will ich dir gestatten, eine Drittelfullung
der Mischflasche anzusetzen."
"Gut", sagte Grenouille. "Ich werde diese Flasche zu einem Drittel mit
>Amor und Psyche< fullen. Aber, Maitre Baldini, ich mache es auf meine
Art. Ich weiß nicht, ob das die zunftige Art ist, denn die kenne ich
nicht, aber ich mache es auf meine Art."
"Bitte!" sagte Baldini, der wusste, dass es bei diesem Geschuft nicht
meine oder deine, sondern eben nur eine, eine einzig mugliche und richtige
Art gab, die darin bestand, in Kenntnis der Formel und unter entsprechender
Umrechnung auf die zu erzielende Endmenge ein aufs Exakteste vermessenes
Konzentrat aus den verschiedenen Essenzen herzustellen, welches daraufhin
mit Alkohol in einem wiederum exakten Verhultnis, das meistens zwischen eins
zu zehn und eins zu zwanzig schwankte, zum endgultigen Parfum vergeistigt
werden musste. Eine andre Art, das wusste er, gab es nicht. Und deshalb
musste ihm das, was er nun zu sehen bekam und was er zunuchst mit
sputtischer Distanz, dann mit Verwirrung und schließlich nur noch mit
hilflosem Erstaunen beobachtete, als schieres Wunder erscheinen. Und die
Szene utzte sich so in sein Geduchtnis ein, dass er sie bis ans Ende seiner
Tage nicht mehr vergaß.
Der kleine Mensch Grenouille entkorkte als erstes den Ballon mit
Weingeist. Er hatte Muhe, das schwere Gefuß hochzuwuchten. Fast bis in
Kopfhuhe musste er es heben, denn so hoch stand die Mischflasche mit dem
aufgesetzten Glastrichter, in den er, ohne Zuhilfenahme eines Messbechers,
den Alkohol direkt aus dem Ballon goss. Baldini schauderte vor so viel
geballtem Unvermugen: Nicht nur, dass der Kerl die parfumistische
Weltordnung auf den Kopf stellte, indem er mit dem Lusungsmittel anfing,
ohne das zu lusende Konzentrat zu besitzen - er war auch kaum physisch dazu
in der Lage! Er zitterte vor Anstrengung, und Baldini rechnete jeden Moment
damit, dass der schwere Ballon herunterkrachen und alles auf dem Tisch
zertrummern werde. Die Kerzen, dachte er, um Gottes willen, die Kerzen! Es
wird eine Explosion geben, er wird mein Haus abbrennen...! Und er wollte
schon hinsturzen, um dem Verruckten den Ballon zu entreißen, als
Grenouille ihn selber absetzte, heil zu Boden brachte und wieder verkorkte.
In der Mischflasche schwankte die leichte klare Flussigkeit - es war kein
Tropfen danebengegangen. Fur ein paar Momente verschnaufte sich Grenouille
und machte dabei ein so zufriedenes Gesicht, als habe er den
beschwerlichsten Teil der Arbeit schon hinter sich. Und in der Tat ging das
Folgende mit einer derartigen Geschwindigkeit vonstatten, dass Baldini mit
den Augen kaum folgen konnte, geschweige denn eine Reihenfolge oder auch nur
einen irgendwie geregelten Ablauf des Geschehens hutte erkennen kunnen.
Anscheinend wahllos griff Grenouille in die Reihe der Flakons mit den
Duftessenzen, riss die Glasstupsel heraus, hielt sich den Inhalt fur eine
Sekunde unter die Nase, schuttete dann von diesem, trupfelte von einem
anderen, gab einen Schuss von einem dritten Fluschchen in den Trichter und
so fort. Pipette, Reagenzglas, Messglas, Luffelchen und Ruhrstab - all die
Gerute, die den komplizierten Mischprozess fur den Parfumeur beherrschbar
machen, ruhrte Grenouille kein einziges Mal an. Es war, als spiele er nur,
als pritschle und pansche er wie ein Kind, das aus Wasser, Gras und Dreck
einen scheußlichen Sud kocht und dann behauptet, es sei eine Suppe.
Ja, wie ein Kind, dachte Baldini; er sieht auch mit einem Mal aus wie ein
Kind, trotz seinen klobigen Hunden, trotz seinem vernarbten, zerkerbten
Gesicht und der knolligen Altmunnernase. Ich habe ihn fur ulter gehalten,
als er ist, und jetzt kommt er mir junger vor; wie drei oder vier kommt er
mir vor; wie diese unzugunglichen, unbegreiflichen, eigensinnigen kleinen
Vormenschen, die, angeblich unschuldig, nur an sich selber denken, die alles
auf der Welt sich despotisch unterordnen wollen und es wohl auch tun wurden,
wenn man sie in ihrem Grußenwahn gewuhren ließe und nicht durch
strengste erzieherische Maßnahmen nach und nach disziplinierte und an
die selbstbeherrschte Existenz des Vollmenschen heranfuhrte. Ein solch
fanatisches Kleinkind steckte in diesem jungen Mann, der mit gluhenden Augen
am Tisch stand und seine ganze Umgebung vergessen hatte, offenbar gar nicht
mehr wusste, dass es noch etwas andres gab in der Werkstatt außer ihm
und diesen Flaschen, die er mit behender Tapsigkeit an den Trichter fuhrte,
um sein wahnsinniges Gebruu zu mischen, von dem er hinterher todsicher
behaupten wurde - und auch noch daran glaubte! - es sei das erlesene Parfum
>Amor und Psyche<. Es schauderte Baldini, als er dem im flackernden
Kerzenlicht so grußlich verkehrt und so grußlich selbstbewusst
hantierenden Menschen zusah: Seinesgleichen - so dachte er, und ihm war fur
einen Moment wieder so traurig und elend und wutend zumute wie am
Nachmittag, als er auf die in der Dummerung rotgluhende Stadt geblickt hatte
seinesgleichen hutte es fruher nicht gegeben; das war ein ganz neues
Exemplar der Gattung, wie es nur in dieser maroden, verlotterten Zeit
entstehen konnte... Aber er sollte seine Lehre bekommen, der prupotente
Bursche! Zusammenputzen wurde er ihn am Ende dieser lucherlichen Auffuhrung,
dass er davonschlich als das geduckte Huuflein Nichts, als welches er
gekommen war. Geschmeiß! Man durfte sich uberhaupt mit niemandem mehr
einlassen heutzutage, denn es wimmelte von lucherlichem Geschmeiß!
So beschuftigt war Baldini mit seiner inneren Empurung und seinem Ekel
vor der Zeit, dass er nicht recht begriff, was es bedeuten sollte, als
Grenouille plutzlich sumtliche Flakons verstupselte, den Trichter aus der
Mischflasche zog, die Flasche selbst mit einer Hand am Halse packte, sie mit
der flachen linken Hand verschloss und heftig schuttelte. Erst als die
Flasche mehrmals durch die Luft gewirbelt war, ihr kostbarer Inhalt wie
Limonade vom Bauch in den Hals und zuruck sturzte, stieß Baldini einen
Wut- und Entsetzensschrei aus. "Halt!" kreischte er. "Genug jetzt! Hur
augenblicklich auf! Basta! Stell sofort die Flasche auf den Tisch und ruhre
nichts mehr an, verstehst du, nichts mehr! Ich muss wahnsinnig gewesen sein,
mir dein turichtes Geschwutz uberhaupt anzuhuren. Die Art und Weise, wie du
mit den Dingen umgehst,deine Grobheit, dein primitiver Unverstand zeigen
mir, dass du ein Stumper bist, ein barbarischer Stumper und ein lausiger
frecher Rotzbengel obendrein. Du taugst nicht mal zum Limonadenmischer,
nicht einmal zum einfachsten Lakritzwasserverkuufer taugst du, geschweige
denn zum Parfumeur! Sei froh, sei dankbar und zufrieden, wenn dich dein
Meister weiterhin mit Gerberbruhe panschen lusst! Wage es nicht noch einmal,
hurst du mich? Wage es nicht noch einmal, deinen Fuß uber die Schwelle
eines Parfumeurs zu setzen!"
So sprach Baldini. Und wuhrend er noch sprach, war der Raum um ihn
herum schon duftgesuttigt von >Amor und Psyche<. Es gibt eine
uberzeugungskraft des Duftes, die sturker ist als Worte, Augenschein, Gefuhl
und Wille. Die uberzeugungskraft des Duftes ist nicht abzuwehren, sie geht
in uns hinein wie die Atemluft in unsere Lungen, sie erfullt uns, fullt uns
vollkommen aus, es gibt kein Mittel gegen sie.
Grenouille hatte die Flasche abgesetzt, die mit Parfum benetzte Hand
vom Hals genommen und an seinem Rocksaum abgewischt. Ein, zwei Schritt
zuruck, das linkische Zusammenklappen seines Kurpers unter Baldinis
Standpauke schlugen genugend Wellen in der Luft, um den neugeschaffnen Duft
ringsum zu verbreiten. Mehr war nicht nutig. Zwar, Baldini tobte noch und
zeterte und schimpfte; doch mit jedem Atemzug fand seine uußerlich zur
Schau gestellte Wut im Innern weniger Nahrung. Ihm schwante, dass er
widerlegt war, weswegen seine Rede sich gegen Ende nur noch in hohles Pathos
steigern konnte. Und als er schwieg, eine Weile lang geschwiegen hatte,
brauchte es gar nicht mehr Grenouilles Bemerkung: "Es ist fertig." Er wusste
es ohnehin.
Aber trotzdem, obwohl ihn mittlerweile von allen Seiten her die
>Amor-und-Psyche<-schwere Luft umwallte, trat er an den alten
Eichentisch, um eine Probe vorzunehmen. Zog ein frisches, schneeweißes
Spitzentuchlein aus der Rocktasche, aus der linken, entfaltete es und tupfte
darauf ein paar Tropfen, die er mit der langen Pipette aus der Mischflasche
gezogen hatte. Schwenkte das Tuchlein am ausgestreckten Arm, um es zu
aerieren, und zog es dann mit der geubten zierlichen Bewegung unter seiner
Nase hindurch, den Duft in sich einsaugend. Wuhrend er ihn ruckweise
ausstrumen ließ, setzte er sich auf einen Hocker. Er war zuvor von
seinem - Wutausbruch noch tiefrot im Gesicht gewesen - mit einem Mal ganz
blass geworden. "Unglaublich", murmelte er leise vor sich hin, "bei Gott -
unglaublich."
Und wieder und wieder druckte er die Nase gegen das Tuchlein und
schnuffelte und schuttelte den Kopf und murmelte "unglaublich.": Es war
>Amor und Psyche<, ohne den geringsten Zweifel >Amor und
Psyche<, das hassenswert geniale Duftgemisch, so pruzise kopiert, dass
nicht einmal Pelissier selber es von seinem Produkt wurde unterscheiden
kunnen. "Unglaublich..."
Klein und blass saß der große Baldini auf dem Hocker und
sah lucherlich aus mit seinem Tuchlein in der Hand, das er wie eine
verschnupfte Jungfer gegen die Nase druckte. Die Sprache hatte es ihm nun
vollstundig verschlagen. Er sagte nicht einmal "unglaublich" mehr, sondern
stieß nur noch, indem er fortwuhrend leise nickte und auf den Inhalt
der Mischflasche starrte, ein monotones "Hm, hm, hm...hm, hm, hm...hm, hm,
hm.." aus. Nach einer Weile nuherte sich Grenouille und trat lautlos wie ein
Schatten an den Tisch.
"Es ist kein gutes Parfum", sagte er, "es ist sehr schlecht
zusammengesetzt, dieses Parfum."
"Hm, hm, hm", sagte Baldini, und Grenouille fuhr fort: "Wenn Sie
erlauben, Maitre, will ich es verbessern. Geben Sie mir eine Minute, und ich
mache Ihnen ein anstundiges Parfum daraus!"
"Hm, hm, hm", sagte Baldini und nickte. Nicht weil er zustimmte,
sondern weil er eben in einem so hilflos apathischen Zustand war, dass er zu
allem und jedem "hm, hm, hm" gesagt und genickt hutte. Und er nickte auch
weiter und murmelte "hm, hm, hm" und machte keine Anstalten einzugreifen,
als Grenouille zum zweiten Mal zu mischen anfing, ein zweites Mal den
Weingeist aus dem Ballon in die Mischflasche goss, zum bereits darin
befindlichen Parfum hinzu, zum zweiten Mal den Inhalt der Flakons in
scheinbar wahlloser Reihenfolge und Menge in den Trichter kippte. Erst gegen
Ende der Prozedur - Grenouille schuttelte die Flasche diesmal nicht, sondern
schwenkte sie nur sachte wie ein Cognacglas, vielleicht mit Rucksicht auf
Baldinis Zartgefuhl, vielleicht weil ihm der Inhalt diesmal kostbarer
erschien - erst jetzt also, als die Flussigkeit schon fertig in der Flasche
kreiselte, erwachte Baldini aus seinem betuubten Zustand und erhob sich, das
Tuchlein freilich immer noch vor die Nase gepresst, als wolle er sich gegen
einen neuerlichen Angriff auf sein Inneres wappnen.
"Es ist fertig, Maitre", sagte Grenouille. "Jetzt ist es ein recht
guter Duft."
"Jaja, schon gut, schon gut", erwiderte Baldini und winkte ab mit
seiner freien Hand.
"Wollen Sie nicht eine Probe nehmen?" gurgelte Grenouille weiter,
"wollen Sie nicht, Maitre? Keine Probe?"
"Sputer, bin jetzt nicht aufgelegt zu einer Probe... habe andere Sachen
im Kopf. Geh jetzt! Komm!"
Und er nahm einen der Leuchter und ging zur Tur hinaus, hinuber in den
Laden. Grenouille folgte ihm. Sie kamen in den schmalen Korridor, der zum
Dienstboteneingang fuhrte. Der Alte schlurfte auf die Pforte zu, riss den
Riegel zuruck und uffnete. Er trat beiseite, um den Jungen hinauszulassen.
"Darf ich nun bei Ihnen arbeiten, Maitre, darf ich?" fragte Grenouille,
schon auf der Schwelle stehend, wieder geduckt, wieder lauernden Auges.
"Ich weiß es nicht", sagte Baldini, "ich werde daruber
nachdenken. Geh!"
Und dann war Grenouille verschwunden, mit einem Mal weg, weggeschluckt
von der Dunkelheit. Baldini stand da und glotzte in die Nacht. In der
rechten Hand hielt er den Leuchter, in der linken das Tuchlein, wie einer,
der Nasenbluten hat, und hatte doch nur Angst. Rasch riegelte er die Ture
zu. Dann nahm er das schutzende Tuch vom Gesicht, schob es in die Tasche und
ging durch den Laden in die Werkstatt zuruck. Der Duft war so himmlisch gut,
dass Baldini schlagartig das Wasser in die Augen trat. Er brauchte keine
Probe zu nehmen, er stand nur am Werktisch vor der Mischflasche und atmete.
Das Parfum war herrlich. Es war im Vergleich zu >Amor und Psyche< wie
eine Sinfonie im Vergleich zum einsamen Gekratze einer Geige. Und es war
mehr. Baldini schloss die Augen und sah sublimste Erinnerungen in sich
wachgerufen. Er sah sich als einen jungen Menschen durch abendliche Gurten
von Neapel gehen; er sah sich in den Armen einer Frau mit schwarzen Locken
liegen und sah die Silhouette eines Strauchs von Rosen auf dem Fenstersims,
uber das ein Nachtwind ging; er hurte versprengte Vugel singen und von Ferne
die Musik aus einer Hafenschenke; er hurte Flusterndes ganz dicht am Ohr, er
hurte ein Ich lieb dich und spurte, wie sich ihm vor Wonne die Haare
struubten, jetzt! jetzt in diesem Augenblick! Er riss die Augen auf und
stuhnte vor Vergnugen. Dieses Parfum war kein Parfum, wie man es bisher
kannte. Das war kein Duft, der besser riechen machte, kein Sentbon, kein
Toilettenartikel. Das war ein vullig neuartiges Ding, das eine ganze Welt
aus sich erschaffen konnte, eine zauberhafte, reiche Welt, und man
vergaß mit einem Schlag die Ekelhaftigkeiten um sich her und fuhlte
sich so reich, so wohl, so frei, so gut...
Die gestruubten Haare an Baldinis Arm legten sich, und eine beturende
Seelenruhe ergriff Besitz von ihm. Er nahm das Leder, das Ziegenleder, das
am Rand des Tisches lag und nahm ein Messer und schnitt das Leder zu. Dann
legte er die Stucke in die Wanne aus Glas und ubergoss sie mit dem neuen
Parfum. Er sturzte eine Glasplatte auf die Wanne, zog den Rest des Duftes
auf zwei Fluschchen, die er mit Etiketts versah, darauf schrieb er den Namen
>Nuit Napolitaine<. Dann luschte er das Licht und ging.
Oben bei seiner Frau beim Essen sagte er nichts. Vor allem sagte er
nichts von dem hochheiligen Entschluss, den er am Nachmittag gefasst hatte.
Auch seine Frau sagte nichts, denn sie merkte, dass er heiter war, und damit
war sie sehr zufrieden. Er ging auch nicht mehr hinuber nach Notre-Dame, um
Gott zu danken fur seine Charaktersturke. Ja, er vergaß an diesem Tag
sogar zum ersten Mal, zur Nacht zu beten.
Am nuchsten Morgen ging er schnurstracks zu Grimal.Als erster bezahlte
er das Ziegenleder, und zwar den vollen Preis, ohne Murren und ohne die
geringste Feilscherei. Und dann lud er Grimal zu einer Flasche
Weißwein in die Tour d'Argent ein und handelte ihm den Lehrling
Grenouille ab. Selbstverstundlich verriet er nicht, weshalb er ihn wollte
und wozu er ihn brauchte. Er schwindelte etwas daher von einem großen
Auftrag in Duftleder, zu dessen Bewultigung er einer ungelernten Hilfskraft
bedurfe. Einen genugsamen Burschen brauche er, der ihm einfachste Dienste
verrichte, Leder zuschneide und so weiter. Er bestellte noch eine Flasche
Wein und bot zwanzig Livre als Entschudigung fur die Unannehmlichkeit, die
er Grimal durch den Ausfall Grenouilles verursachte. Zwanzig Livre waren
eine enorme Summe. Grimal schlug sofort ein. Sie gingen in die Gerberei, wo
Grenouille sonderbarerweise schon mit gepacktem Bundel wartete, Baldini
zahlte seine zwanzig Livre und nahm ihn, im Bewusstsein, das beste Geschuft
seines Lebens gemacht zu haben, gleich mit.
Grimal, der seinerseits uberzeugt war, das beste Geschuft seines Lebens
gemacht zu haben, kehrte in die Tour d'Argent zuruck, trank dort zwei
weitere Flaschen Wein, zog dann gegen Mittag in den Lion d'Or am andern Ufer
um und besoff sich dort so hemmungslos, dass er, als er sput nachts abermals
in die Tour d'Argent umziehen wollte, die Rue Geoffroi L'Anier mit der Rue
des Nonaindieres verwechselte und somit, statt, wie er gehofft hatte, direkt
auf den Pont Marie zu stoßen, verhungnisvollerweise auf den Quai des
Ormes geriet, von wo aus er der Lunge nach mit dem Gesicht voraus ins Wasser
platschte wie in ein weiches Bett. Er war augenblicklich tot. Der Fluss aber
brauchte noch geraume Zeit, ihn vom seichten Ufer weg, an den vertuuten
Lastkuhnen vorbei, in die sturkere mittlere Strumung zu ziehen, und erst in
den fruhen Morgenstunden schwamm der Gerber Grimal, oder vielmehr seine
nasse Leiche, in flotterer Fahrt flussabwurts, gen Westen.
Als er den Pont au Change passierte, lautlos, ohne an den
Bruckenpfeiler anzuecken, ging Jean-Baptiste Grenouille zwanzig Meter uber
ihm gerade zu Bett. Er hatte in der hinteren Ecke von Baldinis Werkstatt
eine Pritsche hingestellt bekommen, von der er nun Besitz ergriff, wuhrend
sein ehemaliger Brotherr, alle viere von sich gestreckt, die kalte Seine
hinunter schwamm. Wohlig rollte er sich zusammen und machte sich klein wie
der Zeck. Mit beginnendem Schlaf versenkte er sich tiefer und tiefer in sich
hinein und hielt triumphalen Einzug in seiner inneren Festung, auf der er
sich ein geruchliches Siegesfest ertruumte, eine gigantische Orgie mit
Weihrauchqualm und Myrrhendampf, zu Ehren seiner selbst.
Mit dem Erwerb von Grenouille begann der Aufstieg des Hauses Giuseppe
Baldini zu nationalem, ja europuischem Ansehen. Das persische Glockenspiel
stand nicht mehr still, und die Reiher hurten nicht mehr auf zu speien im
Laden auf dem Pont au Change.
Am ersten Abend noch musste Grenouille einen großen Ballon
>Nuit Napolitaine< ansetzen, von dem im Laufe des folgenden Tages uber
achtzig Flakons verkauft wurden. Der Ruf des Duftes verbreitete sich mit
rasender Geschwindigkeit. Chenier bekam ganz glasige Augen vom Geldzuhlen
und einen schmerzenden Rucken von den tiefen Bucklingen, die er verrichten
musste, denn es erschienen hohe und huchste Herrschaften, oder zumindest die
Diener von hohen und huchsten Herrschaften. Und einmal flog sogar die Tur
auf, dass es nur so schepperte, und herein trat der Lakai des Grafen
d'Argenson und schrie, wie nur Lakaien schreien kunnen, dass er funf
Flaschen von dem neuen Duft haben wolle, und Chenier zitterte noch eine
Viertelstunde sputer vor Ehrfurcht, denn der Graf d'Argenson war Intendant
und Kriegsminister Seiner Majestut und der muchtigste Mann von Paris.
Wuhrend Chenier im Laden allein dem Ansturm der Kundschaft ausgesetzt
war, hatte sich Baldini mit seinem neuen Lehrling in der Werkstatt
eingeschlossen. Chenier gegenuber rechtfertigte er diesen Umstand mit einer
phantastischen Theorie, die er als "Arbeitsteilung und Rationalisierung"
bezeichnete. Jahrelang, so erklurte er, habe er geduldig mitangesehen, wie
Pelissier und seinesgleichen zunftverachtende Gestalten ihm die Kundschaft
abspenstig gemacht und das Geschuft versaut hutten. Jetzt sei sein Langmut
zu Ende. Jetzt nehme er die Herausforderung an und schlage wider diese
frechen Parvenus zuruck, und zwar mit deren eigenen Mitteln: Zu jeder
Saison, jeden Monat, wenn es sein musste auch jede Woche, werde er mit neuen
Duften auftrumpfen, und mit was fur welchen! Er wolle aus dem vollen seiner
kreativen Ader schupfen. Und dazu sei es nutig, dass er - unterstutzt allein
von einer ungelernten Hilfskraft - ganz und ausschließlich die
Produktion der Dufte betreibe, wuhrend Chenier sich ausschließlich
deren Verkauf zu widmen habe. Mit dieser modernen Methode werde man ein
neues Kapitel in der Geschichte der Parfumerie aufschlagen, die Konkurrenz
hinwegfegen und unermesslich reich werden - ja, er sage bewusst und
ausdrucklich "man", denn er gedenke, seinen altgedienten Gesellen an diesen
unermesslichen Reichtumern mit einem bestimmten Prozentsatz zu beteiligen.
Vor wenigen Tagen noch hutte Chenier solche Reden seines Meisters als
Anzeichen eines beginnenden Alterswahnsinns gedeutet. Jetzt ist er reif fur
die Charitu<, hutte er gedacht, >jetzt kann's nicht mehr lange dauern,
bis er das Pistill endgultig aus der Hand legt. < Nun aber dachte er
nichts mehr. Er kam gar nicht mehr dazu, er hatte einfach zu viel zu tun. Er
hatte so viel zu tun, dass er abends vor Erschupfung kaum noch in der Lage
war, die pralle Kasse auszuleeren und sich seinen Anteil abzuzweigen. Er kam
nicht im Traum darauf zu zweifeln, dass es mit rechten Dingen zuging, wenn
Baldini beinahe tuglich mit irgendeinem neuen Duft aus seiner Werkstatt
trat.
Und was fur Dufte waren das! Nicht nur Parfums der huchsten,
allerhuchsten Schule, sondern auch Cremes und Puder, Seifen, Haarlotionen,
Wusser, ule ... Alles, was zu duften hatte, duftete jetzt neu und anders und
herrlicher als je zuvor. Und auf alles, aber wirklich alles, selbst auf die
neuartigen Dufthaarbunder, die Baldinis kuriose Laune eines Tages
hervorbrachte, sprang das Publikum los wie behext, und Preise spielten keine
Rolle. Alles, was Baldini produzierte, wurde ein Erfolg. Und der Erfolg war
dermaßen uberwultigend, dass Chenier ihn wie ein Naturereignis hinnahm
und nicht mehr nach seinen Ursachen forschte. Dass etwa der neue Lehrling,
der unbeholfene Gnom, der in der Werkstatt hauste wie ein Hund und den man
manchmal, wenn der Meister heraustrat, im Hintergrund stehen und Gluser
wischen und Murser putzen sah - dass dieses Nichts von Mensch etwas zu tun
haben sollte mit dem sagenhaften Aufbluhen des Geschufts, das hutte Chenier
nicht einmal dann geglaubt, wenn man es ihm gesagt hutte.
Naturlich hatte der Gnom alles damit zu tun. Das, was Baldini in den
Laden brachte und Chenier zum Verkauf uberließ, war nur ein Bruchteil
dessen, was Grenouille hinter verschlossenen Turen zusammenmischte. Baldini
kam mit dem Riechen nicht mehr nach. Es war ihm manchmal eine regelrechte
Qual, unter den Herrlichkeiten, die Grenouille hervorbrachte, eine Wahl zu
treffen. Dieser Zauberlehrling hutte alle Parfumeure Frankreichs mit
Rezepten versorgen kunnen, ohne sich zu wiederholen, ohne auch nur ein Mal
etwas Minderwertiges oder auch nur Mittelmußiges hervorzubringen. -
Das heisst, mit Rezepten, also Formeln, hutte er sie eben nicht versorgen
kunnen, denn zunuchst komponierte Grenouille seine Dufte noch auf jene
chaotische und vullig unprofessionelle Manier, die Baldini schon kannte,
indem er numlich aus der freien Hand in scheinbar wildem Durcheinander
Ingredienzien mischte. Um das verruckte Geschuft, wenn nicht zu
kontrollieren, so doch wenigstens begreifen zu kunnen, verlangte Baldini
eines Tages von Grenouille, er muge sich, auch wenn er das fur unnutig
halte, beim Ansetzen seiner Mischungen der Waage, des Messbechers und der
Pipette bedienen; er muge sich ferner angewuhnen, den Weingeist nicht als
Duftstoff zu begreifen, sondern als Lusungsmittel, welches erst im
nachhinein zuzusetzen sei; und ermuge schließlich um Gottes willen
langsam hantieren, gemuchlich und langsam, wie es sich fur einen Handwerker
gehure.
Grenouille tat das. Und zum ersten Mal war Baldini in der Lage, die
einzelnen Handhabungen des Hexenmeisters zu verfolgen und zu dokumentieren.
Mit Feder und Papier saß er neben Grenouille und notierte, immer
wieder zur Langsamkeit mahnend, wie viel Gramm von diesem, wie viel
Messstriche von jenem, wie viel Tropfen von einem dritten Ingredienz in die
Mischflasche wanderten. Auf diese sonderbare Weise, indem er numlich einen
Vorgang nachtruglich mit eben jenen Mitteln analysierte, ohne deren
vorherigen Gebrauch er eigentlich gar nicht hutte stattfinden durfen,
gelangte Baldini endlich doch in den Besitz der synthetischen Vorschrift.
Wie Grenouille ohne diese in der Lage war, seine Parfums zu mixen, blieb fur
Baldini zwar weiterhin ein Rutsel, vielmehr ein Wunder, aber wenigstens
hatte er das Wunder jetzt auf eine Formel gebracht und damit seinen nach
Regeln durstenden Geist einigermaßen befriedigt und sein
parfumistisches Weltbild vor dem vollstundigen Kollaps bewahrt.
Nach und nach entlockte er Grenouille die Rezepturen sumtlicher
Parfums, die dieser bisher erfunden hatte, und er verbot ihm
schließlich sogar, neue Dufte anzusetzen, ohne dass er, Baldini, mit
Feder und Papier zugegen war, den Prozess mit Argusaugen beobachtete und
Schritt fur Schritt dokumentierte. Seine Notizen, bald viele Dutzende von
Formeln, ubertrug er dann penibel mit gestochener Schrift in zwei
verschiedene Buchlein, deren eines er in seinen feuerfesten Geldschrank
einschloss und deren anderes er stundig bei sich trug und mit dem er nachts
auch schlafen ging. Das gab ihm Sicherheit. Denn nun konnte er, wenn er
wollte, Grenouilles Wunder selber nachvollziehen, die ihn, als er sie zum
erstenmal erlebte, tief erschuttert hatten. Mit seiner schriftlichen
Formelsammlung glaubte er, das entsetzliche schupferische Chaos, welches aus
dem Innern seines Lehrlings hervorquoll, bannen zu kunnen. Auch hatte die
Tatsache, dass er nicht mehr bloß blude staunend, sondern beobachtend
und registrierend an den Schupfungsakten teilnahm, auf Baldini eine
beruhigende Wirkung und sturkte sein Selbstvertrauen. Nach einer Weile
glaubte er gar von sich, zum Gelingen der sublimen Dufte nicht unwesentlich
beizutragen. Und wenn er sie erst einmal in seine Buchlein eingetragen hatte
und im Tresor und dicht am eigenen Busen verwahrte, zweifelte er sowieso
nicht mehr daran, dass sie nun ganz und gar sein eigen seien.
Aber auch Grenouille profitierte von dem disziplinierenden Verfahren,
das ihm von Baldini aufgezwungen wurde. Er selbst war zwar nicht darauf
angewiesen. Er musste nie eine alte Formel nachschlagen, um ein Parfum nach
Wochen oder Monaten zurekonstruieren, denn er vergaß Geruche nicht.
Aber er erlernte mit der obligatorischen Verwendung von Messbecher und Waage
die Sprache der Parfumerie, under spurte instinktiv, dass ihm die Kenntnis
dieser Sprache von Nutzen sein konnte. Nach wenigen Wochen beherrschte
Grenouille nicht nur die Namen sumtlicher Duftstoffe in Baldinis Werkstatt,
sondern er war auch in der Lage, die Formel seiner Parfums selbst
niederzuschreiben und umgekehrt, fremde Formeln und Anweisungen in Parfums
und sonstige Riecherzeugnisse zu verwandeln. Und mehr noch! Nachdem er
einmal gelernt hatte, seine parfumistischen Ideen in Gramm und Tropfen
auszudrucken, bedurfte er nicht einmal mehr des experimentellen
Zwischenschritts. Wenn Baldini ihm auftrug, einen neuen Duft, sei es fur ein
Taschentuchparfum, fur ein Sachet, fur eine Schminke zu kreieren, so griff
Grenouille nicht mehr zu Flakons und Pulvern, sondern er setzte sich einfach
an den Tisch und schrieb die Formel direkt nieder. Er hatte gelernt, den Weg
von seiner inneren Geruchsvorstellung zum fertigen Parfum um die Herstellung
der Formel zu erweitern. Fur ihn war das ein Umweg. In den Augen der Welt,
das heisst in Baldinis Augen, jedoch war es ein Fortschritt. Grenouilles
Wunder blieben dieselben. Aber die Rezeptur, mit denen er sie nun versah,
nahmen ihnen den Schrecken, und das war von Vorteil. Je besser Grenouille
die handwerklichen Griffe und Verfahrensweisen beherrschte, je normaler er
sich in der konventionellen Sprache der Parfumerie auszudrucken wusste,
desto weniger furchtete und beargwuhnte ihn der Meister. Bald hielt Baldini
ihn zwar noch fur einen ungewuhnlich begabten Geruchsmenschen, nicht mehr
aber fur einen zweiten Frangipani oder gar fur einen unheimlichen
Hexenmeister, und Grenouille war das nur recht. Der handwerkliche Komment
diente ihm als willkommene Tarnung. Er lullte Baldini geradezu ein durch
sein vorbildliches Verfahren beim Wugen der Zutaten, beim Schwenken der
Mischflasche, beim Betupfen des weißen Probiertuchleins. Er konnte es
fast schon so zierlich schutteln, so elegant an der Nase voruberfliegen
lassen wie der Meister. Und gelegentlich, in wohldosierten Intervallen,
beging er Fehler, die so beschaffen waren, dass Baldini sie bemerken musste:
Vergaß zu filtrieren, stellte die Waage falsch ein, schrieb einen
unsinnig hohen Prozentsatz von Ambertinktur in eine Formel... und ließ
sich den Fehler verweisen, um ihn dann geflissentlichst zu korrigieren. So
gelang es ihm, Baldini in der Illusion zu wiegen, es gehe letzten Endes
alles doch mit rechten Dingen zu. Er wollte den Alten ja nicht verprellen.
Er wollte ja wirklich von ihm lernen. Nicht das Mischen von Parfums, nicht
die rechte Komposition eines Duftes, naturlich nicht! Auf diesem Gebiet gab
es niemand auf der Welt, der ihn etwas hutte lehren kunnen, und die in
Baldinis Laden vorhandenen Ingredienzien hutten auch bei weitem nicht
ausgereicht, seine Vorstellungen eines wirklich großen Parfums zu
verwirklichen. Was er bei Baldini an Geruchen realisieren konnte, waren
Spielereien verglichen mit den Geruchen, die er in sich trug und die er
eines Tages zu realisieren gedachte. Dazu aber, das wusste er, bedurfte es
zweier unabdingbarer Voraussetzungen: Die eine war der Mantel einer
burgerlichen Existenz; mindestens des Gesellentums, in dessen Schutz er
seinen eigentlichen Leidenschaften frunen und seine eigentlichen Ziele
ungesturt verfolgen konnte. Die andre war die Kenntnis jener handwerklichen
Verfahren, nach denen man Duftstoffe herstellte, isolierte, konzentrierte,
konservierte und somit fur eine huhere Verwendung uberhaupt erst verfugbar
machte. Denn Grenouille besaß zwar in der Tat die beste Nase der Welt,
sowohl analytisch als auch visionur, aber er besaß noch nicht die
Fuhigkeit, sich der Geruche dinglich zu bemuchtigen.
Und so ließ er sich denn willig unterweisen in der Kunst des
Seifenkochens aus Schweinefett, des Handschuhnuhens aus Waschleder, des
Pudermischens aus Weizenmehl und Mandelkleie und gepulverten
Veilchenwurzeln. Rollte Duftkerzen aus Holzkohle, Salpeter und
Sandelholzspunen. Presste orientalische Pastillen aus Myrrhe, Benzoe und
Bernsteinpulver. Knetete Weihrauch, Schellack, Vetiver und Zimt zu
Ruucherkugelchen. Siebte und spaltete Poudre Imperiale aus gemahlenen
Rosenbluttern, Lavendelblute, Kaskarillarinde. Ruhrte Schminken, weiß
und aderblau, und formte Fettstifte, karmesinrot, fur die Lippen. Schlummte
feinste Fingernagelpulver und Zahnkreiden, die nach Minze schmeckten. Mixte
Kruuselflussigkeit fur das Peruckenhaar und Warzentropfen fur die
Huhneraugen, Sommersprossenbleiche fur die Haut und Belladonnaauszug fur die
Augen, Spanischfliegensalbe fur die Herren und Hygieneessig fur die Damen...
Die Herstellung sumtlicher Wusserchen und Pulverchen, Toilette- und
Schunheitsmittelchen, aber auch von Tee- und Wurzmischungen, von Likuren,
Marinaden und dergleichen, kurz, alles, was Baldini ihn mit seinem
großen uberkommenen Wissen zu lehren hatte, lernte Grenouille, ohne
sonderliches Interesse zwar, doch klaglos und mit Erfolg.
Mit besonderem Eifer war er hingegen bei der Sache, wenn Baldini ihn im
Anfertigen von Tinkturen, Auszugen und Essenzen unterwies. Unermudlich
konnte er Bittermandelkerne in der Schraubenpresse quetschen oder
Moschuskurner stampfen oder fette graue Amberknollen mit dem Wiegemesser
hacken oder Veilchenwurzeln raspeln, um die Spune dann in feinstem Alkohol
zu digerieren. Er lernte den Gebrauch des Scheidetrichters kennen, mit
welchem man das reine ul gepresster Limonenschalen von der truben
Ruckstandsbruhe trennte. Er lernte Kruuter und Bluten zu trocknen, auf
Rosten in schattiger Wurme, und das raschelnde Laub in wachsversiegelten
Tupfen und Truhen zu konservieren. Er erlernte die Kunst, Pomaden
auszuwaschen, Infusionen herzustellen, zu filtrieren, zu konzentrieren, zu
klarifizieren und zu rektifizieren.
Freilich war Baldinis Werkstatt nicht dazu geeignet, dass man darin in
großem Stile Bluten- oder Kruuterule fabrizierte. Es hutte in Paris ja
auch die notwendigen Mengen frischer Pflanzen kaum gegeben. Gelegentlich
jedoch, wenn frischer Rosmarin, wenn Salbei, Minze oder Anissamen am Markt
billig zu haben waren oder wenn ein grußerer Posten Irisknollen oder
Baldrianwurzel, Kummel, Muskatnuss oder trockne Nelkenblute eingetroffen
war, dann regte sich Baldinis Alchimistenader, und er holte seinen
großen Alambic hervor, einen kupfernen Destillierbottich mit oben
aufgesetztem Kondensiertopf - einen sogenannten Maurenkopfalambic, wie er
stolz verkundete -, mit dem er schon vor vierzig Jahren an den sudlichen
Hungen Liguriens und auf den Huhen des Luberon auf freiem Felde Lavendel
destilliert habe. Und wuhrend Grenouille das Destilliergut zerkleinerte,
heizte Baldini in hektischer Eile - denn rasche Verarbeitung war das A und O
des Geschufts - eine gemauerte Feuerstelle ein, auf die er den kupfernen
Kessel, mit einem guten Bodensatz Wasser gefullt, postierte. Er warf die
Pflanzenteile hinein, stopfte den doppelwandigen Maurenkopf auf den Stutzen
und schloss zwei Schluuchlein fur zu- und abfließendes Wasser daran
an. Diese raffinierte Wasserkuhlungskonstruktion, so erklurte er, sei erst
nachtruglich von ihm eingebaut worden, denn seinerzeit auf dem Felde habe
man selbstverstundlich mit bloßer zugefuchelter Luft gekuhlt. Dann
blies er das Feuer an.
Allmuhlich begann es, im Kessel zu brodeln. Und nach einer Weile, erst
zaghaft trupfchenweise, dann in fadendunnem Rinnsal, floss Destillat aus der
dritten Ruhre des Maurenkopfs in eine Florentinerflasche, die Baldini
untergestellt hatte. Es sah zunuchst recht unansehnlich aus, wie eine dunne,
trube Suppe. Nach und nach aber, vor allem wenn die gefullte Flasche durch
eine neue ausgetauscht und ruhig beiseite gestellt worden war, schied sich
die Bruhe in zwei verschiedene Flussigkeiten: unten stand das Bluten- oder
Kruuterwasser, obenauf schwamm eine dicke Schicht von ul. Goss man nun
vorsichtig durch den unteren Schnabelhals der Florentinerflasche das nur
zart duftende Blutenwasser ab, so blieb das reine ul zuruck, die Essenz, das
starke riechende Prinzip der Pflanze. Grenouille war von dem Vorgang
fasziniert. Wenn je etwas im Leben Begeisterung in ihm entfacht hatte
freilich keine uußerlich sichtbare, sondern eine verborgene, wie in
kalter Flamme brennende Begeisterung -, dann war es dieses Verfahren, mit
Feuer, Wasser und Dampf und einer ausgeklugelten Apparatur den Dingen ihre
duftende Seele zu entreißen. Diese duftende Seele, das utherische ul,
war ja das Beste an ihnen, das einzige, um dessentwillen sie ihn
interessierten. Der blude Rest: Blute, Blutter, Schale, Frucht, Farbe,
Schunheit, Lebendigkeit und was sonst noch an uberflussigem in ihnen
steckte, das kummerte ihn nicht. Das war nur Hulle und Ballast. Das gehurte
weg.
Von Zeit zu Zeit, wenn das Destillat wussrig klar geworden war, nahmen
sie den Alambic vom Feuer, uffneten ihn und schutteten das zerkochte Zeug
heraus. Es sah schlapp aus und blass wie aufgeweichtes Stroh, wie gebleichte
Knochen kleiner Vugel, wie Gemuse, das zu lang gekocht hat, fad und fasrig,
matschig, kaum noch als es selbst erkenntlich, eklig leichenhaft und so gut
wie vollstundig des eigenen Geruchs beraubt. Sie warfen es zum Fenster
hinaus in den Fluss. Dann beschickten sie mit neuen frischen Pflanzen,
fullten Wasser nach und setzten den Alambic zuruck auf die Feuerstelle. Und
wieder begann der Kessel zu brodeln, und wieder rann der Lebenssaft der
Pflanzen in die Florentinerflaschen. So ging es oft die ganze Nacht
hindurch. Baldini besorgte den Ofen, Grenouille behielt die Flaschen im
Auge, mehr war nicht zu tun in der Zeit zwischen den Wechseln.
Sie saßen auf Schemeln ums Feuer, im Banne des plumpen Bottichs,
beide gebannt, wenn auch aus sehr verschiedenen Grunden. Baldini genoss die
Glut des Feuers und das flackernde Rot der Flammen und des Kupfers, er
liebte das Knistern des brennenden Holzes, das Gurgeln des Alambics, denn
das war wie fruher. Da konnte man ins Schwurmen kommen! Er holte eine
Flasche Wein aus dem Laden, denn die Hitze machte ihn durstig, und
Weintrinken, das war auch wie fruher. Und dann fing er an, Geschichten zu
erzuhlen, von damals, endlos. Vom spanischen Erbfolgekrieg, an dessen
Verlauf er, gegen die usterreicher kumpfend, maßgeblich beteiligt
gewesen sei; von den Camisards, mit denen er die Cevennen unsicher gemacht
habe; von der Tochter eines Hugenotten im Esterei, die vom Lavendelduft
berauscht ihm zu Willen gewesen sei; von einem Waldbrand, den er dabei um
ein Haar entfacht und der dann wohl die gesamte Provence in Brand gesteckt
hutte, so sicher wie das Amen in der Kirche, denn es ging ein scharfer
Mistral; und vom Destillieren erzuhlte er, immer wieder davon, auf freiem
Feld, nachts, beim Mondschein, bei Wein und bei Zikadengeschrei, und von
einem Lavendelul, das er dabei erzeugt habe, so fein und kruftig, dass man
es ihm mit Silber auf gewogen habe; von seiner Lehrzeit in Genua, von seinen
Wanderjahren und von der Stadt Grasse, in der es so viele Parfumeure gebe
wie anderswo Schuster, und so reiche darunter, dass sie lebten wie Fursten,
in pruchtigen Huusern mit schattigen Gurten und Terrassen und holzgetufelten
Esszimmern, in denen sie speisten von porzellanenen Tellern mit Goldbesteck,
und so fort...
Solche Geschichten erzuhlte der alte Baldini und trank Wein dazu und
bekam vom Wein und von der Feuerglut und von der Begeisterung uber seine
eignen Geschichten ganz feuerrote Buckchen. Grenouille aber, der etwas mehr
im Schatten saß, hurte gar nicht zu. Ihn interessierten keine alten
Geschichten, ihn interessierte ausschließlich der neue Vorgang. Er
starrte unausgesetzt auf das Ruhrchen am Kopf des Alambics, aus dem in
dunnem Strahl das Destillat rann. Und indem er es anstarrte, stellte er sich
vor, er selbst sei so ein Alambic, in dem es brodele wie in diesem und aus
dem ein Destillat hervorquelle wie hier, nur eben besser, neuer,
ungewohnter, ein Destillat von jenen exquisiten Pflanzen, die er selbst in
seinem Innern gezogen hatte, die dort bluhten, ungerochen außer von
ihm selbst, und die mit ihrem einzigartigen Parfum die Welt in einen
duftenden Garten Eden verwandeln kunnten, in welchem fur ihn das Dasein
olfaktorisch einigermaßen ertruglich wure. Ein großer Alambic zu
sein, der alle Welt mit seinen selbsterzeugten Destillaten uberschwemmte,
das war der Wunschtraum, dem Grenouille sich hingab.
Wuhrend aber Baldini, vom Wein entzundet, immer ausschweifendere
Geschichten davon erzuhlte, wie es fruher gewesen war, und sich immer
hemmungsloser in die eigenen Schwurmereien verstrickte, ließ
Grenouille bald ab von seiner bizarren Phantasie. Er verbannte die
Vorstellung vom großen Alambic furs erste aus seinem Kopf und
uberlegte stattdessen, wie er sich seine neuerworbenen Kenntnisse fur
nuherliegende Ziele nutzbar machen kunnte.
Nicht lang, und er war ein Spezialist auf dem Gebiet des Destillierens.
Er fand heraus - und seine Nase half ihm dabei mehr als Baldinis Regelwerk
-, dass die Hitze des Feuers von entscheidendem Einfluss auf die Gute des
Destillates war. Jede Pflanze, jede Blute, jedes Holz und jede ulfrucht
verlangten eine besondere Prozedur. Mal musste schurfster Dampf entwickelt,
mal nur mußig stark gebrodelt werden, und manche Blute gab ihr Bestes
erst, wenn man sie auf kleinster Flamme schwitzen ließ.
uhnlich wichtig war die Aufbereitung. Minze und Lavendel konnte man in
ganzen Buscheln destillieren. Andres wollte fein verlesen sein, zerpfluckt,
gehackt, geraspelt, gestampft oder sogar als Maische angesetzt, bevor es in
den Kupferkessel kam. Manches aber ließ sich uberhaupt nicht
destillieren, und das erbitterte Grenouille aufs uußerste.
Baldini hatte ihm, als er sah, wie sicher Grenouille die Apparatur
beherrschte, freie Hand im Umgang mit dem Alambic gelassen, und Grenouille
hatte diese Freiheit weidlich genutzt. Wuhrend er tagsuber Parfums mischte
und sonstige Duft- und Wurzprodukte fertigte, beschuftigte er sich nachts
ausschließlich mit der geheimnisvollen Kunst des Destillierens. Sein
Plan war, vollkommen neue Geruchsstoffe zu produzieren, um damit wenigstens
einige der Dufte, die er in seinem Innern trug, herstellen zu kunnen.
Zunuchst hatte er auch kleine Erfolge. Es gelang ihm, ein ul von
Brennesselbluten und von Kressesamen zu erzeugen, ein Wasser von der
frischgeschulten Rinde des Holunder-Strauchs und von Eibenzweigen. Die
Destillate uhnelten zwar im Duft den Ausgangsstoffen kaum noch, waren aber
immerhin noch interessant genug, um fur weitere Verarbeitung zu taugen. Dann
allerdings gab es Stoffe, bei denen das Verfahren vollstundig versagte.
Grenouille versuchte etwa, den Geruch von Glas zu destillieren, den
lehmig-kuhlen Geruch glatten Glases, der von normalen Menschen gar nicht
wahrzunehmen ist. Er besorgte sich Fensterglas und Flaschenglas und
verarbeitete es in großen Stucken, in Scherben, in Splittern, als
Staub - ohne den geringsten Erfolg. Er destillierte Messing, Porzellan und
Leder, Korn und Kieselsteine. Schiere Erde destillierte er. Blut und Holz
und frische Fische. Seine eigenen Haare. Am Ende destillierte er sogar
Wasser, Wasser aus der Seine, dessen eigentumlicher Geruch ihm wert schien,
aufbewahrt zu werden. Er glaubte, mit Hilfe des Alambics kunne er diesen
Stoffen ihren charakteristischen Duft entreißen, wie das bei Thymian,
bei Lavendel und beim Kummelsamen muglich war. Er wusste ja nicht, dass die
Destillation nichts anderes war als ein Verfahren zur Trennung gemischter
Substanzen in ihre fluchtigen und weniger fluchtigen Einzelteile und dass
sie fur die Parfumerie nur insofern von Nutzen war, als sie das fluchtige
utherische ul gewisser Pflanzen von ihren duftlosen oder duftarmen Resten
absondern konnte. Bei Substanzen, denen dieses utherische ul abging, war das
Verfahren der Destillation naturlich vullig sinnlos. Uns heutigen Menschen,
die wir physikalisch ausgebildet sind, leuchtet das sofort ein. Fur
Grenouille jedoch war diese Erkenntnis das muhselig errungene Ergebnis einer
langen Kette von enttuuschenden Versuchen. uber Monate hinweg hatte er Nacht
fur Nacht am Alambic gesessen und auf jede erdenkliche Weise versucht,
mittels Destillation radikal neue Dufte zu erzeugen, Dufte, wie es sie in
konzentrierter Form auf Erden noch nicht gegeben hatte. Und bis auf ein paar
lucherliche Pflanzenule war nichts dabei herausgekommen. Aus dem tiefen,
unermesslich reichen Brunnen seiner Vorstellung hatte er keinen einzigen
Tropfen konkreter Duftessenz gefurdert, von allem, was ihm geruchlich
vorgeschwebt hatte, nicht ein Atom realisieren kunnen.
Als er sich uber sein Scheitern klargeworden war, stellte er die
Versuche ein und wurde lebensbedrohlich krank.
Er bekam hohes Fieber, das in den ersten Tagen von Ausschwitzungen
begleitet war und sputer, als genugten die Poren der Haut nicht mehr,
unzuhlige Pusteln erzeugte. Grenouilles Kurper war ubersut von diesenroten
Bluschen. Viele von ihnen platzten auf und ergossen ihren wussrigen Inhalt,
um sich dann wieder von neuem zu fullen. Andere wuchsen sich zu wahren
Furunkeln aus, schwollen dick rot an und rissen wie Krater auf und spieen
dickflussigen Eiter aus und mit gelben Schlieren durchsetztes Blut. Nach
einer Weile sah Grenouille aus wie ein von innen gesteinigter Murtyrer, aus
hundert Wunden schwurend. Da machte sich Baldini naturlich Sorgen. Es wure
ihm sehr unangenehm gewesen, seinen kostbaren Lehrling ausgerechnet in einem
Augenblick zu verlieren, wo er sich anschickte, seinen Handel uber die
Grenzen der Hauptstadt, ja sogar des ganzen Landes auszudehnen. Denn in der
Tat geschah es immer huufiger, dass nicht nur aus der Provinz, sondern auch
von auslundischen Hufen Bestellungen eingingen fur jene neuartigen Dufte,
nach denen Paris verruckt war; und Baldini trug sich mit dem Gedanken, zur
Bewultigung dieser Nachfrage eine Filiale im Faubourg Saint-Antoine zu
grunden, eine veritable kleine Manufaktur, wo die gungigsten Dufte en gros
gemischt und en gros in nette kleine Flakons gefullt, von netten kleinen
Mudchen verpackt nach Holland, England und ins Deutsche Reich verschickt
werden sollten. Fur einen in Paris ansussigen Meister war ein solches
Unterfangen nicht gerade legal, aber neuerdings verfugte Baldini ja uber
Protektion huheren Orts, seine raffinierten Dufte hatten sie ihm verschafft,
nicht nur beim Intendanten, sondern auch bei so wichtigen Persunlichkeiten
wie Monsieur dem Zollpuchter von Paris und einem Mitglied des kuniglichen
Finanzkabinetts und Furderer wirtschaftlich florierender Unternehmen wie dem
Herrn Feydeau de Brou. Dieser hatte sogar kunigliches Privileg in Aussicht
gestellt, das Beste, was man sich uberhaupt wunschen konnte, war es doch
eine Art Passepartout zur Umgehung sumtlicher staatlicher und stundischer
Bevormundung, das Ende aller geschuftlichen Sorgen und eine ewige Garantie
fur sicheren, unangefochtenen Wohlstand.
Und dann gab es noch einen anderen Plan, mit dem Baldini schwanger
ging, einen Lieblingsplan, eine Art Gegenprojekt zu der Manufaktur im
Faubourg Saint-Antoine, die, wenn nicht Massenware, so doch fur jedermann
kuufliche produzierte: Er wollte fur eine ausgewuhlte Zahl hoher und
huchster Kundschaft persunliche Parfums kreieren, vielmehr kreieren lassen,
Parfums, die, wie angeschneiderte Kleider, nur zu einer Person passten, nur
von dieser verwendet werden durften und allein ihren erlauchten Namen
trugen. Er stellte sich ein >Parfum de la Marquise de Cernay< vor, ein
>Parfum de la Marechale de Villars<, ein >Parfum du Duc
d'Aiguillon< und so fort. Er truumte von einem >Parfum de Madame la
Marquise de Pompadour<, ja sogar von einem >Parfum de Sa Majeste le
Roi< im kustlichgeschliffenen achatenen Flakon mit ziselierter
Goldfassung und dem auf der Innenseite des Fußes verborgen
eingravierten Namen >Giuseppe Baldini, Parfumeur<. Des Kunigs Namen
und sein eigener auf ein und demselben Gegenstand. Zu solch herrlichen
Vorstellungen hatte sich Baldini verstiegen! Und nun war Grenouille krank
geworden. Wo doch Grimal, Gott hab ihn selig, geschworen hatte, dem fehle
nie etwas, der halte alles aus, sogar die schwarze Pest stecke der weg. War
mir nichts, dir nichts krank auf den Tod. Wenn er sturbe? Entsetzlich! Dann
sturben mit ihm die herrlichen Plune von der Manufaktur, von den netten
kleinen Mudchen, vom Privilegium und vom Parfum des Kunigs.
Also beschloss Baldini, nichts unversucht zu lassen, um das teure Leben
seines Lehrlings zu retten. Er ordnete eine Umsiedlung von der
Werkstattpritsche in ein sauberes Bett im Obergeschoß des Hauses an.
Er ließ das Bett mit Damast beziehen. Er half eigenhundig mit, den
Kranken die enge Stiege hinaufzutragen, obwohl ihn unsuglich vor den Pusteln
und den schwurenden Furunkeln ekelte. Er befahl seiner Frau, Huhnerbruhe mit
Wein zu kochen. Er schickte nach dem renommiertesten Arzt im Quartier, einem
gewissen Procope, der im voraus bezahlt werden musste, zwanzig Franc! damit
er sich uberhaupt herbemuhte.
Der Doktor kam, hob mit spitzen Fingern das Laken hoch, warf einen
einzigen Blick auf Grenouilles Kurper, der wirklich aussah wie von hundert
Kugeln zerschossen, und verließ das Zimmer, ohne seine Tasche, die der
Assistent ihm stundig nachtrug, auch nur geuffnet zu haben. Der Fall, begann
er zu Baldini, sei vullig klar. Es handle sich um eine syphilitische
Spielart der schwarzen Blattern untermischt mit eiternden Masern in stadio
ultimo. Eine Behandlung sei schon deshalb nicht vonnuten, da ein Schnepper
zum Aderlass an dem sich zersetzenden Leib, der einer Leiche uhnlicher sei
als einem lebenden Organismus, gar nicht mehr ordnungsgemuß angebracht
werden kunne. Und obwohl der fur den Krankheitsverlauf charakteristische
pestilenzartige Gestank noch nicht wahrzunehmen sei - was allerdings
verwundere und vom streng wissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen ein
kleines Kuriosum darstelle -, kunne am Ableben des Patienten innerhalb der
kommenden achtundvierzig Stunden nicht der geringste Zweifel herrschen, so
wahr er Doktor Procope heiße. Worauf er sich abermals zwanzig Franc
auszahlen ließ fur absolvierten Besuch und erstellte Prognose - funf
Franc davon ruckzahlbar fur den Fall, dass man ihm den Kadaver mit der
klassischen Symptomatik zu Demonstrationszwecken uberließ - und sich
empfahl. Baldini war außer sich. Er klagte und schrie vor
Verzweiflung. Er biss sich in die Finger vor Wut uber sein Schicksal. Wieder
einmal wurden ihm die Plune fur den ganz, ganz großen Erfolg kurz vor
dem Ziel vermasselt. Seinerzeit, da waren's Pelissier und seine
Spießgesellen mit ihrem Erfindungsreichtum gewesen. Jetzt war's dieser
Junge mit seinem unerschupflichen Fundus an neuen Geruchen, dieser mit Gold
gar nicht aufzuwiegende kleine Dreckskerl, der ausgerechnet jetzt, in der
geschuftlichen Aufbauphase, die syphilitischen Blattern bekommen musste und
die eitrigen Masern in stadio ultimo! Ausgerechnet jetzt! Warum nicht in
zwei Jahren? Warum nicht in einem? Bis dahin hutte man ihn ausplundern
kunnen wie eine Silbermine, wie einen Goldesel. In einem Jahr hutte er
getrost sterben durfen. Aber nein! Er starb jetzt, Herrgottsakrament, binnen
achtundvierzig Stunden!
Fur einen kurzen Moment erwog Baldini den Gedanken, nach Notre-Dame
hinuberzupilgern, eine Kerze anzuzunden und von der Heiligen Mutter Gottes
Genesung fur Grenouille herbeizuflehen. Aber dann ließ er den Gedanken
fallen, denn die Zeit drungte zu sehr. Er lief um Tinte und Papier und
verscheuchte seine Frau aus dem Zimmer des Kranken. Er wolle selbst die
Wache halten. Dann ließ er sich auf einem Stuhl neben dem Bett nieder,
die Notizblutter auf den Knien, die tintenfeuchte Feder in der Hand, und
versuchte, Grenouille eine parfumistische Beichte abzunehmen. Er muge doch
um Gottes willen die Schutze, die er in seinem Innern trage, nicht sang- und
klanglos mit sich nehmen! Er muge doch jetzt in seinen letzten Stunden ein
Testament zu treuen Hunden hinterlassen, damit der Nachwelt nicht die besten
Dufte aller Zeiten vorenthalten blieben! Er, Baldini, werde dieses
Testament, diesen Formelkanon der sublimsten aller je gerochnen Dufte, treu
verwalten und zum Bluhen bringen. Er werde unsterblichen Ruhm an Grenouilles
Namen heften, ja, er werde - und hiermit schwure er's bei allen Heiligen -
den besten dieser Dufte dem Kunig selbst zu Fußen legen, in einem
achatenen Flakon mit ziseliertem Gold und eingravierter Widmung >Von
Jean-Baptiste Grenouille, Parfumeur in Paris<. - So sprach, oder besser:
so flusterte Baldini in Grenouilles Ohr, beschwurend, flehentlich,
schmeichelnd und unausgesetzt.
Aber es war alles umsonst. Grenouille gab nichts von sich als wussriges
Sekret und blutigen Eiter. Stumm lag er im Damast und entuußerte sich
dieser ekelhaften Sufte, nicht aber seiner Schutze, seines Wissens, nicht
der geringsten Formel eines Dufts. Baldini hutte ihn erwurgen mugen,
erschlagen hutte er ihn mugen, herausgeprugelt aus dem moribunden Kurper
hutte er am liebsten die kostbaren Geheimnisse, wenn's Aussicht auf Erfolg
gehabt... und wenn es seiner Auffassung von christlicher Nuchstenliebe nicht
so eklatant widersprochen hutte.
Und so suuselte und flutete er denn weiter in den sußesten Tunen
und umhutschelte den Kranken und tupfte ihm mit kuhlen Tuchern - wiewohl es
ihn grauenhafte uberwindung kostete - die schweißnasse Stirn und die
gluhenden Vulkane der Wunden, und luffelte ihm Wein in den Mund, um seine
Zunge zum Sprechen zu bringen, die ganze Nacht hindurch - vergebens. Im
Morgengrauen gab er es auf. Er fiel erschupft in einen Sessel am anderen
Ende des Zimmers und starrte, nicht einmal mehr wutend, sondern nur noch
stiller Resignation ergeben, auf den kleinen sterbenden Kurper Grenouilles
druben im Bett, den er weder retten noch berauben konnte, aus dem er nichts
mehr fur sich bergen konnte, dessen Untergang er nur noch tatenlos
mitansehen musste wie ein Kapitun den Untergang des Schiffs, das seinen
ganzen Reichtum mit in die Tiefe reißt.
Da uffneten sich mit einem Mal die Lippen des Todkranken, und mit einer
Stimme, die in ihrer Klarheit und Festigkeit von bevorstehendem Untergang
wenig ahnen ließ, sprach er: "Sagen Sie, Maitre: Gibt es noch andre
Mittel als das Pressen oder Destillieren, um aus einem Kurper Duft zu
gewinnen?"
Baldini, der glaubte, dass die Stimme seiner Einbildung oder dem
Jenseits entsprungen war, antwortete mechanisch: "Ja, die gibt es."
"Welche?" fragte es vom Bett her, und Baldini riss die muden Augen auf.
Regungslos lag Grenouille in den Kissen. Hatte die Leiche gesprochen?
"Welche?" fragte es wieder, und diesmal erkannte Baldini die Bewegung auf
Grenouilles Lippen. "Jetzt ist es aus", dachte er, "jetzt geht's dahin, das
ist der Fieberwahn oder die Todesagonie." Und er stand auf, ging zum Bett
hinuber und beugte sich uber den Kranken. Der hatte die Augen geuffnet und
sah Baldini mit dem gleichen seltsam lauernden Blick an, mit dem er ihn bei
der ersten Begegnung fixiert hatte.
"Welche?" fragte er.
Da gab Baldini seinem Herzen einen Stoß - er wollte einem
Sterbenden den letzten Willen nicht versagen - und antwortete: "Es gibt
deren drei, mein Sohn: Die enfleurage u chaud, die enfleurage u froid und
die enfleurage u l'huile. Sie sind dem Destillieren in vieler Hinsicht
uberlegen, und man bedient sich ihrer zur Gewinnung der feinsten aller
Dufte: des Jasmins, der Rose und der Orangenblute."
"Wo?" fragte Grenouille.
"Im Suden", antwortete Baldini. "Vor allem in der Stadt Grasse."
"Gut", sagte Grenouille.
Und damit schloss er die Augen. Baldini richtete sich langsam auf. Er
war sehr deprimiert. Er suchte seine Notizblutter zusammen, auf die er keine
einzige Zeile geschrieben hatte, und blies die Kerze aus. Draußen
tagte es schon. Er war hundemude. Man hutte einen Priester kommen lassen
sollen, dachte er. Dann machte er mit der Rechten ein fluchtiges Zeichen des
Kreuzes und ging hinaus.Grenouille aber war alles andere als tot. Er schlief
nur sehr fest und truumte tief und zog seine Sufte in sich zuruck. Schon
begannen die Bluschen auf seiner Haut zu verdorren, die Eiterkrater zu
versiegen, schon begannen sich seine Wunden zu schließen. Im Verlauf
einer Woche war er genesen.
Am liebsten wure er gleich weggegangen nach Suden, dorthin, wo man die
neuen Techniken lernen konnte, von denen ihm der Alte gesprochen hatte. Aber
daran war naturlich gar nicht zu denken. Er war ja nur ein Lehrling, das
heißt ein Nichts. Strenggenommen, so erklurte ihm Baldini - nachdem er
seine anfungliche Freude uber Grenouilles Wiederauferstehung uberwunden
hatte -, strenggenommen war er noch weniger als ein Nichts, denn zum
ordentlichen Lehrling gehurten tadellose, numlich eheliche Abkunft,
standesgemuße Verwandtschaft und ein Lehrvertrag, was er alles nicht
besitze. Wenn er, Baldini, ihm dennoch eines Tages zum Gesellenbrief
verhelfen wolle, so nur in Anbetracht von Grenouilles nicht alltuglicher
Begabung, eines tadellosen kunftigen Verhaltens und wegen seiner, Baldinis,
unendlichen Gutherzigkeit, die er, auch wenn sie ihm oft zum Schaden
gereicht habe, niemals verleugnen kunne.
Es hatte freilich mit der Einlusung dieses Versprechens der
Gutmutigkeit gute Weile, numlich knappe drei Jahre. In dieser Zeit erfullte
sich Baldini mit Grenouilles Hilfe seine hochfliegenden Truume. Er grundete
die Manufaktur im Faubourg Saint-Antoine, setzte sich mit seinen exklusiven
Parfums bei Hofe durch, bekam kunigliches Privileg. Seine feinen
Duftprodukte wurden bis nach Petersburg verkauft, bis nach Palermo, bis nach
Kopenhagen. Eine moschusschwangere Note war sogar in Konstantinopel begehrt,
wo man doch weiß Gott genug eigene Dufte besaß. In den feinen
Kontoren der Londoner City duftete es ebenso nach Baldinis Parfums wie am
Hofe von Parma, im Warschauer Schloss nicht anders als im Schlusschen des
Grafen von und zur Lippe-Detmold. Baldini war, nachdem er sich bereits damit
abgefunden hatte, sein Alter in bitterer Armut bei Messina zu verbringen,
mit siebzig Jahren zum unumstritten grußten Parfumeur Europas
aufgestiegen und zu einem der reichsten Burger von Paris.
Anfang des Jahres 1756 - er hatte sich unterdessen das Nebenhaus auf
dem Pont au Change zugelegt, ausschließlich zum Wohnen, denn das alte
Haus war nun buchstublich bis unters Dach mit Duftstoffen und Spezereien
vollgestopft - eruffnete er Grenouille, dass er nun gewillt sei, ihn
freizusprechen, allerdings nur unter drei Bedingungen: Erstens durfe er
sumtliche unter Baldinis Dach entstandenen Parfums kunftig weder selbst
herstellen noch ihre Formel an Dritte weitergeben; zweitens musse er Paris
verlassen und durfe es zu Baldinis Lebzeiten nicht wieder betreten; und
drittens habe er uber die beiden ersten Bedingungen absolutes Stillschweigen
zu bewahren. Dies alles solle er beschwuren bei sumtlichen Heiligen, bei der
armen Seele seiner Mutter und bei seiner eigenen Ehre.
Grenouille, der weder eine Ehre hatte noch an Heilige oder gar an die
arme Seele seiner Mutter glaubte, schwor. Er hutte alles geschworen. Er
hutte jede Bedingung Baldinis akzeptiert, denn er wollte diesen lucherlichen
Gesellenbrief haben, der es ihm ermuglichte, unauffullig zu leben und
unbehelligt zu reisen und Anstellung zu finden. Das andere war ihm
gleichgultig. Was waren das auch schon fur Bedingungen! Paris nicht mehr
betreten? Wozu brauchte er Paris! Er kannte es ja bis in den letzten
stinkenden Winkel, er fuhrte es mit sich, wohin immer er ging, er
besaß Paris, seit Jahren. - Keinen von Baldinis Erfolgsduften
herstellen, keine Formeln weitergeben? Als ob er nicht tausend andere
erfinden kunnte, ebenso gute und bessere, wenn er nur wollte! Aber er wollte
ja gar nicht. Er hatte ja gar nicht vor, in Konkurrenz zu Baldini oder zu
irgendeinem anderen der burgerlichen Parfumeure zu treten. Er war nicht
darauf aus, mit seiner Kunst das große Geld zu machen, nicht einmal
leben wollte er von ihr, wenn's anders muglich war zu leben. Er wollte
seines Innern sich entuußern, nichts anderes, seines Innern, das er
fur wunderbarer hielt als alles, was die uußere Welt zu bieten hatte.
Und deshalb waren Baldinis Bedingungen fur Grenouille keine Bedingungen.
Im Fruhjahr zog er los, an einem Tag im Mai, fruhmorgens. Er hatte von
Baldini einen kleinen Rucksack bekommen, ein zweites Hemd, zwei Paar
Strumpfe, eine große Wurst, eine Pferdedecke und funfundzwanzig Franc.
Das sei weit mehr, als er zu geben verpflichtet sei, sagte Baldini, zumal
Grenouille fur die profunde Ausbildung, die er genossen, keinen Sol Lehrgeld
bezahlt habe. Verpflichtet sei er zu zwei Franc Weggeld, zu sonst gar
nichts. Aber er kunne eben seine Gutmutigkeit so wenig verleugnen wie die
tiefe Sympathie, die sich im Lauf der Jahre in seinem Herzen fur den guten
Jean-Baptiste angesammelt habe. Er wunsche ihm viel Gluck auf seiner
Wanderschaft und ermahne ihn noch einmal eindringlich, seines Schwurs nicht
zu vergessen. Damit brachte er ihn an die Tur des Dienstboteneingangs, wo er
ihn einst empfangen hatte, und entließ ihn.
Die Hand gab er ihm nicht, so weit war es mit der Sympathie auch wieder
nicht her. Er hatte ihm noch nie die Hand gegeben. Er hatte uberhaupt immer
vermieden, ihn zu beruhren, aus einer Art frommem Ekel, so, als bestunde die
Gefahr, dass er sich anstecke an ihm, sich besudele. Er sagte nur kurz
adieu. Und Grenouille nickte und duckte sich weg und ging davon. Die
Straße war menschenleer.
Другие "параллельные тексты" на английском и немецком языках смотрите в
библиотеке на сайте
http://frank.deutschesprache.ru/
Baldini schaute ihm nach, wie er die Brucke hinunterhatschte, zur Insel
hinuber, klein, gebuckt, den Rucksack wie einen Buckel tragend, von hinten
aussehend wie ein alter Mann. Druben am Parlamentspalast, wo die Gasse eine
Biegung machte, verlor er ihn aus den Augen und war außerordentlich
erleichtert.
Er hatte den Kerl nie gemocht, nie, jetzt konnte er es sich endlich
eingestehen. Die ganze Zeit, die er ihn unter seinem Dach beherbergt und
ausgeplundert hatte, war ihm nicht wohl gewesen. Ihm war zumute gewesen wie
einem unbescholtenen Menschen, der zum ersten Mal etwas Verbotenes tut, ein
Spiel mit unerlaubten Mitteln spielt. Gewiss, das Risiko, dass man ihm auf
die Schliche kam, war klein und die Aussicht auf den Erfolg war
riesengroß gewesen; aber ebenso groß waren auch Nervositut und
schlechtes Gewissen. Tatsuchlich war in all den Jahren kein Tag vergangen,
an dem er nicht von der unangenehmen Vorstellung verfolgt gewesen wure, er
musse auf irgendeine Weise dafur bezahlen, dass er sich mit diesem Menschen
eingelassen hatte. Wenn's nur gutgeht! so hatte er sich immer wieder
ungstlich vorgebetet, wenn's mir nur gelingt, dass ich den Erfolg dieses
gewagten Abenteuers einheimse, ohne die Zeche dafur zu bezahlen! Wenn's mir
nur gelingt! Es ist zwar nicht recht, was ich tue, aber Gott wird ein Auge
zudrucken, bestimmt wird Er es tun! Er hat mich im Verlaufe meines Lebens
oftmals hart genug gestraft, ohne jeden Anlass, also wure es nur gerecht,
wenn Er sich dies mal konziliant verhielte. Worin besteht denn mein Vergehen
schon, wenn es uberhaupt eines ist? Huchstens darin, dass ich mich ein wenig
außerhalb der Zunftordnung bewege, indem ich die wunderbare Begabung
eines Ungelernten exploitiere und seine Fuhigkeit als meine eigne ausgebe.
Huchstens darin, dass ich um ein Kleines vom traditionellen Pfad der
handwerklichen Tugend abgewichen bin. Huchstens darin, dass ich heute tue,
was ich gestern noch verdammt habe. Ist das ein Verbrechen? Andere betrugen
ihr Leben lang. Ich habe nur ein paar Jahre ein bisschen geschummelt. Und
auch nur, weil mir der Zufall die einmalige Gelegenheit dazu gegeben hat.
Vielleicht war es nicht einmal der Zufall, vielleicht war es Gott selbst,
der mir den Zauberer ins Haus geschickt hat, zur Wiedergutmachung fur die
Zeit der Erniedrigung durch Pelissier und seine Spießgesellen.
Vielleicht richtet sich die guttliche Fugung uberhaupt nicht auf mich,
sondern gegen Pelissier! Das kunnte sehr wohl muglich sein! Wie anders
numlich wure Gott imstande, Pelissier zu strafen, als dadurch, dass er mich
erhuhte? Mein Gluck wure infolgedessen das Mittel guttlicher Gerechtigkeit,
und als solches durfte ich nicht nur, ich musste es akzeptieren, ohne Scham
und ohne die geringste Reue...
So hatte Baldini in den vergangenen Jahren oft gedacht, morgens, wenn
er die schmale Treppe in den Laden hinunterstieg, abends, wenn er mit dem
Inhalt der Kasse heraufkam und die schweren Gold- und Silbermunzen in seinen
Geldschrank zuhlte, und nachts, wenn er neben dem schnarchenden Gerippe
seiner Frau lag und aus lauter Angst vor seinem Gluck nicht schlafen konnte.
Aber jetzt, endlich, war es vorbei mit den sinistren Gedanken. Der
unheimliche Gast war fort und wurde nie mehr wiederkehren. Der Reichtum aber
blieb und war fur alle Zukunft sicher. Baldini legte die Hand auf seine
Brust und spurte durch den Stoff des Rocks das Buchlein uber seinem Herzen.
Sechshundert Formeln waren darin aufgezeichnet, mehr als ganze Generationen
von Parfumeuren jemals wurden realisieren kunnen. Wenn er heute alles
verlure, so kunnte er allein mit diesem wunderbaren Buchlein binnen
Jahresfrist abermals ein reicher Mann sein. Wahrlich, was konnte er mehr
verlangen!
Die Morgensonne fiel uber die Giebel der gegenuberliegenden Huuser gelb
und warm auf sein Gesicht. Immer noch schaute Baldini nach Suden die
Straße hinunter in Richtung Parlamentspalastes war einfach zu
angenehm, dass von Grenouille nichts mehr zu sehen war! - und beschloss, aus
einem uberbordenden Gefuhl von Dankbarkeit noch heute nach Notre-Dame
hinuberzupilgern, ein Goldstuck in den Opferstock zu werfen, drei Kerzen
anzuzunden und seinem Herrn auf den Knien zu danken, dass Er ihn mit so viel
Gluck uberhuuft und vor Rache verschont hatte.
Aber dummerweise kam ihm dann wieder etwas dazwischen, denn am
Nachmittag, als er sich gerade auf den Weg in die Kirche machen wollte,
wurde das Gerucht laut, die Englunder hutten Frankreich den Krieg erklurt.
Das war zwar an und fur sich nichts Beunruhigendes. Da Baldini aber just
dieser Tage eine Sendung mit Parfums nach London expedieren wollte, verschob
er den Besuch in Notre-Dame und ging stattdessen in die Stadt, um
Erkundigungen einzuholen, und anschließend in seine Manufaktur im
Faubourg Saint-Antoine, um die Sendung nach London furs erste zu stornieren.
Nachts im Bett, kurz vor dem Einschlafen, hatte er dann eine geniale Idee:
Er wollte in Anbetracht der bevorstehenden kriegerischen
Auseinandersetzungen um die Kolonien in der Neuen Welt ein Parfum lancieren
unter dem Namen >Prestige du Quebecs einen harzigheroischen Duft, dessen
Erfolg - das stand fest - ihn fur den Wegfall des Englandgeschufts mehr als
entschudigen wurde. Mit diesem sußen Gedanken in seinem dummen alten
Kopf, den er erleichtert auf das Kissen bettete, unter welchem sich der
Druck des Formelbuchleins angenehm spurbar machte, entschlief Maitre Baldini
und wachte in seinem Leben nicht mehr auf.
In der Nacht numlich geschah eine kleine Katastrophe, welche, mit
gebuhrender Verzugerung, den Anlass dazu gab, dass nach und nach sumtliche
Huuser auf sumtlichen Brucken der Stadt Paris auf kuniglichen Befehl hin
abgerissen werden mussten: Ohne erkennbare Ursache brach der Pont au Change
auf seiner westlichen Seite zwischen dem dritten und vierten Pfeiler in sich
zusammen. Zwei Huuser sturzten in den Fluss, so vollstundig und so
plutzlich, dass keiner der Insassen gerettet werden konnte. Glucklicherweise
handelte es sich nur um zwei Personen, numlich um Giuseppe Baldini und seine
Frau Teresa. Die Bediensteten hatten sich, erlaubt oder unerlaubt, Ausgang
genommen. Chenier, der erst in den fruhen Morgenstunden leicht angetrunken
nach Hause kam - vielmehr nach Hause kommen wollte, denn das Haus war ja
nicht mehr da -, erlitt einen nervusen Zusammenbruch. Er hatte sich
dreißig Jahre lang der Hoffnung hingegeben, von Baldini, der keine
Kinder und Verwandte hatte, im Testament als Erbe eingesetzt zu sein. Und
nun, mit einem Schlag, war das gesamte Erbe weg, alles, Haus, Geschuft,
Rohstoffe, Werkstatt, Baldini selbst - ja sogar das Testament, das
vielleicht noch Aussicht auf das Eigentum an der Manufaktur gegeben hutte!
Nichts wurde gefunden, die Leichen nicht, der Geldschrank nicht, die
Buchlein mit den sechshundert Formeln nicht. Das einzige, was von Giuseppe
Baldini, Europas grußtem Parfumeur, zuruckblieb, war ein sehr
gemischter Duft von Moschus, Zimt, Essig, Lavendel und tausend anderen
Stoffen, der noch mehrere Wochen lang den Lauf der Seine von Paris bis nach
Le Havre uberschwebte.
Zu der Zeit, da das Haus Giuseppe Baldini sturzte, befand sich
Grenouille auf der Straße nach Orleans. Er hatte den Dunstkreis der
großen Stadt hinter sich gelassen, und mit jedem Schritt, den er sich
weiter von ihr entfernte, wurde die Luft um ihn her klarer, reiner und
sauberer. Sie dunnte sich gleichsam aus. Es hetzten sich nicht mehr Meter
fur Meter Hunderte, Tausende verschiedener Geruche in rasendem Wechsel,
sondern die wenigen, die es gab - der Geruch der sandigen Straße, der
Wiesen, der Erde, der Pflanzen, des Wassers -, zogen in langen Bahnen uber
das Land, langsam sich bluhend, langsam schwindend, kaum je abrupt
unterbrochen.
Grenouille empfand diese Simplizitut wie eine Erlusung. Die
gemuchlichen Dufte schmeichelten seiner Nase. Zum ersten Mal in seinem Leben
musste er nicht mit jedem Atemzug darauf gefasst sein, ein Neues,
Unerwartetes, Feindliches zu wittern, oder ein Angenehmes zu verlieren. Zum
ersten Mal konnte er fast frei atmen, ohne dabei immer lauernd riechen zu
mussen. >Fast< sagen wir, denn wirklich frei strumte naturlich nichts
durch Grenouilles Nase. Es blieb, auch wenn er nicht den kleinsten Anlass
dazu hatte, immer eine instinktive Reserviertheit in ihm wach gegen alles,
was von außen kam und in ihn eingelassen werden sollte. Sein Leben
lang, selbst in den wenigen Momenten, in denen er Anklunge von so etwas wie
Genugtuung, Zufriedenheit, ja vielleicht sogar Gluck erlebte, atmete er
lieber aus als ein - wie er ja auch sein Leben nicht mit einem
hoffnungsvollen Atemholen begonnen hatte, sondern mit einem murderischen
Schrei. Aber von dieser Einschrunkung abgesehen, die bei ihm eine
konstitutionelle Beschrunkung war, fuhlte sich Grenouille, je weiter er
Paris hinter sich ließ, immer wohler, atmete er immer leichter, ging
er immer beschwingteren Schritts und raffte sich sogar sporadisch zu einer
geraden Kurperhaltung auf, so dass er von ferne betrachtet beinahe wie ein
gewuhnlicher Handwerksbursche aussah, also wie ein ganz normaler Mensch.
Am befreiendsten empfand er die Entfernung von den Menschen. In Paris
lebten mehr Menschen auf engstem Raum als in irgendeiner anderen Stadt auf
der Welt. Sechs-, siebenhunderttausend Menschen lebten in Paris. Auf den
Straßen und Plutzen wimmelte es von ihnen, und die Huuser waren
vollgepfropft mit ihnen vom Keller bis unter die Ducher. Es gab kaum einen
Winkel in Paris, der nicht vor Menschen starrte, keinen Stein, kein
Fleckchen Erde, das nicht nach Menschlichem roch.
Dass es dieser geballte Menschenbrodem war, der ihn achtzehn Jahre lang
wie gewitterschwule Luft bedruckt hatte, das wurde Grenouille erst jetzt
klar, da er sich ihm zu entziehen begann. Bisher hatte er immer geglaubt, es
sei die Welt im allgemeinen, von der er sich wegkrummen musse. Es war aber
nicht die Welt, es waren die Menschen. Mit der Welt, so schien es, der
menschenleeren Welt, ließ sich leben.
Am dritten Tag seiner Reise geriet er ins olfaktorische
Gravitationsfeld von Orleans. Lange noch bevor irgendein sichtbares Zeichen
auf die Nuhe der Stadt hindeutete, gewahrte Grenouillle die Verdichtung des
Menschlichen in der Luft und entschloss sich, entgegen seiner ursprunglichen
Absicht, Orleans zu meiden. Er wollte sich die frischgewonnene Atemfreiheit
nicht schon so bald wieder vom stickigen Menschenklima verderben lassen. Er
machte einen großen Bogen um die Stadt, stieß bei Chuteauneuf
auf die Loire und uberquerte sie bei Sully. Bis dorthin reichte seine Wurst.
Er kaufte sich eine neue und zog dann, den Flusslauf verlassend,
landeinwurts.
Er mied jetzt nicht mehr nur die Studte, er mied auch die Durfer. Er
war wie berauscht von der sich immer sturker ausdunnenden, immer
menschenferneren Luft. Nur um sich neu zu verproviantieren, nuherte er sich
einer Siedlung oder einem alleinstehenden Gehuft, kaufte Brot und verschwand
wieder in den Wuldern. Nach einigen Wochen wurden ihm selbst die Begegnungen
mit den wenigen Reisenden auf den abgelegenen Wegen zu viel, ertrug er nicht
mehr den punktuell auftretenden Geruch der Bauern, die auf den Wiesen das
erste Gras muhten. ungstlich wich er jeder Schafherde aus, nicht der Schafe
wegen, sondern um den Geruch der Hirten zu umgehen. Er schlug sich
querfeldein, nahm meilenweite Umwege in Kauf, wenn er eine noch Stunden
entfernte Schwadron Reiter auf sich zukommen roch. Nicht weil er, wie andere
Handwerksburschen und Herumtreiber, furchtete, kontrolliert und nach
Papieren gefragt und womuglich zum Kriegsdienst verpflichtet zu werden - er
wusste nicht einmal, dass Krieg war -, sondern einzig und allein, weil ihn
vor dem Menschengeruch der Reiter ekelte. Und so kam es ganz von alleine und
ohne besonderen Entschluss, dass sein Plan, auf schnellstem Wege nach Grasse
zu gehen, allmuhlich verblasste; der Plan luste sich sozusagen in der
Freiheit auf, wie alle anderen Plune und Absichten. Grenouille wollte nicht
mehr irgendwohin, sondern nur noch weg, weg von den Menschen.
Schließlich wanderte er nur noch nachts. Tagsuber verkroch er
sich ins Unterholz, schlief unter Buschen, im Gestrupp, an muglichst
unzugunglichen Orten, zusammengerollt wie ein Tier, die erdbraune
Pferdedecke uber Kurper und Kopf gezogen, die Nase in die Ellbogenbeuge
verkeilt und abwurts zur Erde gerichtet, damit auch nicht der kleinste
fremde Geruch seine Truume sturte. Bei Sonnenuntergang erwachte er, witterte
nach allen Himmelsrichtungen, und erst, wenn er sicher gerochen hatte, dass
auch der letzte Bauer sein Feld verlassen und auch der wagemutigste Wanderer
vor der hereinbrechenden Dunkelheit eine Unterkunft aufgesucht hatten, erst
wenn die Nacht mit ihren vermeintlichen Gefahren das Land von Menschen
reingefegt hatte, kam Grenouille aus seinem Versteck hervorgekrochen und
setzte seine Reise fort. Er brauchte kein Licht, um zu sehen. Schon fruher,
als er noch tagsuber gewandert war, hatte er oft stundenlang die Augen
geschlossen gehalten und war nur der Nase nach gegangen. Das grelle Bild der
Landschaft, das Blendende, die Plutzlichkeit und die Schurfe des Sehens mit
den Augen schmerzten ihn. Allein das Mondlicht ließ er sich gefallen.
Das Mondlicht kannte keine Farben und zeichnete nur schwach die Konturen des
Gelundes. Es uberzog das Land mit schmutzigem Grau und erdrosselte fur eine
Nacht lang das Leben. Diese wie in Blei gegossene Welt, in der sich nichts
regte als der Wind, der manchmal wie ein Schattenuber die grauen Wulder
fiel, und in der nichts lebte als die Dufte der nackten Erde, war die
einzige Welt, die er gelten ließ, denn sie uhnelte der Welt seiner
Seele.
So zog er in sudliche Richtung. Ungefuhr in sudliche Richtung, denn er
folgte keinem magnetischen Kompass, sondern nur dem Kompass seiner Nase, der
ihn jede Stadt, jedes Dorf, jede Siedlung umgehen ließ. Wochenlang
traf er keinen Menschen. Und er hutte sich im beruhigenden Glauben wiegen
kunnen, er sei allein auf der dunklen oder vom kalten Mondlicht beschienenen
Welt, wenn nicht der feine Kompass ihn eines Besseren belehrt hutte.
Auch nachts gab es Menschen. Auch in den entlegensten Gebieten gab es
Menschen. Sie hatten sich nur in ihre Schlupfwinkel zuruckgezogen wie die
Ratten und schliefen. Die Erde war nicht rein von ihnen, denn selbst im
Schlaf dunsteten sie ihren Geruch aus, der durch die offenen Fenster und
durch die Ritzen ihrer Behausungen hinaus ins Freie drungte und die sich
scheinbar selbst uberlassene Natur verpestete. Je mehr sich Grenouille an
die reinere Luft gewuhnt hatte, desto empfindlicher traf ihn so ein
Menschengeruch, der plutzlich, vullig unerwartet, nuchtens daherflatterte,
scheußlich wie Adelgestank, und die Anwesenheit irgendeiner
Hirtenunterkunft oder einer Kuhlerkate oder einer Ruuberhuhle verriet. Und
er fluchtete weiter, immer sensibler reagierend auf den immer seltener
werdenden Geruch des Menschlichen. So fuhrte ihn seine Nase in immer
abgelegenere Gegenden des Landes, entfernte ihn immer weiter von den
Menschen und trieb ihn immer heftiger dem Magnetpol der grußtmuglichen
Einsamkeit entgegen.
Dieser Pol, numlich der menschenfernste Punkt des ganzen Kunigreichs,
befand sich im Zentralmassiv der Auvergne, etwa funf Tagesreisen sudlich von
Clermont, auf dem Gipfel eines zweitausend Meter hohen Vulkansnamens Plomb
du Cantal.
Der Berg bestand aus einem riesigen Kegel bleigrauen Gesteins und war
umgeben von einem endlosen, kargen, nur von grauem Moos und grauem Gestrupp
bewachsenen Hochland, aus dem hier und da braune Felsspitzen wie verfaulte
Zuhne aufragten und ein paar von Brunden verkohlte Buume. Selbst am
helllichten Tage war diese Gegend von so trostloser Unwirtlichkeit, dass der
urmste Schafhirte der ohnehin armen Provinz seine Tiere nicht hierher
getrieben hutte. Und bei Nacht gar, im bleichen Licht des Mondes, schien sie
in ihrer gottverlassenen ude nicht mehr von dieser Welt zu sein. Selbst der
weithin gesuchte auvergnatische Bandit Lebrun hatte es vorgezogen, sich in
die Cevennen durchzuschlagen und dort ergreifen und vierteilen zu lassen,
als sich am Plomb du Cantal zu verstecken, wo ihn zwar sicher niemand
gesucht und gefunden hutte, wo er aber ebenso sicher den ihm schlimmer
erscheinenden Tod der lebenslangen Einsamkeit gestorben wure. In
meilenweitem Umkreis des Berges lebten kein Mensch und kein ordentliches
warmblutiges Tier, bloß ein paar Fledermuuse und ein paar Kufer und
Nattern. Seit Jahrzehnten hatte niemand den Gipfel bestiegen.
Grenouille erreichte den Berg in einer Augustnacht des Jahres 1756. Als
der Morgen graute, stand er auf dem Gipfel. Er wusste noch nicht, dass seine
Reise hier zu Ende war. Er dachte, dies sei nur eine Etappe auf dem Weg in
immer noch reinere Lufte, und er drehte sich im Kreise und ließ den
Blick seiner Nase uber das gewaltige Panorama des vulkanischen udlands
streifen: nach Osten hin, wo die weite Hochebene von Saint-Flour und die
Sumpfe des Flusses Riou lagen; nach Norden hin, in die Gegend, aus der er
gekommen und wo er tagelang durch karstiges Gebirge gewandert war; nach
Westen, von woher der leichte Morgenwind ihm nichts als den Geruch von Stein
und hartem Gras entgegentrug; nach Suden schließlich, wo die Ausluufer
des Plomb sich meilenweit hinzogen bis zu den dunklen Schluchten der
Truyere. uberall, in jeder Himmelsrichtung, herrschte die gleiche
Menschenferne, und zugleich hutte jeder Schritt in jede Richtung wieder
grußere Menschennuhe bedeutet. Der Kompass kreiselte. Er gab keine
Orientierung mehr an. Grenouille war am Ziel. Aber zugleich war er gefangen.
Als die Sonne aufging, stand er immer noch am gleichen Fleck und hielt
seine Nase in die Luft. Mit verzweifelter Anstrengung versuchte er, die
Richtung zu erschnuppern, aus der das bedrohlich Menschliche kam, und die
Gegenrichtung, in die er weiterfliehen musste. In jeder Richtung argwuhnte
er, doch noch einen verborgenen Fetzen menschlichen Geruchs zu entdecken.
Doch da war nichts. Da war nur Ruhe, wenn man so sagen kann, geruchliche
Ruhe. Ringsum herrschte nur der wie ein leises Rauschen wehende, homogene
Duft der toten Steine, der grauen Flechten und der durren Gruser, und sonst
nichts.
Grenouille brauchte sehr lange Zeit, um zu glauben, was er nicht roch.
Er war auf sein Gluck nicht vorbereitet. Sein Misstrauen wehrte sich lange
gegen die bessere Einsicht. Er nahm sogar, wuhrend die Sonne stieg, seine
Augen zuhilfe und suchte den Horizont nach dem geringsten Zeichen
menschlicher Gegenwart ab, nach dem Dach einer Hutte, dem Rauch eines
Feuers, einem Zaun, einer Brucke, einer Herde. Er hielt die Hunde an die
Ohren und lauschte, nach dem Dengeln einer Sense etwa oder dem Gebell eines
Hundes oder dem Schrei eines Kindes. Den ganzen Tag uber verharrte er in der
gluhendsten Hitze auf dem Gipfel des Plomb du Cantal und wartete vergeblich
auf das kleinste Indiz. Erst als die Sonne unterging, wich sein Misstrauen
allmuhlich einem immer sturker werdenden Gefuhl der Euphorie: Er war dem
verhassten Odium entkommen! Er war tatsuchlich vollstundig allein! Er war
der einzige Menschauf der Welt!
Ein ungeheurer Jubel brach in ihm aus. So wie ein Schiffbruchiger nach
wochenlanger Irrfahrt die erste von Menschen bewohnte Insel ekstatisch
begrußt, feierte Grenouille seine Ankunft auf dem Berg der Einsamkeit.
Er schrie vor Gluck. Rucksack, Decke, Stock warf er von sich und trampelte
mit den Fußen auf den Boden, warf die Arme in die Huhe, tanzte im
Kreis, brullte seinen eigenen Namen in alle vier Winde, ballte die Fuuste,
schuttelte sie triumphierend gegen das ganze weite unter ihm liegende Land
und gegen die sinkende Sonne, triumphierend, als hutte er sie persunlich vom
Himmel verjagt. Er fuhrte sich auf wie ein Wahnsinniger, bis tief in die
Nacht hinein.
Die nuchsten Tage verbrachte er damit, sich auf dem Berg einzurichten -
denn das stand fur ihn fest, dass er diese begnadete Gegend so schnell nicht
mehr verlassen wurde. Als erstes schnupperte er nach Wasser und fand es in
einem Einbruch etwas unterhalb des Gipfels, wo es in einem dunnen Film am
Fels entlangrann. Es war nicht viel, aber wenn er geduldig eine Stunde lang
leckte, hatte er seinen Feuchtigkeitsbedarf fur einen Tag gestillt. Er fand
auch Nahrung, numlich kleine Salamander und Ringelnattern, die er, nachdem
er ihnen den Kopf abgeknipst hatte, mit Haut und Knochen verschlang. Dazu
aß er trockene Flechten und Gras und Moosbeeren. Diese nach
burgerlichen Maßstuben vullig undiskutable Ernuhrungsweise verdross
ihn nicht im mindesten. Schon in den letzten Wochen und Monaten hatte er
sich nicht mehr von menschlich gefertigter Nahrung wie Brot und Wurst und
Kuse ernuhrt, sondern, wenn er Hunger verspurte, alles zusammengefressen,
was ihm an irgendwie Essbarem in die Quere gekommen war. Er war nichts
weniger als ein Gourmet. Er hatte es uberhaupt nicht mit dem Genuss, wenn
der Genuss in etwas anderem als dem reinen kurperlosen Geruch bestand. Er
hatte es auch nicht mit der Bequemlichkeit und wure zufrieden gewesen, sein
Lager auf blankem Stein einzurichten. Aber er fand etwas Besseres.
Nahe der Wasserstelle entdeckte er einen naturlichen Stollen, der in
vielen engen Windungen in das Innere des Berges fuhrte, bis er nach etwa
dreißig Metern an einer Verschuttung endete. Dort, am Ende des
Stollens, war es so eng, dass Grenouilles Schultern das Gestein beruhrten,
und so niedrig, dass er nur gebuckt stehen konnte. Aber er konnte sitzen,
und wenn er sich krummte, konnte er sogar liegen. Das genugte seinem
Bedurfnis nach Komfort vollkommen. Denn der Ort hatte unschutzbare Vorzuge:
Am Ende des Tunnels herrschte selbst tagsuber stockfinstere Nacht, es war
totenstill, und die Luft atmete eine feuchte, salzige Kuhle. Grenouille roch
sofort, dassnoch kein lebendes Wesen diesen Platz je betreten hatte. Es
uberfiel ihn beinahe ein Gefuhl von heiliger Scheu, als er ihn in Besitz
nahm. Sorgsam breitete er seine Pferdedecke auf den Boden, als bedecke er
einen Altar, und legte sich darauf. Er fuhlte sich himmlisch wohl. Er lag im
einsamsten Berg Frankreichs funfzig Meter tief unter der Erde wie in seinem
eigenen Grab. Noch nie im Leben hatte er sich so sicher gefuhlt - schon gar
nicht im Bauch seiner Mutter. Es mochte draußen die Welt verbrennen,
hier wurde er nichts davon merken. Er begann still zu weinen. Er wusste
nicht, wem er danken sollte fur so viel Gluck. In der folgenden Zeit ging er
nur noch ins Freie, um an der Wasserstelle zu lecken, sich rasch seines
Urins und seiner Exkremente zu entledigen, und um Echsen und Schlangen zu
jagen. Nachts waren sie leicht zu erwischen, denn sie hatten sich unter
Steinplatten oder in kleine Huhlen zuruckgezogen, wo er sie mit seiner Nase
aufspurte.
Zum Gipfel hinauf stieg er wuhrend der ersten Wochen wohl noch ein paar
Mal, um den Horizont abzuwittern. Bald aber war dies mehr eine lustige
Gewohnheit als eine Notwendigkeit geworden, denn kein einziges Mal hatte er
Bedrohliches gerochen. Und so stellte er schließlich die Exkursionen
ein und war nur noch darauf bedacht, so schnell wie muglich in seine Gruft
zuruckzukehren, wenn er die furs schiere uberleben allernutigsten
Verrichtungen hinter sich gebracht hatte. Denn hier, in der Gruft, lebte er
eigentlich. Das heißt, er saß weit uber zwanzig Stunden am Tag
in vollkommener Dunkelheit und vollkommener Stille und vollkommener
Bewegungslosigkeit auf seiner Pferdedecke am Ende des steinernen Ganges,
hatte den Rucken gegen das Gerull gelehnt, die Schultern zwischen die Felsen
geklemmt, und genugte sich selbst.
Man weiß von Menschen, die die Einsamkeit suchen: Bußer,
Gescheiterte, Heilige oder Propheten. Sie ziehen sich vorzugsweise in Wusten
zuruck, wo sie von Heuschrecken und wildem Honig leben. Manche wohnen auch
in Huhlen und Klausen auf abgelegenen Inseln oder hocken sich - etwas
spektakulurer - in Kufige, die auf Stangen montiert sind und hoch in den
Luften schweben. Sie tun das, um Gott nuher zu sein. Sie kasteien sich mit
der Einsamkeit und tun Buße durch sie. Sie handeln im Glauben, ein
gottgefulliges Leben zu fuhren. Oder sie warten monate- oder jahrelang
darauf, dass ihnen in der Einsamkeit eine guttliche Mitteilung zukomme, die
sie dann eiligst unter den Menschen verbreiten wollen.
Nichts von alledem traf auf Grenouille zu. Er hatte mit Gott nicht das
geringste im Sinn. Er bußte nicht und wartete auf keine huhere
Eingebung. Nur zu seinem eigenen, einzigen Vergnugen hatte er sich
zuruckgezogen, nur, um sich selbst nahe zu sein. Er badete in seiner
eigenen, durch nichts mehr abgelenkten Existenz und fand das herrlich. Wie
seine eigene Leiche lag er in der Felsengruft, kaum noch atmend, kaum dass
sein Herz noch schlug - und lebte doch so intensiv und ausschweifend, wie
nie ein Lebemann draußen in der Welt gelebt hat.
Schauplatz dieser Ausschweifungen war - wie kunnte es anders sein -
sein inneres Imperium, in das er von Geburt an die Konturen aller Geruche
eingegraben hatte, denen er jemals begegnet war. Um sich in Stimmung zu
bringen, beschwor er zunuchst die fruhesten, die allerentlegensten: den
feindlichen, dampfigen Dunst der Schlafstube von Madame Gaillard; das ledrig
verdorrte Odeur ihrer Hunde; den essigsauren Atem des Pater Terrier; den
hysterischen, heißen mutterlichen Schweiß der Amme Bussie; den
Leichengestank des Cimetiere des Innocents; den Murdergeruch seiner Mutter.
Und er schwelgte in Ekel und Hass, und es struubten sich seine Haare vor
wohligem Entsetzen.
Manchmal, wenn ihn dieser Aperitif der Abscheulichkeiten noch nicht
genugend in Fahrt gebracht hatte, gestattete er sich auch einen kleinen
geruchlichen Abstecher zu Grimal und kostete vom Gestank der rohen,
fleischigen Huute und der Gerbbruhen, oder er imaginierte den versammelten
Brodem von sechshunderttausend Parisern in der schwulen lastenden Hitze des
Hochsommers.
Und dann brach mit einem Mal - das war der Sinn der ubung - mit
orgastischer Gewalt sein angestauter Hass hervor. Wie ein Gewitter zog er
her uber diese Geruche, die es gewagt hatten, seine erlauchte Nase zu
beleidigen. Wie Hagel auf ein Kornfeld drosch er auf sie ein, wie ein Orkan
zerstuubte er das Geluder und ersuufte es in einer riesigen reinigenden
Sintflut destillierten Wassers. So gerecht war sein Zorn. So groß war
seine Rache. Ah! Welch sublimer Augenblick! Grenouille, der kleine Mensch,
zitterte vor Erregung, sein Kurper krampfte sich in wollustigem Behagen und
wulbte sich auf, so dass er fur einen Moment mit dem Scheitel an die Decke
des Stollens stieß, um dann langsam zuruckzusinken und liegen zu
bleiben, gelust und tief befriedigt. Er war wirklich zu angenehm, dieser
eruptive Akt der Extinktion aller widerwurtigen Geruche, wirklich zu
angenehm... Fast war ihm diese Nummer das liebste in der ganzen Szenenfolge
seines inneren Welttheaters, denn sie vermittelte das wunderbare Gefuhl
rechtschaffener Erschupfung, das nur den wirklich großen, heldenhaften
Taten folgt.
Er durfte nun eine Weile lang guten Gewissens ruhen. Er streckte sich
aus; kurperlich, so gut es eben ging im engen steinernen Gelass. Innerlich
jedoch, auf den reingefegten Matten seiner Seele , da streckte er sich
bequem der vollen Lunge nach und duste dahin und ließ sich feine Dufte
um die Nase spielen: ein wurziges Luftchen etwa, wie von Fruhlingswiesen
hergetragen; einen lauen Maienwind, der durch die ersten grunen
Buchenblutter weht; eine Brise vom Meer, herb wie gesalzene Mandeln. Es war
sputer Nachmittag, als er sich erhob - sozusagen sputer Nachmittag, denn es
gab naturlich keinen Nachmittag oder Vormittag oder Abend oder Morgen, es
gab kein Licht und keine Finsternis, es gab auch keine Fruhlingswiesen und
keine grunen Buchenblutter... es gab uberhaupt keine Dinge in Grenouilles
innerem Universum, sondern nur die Dufte von Dingen. (Darum ist es eine
fauon de parler, von diesem Universum als einer Landschaft zu sprechen, eine
aduquate freilich und die einzig mugliche, denn unsere Sprache taugt nicht
zur Beschreibung der riechbaren Welt.) - Es war also sputer Nachmittag, will
sagen ein Zustand und Zeitpunkt in Grenouilles Seele, wie er im Suden am
Ende der Siesta herrscht, wenn die mittugliche Luhmung langsam abfullt von
der Landschaft und das zuruckgehaltne Leben wieder beginnen will. Die
wutentbrannte Hitze - Feindin der sublimen Dufte - war verflogen, das
Dumonenpack vernichtet. Die inneren Gefilde lagen blank und weich in der
lasziven Ruhe des Erwachens und warteten, dass der Wille ihres Herrn uber
sie kume.
Und Grenouille erhob sich - wie gesagt - und schuttelte den Schlaf aus
seinen Gliedern. Er stand auf, der große innere Grenouille, wie ein
Riese stellte er sich hin, in seiner ganzen Pracht und Gruße, herrlich
war er anzuschauen - fast schade, dass ihn keiner sah! -, und blickte in die
Runde, stolz und hoheitsvoll:
Ja! Dies war sein Reich! Das einzigartige Grenouillereich! Von ihm, dem
einzigartigen Grenouille erschaffen und beherrscht, von ihm verwustet, wann
es ihm gefiel, und wieder aufgerichtet, von ihm ins Unermessliche erweitert
und mit dem Flammenschwert verteidigt gegen jeden Eindringling. Hier galt
nichts als sein Wille, der Wille des großen, herrlichen, einzigartigen
Grenouille. Und nachdem die ublen Gestunke der Vergangenheit hinweggetilgt
waren, wollte er nun, dass es dufte in seinem Reich. Und er ging mit
muchtigen Schritten uber die brachen Fluren und sute Duft der
verschiedensten Sorten, verschwenderisch hier, sparsam dort, in endlos
weiten Plantagen und kleinen intimen Rabatten, den Samen faustweise
verschleudernd oder einzeln an eigens ausgewuhlten Plutzen versenkend. Bis
in die entlegensten Regionen seines Reiches eilte der Große
Grenouille, der rasende Gurtner, und bald war kein Winkel mehr, in den er
kein Duftkorn geworfen hutte.
Und als er sah, dass es gut war und dass das ganze Land von seinem
guttlichen Grenouillesamen durchtrunkt war, da ließ der Große
Grenouille einen Weingeistregen herniedergehen, sanft und stetig, und es
begann alluberall zu keimen und zu sprießen, und die Saat trieb aus,
dass es das Herz erfreute. Schon wogte es uppig auf den Plantagen, und in
den verborgenen Gurten standen die Stengel im Saft. Die Knospen der Bluten
platzten schier aus ihrer Hulle. Da gebot der Große Grenouille Einhalt
dem Regen. Und es geschah. Und er schickte die milde Sonne seines Luchelns
uber das Land, worauf sich mit einem Schlag die millionenfache Pracht der
Bluten erschloss, von einem Ende des Reichs bis zum anderen, zu einem
einzigen bunten Teppich, geknupft aus Myriaden von kustlichen Duftbehultern.
Und der Große Grenouille sah, dass es gut war, sehr, sehr gut. Und er
blies den Wind seines Odems uber das Land. Und die Bluten, liebkost,
verstrumten Duft und vermischten ihre Myriaden Dufte zu einem stundig
changierenden und doch in stundigem Wechsel vereinten universalen
Huldigungsduft an Ihn, den Großen, den Einzigen, den Herrlichen
Grenouille, und dieser, auf einer goldduftenden Wolke thronend, sog den Odem
schnuppernd wieder ein, und der Geruch des Opfers war ihm angenehm. Und er
ließ sich herab, seine Schupfung mehrmals zu segnen, was ihm von
dieser mit Jauchzen und Jubilieren und abermaligen herrlichen
Duftausstußen gedankt wurde. Unterdessen war es Abend geworden, und
die Dufte verstrumten sich weiter und mischten sich in der Bluue der Nacht
zu immer phantastischeren Noten. Es stand eine wahre Ballnacht der Dufte
bevor mit einem gigantischen Brillantduftfeuerwerk.
Der Große Grenouille aber war etwas mude geworden und guhnte und
sprach: "Siehe, ich habe ein großes Werk getan, und es gefullt mir
sehr gut. Aber wie alles Vollendete beginnt es mich zu langweilen. Ich will
mich zuruckziehen und mir zum Abschluss dieses arbeitsreichen Tages in den
Kammern meines Herzens noch eine kleine Begluckung gunnen." Also sprach der
Große Grenouille und segelte, wuhrend das einfache Duftvolk unter ihm
freudig tanzte und feierte, mit weitausgespannten Flugeln von der goldenen
Wolke herab uber das nuchtliche Land seiner Seele nach Haus in sein Herz.
Ach, es war angenehm, heimzukehren! Das Doppelamt des Ruchers und
Weltenerzeugers strengte nicht schlecht an, und sich danach von der eigenen
Brut stundenlang feiern zu lassen, war auch nicht die reinste Erholung. Der
guttlichen Schupfungs- und Reprusentationsverpflichtungen mude, sehnte sich
der Große Grenouille nach huuslichen Freuden.
Sein Herz war ein purpurnes Schloss. Es lag in einer steinernen Wuste,
getarnt hinter Dunen, umgeben von einer Oase aus Sumpf und hinter sieben
steinernen Mauern. Es war nur im Flug zu erreichen. Es besaß tausend
Kammern und tausend Keller und tausend feine Salons, darunter einen mit
einem einfachen purpurnen Kanapee, auf welchem Grenouille, der nun nicht
mehr der Große Grenouille war, sondern Grenouille ganz privat oder
einfach der liebe Jean-Baptiste, sich von der Muhsal des Tages auszuruhen
pflegte.
In den Kammern des Schlosses aber standen Regale vom Boden bis hinauf
an die Decke, und darin befanden sich alle Geruche, die Grenouille im Laufe
seines Lebens gesammelt hatte, mehrere Millionen. Und in den Kellern des
Schlosses, da ruhten in Fussern die besten Dufte seines Lebens. Sie wurden,
wenn sie gereift waren, auf Flaschen gezogen und lagen dann in
kilometerlangen feuchtkuhlen Gungen, geordnet nach Jahrgang und Herkunft,
und es waren ihrer so viele, dass ein Leben nicht reichte, sie alle zu
trinken.
Und als der liebe Jean-Baptiste, endlich heimgekehrt in sein chez soi,
im purpurnen Salon auf seinem simplen anheimelnden Sofa lag - die Stiefel,
wenn man so will, endlich ausgezogen hatte -, klatschte er in die Hunde und
rief seine Diener herbei, die unsichtbar, unfuhlbar, unhurbar und vor allem
unriechbar, also vollstundig imaginure Diener waren, und befahl ihnen, in
die Kammern zu gehen und aus der großen Bibliothek der Geruche diesen
oder jenen Band zu besorgen und in den Keller zu steigen und ihm zu trinken
zu holen. Es eilten die imaginuren Diener, und in peinigender Erwartung
krampfte sich Grenouilles Magen zusammen. Es war ihm plutzlich zumute wie
einem Trinker, den am Tresen die Angst befullt, man kunnte ihm aus
irgendeinem Grund das bestellte Glas Schnaps verweigern. Was, wenn die
Keller und Kammern mit einem Mal leer, was, wenn der Wein in den Fussern
verdorben war? Warum ließ man ihn warten? Warum kam man nicht? Er
brauchte das Zeug sofort, er brauchte es dringend, er war suchtig danach, er
wurde auf dem Fleck sterben, wenn er es nicht bekume.
Aber ruhig, Jean-Baptiste! Ruhig, Lieber! Man kommt ja, man bringt, was
du begehrst. Schon fliegen die Diener herbei. Sie tragen auf unsichtbarem
Tablett das Buch der Geruche, sie tragen in weißbehandschuhten
unsichtbaren Hunden die kostbaren Flaschen, sie setzen sie ab, ganz
behutsam, sie verneigen sich, und sie verschwinden.
Und alleine gelassen, endlich - mal wieder! - allein, greift
Jean-Baptiste nach den ersehnten Geruchen, uffnet die erste Flasche, schenkt
sich ein Glas voll bis zum Rand, fuhrt es an die Lippen und trinkt. Trinkt
das Glas kuhlen Geruchs in einem Zug leer, und es ist kustlich! Es ist so
erlusend gut, dass dem lieben Jean-Baptiste vor Wonne das Wasser in die
Augen schießt und er sich sofort das zweite Glas dieses Dufts
einschenkt: eines Dufts aus dem Jahr 1752, aufgeschnappt im Fruhjahr, vor
Sonnenaufgang auf dem Pont Royal, mit nach Westen gerichteter Nase, woher
ein leichter Wind kam, in dem sich Meergeruch, Waldgeruch und ein wenig vom
teerigen Geruch der Kuhne mischten, die am Ufer lagen. Es war der Duft der
ersten zu Ende gehenden Nacht, die er, ohne Grimals Erlaubnis, in Paris
herumstreunend verbracht hatte. Es war der frische Geruch des sich nuhernden
Tages, des ersten Tagesanbruchs, den er in Freiheit erlebte. Dieser Geruch
hatte ihm damals die Freiheit verheißen. Er hatte ihm ein anderes
Leben verheißen. Der Geruch jenes Morgens war fur Grenouille ein
Hoffnungsgeruch. Er verwahrte ihn sorgsam. Und er trank tuglich davon.
Nachdem er das zweite Glas geleert hatte, fiel alle Nervositut, fielen
Zweifel und Unsicherheit von ihm ab, und es erfullte ihn eine herrliche
Ruhe. Er presste seinen Rucken gegen die weichen Kissen des Kanapees, schlug
ein Buch auf und begann, in seinen Erinnerungen zu lesen. Er las von den
Geruchen seiner Kindheit, von den Schulgeruchen, von den Geruchen der
Straßen und Winkel der Stadt, von Menschengeruchen. Und angenehme
Schauer durchrieselten ihn, denn es waren durchaus die verhassten Geruche,
die exterminierten, die da beschworen wurden. Mit angewidertem Interesse las
Grenouille im Buch der ekligen Geruche, und wenn der Widerwille das
Interesse uberwog, so klappte er es einfach zu, legte es weg und nahm ein
anderes.
Nebenher trank er ohne Pause von den edlen Duften. Nach der Flasche mit
dem Hoffnungsduft entkorkte er eine aus dem Jahre 1744, die gefullt war mit
dem warmen Holzgeruch vor dem Haus der Madame Gaillard. Und nach diesem
trank er eine Flasche sommerabendlichen Dufts, parfumdurchweht und
blutenschwer, aufgelesen am Rande eines Parks in Saint-Germain-des-Pres anno
1753.
Er war nun muchtig angefullt von Duften. Die Glieder lagen immer
schwerer in den Kissen. Sein Geist benebelte sich wunderbar. Und doch war er
noch nicht am Ende des Gelages. Zwar konnten seine Augen nicht mehr lesen,
war ihm das Buch lungst aus der Hand geglitten - aber er wollte den Abend
nicht beschließen, ohne noch die letzte Flasche, die herrlichste,
geleert zu haben: Es war der Duft des Mudchens aus der Rue des Marais...
Er trank ihn andachtsvoll und setzte sich zu diesem Zweck aufrecht auf
das Kanapee, obwohl ihm das schwerfiel, denn der purpurne Salon schwankte
und kreiste um ihn bei jeder Bewegung. In schulerhafter Haltung, die Knie
aneinandergepresst, die Fuße dicht an dicht gestellt, auf den linken
Oberschenkel seine linke Hand gelegt - so trank der kleine Grenouille den
kustlichsten Duft aus den Kellern seines Herzens, Glas um Glas, und wurde
immer trauriger dabei. Er wusste, dass er zu viel trank. Er wusste, dass er
so viel Gutes nicht vertrug. Und trank doch, bis die Flasche leer war: Er
ging durch den dunklen Gang von der Straße in den Hinterhof. Er ging
auf den Lichtschein zu. Das Mudchen saß und schnitt die Mirabellen
auf. Von weit her krachten die Raketen und Petarden des Feuerwerks...
Er stellte das Glas ab und blieb noch, von der Sentimentalitut und vom
Suff wie versteinert, ein paar Minuten lang sitzen, so lange, bis auch der
letzte Nachgeschmack von der Zunge verschwunden war. Er glotzte vor sich
hin. In seinem Hirn war es plutzlich so leer wie in den Flaschen. Dann
kippte er um, seitlich aufs purpurne Kanapee und versank von einem Moment
zum anderen in einen betuubenden Schlaf.
Zur gleichen Zeit schlief auch der uußere Grenouille auf seiner
Pferdedecke ein. Und sein Schlaf war ebenso abgrundtief wie der des inneren
Grenouille, denn die herkuleischen Taten und Exzesse von diesem hatten jenen
nicht weniger erschupft - schließlich waren beide ja ein und dieselbe
Person.
Als er aufwachte allerdings, wachte er nicht auf im purpurnen Salon
seines purpurnen Schlosses hinter den sieben Mauern und auch nicht in den
fruhlingshaften Duftgefilden seiner Seele, sondern einzig und allein im
Steinverlies am Ende des Tunnels auf dem harten Boden in der Finsternis. Und
ihm war speiubel vor Hunger und Durst und frustelig und elend wie einem
suchtigen Trinker nach durchzechter Nacht. Auf allen vieren kroch er aus dem
Stollen.
Draußen war irgendeine Tageszeit, meistens die beginnende oder
die endende Nacht, aber selbst bei Mitternacht stach ihm die Helligkeit des
Sternenlichts wie Nadeln in die Augen. Die Luft erschien ihm staubig,
raß, lungenbrennend, die Landschaft hart, er stieß sich an den
Steinen. Und selbst die zartesten Geruche wirkten streng und beizend auf
seine weltentwuhnte Nase. Grenouille, der Zeck, war empfindlich geworden wie
ein Krebs, der sein Muschelgehuuse verlassen hat und nackt durchs Meer
wandert.
Er ging zur Wasserstelle, leckte die Feuchtigkeit von der Wand, ein,
zwei Stunden lang, es war eine Tortur, die Zeit nahm kein Ende, die Zeit, in
der ihm die wirkliche Welt auf der Haut brannte. Er riss sich ein paar
Fetzen Moos von den Steinen, wurgte sie in sich hinein, hockte sich hin,
schiss wuhrend er fraß schnell, schnell, schnell musste alles gehen -,
und wie gejagt, wie wenn er ein kleines weichfleischiges Tier wure und
droben am Himmel kreisten schon die Habichte, lief er zuruck zu seiner Huhle
bis ans Ende des Stollens, wo die Pferdedecke lag. Hier war er endlich
wieder sicher.
Er lehnte sich zuruck gegen die Schutte von Gerull, streckte die Beine
aus und wartete. Er musste seinen Kurper jetzt ganz still halten, ganz
still, wie ein Gefuß, das von zu viel Bewegung uberzuschwappen droht.
Allmuhlich gelang es ihm, den Atem zu zugeln. Sein aufgeregtes Herz schlug
ruhiger, der innere Wellenschlag ließ langsam nach. Und plutzlich fiel
die Einsamkeit wie eine schwarze Spiegelfluche uber sein Gemut. Er schloss
die Augen. Die dunkle Ture in sein Inneres tat sich auf, und er trat ein.
Die nuchste Vorstellung des grenouillschen Seelentheaters begann.
So ging es Tag fur Tag, Woche fur Woche, Monat fur Monat. So ging es
sieben ganze Jahre lang.
Wuhrend dieser Zeit herrschte in der uußeren Welt Krieg, und zwar
Weltkrieg. Man schlug sich in Schlesien und Sachsen, in Hannover und
Belgien, in Buhmen und Pommern. Die Truppen des Kunigs starben in Hessen und
Westfalen, auf den Balearen, in Indien, am Mississippi und in Kanada, sofern
sie nicht schon auf der Fahrt dorthin dem Typhus erlagen. Der Krieg kostete
einer Million Menschen das Leben, den Kunig von Frankreich sein
Kolonialreich und alle beteiligten Staaten so viel Geld, dass sie sich
schließlich schweren Herzens entschlossen, ihn zu beenden.
Grenouille wure einmal in dieser Zeit, im Winter, fast erfroren, ohne
es zu merken. Funf Tage lag er im purpurnen Salon, und als er im Stollen
erwachte, konnte er sich vor Kulte nicht mehr bewegen. Er schloss sofort
wieder die Augen, um sich zu Tode zu schlafen. Doch dann kam ein
Wettersturz, taute ihn auf und rettete ihn.
Einmal war der Schnee so hoch, dass er nicht mehr die Kraft hatte, sich
bis zu den Flechten durchzuwuhlen. Da ernuhrte er sich von steifgefrorenen
Fledermuusen.
Einmal lag ein toter Rabe vor der Huhle. Den aß er. Das waren die
einzigen Vorkommnisse, die er von der uußeren Welt in den sieben
Jahren zur Kenntnis nahm. Ansonsten lebte er nur in seinem Berg, nur im
selbstgeschaffenen Reich seiner Seele. Und er wure bis zu seinem Tode dort
geblieben (denn es mangelte ihm an nichts), wenn nicht eine Katastrophe
eingetreten wure, die ihn aus dem Berg vertrieben und in die Welt
zuruckgespieen hutte.
Die Katastrophe war kein Erdbeben, kein Waldbrand, kein Bergrutsch und
kein Stolleneinsturz. Sie war uberhaupt keine uußere Katastrophe,
sondern eine innere, und daher besonders peinlich, denn sie blockierte
Grenouilles bevorzugten Fluchtweg. Sie geschah im Schlaf. Besser gesagt im
Traum. Vielmehr im Traum im Schlaf im Herz in seiner Phantasie.
Er lag auf dem Kanapee im purpurnen Salon und schlief. Um ihn standen
die leeren Flaschen. Er hatte enorm viel getrunken, zum Abschluss gar zwei
Flaschen vom Duft des rothaarigen Mudchens. Wahrscheinlich war das zu viel
gewesen, denn sein Schlaf, wiewohl von todesuhnlicher Tiefe, war diesmal
nicht traumlos, sondern von geisterhaften Traumschlieren durchzogen. Diese
Schlieren waren deutlich erkennbare Fetzen eines Geruchs. Zuerst zogen sie
nur in dunnen Bahnen an Grenouilles Nase vorbei, dann wurden sie dichter,
wolkenhaft. Es war nun, als stunde er inmitten eines Moores, aus dem der
Nebel stieg. Der Nebel stieg langsam immer huher. Bald war Grenouille
vollkommen umhullt von Nebel, durchtrunkt von Nebel, und zwischen den
Nebelschwaden war kein bisschen freie Luft mehr. Er musste, wenn er nicht
ersticken wollte, diesen Nebel einatmen. Und der Nebel war, wie gesagt, ein
Geruch. Und Grenouille wusste auch, was fur ein Geruch. Der Nebel war sein
eigener Geruch. Sein, Grenouilles, Eigengeruch war der Nebel.
Und nun war das Entsetzliche, dass Grenouille, obwohl er wusste, dass
dieser Geruch sein Geruch war, ihn nicht riechen konnte. Er konnte sich,
vollstundig in sich selbst ertrinkend, um alles in der Welt nicht riechen!
Als ihm das klargeworden war, schrie er so furchterlich laut, als wurde
er bei lebendigem Leibe verbrannt. Der Schrei zerschlug die Wunde des
Purpursalons, die Mauern des Schlosses, er fuhr aus dem Herzen uber die
Gruben und Sumpfe und Wusten hinweg, raste uber die nuchtliche Landschaft
seiner Seele wie ein Feuersturm, gellte aus seinem Mund hervor, durch den
gewundenen Stollen, hinaus in die Welt, weithin uber die Hochebene von
Saint-Flour es war, als schriee der Berg. Und Grenouille erwachte von seinem
eigenen Schrei. Im Erwachen schlug er um sich, als musse er den unriechbaren
Nebel vertreiben, der ihn ersticken wollte. Er war zutode geungstigt,
schlotterte am ganzen Kurper vor schierem Todesschrecken. Hutte der Schrei
nicht den Nebel zerrissen, dann wure er an sich selber ertrunken - ein
grauenvoller Tod. Ihn schauderte, wenn er daran zuruckdachte. Und wuhrend er
noch schlotternd saß und versuchte, seine konfusen verungstigten
Gedanken zusammenzufangen, wusste er schon eines ganz sicher: Er wurde sein
Leben undern, und sei es nur deshalb, weil er einen so furchtbaren Traum
kein zweites Mal truumen wollte. Er wurde das zweite Mal nicht uberstehen.
Er warf sich die Pferdedecke uber die Schultern und kroch hinaus ins Freie.
Draußen war gerade Vormittag, ein Vormittag Ende Februar. Die Sonne
schien. Das Land roch nach feuchtem Stein, Moos und Wasser. Im Wind lag
schon ein wenig Duft von Anemonen. Er hockte sich vor der Huhle auf den
Boden. Das Sonnenlicht wurmte ihn. Er atmete die frische Luft ein. Es
schauderte ihn immer noch, wenn er an den Nebel zuruckdachte, dem er
entronnen war, und es schauderte ihn vor Wohligkeit, als er die Wurme auf
dem Rucken spurte. Es war doch gut, dass diese uußere Welt noch
bestand, und sei's nur als ein Fluchtpunkt. Nicht auszudenken das Grauen,
wenn er am Ausgang des Tunnels keine Welt mehr vorgefunden hutte! Kein
Licht, keinen Geruch, kein Garnichts - nur noch diesen entsetzlichen Nebel,
innen, außen, uberall...
Allmuhlich wich der Schock. Allmuhlich lockerte sich der Griff der
Angst, und Grenouille begann sich sicherer zu fuhlen. Gegen Mittag hatte er
seine Kaltblutigkeit wiedergewonnen. Er legte Zeige- und Mittelfinger der
linken Hand unter die Nase und atmete zwischen den Fingerrucken hindurch. Er
roch die feuchte, anemonenwurzige Fruhlingsluft. Von seinen Fingern roch er
nichts. Er drehte die Hand um und schnupperte an ihrer Innenseite. Er spurte
die Wurme der Hand, aber er roch nichts. Nun krempelte er den zerschlissenen
urmel seines Hemdes hoch, vergrub die Nase in der Ellbogenbeuge. Er wusste,
dass dies die Stelle war, wo alle Menschen nach sich selber riechen. Er
jedoch roch nichts. Er roch auch nichts unter seiner Achsel, nichts an den
Fußen, nichts am Geschlecht, zu dem er sich, so weit es ging,
hinunterbeugte. Es war grotesk: Er, Grenouille, der jeden anderen Menschen
meilenweit erschnuppern konnte, war nicht imstande, sein weniger als eine
Handspanne entferntes eigenes Geschlecht zu riechen! Trotzdem geriet er
nicht in Panik, sondern sagte sich, kuhl uberlegend, das folgende: "Es ist
nicht so, dass ich nicht rieche, denn alles riecht. Es ist vielmehr so, dass
ich nicht rieche, dass ich rieche, weil ich mich seit meiner Geburt tagaus
tagein gerochen habe und meine Nase daher gegen meinen eigenen Geruch
abgestumpft ist. Kunnte ich meinen Geruch, oder wenigstens einen Teil davon,
von mir trennen und nach einer gewissen Zeit der Entwuhnung zu ihm
zuruckkehren, so wurde ich ihn - und also mich - sehr wohl riechen kunnen."
Er legte die Pferdedecke ab und zog seine Kleider aus der das, was von
seinen Kleidern noch ubriggeblieben war, die Fetzen, die Lumpen zog er aus.
Sieben Jahre lang hatte er sie nicht vom Leib genommen. Sie mussten durch
und durch getrunkt sein von seinem Geruch. Er warf sie auf einen Haufen vor
den Eingang der Huhle und entfernte sich. Dann stieg er, zum ersten Mal seit
sieben Jahren, wieder auf den Gipfel des Berges hinauf. Dort stellte er sich
an dieselbe Stelle, an der er damals bei seiner Ankunft gestanden war, hielt
die Nase nach Westen und ließ sich den Wind um den nackten Kurper
pfeifen. Seine Absicht war, sich vollkommen auszuluften, sich so sehr mit
Westwind - und das hieß mit dem Geruch von Meer und feuchten Wiesen -
vollzupumpen, dass dieser den Geruch seines eigenen Kurpers uberwog und sich
somit ein Duftgefulle zwischen ihm, Grenouille, und seinen Kleidern
herstellen muge, welches er dann deutlich wahrzunehmen in der Lage wure. Und
um muglichst wenig Eigengeruch in die Nase zu bekommen, beugte er den
Oberkurper nach vorn, machte den Hals so lang es ging gegen den Wind und
streckte die Arme nach hinten. Er sah aus wie ein Schwimmer, kurz bevor er
ins Wasser springt.
In dieser uußerst lucherlichen Haltung verharrte er mehrere
Stunden lang, wobei sich seine lichtentwuhnte madenweiße Haut trotz
der noch schwachen Sonne langustenrot furbte. Gegen Abend stieg er wieder
zur Huhle hinab. Schon von weitem sah er den Kleiderhaufen liegen. Auf den
letzten Metern hielt er sich die Nase zu und uffnete sie erst wieder, als er
sie dicht uber den Haufen gesenkt hatte. Er machte die Schnuffelprobe, wie
er sie bei Baldini gelernt hatte, riss die Luft ein und ließ sie
etappenweise wieder ausstrumen. Um den Geruch zu fangen, bildete er mit
seinen beiden Hunden eine Glocke uber den Kleidern, in die er wie einen
Kluppel seine Nase steckte. Er stellte alles mugliche an, um seinen eigenen
Geruch aus den Kleidern herauszuriechen. Aber der Geruch war nicht darin. Er
war entschieden nicht darin. Tausend andre Geruche waren darin. Der Geruch
von Stein, Sand, Moos, Harz, Rabenblut - sogar der Geruch der Wurst, die er
vor Jahren in der Nuhe von Sully gekauft hatte, war noch deutlich
wahrnehmbar. Die Kleider enthielten ein olfaktorisches Tagebuch der letzten
sieben, acht Jahre. Nur seinen eigenen Geruch, den Geruch dessen, der sie in
dieser Zeit ohne Unterlass getragen hatte, enthielten sie nicht.
Nun wurde ihm doch etwas bang. Die Sonne war untergegangen. Er stand
nackt am Eingang des Stollens, an dessen dunklem Ende er sieben Jahre lang
gelebt hatte. Der Wind blies kalt, und er fror, aber er merkte nicht, dass
er fror, denn in ihm war eine Gegenkulte, numlich Angst. Es war nicht
dieselbe Angst, die er im Traum empfunden hatte, diese grußliche Angst
des Ansich-selbst-Erstickens, die es um jeden Preis abzuschutteln galt und
der er hatte entfliehen kunnen. Was er jetzt empfand, war die Angst, uber
sich selbst nicht Bescheid zu wissen. Sie war jener Angst entgegengesetzt.
Ihr konnte er nicht entfliehen, sondern er musste ihr entgegengehen. Er
musste - und wenn auch die Erkenntnis furchtbar war - ohne Zweifel wissen,
ob er einen Geruch besaß oder nicht. Und zwar jetzt gleich. Sofort.
Er ging zuruck in den Stollen. Nach ein paar Metern schon umgab ihn
vullige Dunkelheit, doch er fand sich zurecht wie im hellsten Licht. Viele
tausend Male war er den Weg gegangen, kannte jeden Tritt und jede Windung,
roch jede niederhungende Felsnase und jeden kleinsten vorspringenden Stein.
Den Weg zu finden war nicht schwierig. Schwierig war, gegen die Erinnerung
an den klaustrophobischen Traum anzukumpfen, die wie eine Flutwelle in ihm
hoch und huher schwappte, je weiter er voranschritt. Aber er war mutig. Das
heißt, er bekumpfte mit der Angst, nicht zu wissen, die Angst vor dem
Wissen, und es gelang ihm, weil er wusste, dass er keine Wahl hatte. Als er
am Ende des Stollens angekommen war, dort wo die Gerullverschuttung anstieg,
fielen beide ungste von ihm ab. Er fuhlte sich ruhig, sein Kopf war ganz
klar und seine Nase geschurft wie ein Skalpell. Er hockte sich nieder, legte
die Hunde uber die Augen und roch. An diesem Ort, in diesem weltfernen
steinernen Grab, hatte er sieben Jahre lang gelegen. Wenn irgendwo auf der
Welt, so musste es hier nach ihm riechen. Er atmete langsam. Er prufte
genau. Er ließ sich Zeit mit dem Urteil. Eine Viertelstunde lang blieb
er hocken. Er hatte ein untrugliches Geduchtnis und wusste genau, wie es vor
sieben Jahren an dieser Stelle gerochen hatte: steinig und nach feuchter,
salziger Kuhle und so rein, dass kein lebendes Wesen, Mensch oder Tier, den
Platz jemals betreten haben konnte... Genau so aber roch es auch jetzt.
Er blieb noch eine Weile hocken, ganz ruhig, nur leise mit dem Kopfe
nickend. Dann drehte er sich um und ging, zunuchst gebuckt, und als die Huhe
des Stollens es zuließ, in aufrechter Haltung, hinaus ins Freie.
Draußen zog er seine Lumpen an (die Schuhe waren ihm schon vor Jahren
vermodert), legte sich die Pferdedecke uber die Schultern und verließ
noch in derselben Nacht den Plomb du Cantal in sudlicher Richtung.
Er sah furchterlich aus. Die Haare reichten ihm bis zu den Kniekehlen,
der dunne Bart bis zum Nabel. Seine Nugel waren wie Vogelkrallen, und an
Armen und Beinen, wo die Lumpen nicht mehr hinreichten, den Kurper zu
bedecken, fiel ihm die Haut in Fetzen ab.
Die ersten Menschen, denen er begegnete, Bauern auf einem Feld nahe der
Stadt Pierrefort, rannten schreiend davon, als sie ihn sahen. In der Stadt
selbst dagegen machte er Sensation. Die Leute liefen zu Hunderten zusammen,
um ihn zu begaffen. Manche hielten ihn fur einen entkommenen
Galeerenstrufling. Manche sagten, er sei gar kein richtiger Mensch, sondern
eine Mischung aus einem Menschen und einem Buren, eine Art Waldwesen. Einer,
der fruher zur See gefahren war, behauptete, er sehe aus wie der Angehurige
eines wilden Indianerstammes in Cayenne, welches jenseits des großen
Ozeans liege. Man fuhrte ihn dem Burgermeister vor. Dort wies er zum
Erstaunen der Versammelten seinen Gesellenbrief vor, machte seinen Mund auf
und erzuhlte in ein wenig kollernden Worten - denn es waren die ersten
Worte, die er nach siebenjuhriger Pause von sich gab -, aber gut
verstundlich, dass er auf seiner Wanderschaft von Ruubern uberfallen,
verschleppt und sieben Jahre lang in einer Huhle gefangengehalten worden
sei. Er habe in dieser Zeit weder das Sonnenlicht noch einen Menschen
gesehen, sei mittels eines von unsichtbarer Hand ins Dunkle herabgelassenen
Korbes ernuhrt und schließlich mit einer Leiter befreit worden, ohne
zu wissen, warum, und ohne seine Entfuhrer oder Retter je gesehen zu haben.
Diese Geschichte hatte er sich ausgedacht, denn sie schien ihm glaubhafter
als die Wahrheit, und sie war es auch, denn dergleichen ruuberische
uberfulle geschahen in den Bergen der Auvergne, des Languedoc und in den
Cevennen durchaus nicht selten. Jedenfalls nahm sie der Burgermeister
anstandslos zu Protokoll und erstattete uber den Vorfall Bericht an den
Marquis de la Taillade-Espinasse, Lehensherrn der Stadt und Mitglied des
Parlaments in Toulouse.
Der Marquis hatte schon mit vierzig Jahren dem Versailler Hofleben den
Rucken gekehrt, sich auf seine Guter zuruckgezogen und dort den
Wissenschaften gelebt. Aus seiner Feder stammte ein bedeutendes Werk uber
dynamische Nationalukonomie, in welchem er die Abschaffung aller Abgaben auf
Grundbesitz und landwirtschaftliche Erzeugnisse sowie die Einfuhrung einer
umgekehrt progressiven Einkommenssteuer vorschlug, die den urmsten am
hurtesten traf und ihn somit zur sturkeren Entfaltung seiner
wirtschaftlichen Aktivituten zwang. Durch den Erfolg des Buchleins
ermuntert, verfasste er ein Traktat uber die Erziehung von Knaben und
Mudchen im Alter zwischen funf und zehn Jahren, wandte sich hierauf der
experimentellen Landwirtschaft zu und versuchte, durch die ubertragung von
Stiersamen auf verschiedene Grassorten ein animalovegetabiles
Kreuzungsprodukt zur Milchgewinnung zu zuchten, eine Art Euterblume. Nach
anfunglichen Erfolgen, die ihn sogar zur Herstellung eines Kuses aus
Grasmilch befuhigten, der von der Wissenschaftlichen Akademie von Lyon als
>von ziegenhaftem Geschmack, wenngleich ein wenig bitterer< bezeichnet
wurde, musste er seine Versuche wegen der enormen Kosten des hektoliterweise
uber die Felder verspruhten Stiersamens einstellen. Immerhin hatte die
Beschuftigung mit agrarbiologischen Problemen sein Interesse nicht nur an
der sogenannten Ackerscholle, sondern an der Erde uberhaupt und an ihrer
Beziehung zur Biosphure geweckt.
Kaum hatte er die praktischen Arbeiten an der Milcheuterblume beendet,
sturzte er sich mit ungebrochenem Forscherelan auf einen großen Essay
uber die Zusammenhunge zwischen Erdnuhe und Vitalkraft. Seine These war,
dass sich Leben nur in einer gewissen Entfernung von der Erde entwickeln
kunne, da die Erde selbst stundig ein Verwesungsgas verstrume, ein
sogenanntes "fluidum letale", welches die Vitalkrufte lahme und uber kurz
oder lang vollstundig zum Erliegen bringe. Deshalb seien alle Lebewesen
bestrebt, sich durch Wachstum von der Erde zu entfernen, wuchsen also von
ihr weg und nicht etwa in sie hinein; deshalb trugen sie ihre wertvollsten
Teile himmelwurts: das Korn die uhre, die Blume ihre Blute, der Mensch den
Kopf; und deshalb mussten sie auch, wenn das Alter sie beuge und wieder zur
Erde hinkrumme, unweigerlich dem Letalgas verfallen, in das sie sich durch
den Zerfallsprozess nach ihrem Tode schließlich selbst verwandelten.
Als dem Marquis de la Taillade-Espinasse zu Ohren kam, es habe sich in
Pierrefort ein Individuum gefunden, welches sieben Jahre lang in einer Huhle
- also vullig umschlossen vom Verwesungselement Erde gehaust habe, war er
außer sich vor Entzucken und ließ Grenouille sofort zu sich in
sein Laboratorium bringen, wo er ihn einer grundlichen Untersuchung
unterzog. Aufs Anschaulichste fand er seine Theorie bestutigt: Das fluidum
letale hatte Grenouille schon dermaßen angegriffen, dass sein
funfundzwanzigjuhriger Kurper deutlich greisenhafte Verfallserscheinungen
aufwies. Einzig die Tatsache - so erklurte Taillade-Espinasse -, dass
Grenouille wuhrend seiner Gefangenschaft Nahrung von erdfernen Pflanzen,
vermutlich Brot und Fruchte, zugefuhrt worden seien, habe seinen Tod
verhindert. Nun kunne der fruhere Gesundheitszustand nur wiederhergestellt
werden durch die grundliche Austreibung des Fluidums vermittels eines von
ihm, Taillade-Espinasse, ersonnenen Vitalluftventilations- Apparates. Einen
solchen habe er im Speicher seines Stadtpalais in Montpellier stehen, und
wenn Grenouille bereit wure, sich als wissenschaftliches
Demonstrationsobjekt zur Verfugung zu stellen, wolle er ihn nicht nur von
seiner hoffnungslosen Erdgasverseuchung befreien, sondern ihm auch noch ein
gutes Stuck Geld zukommen lassen...
Zwei Stunden sputer saßen sie im Wagen. Obwohl sich die
Straßen in einem miserablen Zustand befanden, schafften sie die
vierundsechzig Meilen nach Montpellier in knapp zwei Tagen, denn der Marquis
ließ es sich trotz seines vorgeschrittenen Alters nicht nehmen,
persunlich auf Kutscher und Pferde einzupeitschen und bei mehreren Deichsel-
und Federbruchen selbst mit Hand anzulegen; so begeistert war er von seiner
Trouvaille, so begierig, sie raschestens einer gebildeten uffentlichkeit zu
prusentieren. Grenouille hingegen durfte die Kutsche kein einziges Mal
verlassen. Er hatte in seinen Lumpen, von einer mit feuchter Erde und Lehm
getrunkten Decke vollstundig umhullt, dazusitzen. Zu essen bekam er wuhrend
der Reise rohes Wurzelgemuse. Auf diese Weise hoffte der Marquis, die
Erdfluidumverseuchung noch eine Weile im Idealzustand zu konservieren.
In Montpellier angekommen, ließ er Grenouille sofort in den
Keller seines Palais verbringen, verschickte Einladungen an sumtliche
Mitglieder der medizinischen Fakultut, des Botanikervereins, der
Landwirtschaftsschule, der chemo-physikalischen Vereinigung, der
Freimaurerloge und der ubrigen Gelehrtengesellschaften, deren die Stadt
nicht weniger als ein Dutzend besaß. Und einige Tage sputer - genau
eine Woche nachdem er die Bergeinsamkeit verlassen hatte - fand sich
Grenouille auf einem Podest in der großen Aula der Universitut von
Montpellier einer vielhundertkupfigen Menge als die wissenschaftliche
Sensation des Jahres prusentiert.
In seinem Vortrag bezeichnete ihn Taillade-Espinasse als den lebenden
Beweis fur die Richtigkeit der letalen Erdfluidumtheorie. Wuhrend er ihm
nach und nach die Lumpen vom Leibe riss, erklurte er den verheerenden
Effekt, den das Verwesungsgas auf Grenouilles Kurper ausgeubt habe: Da sehe
man Pusteln und Narben, hervorgerufen durch Gasverutzung; dort auf der Brust
ein riesiges glunzendrotes Gaskarzinom; allenthalben eine Zersetzung der
Haut; und sogar eine deutliche fluidale Verkruppelung des Skeletts, die als
Klumpfuß und Buckel sichtbar hervortrete. Auch seien die inneren
Organe Milz, Leber, Lunge, Galle und Verdauungstrakt schwer gasgeschudigt,
wie die Analyse einer Stuhlprobe, die sich in einer Schussel zu Fußen
des Demonstranten fur jedermann zugunglich befinde, zweifelsfrei erwiesen
habe. Zusammenfassend kunne daher gesagt werden, dass die Luhmung der
Vitalkrufte aufgrund siebenjuhriger Verseuchung durch >fluidum letale
Taillade< schon so weit fortgeschritten sei, dass Demonstrant - dessen
uußere Erscheinung im ubrigen bereits signifikant maulwurfhafte Zuge
aufweise - mehr als ein dem Tode denn als ein dem Leben zugewandtes Wesen
bezeichnet werden musse. Dennoch mache Referent sich anheischig, den an und
fur sich Todgeweihten mittels einer Ventilationstherapie in Kombination mit
Vitaldiut innerhalb von acht Tagen wieder soweit herzustellen, dass die
Anzeichen fur eine vollstundige Heilung jedermann in die Augen springen
werde, und fordere die Anwesenden auf, sich vom Erfolg dieser Prognose, der
dann freilich als gultiger Beweis fur die Richtigkeit der letalen
Erdfluidumstheorie angesehen werden musse, binnen Wochenfrist zu uberzeugen.
Der Vortrag war ein Riesenerfolg. Heftig applaudierte das gelehrte
Publikum dem Referenten und defilierte dann am Podest vorbei, auf dem
Grenouille stand. In seiner konservierten Verwahrlosung und mit seinen alten
Narben und Verkruppelungen sah er tatsuchlich so beeindruckend furchterlich
aus, dass ihn jedermann fur halb verwest und unrettbar verloren hielt,
obwohl er selbst sich durchaus gesund und kruftig fuhlte. Manche der Herren
beklopften ihn fachmunnisch, vermaßen ihn, schauten ihm in Mund und
Auge. Einige richteten das Wort an ihn und erkundigten sich nach seinem
Huhlenleben und nach seiner jetzigen Befindlichkeit. Er hielt sich jedoch
streng an eine im voraus erteilte Anweisung des Marquis und antwortete auf
solche Fragen nur mit einem gepressten Rucheln, wobei er mit beiden Hunden
hilflose Gesten gegen seinen Kehlkopf machte, um damit kundzutun, dass auch
dieser bereits vom >fluidum letale Taillade< zerfressen sei.
Am Ende der Veranstaltung packte ihn Taillade-Espinasse wieder ein und
verfrachtete ihn nach Hause auf den Speicher seines Palais. Dort schloss er
ihn im Beisein einiger ausgewuhlter Doktoren der medizinischen Fakultut in
den Vitalluftventilationsapparat, einen aus dichtverfugten Fichtenbrettern
gefertigten Verschlag, der mittels eines weit uber das Dach hinausreichenden
Ansaugekamins mit letalgasfreier Huhenluft durchflutet wurde, welche durch
eine am Boden angebrachte Lederventilklappe wieder entweichen konnte. In
Betrieb gehalten wurde die Anlage von einer Staffel von Bediensteten, die
Tag und Nacht dafur sorgten, dass die im Kamin eingebauten Ventilatoren
nicht zur Ruhe kamen. Und wuhrend Grenouille auf diese Weise von einem
stundigen reinigenden Luftstrom umgeben war, wurden ihm in stundlichem
Abstand durch ein seitlich eingearbeitetes doppelwandiges
Luftschleusenturchen diutetische Speisen erdferner Provenienz dargeboten:
Taubenbruhe, Lerchenpastete, Ragout von Flugenten, eingemachtes Baumobst,
Brot von extra hochwachsenden Weizensorten, Pyrenuenwein, Gemsenmilch und
Eischaumcreme von Huhnern, die im Dachboden des Palais gehalten wurden.
Funf Tage lang dauerte diese kombinierte Entseuchungs- und
Revitalisierungskur. Dann ließ der Marquis die Ventilatoren anhalten
und verbrachte Grenouille in einen Waschraum, wo er in Budern von lauwarmem
Regenwasser mehrere Stunden eingeweicht und schließlich mit
Nussulseife aus der Andenstadt Potosi von Kopf bis Fuß gewaschen
wurde. Man schnitt ihm die Finger- und Zehennugel, reinigte seine Zuhne mit
feingeschlummtem Dolomitenkalk, rasierte ihn, kurzte und kummte seine Haare,
coiffierte und puderte sie. Ein Schneider wurde bestellt, ein Schuster, und
Grenouille bekam ein seidenes Hemd verpasst, mit weißem Jabot und
weißen Ruschen an den Manschetten, seidene Strumpfe, Rock, Hose und
Weste aus blauem Samt und schune Schnallenschuhe von schwarzem Leder, deren
rechter geschickt den verkruppelten Fuß kaschierte. Huchsteigenhundig
legte der Marquis weiße Talkumschminke auf Grenouilles narbiges
Gesicht, tupfte ihm Karmesin auf Lippen und Wangen und verlieh den
Augenbrauen mit Hilfe eines weichen Stifts von Lindenholzkohle eine wirklich
edle Wulbung. Dann stuubte er ihn mit seinem persunlichen Parfum ein, einer
ziemlich simplen Veilchennote, trat einige Schritte zuruck und brauchte
lange Zeit, sein Entzucken in Worte zu fassen.
"Monsieur", begann er endlich, "ich bin von mir begeistert. Ich bin
erschuttert uber meine Genialitut. Ich habe an der Richtigkeit meiner
fluidalen Theorie zwar nie gezweifelt; naturlich nicht; sie aber in
praktizierter Therapie so herrlich bestutigt zu finden, erschuttert mich.
Sie waren ein Tier, und ich habe einen Menschen aus Ihnen gemacht. Eine
geradezu guttliche Tat. Erlauben Sie, dass ich geruhrt bin! - Treten Sie vor
diesen Spiegel dort, und schauen Sie sich an! Sie werden zum ersten Mal in
Ihrem Leben erkennen, dass Sie ein Mensch sind; kein besonders
außergewuhnlicher oder irgendwie hervorragender, aber doch immerhin
ein ganz passabler Mensch. Gehen Sie, Monsieur! Schauen Sie sich an, und
bestaunen Sie das Wunder, das ich an Ihnen vollbracht habe!"
Es war das erste Mal, dass jemand "Monsieur" zu Grenouille gesagt
hatte.
Er ging zum Spiegel und sah hinein. Bis dato hatte er auch noch nie in
einen Spiegel gesehen. Er sah einen Herrn in feinem blauem Gewand vor sich,
mit weißem Hemd und Seidenstrumpfen, und er duckte sich ganz
instinktiv, wie er sich immer vor solch feinen Herren geduckt hatte. Der
feine Herr aber duckte sich auch, und indem Grenouille sich wieder
aufrichtete, tat der feine Herr dasselbe, und dann erstarrten beide und
fixierten sich.
Was Grenouille am meisten verbluffte, war die Tatsache, dass er so
unglaublich normal aussah. Der Marquis hatte Recht: Er sah nicht besonders
aus, nicht gut, aber auch nicht besonders hußlich. Er war ein wenig
klein geraten, seine Haltung war ein wenig linkisch, das Gesicht ein wenig
ausdruckslos, kurz, er sah aus wie Tausende von anderen Menschen auch. Wenn
er jetzt hinunter auf die Straße ginge, wurde kein Mensch sich nach
ihm umdrehen. Nicht einmal ihm selbst wurde ein solcher, wie er jetzt war,
irgendwie auffallen, wenn er ihm begegnete. Es sei denn, er wurde riechen,
dass dieser jemand, außer nach Veilchen, sowenig ruche wie der Herr im
Spiegel und er selbst, der davorstand.
Und doch waren vor zehn Tagen die Bauern noch schreiend
auseinandergelaufen bei seinem Anblick. Er hatte sich damals nicht anders
gefuhlt als jetzt, und jetzt, wenn er die Augen schloss, fuhlte er sich kein
bisschen anders als damals. Er sog die Luft ein, die an seinem Kurper
aufstieg und roch das schlechte Parfum und den Samt und das frischgeleimte
Leder seiner Schuhe; er roch das Seidenzeug, den Puder, die Schminke, den
schwachen Duft der Seife aus Potosi. Und plutzlich wusste er, dass es nicht
die Taubenbruhe und der Ventilationshokuspokus gewesen waren, die einen
normalen Menschen aus ihm gemacht hatten, sondern einzig und allein die paar
Kleider, der Haarschnitt und das bisschen kosmetischer Maskerade.
Er uffnete blinzelnd die Augen und sah, wie der Monsieur im Spiegel ihm
zublinzelte und wie ein kleines Lucheln um seine karmesinroten Lippen
strich, ganz so, als wolle er ihm signalisieren, dass er ihn nicht gunzlich
unsympathisch finde. Und auch Grenouille fand, dass der Monsieur im Spiegel,
diese als Mensch verkleidete, maskierte, geruchlose Gestalt, nicht so ganz
ohne sei; zumindest schien ihm, als kunnte sie wurde man ihre Maske nur
vervollkommnen - eine Wirkung auf die uußere Welt tun, wie er,
Grenouille, sie sich selbst nie zugetraut hutte. Er nickte der Gestalt zu
und sah, dass sie, wuhrend sie wieder nickte, verstohlen die Nustern
bluhte...
Am folgenden Tag - der Marquis war gerade dabei, ihm die nutigsten
Posen, Gesten und Tanzschritte fur den bevorstehenden gesellschaftlichen
Auftritt beizubringen - fingierte Grenouille einen Schwindelanfall und
sturzte scheinbar vollkommen entkruftet und wie von Erstickung bedroht auf
einem Diwan nieder.
Der Marquis war außer sich. Er schrie nach den Dienern, schrie
nach Luftwedeln und tragbaren Ventilatoren, und wuhrend die Diener eilten,
kniete er an Grenouilles Seite nieder, fuchelte ihm mit seinem
veilchenduftgetrunkten Taschentuch Luft zu und beschwor, bebettelte ihn
regelrecht, doch ja sich wieder aufzurichten, doch ja nicht jetzt die Seele
auszuhauchen, sondern damit, wenn irgend muglich, noch bis ubermorgen
hinzuwarten, da sonst das uberleben der letalen Fluidaltheorie aufs
uußerste gefuhrdet sei.
Grenouille wand und krummte sich, keuchte, uchzte, fuchtelte mit seinen
Armen gegen das Taschentuch, ließ sich schließlich auf sehr
dramatische Weise vom Diwan fallen und verkroch sich in die entlegenste Ecke
des Zimmers. "Nicht dieses Parfum!" rief er wie mit allerletzter Kraft,
"nicht dieses Parfum! Es tutet mich!" Und erst als Taillade-Espinasse das
Taschentuch aus dem Fenster und seinen ebenfalls nach Veilchen riechenden
Rock ins Nebenzimmer geworfen hatte, ließ Grenouille seinen Anfall
abebben und erzuhlte mit ruhiger werdender Stimme, dass er als Parfumeur
eine berufsbedingt empfindliche Nase besitze und immer schon, besonders aber
jetzt in der Zeit der Genesung, auf gewisse Parfums sehr heftig reagiere.
Dass ausgerechnet der Duft des Veilchens, einer an und fur sich lieblichen
Blume, ihm so stark zusetze, kunne er sich nur dadurch erkluren, dass das
Parfum des Marquis einen hohen Bestandteil an Veilchenwurzelextrakt
enthalte, welcher wegen seiner unterirdischen Herkunft auf eine letal
fluidal angegriffene Person wie ihn, Grenouille, verderblich wirke. Schon
gestern, bei der ersten Applikation des Duftes, habe er sich ganz blumerant
gefuhlt und heute, als er den Wurzelgeruch abermals wahrgenommen habe, sei
ihm gar gewesen, als stoße man ihn zuruck in das entsetzliche stickige
Erdloch, in dem er sieben Jahre vegetiert habe. Seine Natur habe sich
dagegen empurt, anders kunne er nicht sagen, denn nachdem ihm einmal durch
die Kunst des Herrn Marquis ein Leben als Mensch in fluidalfreier Luft
geschenkt worden sei, sturbe er lieber sofort, als dass er sich noch einmal
dem verhassten Fluidum ausliefere. Noch jetzt krampfe sich alles in ihm
zusammen, wenn er bloß an das Wurzelparfum denke. Er glaube aber
zuversichtlich, dass er augenblicklich wiederhergestellt sein wurde, wenn es
ihm der Marquis gestatte, zur vollstundigen Austreibung des Veilchenduftes
ein eigenes Parfum zu entwerfen. Er denke dabei an eine besonders leichte,
aerierte Note, die hauptsuchlich aus erdfernen Ingredienzen wie Mandel- und
Orangenblutenwasser, Eukalyptus, Fichtennadelul und Zypressenul bestehe.
Einen Spritzer nur von einem solchen Duft auf seine Kleider, ein paar
Tropfen nur an Hals und Wangen - und er wure ein fur allemal gefeit gegen
eine Wiederholung des peinlichen Anfalls, der ihn soeben ubermannt habe...
Was wir hier der Verstundlichkeit halber in ordentlicher indirekter
Rede wiedergeben, war in Wirklichkeit ein halbstundiger, von vielen Hustern
und Keuchern und Atemnuten unterbrochener blubbernder Wortausbruch, den
Grenouille mit Gezittre und Gefuchtle und Augenrollen untermalte. Der
Marquis war schwer beeindruckt. Mehr noch als die Leidenssymptomatik
uberzeugte ihn die feine Argumentation seines Schutzlings, die ganz im Sinne
der letal fluidalen Theorie vorgebracht war. Naturlich das Veilchenparfum!
Ein widerlich erdnahes, ja sogar unterirdisches Produkt! Wahrscheinlich war
er selbst, der es seit Jahren benutzte, schon infiziert davon. Hatte keine
Ahnung, dass er sich Tag fur Tag durch diesen Duft dem Tode nuherbrachte.
Die Gicht, die Steifheit seines Nackens, die Schlaffheit seines Glieds, das
Humorrhoid, der Ohrendruck, der faule Zahn - all das kam zweifelsohne von
dem Gestank der fluidaldurchseuchten Veilchenwurzel. Und dieser kleine dumme
Mensch, das Huuflein Elend in der Zimmerecke dort, hatte ihn daraufgebracht.
Er war geruhrt. Am liebsten wure er zu ihm gegangen, hutte ihn aufgehoben
und an sein aufgeklurtes Herz gedruckt. Aber er furchtete, noch immer nach
Veilchen zu duften, und so schrie er abermals nach den Dienern und befahl,
alles Veilchenparfum aus dem Hause zu entfernen, das ganze Palais zu luften,
seine Kleider im Vitalluftventilator zu entseuchen und Grenouille sofort in
seiner Sunfte zum besten Parfumeur der Stadt zu bringen. Genau dies aber
hatte Grenouille mit seinem Anfall bezweckt.
Das Duftwesen hatte alte Tradition in Montpellier, und obwohl es in
jungster Zeit im Vergleich zur Konkurrenzstadt Grasse etwas heruntergekommen
war, lebten doch noch etliche gute Parfumeur- und Handschuhmachermeister in
der Stadt. Der angesehenste unter ihnen, ein gewisser Runel, erklurte sich
im Hinblick auf die Geschuftsbeziehungen mit dem Hause desMarquis de la
Taillade-Espinasse, dessen Seifen-, ul- und Duftstofflieferant er war, zu
dem außergewuhnlichen Schritt bereit, sein Atelier fur eine Stunde dem
in der Sunfte herbeigeschafften sonderbaren Pariser Parfumeurgesellen
abzutreten. Dieser ließ sich nichts erkluren, wollte gar nicht wissen,
wo er was zu finden habe, er kenne sich schon aus, sagte er, finde sich
schon zurecht; und schloss sich in der Werkstatt ein und blieb dort eine
gute Stunde, wuhrend Runel mit dem Haushofmeister des Marquis auf ein paar
Gluser Wein in eine Schenke ging und dort erfahren musste, weswegen man sein
Veilchenwasser nicht mehr riechen kunne.
Runels Werkstatt und Laden waren bei weitem nicht so uppig ausgestattet
wie seinerzeit Baldinis Duftstoffhandlung in Paris. Mit den paar Blutenulen,
Wussern und Gewurzen hutte ein durchschnittlicher Parfumeur keine
großen Sprunge machen kunnen. Grenouille jedoch erkannte mit dem
ersten schnuppernden Atemzug, dass die vorhandenen Stoffe fur seine Zwecke
durchaus hinreichten. Er wollte keinen großen Duft kreieren; er wollte
kein Prestigewusserchen zusammenmischen wie damals fur Baldini, so eines,
das hervorstach aus dem Meer des Mittelmaßes und die Leute kirre
machte. Nicht einmal ein einfaches Orangenblutenduftchen, wie dem Marquis
versprochen, war sein eigentliches Ziel. Die gungigen Essenzen von Neroli,
Eukalyptus und Zypressenblatt sollten den eigentlichen Duft, den er sich
herzustellen vorgenommen hatte, nur kaschieren: dies aber war der Duft des
Menschlichen. Er wollte sich, und wenn es vorluufig auch nur ein schlechtes
Surrogat war, den Geruch der Menschen aneignen, den er selber nicht
besaß. Freilich den Geruch der Menschen gab es nicht, genausowenig wie
es das menschliche Antlitz gab. Jeder Mensch roch anders, niemand wusste das
besser als Grenouille, der Tausende und Abertausende von Individualgeruchen
kannte und Menschen schon von Geburt an witternd unterschied. Und doch - es
gab ein parfumistisches Grundthema des Menschendufts, ein ziemlich simples
ubrigens: ein schweißig-fettes, kusigsuuerliches, ein im ganzen
reichlich ekelhaftes Grundthema, das allen Menschen gleichermaßen
anhaftete und uber welchem erst in feinerer Vereinzelung die Wulkchen einer
individuellen Aura schwebten.
Diese Aura aber, die huchst komplizierte, unverwechselbare Chiffre des
persunlichen Geruchs, war fur die meisten Menschen ohnehin nicht
wahrnehmbar. Die meisten Menschen wussten nicht, dass sie sie uberhaupt
besaßen, und taten uberdies alles, um sie unter Kleidern oder unter
modischen Kunstgeruchen zu verstecken. Nur jener Grundduft, jene primitive
Menschendunstelei, war ihnen wohlvertraut, in ihr nur lebten sie und fuhlten
sich geborgen, und wer nur den eklen allgemeinen Brodem von sich gab, wurde
von ihnen schon als ihresgleichen angesehen.
Es war ein seltsames Parfum, das Grenouille an diesem Tag kreierte. Ein
seltsameres hatte es bis dahin auf der Welt noch nicht gegeben. Es roch
nicht wie ein Duft, sondern wie ein Mensch, der duftet. Wenn man dieses
Parfum in einem dunklen Raum gerochen hutte, so hutte man geglaubt, es stehe
da ein zweiter Mensch. Und wenn ein Mensch, der selber wie ein Mensch roch,
es verwendet hutte, so wure dieser uns geruchlich vorgekommen wie zwei
Menschen oder, schlimmer noch, wie ein monstruses Doppelwesen, wie eine
Gestalt, die man nicht mehr eindeutig fixieren kann, weil sie sich
verschwimmend unscharf darstellt wie ein Bild vom Grunde eines Sees, auf dem
die Wellen zittern.
Um diesen Menschenduft zu imitieren - recht ungenugend, wie er selber
wusste, aber doch geschickt genug, um andere zu tuuschen -, suchte sich
Grenouille die ausgefallensten Ingredienzen in Runels Werkstatt zusammen. Da
war ein Huufchen Katzendreck hinter der Schwelle der Tur, die zum Hof
fuhrte, noch ziemlich frisch. Davon nahm er ein halbes Luffelchen und gab es
zusammen mit einigen Tropfen Essig und zerstoßenem Salz in die
Mischflasche. Unter dem Werktisch fand er ein daumennagelgroßes
Stuckchen Kuse, das offenbar von einer Mahlzeit Runels stammte. Es war schon
ziemlich alt, begann, sich zu zersetzen und strumte einen beißend
scharfen Duft aus. Vom Deckel der Sardinentonne, die im hinteren Teil des
Ladens stand, kratzte er ein fischig-ranzig-riechendes Etwas ab, vermischte
es mit faulem Ei und Castoreum, Ammoniak, Muskat, gefeiltem Hurn und
angesengter Schweineschwarte, fein gebruselt. Dazu gab er ein relativ hohes
Quantum Zibet, mischte diese entsetzlichen Zutaten mit Alkohol, ließ
digerieren und filtrierte ab in eine zweite Flasche. Die Bruhe roch
verheerend. Sie stank kloakenhaft, verwesend, und wenn man ihre Ausdunstung
mit einem Fucherschlag von reiner Luft vermischte, so war's, als stunde man
an einem heißen Sommertag in der Rue aux Fers in Paris, Ecke Rue de la
Lingerie, wo sich die Dufte von den Hallen, vom Cimetiere des Innocents und
von den uberfullten Huusern trafen.
uber diese grauenvolle Basis, die an und fur sich eher kadaverhaft als
menschenuhnlich roch, legte Grenouille nun eine Schicht von ulig-frischen
Duften: Pfefferminz, Lavendel, Terpentin, Limone, Eukalyptus, die er durch
ein Bouquet von feinen Blutenulen wie Geranium, Rose, Orangenblute und
Jasmin zugleich zugelte und angenehm kaschierte. Nach weiterer Verdunnung
mit Alkohol und etwas Essig war von dem Fundament, auf dem die ganze
Mischung ruhte, nichts Ekelhaftes mehr zu riechen. Der latente Gestank hatte
sich durch die frischen Ingredienzen bis ins Unmerkliche verloren, das
Ekelhafte war vom Duft der Blumen geschunt, ja beinahe interessant geworden,
und, sonderbar, von Verwesung war nichts mehr zu riechen, nicht das
geringste mehr. Es schien im Gegenteil ein heftiger beschwingter Duft von
Leben von dem Parfum auszugehen.
Grenouille fullte es auf zwei Flakons, die er verstupselte und zu sich
steckte. Dann wusch er die Flaschen, Murser, Trichter und Luffel sorgfultig
mit Wasser, rieb sie mit Bittermandelul ab, um alle geruchlichen Spuren zu
verwischen, und nahm eine zweite Mischflasche. In ihr komponierte er rasch
ein anderes Parfum, eine Art Kopie des ersten, das ebenfalls aus frischen
und aus blumigen Elementen bestand, bei dem jedoch die Basis nichts mehr von
dem Hexensud enthielt, sondern ganz konventionell etwas Moschus, Amber, ein
klein wenig Zibet und ul von Zedernholz. Fur sich genommen roch es vullig
anders als das erste flacher, unbescholtener, unvirulenter - denn es fehlte
ihm die Komponente des imitierten Menschendufts. Doch wenn ein gewuhnlicher
Mensch es applizierte und es sich mit seinem eigenen Geruch vermuhlte, so
wurde es von dem, das Grenouille ausschließlich fur sich geschaffen
hatte, nicht mehr zu unterscheiden sein.
Nachdem er auch das zweite Parfum auf Flakons gefullt hatte, zog er
sich nackt aus und besprengte seine Kleider mit jenem ersten. Dann betupfte
er sich selbst damit unter den Achseln, zwischen den Zehen, am Geschlecht,
auf der Brust, an Hals, Ohren und Haaren, zog sich wieder an und
verließ die Werkstatt.
Als er die Straße betrat, bekam er plutzlich Angst, denn er
wusste, dass er zum ersten Mal in seinem Leben einen menschlichen Geruch
verbreitete. Er selbst aber fand, dass er stinke, ganz widerwurtig stinke.
Und er konnte sich nicht vorstellen, dass andere Menschen seinen Duft nicht
ebenfalls als stinkend empfunden, und wagte es nicht, direkt in die Schenke
zu gehen, wo Runel und der Haushofmeister des Marquis auf ihn warteten. Es
schien ihm weniger riskant, die neue Aura erst in anonymer Umgebung zu
erproben.
Durch die engsten und dunkelsten Gassen schlich er zum Fluss hinunter,
wo die Gerber und die Stoffurber ihre Ateliers besaßen und ihr
stinkendes Geschuft betrieben. Wenn ihm jemand begegnete, oder wenn er an
einem Hauseingang voruberkam, wo Kinder spielten oder alte Frauen
saßen, zwang er sich, langsamer zu gehen und seinen Duft in einer
großen geschlossenen Wolke um sich her zu tragen.
Er war von Jugend an gewohnt, dass Menschen, die an ihm vorubergingen,
keinerlei Notiz von ihm nahmen, nicht aus Verachtung - wie er einmal
geglaubt hatte -, sondern weil sie nichts von seiner Existenz bemerkten. Es
war kein Raum um ihn gewesen, kein Wellenschlag, den er, wie andre Leute, in
der Atmosphure schlug, kein Schatten, sozusagen, den er uber das Gesicht der
andern Menschen hutte werfen kunnen. Nur wenn er direkt mit jemandem
zusammengestoßen war, im Gedrunge oder urplutzlich an einer
Straßenecke, dann hatte es einen kurzen Augenblick der Wahrnehmung
gegeben; und mit Entsetzen meistens prallte der Getroffene zuruck, starrte
ihn, Grenouille, fur ein paar Sekunden an, als sehe er ein Wesen, das es
eigentlich nicht geben durfte, ein Wesen, das, wiewohl unleugbar da, auf
irgendeine Weise nicht prusent war - und suchte dann das Weite und hatte
seiner augenblicks wieder vergessen...
Jetzt aber, in den Gassen Montpelliers, spurte und sah Grenouille
deutlich - und jedesmal, wenn er es wieder sah, durchrieselte ihn ein
heftiges Gefuhl von Stolz -, dass er eine Wirkung auf die Menschen ausubte.
Als er an einer Frau voruberging, die uber einen Brunnenrand gebeugt stand,
bemerkte er, wie sie fur einen Augenblick den Kopf hob, um zu sehen, wer da
sei, und sich dann, offenbar beruhigt, wieder ihrem Eimer zuwandte. Ein
Mann, der mit dem Rucken zu ihm stand, drehte sich um und schaute ihm eine
ganze Weile lang neugierig nach. Kinder, denen er begegnete, wichen aus -
nicht ungstlich, sondern um ihm Platz zu machen; und selbst wenn sie
seitlich aus den Hauseingungen gelaufen kamen und unvermittelt auf ihn
stießen, erschraken sie nicht, sondern schlupften wie
selbstverstundlich an ihm vorbei, als hutten sie eine Vorahnung von seiner
sich nuhernden Person gehabt.
Durch mehrere solche Begegnungen lernte er, die Kraft und Wirkungsart
seiner neuen Aura pruziser einzuschutzen, und wurde selbstsicherer und
kecker. Er ging rascher auf die Menschen zu, strich dichter an ihnen vorbei,
spreizte gar einen Arm ein wenig weiter ab und streifte wie zufullig den Arm
eines Passanten. Einmal rempelte er, scheinbar aus Versehen, einen Mann an,
den er uberholen wollte. Er blieb stehen, entschuldigte sich, und der Mann,
der noch gestern von Grenouilles plutzlicher Erscheinung wie vom Donner
geruhrt gewesen wure, tat, als sei nichts geschehen, nahm die Entschuldigung
an, luchelte sogar kurz und klopfte Grenouille auf die Schulter.
Er verließ die Gassen und trat auf den Platz vor dem Dom
Saint-Pierre. Die Glocken luuteten. Zu beiden Seiten des Portals drungten
sich Menschen. Eine Trauung war eben zu Ende. Man wollte die Braut sehen.
Grenouille lief hin und mischte sich unter die Menge. Er drungte, bohrte
sich in sie hinein, dorthin wollte er, wo die Menschen am dichtesten
standen, hautnah sollten sie um ihn sein, direkt unter die Nasen wollte er
ihnen seinen eigenen Duft reiben. Und er spreizte die Arme mitten in der
drangvollen Enge und spreizte die Beine und riss sich den Kragen auf, damit
der Duft ungehindert von seinem Kurper abstrumen kunne... und seine Freude
war grenzenlos, als er merkte, dass die andern nichts merkten, rein gar
nichts, dass all diese Munner und Frauen und Kinder, die ringsum an ihn
gepresst standen, sich so leicht betrugen ließen und seinen aus
Katzenscheiße, Kuse und Essig zusammengepantschten Gestank als den
Geruch von ihresgleichen inhalierten und ihn, Grenouille, die Kuckucksbrut
in ihrer Mitte, als einen Menschen unter Menschen akzeptierten.
An seinen Knien spurte er ein Kind, ein kleines Mudchen, das zwischen
den Erwachsenen verkeilt stand. Er hob es hoch, in heuchlerischer Fursorge,
und nahm es auf den Arm, damit es besser sehen kunne. Die Mutter duldete es
nicht nur, sie dankte es ihm, und die Kleine jauchzte vor Vergnugen.
So stand Grenouille wohl eine Viertelstunde im Schoß der Menge,
ein fremdes Kind gegen die scheinheilige Brust gedruckt. Und wuhrend die
Hochzeitsgesellschaft vorbeizog, begleitet vom druhnenden Glockengeluut und
vom Jubel der Menschen, uber die ein Regen von Munzen herabprasselte, brach
in Grenouille ein anderer Jubel los, ein schwarzer Jubel, ein buses
Triumphgefuhl, das ihn zittern machte und berauschte wie ein Anfall von
Geilheit, und er hatte Muhe, es nicht wie Gift und Galle uber all diese
Menschen herspritzen zu lassen und ihnen jubelnd ins Gesicht zu schreien:
dass er keine Angst vor ihnen habe; ja kaum noch sie hasse; sondern dass er
sie mit ganzer Inbrunst verachte, weil sie stinkend dumm waren; weil sie
sich von ihm belugen und betrugen ließen; weil sie nichts waren, und
er war alles! Und wie zum Hohn presste er das Kind enger an sich, machte
sich Luft und schrie mit den undern im Chor: "Hoch die Braut! Es lebe die
Braut! Es lebe das herrliche Paar!"
Als die Hochzeitsgesellschaft sich entfernt hatte und die Menge sich
aufzulusen begann, gab er das Kind seiner Mutter zuruck und ging in die
Kirche, um sich von seiner Erregung zu erholen und auszuruhen. Im Innern des
Domes stand die Luft voll Weihrauch, der in kalten Schwaden aus zwei
Ruucherpfannen zu beiden Seiten des Altars hervorquoll und sich wie eine
erstickende Decke uber die zarteren Geruche der Menschen legte, die eben
noch hier gesessen hatten. Grenouille hockte sich auf eine Bank unter dem
Chor.
Mit einem Mal kam eine große Zufriedenheit uber ihn. Keine
trunkene, wie er sie damals im Schuße des Berges bei seinen einsamen
Orgien empfunden hatte, sondern eine sehr kalte und nuchterne Zufriedenheit,
wie sie das Bewusstsein der eigenen Macht gebiert. Er wusste jetzt, wozu er
fuhig war. Mit geringsten Hilfsmitteln hatte er, dank seinem eigenen Genie,
den Duft des Menschen nachgeschaffen und ihn auf Anhieb gleich so gut
getroffen, dass selbst ein Kind sich von ihm hatte tuuschen lassen. Er
wusste jetzt, dass er noch mehr vermochte. Er wusste, dass er diesen Duft
verbessern konnte. Er wurde einen Duft kreieren kunnen, der nicht nur
menschlich, sondern ubermenschlich war, einen Engelsduft, so unbeschreiblich
gut und lebenskruftig, dass, wer ihn roch, bezaubert war und ihn,
Grenouille, den Truger dieses Dufts, von ganzem Herzen lieben musste.
Ja, lieben sollten sie ihn, wenn sie im Banne seines Duftes standen,
nicht nur ihn als ihresgleichen akzeptieren, ihn lieben bis zum Wahnsinn,
bis zur Selbstaufgabe, zittern vor Entzucken sollten sie, schreien, weinen
vor Wonne, ohne zu wissen, warum, auf die Knie sollten sie sinken wie unter
Gottes kaltem Weihrauch, wenn sie nur ihn, Grenouille, zu riechen bekamen!
Er wollte der omnipotente Gott des Duftes sein, so wie er es in seinen
Phantasien gewesen war, aber nun in der wirklichen Welt und uber wirkliche
Menschen. Und er wusste, dass dies in seiner Macht stand. Denn die Menschen
konnten die Augen zumachen vor der Gruße, vor dem Schrecklichen, vor
der Schunheit und die Ohren verschließen vor Melodien oder beturenden
Worten. Aber sie konnten sich nicht dem Duft entziehen. Denn der Duft war
ein Bruder des Atems. Mit ihm ging er in die Menschen ein, sie konnten sich
seiner nicht erwehren, wenn sie leben wollten. Und mitten in sie hinein ging
der Duft, direkt ans Herz, und unterschied dort kategorisch uber Zuneigung
und Verachtung, Ekel und Lust, Liebe und Hass. Wer die Geruche beherrschte,
der beherrschte die Herzen der Menschen.
Ganz gelust saß Grenouille auf der Bank im Dom von Saint-Pierre
und luchelte. Er war nicht euphorischer Stimmung, als er den Plan fasste,
Menschen zu beherrschen. Es war kein wahnsinniges Flackern in seinen Augen,
und keine verruckte Grimasse uberzog sein Gesicht. Er war nicht von Sinnen.
So klaren und heiteren Geistes war er, dass er sich fragte, warum uberhaupt
er es wollte. Und er sagte sich, dass er es wolle, weil er durch und durch
buse sei. Und er luchelte dabei und war sehr zufrieden. Er sah ganz
unschuldig aus, wie irgendein Mensch, der glucklich ist.
Eine Weile lang blieb er so sitzen, in anduchtiger Ruhe, und atmete die
weihrauchsatte Luft in tiefen Zugen ein. Und wieder ging ein heiteres
Schmunzeln uber sein Gesicht: Wie miserabel dieser Gott doch roch! Wie
lucherlich schlecht doch der Duft gemacht war, den dieser Gott von sich
verstrumen ließ. Nicht einmal echter Weihrauchduft war es, was aus den
Pfannen qualmte. Schlechtes Surrogat war es, verfulscht mit Lindenholz und
Zimtstaub und Salpeter. Gott stank. Gott war ein kleiner armer Stinker. Er
war betrogen, dieser Gott, oder er war selbst ein Betruger, nicht anders als
Grenouille - nur ein um so viel schlechterer!
Der Marquis de la Taillade-Espinasse war entzuckt von dem neuen Parfum.
Es sei, so sagte er, selbst fur ihn als Entdecker des letalen Fluidums,
verbluffend zu sehen, welch eklatanten Einfluss ein so nebensuchliches und
fluchtiges Ding wie ein Parfum, je nachdem, ob es aus erdverbundnen oder
erdentruckten Provenienzen stamme, auf den allgemeinen Zustand eines
Individuums nehme. Grenouille, der noch vor wenigen Stunden blass und einer
Ohnmacht nahe hier gelegen, sehe so frisch und bluhend aus wie nur irgendein
gesunder Mensch seines Alters, ja, man kunne sagen, dass er - mit allen
Einschrunkungen, die bei einem Manne seines Standes und seiner geringen
Bildung angebracht seien - fast so etwas wie Persunlichkeit gewonnen habe.
Auf jeden Fall werde er, Taillade-Espinasse, im Kapitel uber vitale Diutetik
seiner demnuchst erscheinenden Abhandlung zur fluidalen Letaltheorie von dem
Vorfall Mitteilung machen. Zunuchst wolle er sich nun aber selbst mit dem
neuen Duft parfumieren.
Grenouille hundigte ihm die beiden Flakons mit dem konventionellen
Blutenduft aus, und der Marquis besprengte sich damit. Er zeigte sich
hochbefriedigt von der Wirkung. Ein wenig sei ihm, so gestand er, nachdem er
jahrelang von dem entsetzlichen Veilchenduft wie von Blei belastet gewesen,
als wuchsen ihm blutene Flugel; und wenn er nicht irre, so lasse der
grußliche Schmerz seines Knies ebenso nach wie das Sausen der Ohren;
alles in allem fuhle er sich beschwingt, ionisiert und um etliche Jahre
verjungt. Er ging auf Grenouille zu, umarmte ihn und nannte ihn "mein
fluidaler Bruder", hinzufugend, es handle sich dabei keineswegs um eine
gesellschaftliche, sondern um eine rein spirituelle Anrede in conspectu
universalitatis fluidi letalis, vor welchem - und vor welchem allein! - alle
Menschen gleich seien; auch plane er - und dies sagte er, indem er sich von
Grenouille luste, und zwar sehr freundschaftlich, nicht im geringsten
angewidert, fast wie von seinesgleichen luste - , in Bulde eine
internationale suprastundische Loge zu grunden, deren Ziel es sei, das
fluidum letale vollstundig zu uberwinden, um es in kurzester Zeit durch
reines fluidum vitale zu ersetzen, und als deren ersten Proselyten
Grenouille zu gewinnen er schon jetzt verspreche. Dann ließ er sich
die Rezeptur fur das Blutenparfum auf einen Zettel schreiben, steckte diesen
zu sich und schenkte Grenouille funfzig Louisdor.
Punktlich eine Woche nach seinem ersten Vortrag prusentierte der
Marquis de la Taillade-Espinasse seinen Schutzling abermals in der Aula der
Universitut. Der Andrang war ungeheuer. Ganz Montpellier war gekommen, nicht
allein das wissenschaftliche, auch und gerade das gesellschaftliche
Montpellier, darunter viele Damen, die den sagenhaften Huhlenmenschen sehen
wollten. Und obwohl die Gegner Taillades, hauptsuchlich Vertreter des
>Freundeskreises der botanischen Universitutsgurten< und Mitglieder
des >Vereins zur Furderung der Agrikultur<, all ihre Anhunger
mobilisiert hatten, wurde die Veranstaltung ein fulminanter Erfolg. Um dem
Publikum Grenouilles Zustand vor Wochenfrist ins Geduchtnis zu rufen,
ließ Taillade-Espinasse zunuchst Zeichnungen kursieren, die den
Huhlenmenschen in seiner ganzen Hußlichkeit und Verkommenheit zeigten.
ann ließ er den neuen Grenouille hereinfuhren, im schunen samtblauen
Rock und seidenen Hemd, geschminkt, gepudert und frisiert; und schon die
Art, wie er ging, aufrecht numlich und mit zierlichen Schritten und
elegantem Huftschwung, wie er ganz ohne fremde Hilfe das Podest erklomm,
sich tief verbeugte, bald hier-, bald dorthin luchelnd nickte, ließ
alle Zweifler und Kritiker verstummen. Selbst die Freunde der botanischen
Universitutsgurten schwiegen betreten. Zu eklatant war die Verunderung, zu
uberwultigend das Wunder, das hier offenbar geschehen war: Wo vor
Wochenfrist ein geschundenes, verrohtes Tier gekauert hatte, da stand jetzt
wahrhaftig ein zivilisierter, wohlgestalter Mensch. Es breitete sich eine
fast anduchtige Stimmung im Saale aus, und als Taillade-Espinasse zum
Vortrag anhob, herrschte vollkommene Stille. Er entwickelte abermals seine
sattsam bekannte Theorie des letalen Erdfluidums, erluuterte dann, mit
welchen mechanischen und diutetischen Mitteln er es aus dem Kurper des
Demonstranten vertrieben und durch Vitalfluidum ersetzt habe, und forderte
schließlich alle Anwesenden auf, Freunde wie Gegner, angesichts solch
uberwultigender Evidenz den Widerstand gegen die neue Lehre aufzugeben und
gemeinsam mit ihm, Taillade-Espinasse, das buse Fluidum zu bekumpfen und
sich dem guten vitalen Fluidum zu uffnen. Hierbei breitete er die Arme aus
und schlug die Augen gen Himmel, und viele der gelehrten Munner taten es ihm
gleich, und die Frauen weinten.
Grenouille stand auf dem Podest und hurte nicht zu. Er beobachtete mit
grußter Genugtuung die Wirkung eines ganz anderen Fluidums, eines viel
realeren: seines eignen. Er hatte sich, den ruumlichen Erfordernissen der
Aula entsprechend, sehr stark parfumiert, und die Aura seines Duftes
strahlte, kaum dass er das Podium bestiegen hatte, muchtig von ihm ab. Er
sah sie - in der Tat sah er sie sogar mit Augen! - die zuvorderst sitzenden
Zuschauer erfassen, sich weiter nach hinten fortpflanzen und endlich die
letzten Reihen und die Galerie erreichen. Und wen sie erfasste - das Herz im
Leibe sprang Grenouille vor Freude -, den verunderte sie sichtbar. Im Banne
seines Duftes, aber ohne sich dessen bewusst zu sein, wechselten die
Menschen ihren Gesichtsausdruck, ihr Gehabe, ihr Gefuhl. Wer ihn zunuchst
nur mit bassem Erstaunen beglotzt hatte, der sah ihn nun mit milderem Auge
an; wer zuruckgelehnt in seinem Stuhl verharrt hatte, mit kritisch
gefurchter Stirn und bedeutend herabgezogenen Mundwinkeln, der lehnte sich
jetzt lockerer nach vorn und bekam ein kindlich gelustes Gesicht; und selbst
in den Gesichtern der ungstlichen, der Verschreckten, der Allersensibelsten,
die seinen ehemaligen Anblick nur mit Entsetzen und seinen jetzigen immerhin
noch mit gehuriger Skepsis ertragen konnten, zeigten sich Anfluge von
Freundlichkeit, ja Sympathie, als sein Duft sie erreichte. Am Ende des
Vertrags erhob sich die ganze Versammlung und brach in frenetischen Jubel
aus. "Es lebe das vitale Fluidum! Es lebe Taillade-Espinasse! Hoch die
fluidale Theorie! Nieder mit der orthodoxen Medizin!" - so schrie das
gelehrte Volk von Montpellier, der bedeutendsten Universitutsstadt des
franzusischen Sudens, und der Marquis de la Taillade-Espinasse hatte die
grußte Stunde seines Lebens.
Grenouille aber, der nun von seinem Podest herunterstieg und sich unter
die Menge mischte, wusste, dass die Ovationen eigentlich ihm galten, ihm
Jean-Baptiste Grenouille allein, auch wenn keiner der Jubler im Saal davon
etwas ahnte.
Er blieb noch einige Wochen in Montpellier. Er hatte eine ziemliche
Beruhmtheit erlangt und wurde in die Salons eingeladen, wo man ihn nach
seinem Huhlenleben und nach seiner Heilung durch den Marquis befragte. Immer
wieder musste er die Geschichte von den Ruubern erzuhlen, die ihn
verschleppt hatten, und von dem Korb, der herabgelassen wurde, und von der
Leiter. Und jedesmal schmuckte er sie pruchtiger aus und erfand neue Details
hinzu. So bekam er wieder eine gewisse ubung im Sprechen - freilich eine
sehr beschrunkte, denn mit der Sprache hatte er es zeitlebens nicht - und,
was ihm wichtiger war, einen routinierteren Umgang mit der Luge.
Im Grunde, so stellte er fest, konnte er den Leuten erzuhlen, was er
wollte. Wenn sie einmal Vertrauen gefasst hatten - und sie fassten Vertrauen
zu ihm mit dem ersten Atemzug, den sie von seinem kunstlichen Geruch
inhalierten -, dann glaubten sie alles. Er bekam des weiteren eine gewisse
Sicherheit im gesellschaftlichen Umgang, wie er sie niemals besessen hatte.
Sie druckte sich sogar kurperlich aus. Es war, als sei er gewachsen. Sein
Buckel schien zu schwinden. Er ging beinahe vollkommen aufrecht. Und wenn er
angesprochen wurde, so zuckte er nicht mehr zusammen, sondern blieb aufrecht
stehen und hielt den auf ihn gerichteten Blicken stand. Freilich, es wurde
in dieser Zeit kein Mann von Welt aus ihm, kein Salonluwe oder souveruner
Gesellschafter. Aber es fiel doch zusehends das Verdruckte, Linkische von
ihm ab und machte einer Haltung Platz, die als naturliche Bescheidenheit
oder allenfalls als eine leichte angeborene Schuchternheit gedeutet wurde
und die auf manchen Herrn und manche Dame einen anruhrenden Eindruck machte
- man hatte damals in mondunen Kreisen ein Faible furs Naturliche und fur
eine Art ungehobelten Charmes.
Anfang Murz packte er seine Sachen und zog davon, heimlich, eines Tags
in aller Fruh, kaum dass die Tore geuffnet waren, bekleidet mit einem
unscheinbaren braunen Rock, den er am Vortag auf dem Altkleidermarkt
erworben hatte, und einem schubigen Hut, der sein Gesicht halb verdeckte.
Niemand erkannte ihn, niemand sah oder bemerkte ihn, denn er hatte an diesem
Tag mit Vorbedacht auf sein Parfum verzichtet. Und als der Marquis gegen
Mittag Nachforschungen anstellen ließ, schworen die Wachen Stein und
Bein, sie hutten zwar alle muglichen Leute die Stadt verlassen gesehen,
nicht aber jenen bekannten Huhlenmenschen, der ihnen ganz bestimmt
aufgefallen wure. Der Marquis ließ daraufhin verbreiten, Grenouille
habe Montpellier mit seinem Einverstundnis verlassen, um in
Familienangelegenheiten nach Paris zu reisen. Insgeheim urgerte er sich
allerdings furchterlich, denn er hatte vorgehabt, mit Grenouille eine
Tournee durch das ganze Kunigreich zu unternehmen, um Anhunger fur seine
Fluidaltheorie zu werben.
Nach einiger Zeit beruhigte er sich wieder, denn sein Ruhm verbreitete
sich auch ohne Tournee, fast ohne sein Zutun. Es erschienen lange Artikel
uber das fluidum letale Taillade im >Journal des Suavans< und sogar im
>Courier de l'Europe<, und von weit her kamen letalverseuchte
Patienten, um sich von ihm heilen zu lassen. Im Sommer 1764 grundete er die
erste >Loge des vitalen Fluidums<, die in Montpellier 120 Mitglieder
zuhlte und Zweigstellen in Marseille und Lyon einrichtete. Dann beschloss
er, den Sprung nach Paris zu wagen, um von dort die ganze zivilisierte Welt
fur seine Lehre zu erobern, wollte vorher aber noch zur propagandistischen
Unterstutzung seines Feldzugs eine fluidale Großtat vollbringen,
welche die Heilung des Huhlenmenschen sowie alle anderen Experimente in den
Schatten stellte, und ließ sich Anfang Dezember von einer Gruppe
unerschrockener Adepten zu einer Expedition auf den Pic du Canigou
begleiten, der auf demselben Meridian wie Paris lag und fur den huchsten
Berg der Pyrenuen galt. Der an der Schwelle zum Greisenalter stehende Mann
wollte sich auf den 2800 Meter hohen Gipfel tragen lassen und sich dort drei
Wochen lang der schiersten, frischesten Vitalluft aussetzen, um, wie er
verkundigte, punktlich am Heiligen Abend als kregler Jungling von zwanzig
Jahren wieder herabzusteigen.
Die Adepten gaben schon kurz hinter Vernet, der letzten menschlichen
Siedlung am Fuße des furchterlichen Gebirges, auf. Den Marquis jedoch
focht nichts an. In der Eiseskulte seine Kleider von sich werfend und laute
Jauchzer ausstoßend, begann er den Aufstieg allein. Das letzte, was
von ihm gesehen wurde, war seine Silhouette, die mit ekstatisch zum Himmel
erhobenen Hunden und singend im Schneesturm verschwand.
Am Heiligen Abend warteten die Junger vergebens auf die Wiederkunft des
Marquis de la Taillade-Espinasse. Er kam weder als Greis noch als Jungling.
Auch im Fruhsommer des nuchsten Jahres, als sich die Wagemutigsten auf die
Suche machten und den noch immer verschneiten Gipfel des Pic du Canigou
erklommen, fand sich nichts mehr von ihm, kein Kleidungsstuck, kein
Kurperteil, kein Knuchelchen.
Seiner Lehre tat dies freilich keinen Abbruch. Im Gegenteil. Es ging
bald die Sage, er habe sich auf der Spitze des Berges mit dem ewigen
Vitalfluidum vermuhlt, sich in es und es in sich aufgelust und schwebe
fortan unsichtbar, aber in ewiger Jugend uber den Gipfeln der Pyrenuen, und
wer hinaufsteige zu ihm, der werde seiner teilhaftig und bliebe ein Jahr
lang von Krankheit und vom Prozess des Alterns verschont. Bis weit ins 19.
Jahrhundert hinein wurde Taillades Fluidaltheorie an manchem medizinischen
Lehrstuhl verfochten und in vielen okkulten Vereinen therapeutisch
angewendet. Und noch heute gibt es zu beiden Seiten der Pyrenuen, namentlich
in Perpignan und Figueras, geheime Tailladistenlogen, die sich einmal im
Jahr treffen, um den Pic du Camgou zu besteigen.
Dort zunden sie ein großes Feuer an, vorgeblich aus Anlass der
Sonnenwende und zu Ehren des heiligen Johannes - in Wirklichkeit aber, um
ihrem Meister Taillade-Espinasse und seinem großen Fluidum zu huldigen
und um das ewige Leben zu erlangen.
Wuhrend Grenouille fur die erste Etappe seiner Reise durch Frankreich
sieben Jahre gebraucht hatte, brachte er die zweite in weniger als sieben
Tagen hinter sich. Er mied die belebten Straßen und die Studte nicht
mehr, er machte keine Umwege. Er hatte einen Geruch, er hatte Geld, er hatte
Selbstvertrauen, und er hatte es eilig.
Schon am Abend des Tages, da er Montpellier verlassen hatte, erreichte
er Le Grau-du-Roi, eine kleine Hafenstadt sudwestlich von Aigues-Mortes, wo
er sich auf einen Lastensegler nach Marseille einschiffte. In Marseille
verließ er den Hafen gar nicht erst, sondern suchte gleich ein Schiff,
das ihn weiter die Kuste entlang nach Osten brachte. Zwei Tage sputer war er
in Toulon, nach drei weiteren Tagen in Cannes. Den Rest des Weges ging er zu
Fuß. Er folgte einem Pfad, der landeinwurts nach Norden fuhrte, die
Hugel hinauf.
Nach zwei Stunden stand er auf der Kuppe, und vor ihm breitete sich ein
mehrere Meilen umfassendes Becken aus, eine Art riesiger landschaftlicher
Schussel, deren Umgrenzung ringsum aus sanft ansteigenden Hugeln und
schroffen Bergketten bestand und deren weite Mulde mit frischbestellten
Feldern, Gurten und Olivenhainen uberzogen war. Es lag ein vullig eignes,
sonderbar intimes Klima uber dieser Schussel. Obwohl das Meer so nah war,
dass man es von den Hugelkuppen aus sehen konnte, herrschte hier nichts
Maritimes, nichts Salzig-Sandiges, nichts Offenes, sondern stille
Abgeschiedenheit, ganz so, als wure man viele Tagesreisen von der Kuste
entfernt. Und obwohl nach Norden zu die großen Gebirge standen, auf
denen noch der Schnee lag und noch lange liegen wurde, war hier nichts
Rauhes oder Karges zu spuren und kein kalter Wind. Der Fruhling war weiter
vorangeschritten als in Montpellier. Ein milder Dunst deckte die Felder wie
eine gluserne Glocke. Aprikosen- und Mandelbuume bluhten, und die warme Luft
durchzog der Duft von Narzissen.
Am anderen Ende der großen Schussel, vielleicht zwei Meilen
entfernt, lag, oder besser gesagt, klebte an den ansteigenden Bergen eine
Stadt. Sie machte aus der Entfernung gesehen keinen besonders pompusen
Eindruck. Da war kein muchtiger Dom, der die Huuser uberragte, bloß
ein kleiner Stumpen von Kirchturm, keine dominierende Feste, kein auffallend
pruchtiges Gebuude. Die Mauern schienen alles andere als trutzig, da und
dort quollen die Huuser uber ihre Begrenzung hinaus, vor allem nach unten
zur Ebene hin, und verliehen dem Weichbild ein etwas zerfleddertes Aussehen.
Es war, als sei dieser Ort schon zu oft erobert und wieder entsetzt worden,
als sei er es mude, kunftigen Eindringlingen noch ernsthaften Widerstand
entgegenzusetzen - aber nicht aus Schwuche, sondern aus Lussigkeit oder
sogar aus einem Gefuhl von Sturke. Er sah aus, als habe er es nicht nutig zu
prunken. Er beherrschte die große duftende Schussel zu seinen
Fußen, und das schien ihm zu genugen.
Dieser zugleich unansehnliche und selbstbewusste Ort war die Stadt
Grasse, seit einigen Jahrzehnten unumstrittene Produktions- und
Handelsmetropole fur Duftstoffe, Parfumeriewaren, Seifen und ule. Giuseppe
Baldini hatte ihren Namen immer mit schwurmerischer Verzuckung
ausgesprochen. Ein Rom der Dufte sei die Stadt, das gelobte Land der
Parfumeure, und wer nicht seine Sporen hier verdient habe, der trage nicht
zu Recht den Namen Parfumeur.
Grenouille sah mit sehr nuchternem Blick auf die Stadt Grasse. Er
suchte kein gelobtes Land der Parfumerie, und ihm ging das Herz nicht auf im
Angesicht des Nestes, das da druben an den Hungen klebte. Er war gekommen,
weil er wusste, dass es dort einige Techniken der Duftgewinnung besser zu
lernen gab als anderswo. Und diese wollte er sich aneignen, denn er brauchte
sie fur seine Zwecke. Er zog den Flakon mit seinem Parfum aus der Tasche,
betupfte sich sparsam und machte sich auf den Weg. Anderthalb Stunden
sputer, gegen Mittag, war er in Grasse.
Er aß in einem Gasthof am oberen Ende der Stadt, an der Place aux
Aires. Der Platz war der Lunge nach von einem Bach durchschnitten, an dem
die Gerber ihre Huute wuschen, um sie anschließend zum Trocknen
auszubreiten. Der Geruch war so stechend, dass manchem der Guste der
Geschmack am Essen verging. Ihm, Grenouille, nicht. Ihm war der Geruch
vertraut, ihm gab er ein Gefuhl von Sicherheit. In allen Studten suchte er
immer zuerst die Viertel der Gerber auf. Es war ihm dann, als sei er, aus
der Sphure des Gestankes kommend und von dort aus die anderen Regionen des
Orts erkundend, kein Fremdling mehr.
Den ganzen Nachmittag uber durchstreifte er die Stadt. Sie war
unglaublich schmutzig, trotz oder vielmehr gerade wegen des vielen Wassers,
das aus Dutzenden von Quellen und Brunnen sprudelte, in ungeregelten Buchen
und Rinnsalen stadtabwurts gurgelte und die Gassen unterminierte oder mit
Schlamm uberschwemmte. Die Huuser standen in manchen Vierteln so dicht, dass
fur die Durchlusse und Treppchen nur noch eine Elle weit Platz blieb und
sich die im Schlamm watenden Passanten aneinander vorbeipressen mussten. Und
selbst auf den Plutzen und den wenigen breiteren Straßen konnten die
Fuhrwerke einander kaum ausweichen.
Dennoch, bei allem Schmutz, bei aller Schmuddligkeit und Enge, barst
die Stadt vor gewerblicher Betriebsamkeit. Nicht weniger als sieben
Seifenkochereien machte Grenouille bei seinem Rundgang aus, ein Dutzend
Parfumerie- und Handschuhmachermeister, unzuhlige kleinere Destillen,
Pomadeateliers und Spezereien und schließlich einige sieben Hundler,
die Dufte en gros vertrieben.
Dies waren nun allerdings Kaufleute, die uber wahre
Duftstoffgroßkontore verfugten. Anzusehen war es ihren Huusern oftmals
kaum. Die zur Straße hin gelegenen Fassaden sahen burgerlich
bescheiden aus. Doch was dahinter lagerte, auf Speichern und in riesenhaften
Kellern, an Fussern von ul, an Stapeln von feinster Lavendelseife, an
Ballons von Blutenwussern, Weinen, Alkoholen, an Ballen von Duftleder, an
Sucken und Truhen und Kisten, vollgestopft mit Gewurzen... - Grenouille roch
es in allen Einzelheiten durch die dicksten Mauern -, das waren Reichtumer,
wie sie Fursten nicht besaßen. Und wenn er schurfer hinroch, durch die
zur Straße gelegenen prosaischen Geschufts- und Lagerruume hindurch,
dann entdeckte er, dass auf der Ruckseite dieser kleinkarierten Burgerhuuser
sich Gebuulichkeiten der luxuriusesten Art befanden. Um kleine, aber
reizende Gurten, in denen Oleander und Palmen gediehen und zierliche von
Rabatten umfasste Springbrunnen gur gelten, dehnten sich, meist U-furmig
nach Suden gebaut, die eigentlichen Flugel der Anwesen aus:
sonnendurchflutete, seidentapetenbespannte Schlafgemucher in den
Obergeschossen, pruchtige mit exotischem Holz getufelte Salons zu ebener
Erde und Speisesule, bisweilen terrassenhaft ins Freie vorgebaut, in denen
tatsuchlich, wie Baldini erzuhlt hatte, mit goldenem Besteck von
porzellanenen Tellern gegessen wurde. Die Herren, die hinter diesen
bescheidenen Kulissen wohnten, rochen nach Gold und nach Macht, nach
schwerem gesichertem Reichtum, und sie rochen sturker danach als alles, was
Grenouille bisher auf seiner Reise durch die Provinz in dieser Hinsicht
gerochen hatte.
Vor einem der camouflierten Palazzi blieb er lungere Zeit stehen. Das
Haus befand sich am Anfang der Rue Droite, einer Hauptstraße, die die
Stadt in ihrer ganzen Lunge von Westen nach Osten durchzog. Es war nicht
außergewuhnlich anzusehen, wohl etwas breiter und behubiger an der
Front als die Nachbargebuude, aber durchaus nicht imposant. Vor der
Toreinfahrt stand ein Wagen mit Fussern, die uber eine Pritsche entladen
wurden. Ein zweites Fuhrwerk wartete. Ein Mann ging mit Papieren ins Kontor,
kam mit einem anderen Mann wieder heraus, beide verschwanden in der
Toreinfahrt. Grenouille stand an der gegenuberliegenden Straßenseite
und sah dem Treiben zu. Was da vor sich ging, interessierte ihn nicht.
Trotzdem blieb er stehen. Irgendetwas hielt ihn fest.
Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Geruche, die ihm
von dem Gebuude gegenuber zuflogen. Da waren die Geruche der Fusser, Essig
und Wein, dann die hundertfultigen schweren Geruche des Lagers, dann die
Geruche des Reichtums, die aus den Mauern transpirierten wie feiner goldener
Schweiß, und schließlich die Geruche eines Gartens, der auf der
anderen Seite des Hauses liegen musste. Es war nicht leicht, diese zarteren
Dufte des Gartens aufzufangen, denn sie zogen nur in dunnen Streifen uber
den Giebel des Hauses hinweg herab auf die Straße. Grenouille machte
Magnolien aus, Hyazinthen, Seidelbast und Rhododendron... - aber da schien
noch etwas anderes zu sein, etwas murderisch Gutes, was in diesem Garten
duftete, ein Geruch so exquisit, wie er ihn in seinem Leben noch nicht -
oder doch nur ein einziges Mal - in die Nase bekommen hatte... Er musste
nuher an diesen Duft heran.
Er uberlegte, ob er einfach durch die Toreinfahrt in das Anwesen
eindringen sollte. Aber da waren unterdessen so viele Leute mit dem Abladen
und dem Kontrollieren der Fusser beschuftigt, dass er sicher aufgefallen
wure. Er entschloss sich, die Straße zuruckzugehen, um eine Gasse oder
einen Durchlaß zu finden, der vielleicht an der Querseite des Hauses
entlangfuhrte. Nach wenigen Metern hatte er das Stadttor am Beginn der Rue
Droite erreicht. Er durchschritt es, hielt sich scharf links und folgte dem
Verlauf der Stadtmauer bergabwurts. Nicht weit, und er roch den Garten, erst
schwach, noch mit der Luft der Felder vermischt, dann immer sturker.
Schließlich wusste er, dass er ihm ganz nahe war. Der Garten grenzte
an die Stadtmauer. Er war direkt neben ihm. Wenn er ein wenig zurucktrat,
konnte er uber die Mauer hinweg die obersten Zweige der Orangenbuume sehen.
Wieder schloss er die Augen. Die Dufte des Gartens fielen uber ihn her,
deutlich und klar konturiert wie die farbigen Bunder eines Regenbogens. Und
der eine, der kostbare, der, auf den es ihm ankam, war darunter. Grenouille
wurde es heiß vor Wonne und kalt vor Schrecken. Das Blut stieg ihm zu
Kopfe wie einem ertappten Buben, und es wich zuruck in die Mitte des
Kurpers, und es stieg wieder und wich wieder, und er konnte nichts dagegen
tun. Zu plutzlich war diese Geruchsattacke gekommen. Fur einen Augenblick,
fur einen Atemzug lang, fur die Ewigkeit schien ihm, als sei die Zeit
verdoppelt oder radikal verschwunden, denn er wusste nicht mehr, war jetzt
jetzt und war hier hier, oder war nicht vielmehr jetzt damals und hier dort,
numlich Rue des Marais in Paris, September 1753: Der Duft, der aus dem
Garten heruberwehte, war der Duft des rothaarigen Mudchens, das er damals
ermordet hatte. Dass er diesen Duft in der Welt wiedergefunden hatte, trieb
ihm Trunen der Gluckseligkeit in die Augen - und dass es nicht wahr sein
konnte, ließ ihn zu Tode erschrecken.
Ihm schwindelte, und er taumelte ein wenig und musste sich gegen die
Mauer stutzen und langsam an ihr herab in die Hocke gleiten lassen. Sich
dort versammelnd und seinen Geist bezuhmend, begann er, den fatalen Duft in
kurzeren, weniger riskanten Atemzugen einzuziehen. Und er stellte fest, dass
der Duft hinter der Mauer dem Duft des rothaarigen Mudchens zwar extrem
uhnlich, aber nicht vollkommen gleich war. Freilich stammte er ebenfalls von
einem rothaarigen Mudchen, daran war kein Zweifel muglich. Grenouille sah
dieses Mudchen in seiner olfaktorischen Vorstellung wie auf einem Bilde vor
sich: Es saß nicht still, sondern es sprang hin und her, es erhitzte
sich und kuhlte sich wieder ab, offenbar spielte es ein Spiel, bei dem man
sich rasch bewegen und rasch wieder stillstehen musste - mit einer zweiten
Person ubrigens von vullig unsignifikantem Geruch. Es hatte
blendendweiße Haut. Es hatte grunliche Augen. Es hatte Sommersprossen
im Gesicht, am Hals und an den Brusten... das heisst - Grenouille stockte
fur einen Moment der Atem, dann schnupperte er heftiger und versuchte, die
Geruchserinnerung an das Mudchen aus der Rue des Marais zuruckzudrungen -...
das heißt, dieses Mudchen hatte noch gar keine Bruste im wahren Sinne
des Wortes! Es hatte kaum beginnende Ansutze von Brusten. Es hatte unendlich
zart und gering duftende, von Sommersprossen umsprenkelte, sich vielleicht
erst seit wenigen Tagen, vielleicht erst seit wenigen Stunden,... seit
diesem Augenblick eigentlich erst, sich zu dehnen beginnende Huubchen von
Brustchen. Mit einem Wort: Das Mudchen war noch ein Kind. Aber was fur ein
Kind!
Grenouille stand der Schweiß auf der Stirn. Er wusste, dass
Kinder nicht sonderlich rochen, ebensowenig wie die grun
aufschießenden Blumen vor ihrer Blute. Diese aber, diese fast noch
geschlossene Blute hinter der Mauer, die gerade eben erst, und noch von
niemandem als ihm, Grenouille, bemerkt, die ersten duftenden Spitzen
hervortrieb, duftete schon jetzt so haarstruubend himmlisch, dass, wenn sie
sich erst zu ganzer Pracht entfaltet haben wurde, sie ein Parfum verstrumen
wurde, wie es die Welt noch nicht gerochen hatte. Sie riecht schon jetzt
besser, dachte Grenouille, als damals das Mudchen aus der Rue des Marais -
nicht so kruftig, nicht so voluminus, aber feiner, facettenreicher und
zugleich naturlicher. In ein bis zwei Jahren aber wurde dieser Geruch
gereift sein und eine Wucht bekommen, der sich kein Mensch, weder Mann noch
Frau, wurde entziehen kunnen. Und die Leute wurden uberwultigt sein,
entwaffnet, hilflos vor dem Zauber dieses Mudchens, und sie wurden nicht
wissen, warum. Und weil sie dumm sind und ihre Nasen nur zum Schnaufen
gebrauchen kunnen, alles und jedes aber mit ihren Augen zu erkennen glauben,
wurden sie sagen, es sei, weil dieses Mudchen Schunheit besitze und Grazie
und Anmut. Sie wurden in ihrer Beschrunktheit seine ebenmußigen Zuge
ruhmen, die schlanke Figur, den tadellosen Busen. Und ihre Augen, wurden sie
sagen, seien wie Smaragde und die Zuhne wie Perlen und ihre Glieder
elfenbeinglatt - und was der idiotischen Vergleiche noch mehr sind. Und sie
wurden sie zur Jasminkunigin kuren, und sie wurde gemalt werden von bluden
Portrutisten, ihr Bild wurde begafft werden, man wurde sagen, sie sei die
schunste Frau Frankreichs. Und Junglinge werden nuchtelang zu
Mandolinenklungen heulend unter ihrem Fenster sitzen... dicke reiche alte
Munner auf den Knien rutschend ihren Vater um ihre Hand anbetteln... und
Frauen jeden Alters werden bei ihrem Anblick seufzen und im Schlaf davon
truumen, nur einen Tag lang so verfuhrerisch auszusehen wie sie. Und sie
werden alle nicht wissen, dass es nicht ihr Aussehen ist, dem sie in
Wahrheit verfallen sind, nicht ihre angeblich makellose uußere
Schunheit, sondern einzig ihr unvergleichlicher, herrlicher Duft! Nur er
wurde es wissen, er Grenouille, er allein. Er wusste es ja jetzt schon.
Ach! Er wollte diesen Duft haben! Nicht auf so vergebliche, tuppische
Weise haben wie damals den Duft des Mudchens aus der Rue des Marais. Den
hatte er ja nur in sich hineingesoffen und damit zersturt. Nein, den Duft
des Mudchens hinter der Mauer wollte er sich wahrhaftig aneignen; ihn wie
eine Haut von ihr abziehen und zu seinem eigenen Duft machen. Wie das
geschehen sollte, wusste er noch nicht. Aber er hatte ja zwei Jahre Zeit, es
zu lernen. Es konnte im Grunde nicht schwieriger sein, als den Duft einer
seltenen Blume zu rauben.
Er stand auf. Anduchtig fast, als verließe er etwas Heiliges oder
eine Schluferin, entfernte er sich, geduckt, leise, dass niemand ihn sehe,
niemand ihn hure, niemand auf seinen kustlichen Fund aufmerksam werde. So
floh er an der Mauer entlang bis ans entgegengesetzte Ende der Stadt, wo
sich das Mudchenparfum endlich verlor und er an der Porte des Feneants
wieder Einlass fand. Im Schatten der Huuser blieb er stehen. Der stinkende
Dunst der Gassen gab ihm Sicherheit und half ihm, die Leidenschaft, die ihn
uberfallen hatte, zu bundigen. Nach einer Viertelstunde war er wieder
vollkommen ruhig geworden. Furs erste, dachte er, wurde er nicht mehr in die
Nuhe des Gartens hinter der Mauer gehen. Es war nicht nutig. Es erregte ihn
zu sehr. Die Blume dort gedieh ohne sein Zutun, und auf welche Weise sie
gedeihen wurde, wusste er ohnehin. Er durfte sich nicht zur Unzeit an ihrem
Duft berauschen. Er musste sich in Arbeit sturzen. Er musste seine
Kenntnisse erweitern und seine handwerklichen Fuhigkeiten vervollkommnen, um
fur die Zeit der Ernte gerustet zu sein. Er hatte noch zwei Jahre Zeit.
Nicht weit von der Porte des Feneants, in der Rue de la Louve,
entdeckte Grenouille ein kleines Parfumeuratelier und fragte nach Arbeit.
Es erwies sich, dass der Patron, Maitre Parfumeur Honore Arnulfi, im
vergangenen Winter verstorben war und dass seine Witwe, eine lebhafte
schwarzhaarige Frau von vielleicht dreißig Jahren, das Geschuft allein
mit Hilfe eines Gesellen fuhrte.
Madame Arnulfi, nachdem sie lange uber die schlechten Zeiten und uber
ihre prekure wirtschaftliche Lage geklagt hatte, erklurte, dass sie sich
zwar eigentlich keinen zweiten Gesellen leisten kunne, andrerseits aber
wegen der vielen anfallenden Arbeit dringend einen brauche; dass sie
außerdem einen zweiten Gesellen hier bei sich im Hause gar nicht wurde
beherbergen kunnen, andrerseits aber uber eine kleine Kabane auf ihrem
Olivengarten hinter dem Franziskanerkloster - keine zehn Minuten von hier -
verfuge, in welcher ein anspruchsloser junger Mensch zur Not wurde nuchtigen
kunnen; dass sie ferner zwar als ehrliche Meisterin um ihre Verantwortung
fur das leibliche Wohl ihrer Gesellen wisse, sich aber andrerseits ganz
außerstande sehe, zwei warme Mahlzeiten am Tag zu gewuhren - mit einem
Wort: Madame Arnulfi war - was Grenouille freilich schon lungst gerochen
hatte - eine Frau von gesundem Wohlstand und gesundem Geschuftssinn. Und da
es ihm selber auf Geld nicht ankam und er sich mit zwei Franc Lohn pro Woche
und den ubrigen durftigen Bedingungen zufrieden erklurte, wurden sie schnell
einig. Der erste Geselle wurde gerufen, ein riesenhafter Mann namens Druot,
von dem Grenouille sofort erriet, dass er gewohnt war, Madames Bett zu
teilen, und ohne dessen Konsultation sie offenbar gewisse Entscheidungen
nicht traf. Er stellte sich vor Grenouille hin, der in Gegenwart dieses
Hunen geradezu lucherlich windig aussah, breitbeinig, eine Wolke von
Spermiengeruch verbreitend, musterte ihn, fasste ihn scharf ins Auge, als
wolle er auf diese Weise irgendwelche unlauteren Absichten oder einen
muglichen Nebenbuhler erkennen, grinste schließlich herablassend und
gab mit einem Nicken sein Einverstundnis.
Damit war alles geregelt. Grenouille erhielt einen Hundedruck, ein
kaltes Abendbrot, eine Decke und den Schlussel fur die Kabane, einen
fensterlosen Verschlag, der angenehm nach altem Schafmist und Heu roch und
in dem er sich, so gut es ging, einrichtete. Am nuchsten Tag trat er seine
Arbeit bei Madame Arnulfi an.
Es war die Zeit der Narzissen. Madame Arnulfi ließ die Blumen auf
eigenen kleinen Parzellen Landes ziehen, die sie unterhalb der Stadt in der
großen Schussel besaß, oder sie kaufte sie von den Bauern, mit
denen sie um jedes Lot erbittert feilschte. Die Bluten wurden schon in aller
Fruh geliefert, kurbeweise in das Atelier geschuttet, zehntausendfach, in
voluminusen, aber federleichten duftenden Haufen. Druot unterdessen
verflussigte in einem großen Kessel Schweine- und Rindertalg zu einer
cremigen Suppe, in die er, wuhrend Grenouille unaufhurlich mit einem
besenlangen Spatel ruhren musste, scheffelweise die frischen Bluten
schuttete. Wie zu Tode erschreckte Augen lagen sie fur eine Sekunde auf der
Oberfluche und erbleichten in dem Moment, da der Spatel sie unterruhrte und
das warme Fett sie umschloss. Und fast im selben Moment waren sie auch schon
erschlafft und verwelkt, und offenbar kam der Tod so rasch uber sie, dass
ihnen gar keine andere Wahl mehr blieb, als ihren letzten duftenden Seufzer
eben jenem Medium einzuhauchen, das sie ertrunkte; denn - Grenouille
gewahrte es zu seinem unbeschreiblichen Entzucken - je mehr Bluten er in
seinem Kessel unterruhrte, desto sturker duftete das Fett. Und zwar waren es
nicht etwa die toten Bluten, die im Fett weiterdufteten, nein, es war das
Fett selbst, das sich den Duft der Bluten angeeignet hatte.
Mitunter wurde die Suppe zu dick, und sie mussten sie rasch durch
große Siebe gießen, um sie von den ausgelaugten Leichen zu
befreien und fur frische Blutenbereit zu machen. Dann scheffelten und
ruhrten und seihten sie weiter, den ganzen Tag uber ohne Pause, denn das
Geschuft duldete keine Verzugerung, bis gegen Abend der ganze Blutenhaufen
durch den Fettkessel gewandert war. Die Abfulle wurden - damit auch nichts
verloren ginge - mit kochendem Wasser uberbruht und in einer Spindelpresse
bis zum letzten Tropfen ausgewrungen, was immerhin noch ein zart duftendes
ul abgab. Das Gros des Duftes aber, die Seele eines Meeres von Bluten, war
im Kessel verblieben, eingeschlossen und bewahrt im unansehnlich
grauweißen, nun langsam erstarrenden Fett.
Am kommenden Tag wurde die Mazeration, wie man diese Prozedur nannte,
fortgesetzt, der Kessel wieder angeheizt, das Fett verflussigt und mit neuen
Bluten beschickt. So ging es mehrere Tage lang von fruh bis sput. Die Arbeit
war anstrengend. Grenouille hatte bleierne Arme, Schwielen an den Hunden und
Schmerzen im Rucken, wenn er abends in seine Kabane wankte. Druot, der wohl
dreimal so kruftig wie er war, luste ihn kein einziges Mal beim Ruhren ab,
sondern begnugte sich, die federleichten Bluten nachzuschutten, auf das
Feuer aufzupassen und gelegentlich, der Hitze wegen, einen Schluck trinken
zu gehen. Aber Grenouille muckte nicht auf. Klaglos ruhrte er die Bluten ins
Fett, von morgens bis abends, und spurte wuhrend des Ruhrens die Anstrengung
kaum, denn er war immer aufs neue fasziniert von dem Prozess, der sich unter
seinen Augen und unter seiner Nase abspielte: dem raschen Welken der Bluten
und der Absorption ihres Duftes.
Nach einiger Zeit entschied Druot, dass das Fett nun gesuttigt sei und
keinen weiteren Duft mehr absorbieren kunne. Sie luschten das Feuer, seihten
die schwere Suppe zum letzten Mal ab und fullten sie in Tiegel aus Steingut,
wo sie sich alsbald zu einer herrlich duftenden Pomade verfestigte.
Dies war die Stunde von Madame Arnulfi, die kam, um das kostbare
Produkt zu prufen, zu beschriften und die Ausbeute genauestens nach Qualitut
und Quantitut in ihren Buchern zu verzeichnen. Nachdem sie die Tiegel
huchstpersunlich verschlossen, versiegelt und in die kuhlen Tiefen ihres
Kellers getragen hatte, zog sie ihr schwarzes Kleid an, nahm ihren
Witwenschleier und machte die Runde bei den Kaufleuten und
Parfumhandelshuusern der Stadt. Mit bewegenden Worten schilderte sie den
Herren ihre Situation als alleinstehende Frau, ließ sich Angebote
machen, verglich die Preise, seufzte und verkaufte endlich - oder verkaufte
nicht. Parfumierte Pomade, kuhl gelagert, hielt sich lange. Und wenn die
Preise jetzt zu wunschen ubrigließen, wer weiß, vielleicht
kletterten sie im Winter oder nuchsten Fruhjahr in die Huhe. Auch war zu
uberlegen, ob man nicht, statt diesen Pfeffersucken zu verkaufen, mit andern
kleinen Produzenten gemeinsam eine Ladung Pomade nach Genua verschiffen oder
sich an einem Konvoi zur Herbstmesse in Beaucaire beteiligen sollte -
riskante Unternehmungen, gewiss, doch im Erfolgsfall uußerst
eintruglich. Diese verschiedenen Muglichkeiten wog Madame Arnulfi sorgsam
gegeneinander ab, und manchmal verband sie sie auch und verkaufte einen Teil
ihrer Schutze, hob einen anderen auf und handelte mit einem dritten auf
eigenes Risiko. Hatte sie allerdings bei ihren Erkundigungen den Eindruck
gewonnen, der Pomademarkt sei ubersuttigt und werde sich in absehbarer Zeit
nicht zu ihren Gunsten verknappen, so eilte sie wehenden Schleiers nach
Hause und gab Druot den Auftrag, die ganze Produktion einer Lavage zu
unterziehen und sie in Essence Absolue zu verwandeln.
Und dann wurde die Pomade wieder aus dem Keller geholt, in
verschlossenen Tupfen aufs Vorsichtigste erwurmt, mit feinstem Weingeist
versetzt und vermittels eines eingebauten Ruhrwerks, welches Grenouille
bediente, grundlich durchgemischt und ausgewaschen. Zuruck in den Keller
verbracht, kuhlte diese Mischung rasch aus, der Alkohol schied sich vom
erstarrenden Fett der Pomade und konnte in eine Flasche abgelassen werden.
Er stellte nun quasi ein Parfum dar, allerdings von enormer Intensitut,
wuhrend die zuruckbleibende Pomade den grußten Teil ihres Duftes
verloren hatte. Abermals also war der Blutenduft auf ein anderes Medium
ubergegangen. Doch damit war die Operation noch nicht zu Ende. Nach
grundlicher Filtrage durch Gazetucher, in denen auch die kleinsten Klumpchen
Fett zuruckgehalten wurden, fullte Druot den parfumierten Alkohol in einen
kleinen Alambic und destillierte ihn uber dezentestem Feuer langsam ab. Was
nach der Verfluchtigung des Alkohols in der Blase zuruckblieb, war eine
winzige Menge blass gefurbter Flussigkeit, die Grenouille wohlbekannt war,
die er aber in dieser Qualitut und Reinheit weder bei Baldini noch etwa bei
Runel gerochen hatte: Das schiere ul der Bluten, ihr blanker Duft,
hunderttausendfach konzentriert zu einerkleinen Pfutze Essence Absolue.
Diese Essenz roch nicht mehr lieblich. Sie roch beinahe schmerzhaft
intensiv, scharf und beizend. Und doch genugte schon ein Tropfen davon,
aufgelust in einem Liter Alkohol, um sie wieder zu beleben und ein ganzes
Feld von Blumen geruchlich wiederauferstehen zu lassen.
Die Ausbeute war furchterlich gering. Gerade drei kleine Flakons fullte
die Flussigkeit aus der Destillierblase. Mehr war von dem Duft von
hunderttausend Bluten nicht ubriggeblieben als drei kleine Flakons. Aber sie
waren ein Vermugen wert, schon hier in Grasse. Und um wie viel mehr noch,
wenn man sie nach Paris verschickte oder nach Lyon, nach Grenoble, nach
Genua oder Marseille! Madame Arnulfi bekam einen schmelzend schunen Blick
beim Anschauen dieser Fluschchen, sie liebkoste sie mit Augen, und als sie
sie nahm und mit fugig geschliffenen Glaspfropfen verstupselte, hielt sie
den Atem an, um nur ja nichts vom kostbaren Inhalt zu verblasen. Und damit
auch nach dem Verstupseln nicht das kleinste Atom verdunstenderweise
entweiche, versiegelte sie die Pfropfen mit flussigem Wachs und umkapselte
sie mit einer Fischblase, die sie am Flaschenhals fest verschnurte. Dann
stellte sie sie in ein wattegefuttertes Kustchen und brachte sie im Keller
hinter Schloss und Riegel.
Im April mazerierten sie Ginster und Orangenblute, im Mai ein Meer von
Rosen, deren Duft die Stadt fur einen ganzen Monat in einen
cremigsußen unsichtbaren Nebel tauchte. Grenouille arbeitete wie ein
Pferd. Bescheiden, mit fast sklavenhafter Bereitschaft fuhrte er all die
untergeordneten Tutigkeiten aus, die Druot ihm auftrug. Aber wuhrend er
scheinbar stumpfsinnig ruhrte, spachtelte, Bottiche wusch, die Werkstatt
putzte oder Feuerholz schleppte, entging seiner Aufmerksamkeit nichts von
den wesentlichen Dingen des Geschufts, nichts von der Metamorphose der
Dufte. Genauer als Druot es je vermocht hutte, mit seiner Nase numlich,
verfolgte und uberwachte Grenouille die Wanderung der Dufte von den Bluttern
der Bluten uber das Fett und den Alkohol bis in die kustlichen kleinen
Flakons. Er roch, lange ehe Druot es bemerkte, wann sich das Fett zu stark
erhitzte, er roch, wann die Blute erschupft, wann die Suppe mit Duft
gesuttigt war, er roch, was im Innern der Mischgefuße geschah und zu
welchem pruzisen Moment der Destillationsprozess beendet werden musste. Und
gelegentlich gab er sich zu verstehen, freilich ganz unverbindlich und ohne
seine unterwurfige Attitude abzulegen. Ihm komme so vor, sagte er, als sei
das Fett jetzt womuglich zu heiß geworden; er glaube fast, man kunne
demnuchst abseihen; er habe es irgendwie im Gefuhl, als sei der Alkohol im
Alambic jetzt verdunstet... Und Druot, der zwar nicht gerade fabelhaft
intelligent, aber auch nicht vullig dumpfkupfig war, bekam mit der Zeit
heraus, dass er mit seinen Entscheidungen justament dann am besten fuhr,
wenn er das tat oder anordnete, was Grenouille gerade "so glaubte" oder
"irgendwie im Gefuhl" hatte. Und da Grenouille niemals vorlaut oder
besserwisserisch uußerte, was er glaubte oder im Gefuhl hatte, und
weil er niemals und vor allem niemals in Gegenwart von Madame Arnulfi -
Druots Autoritut und seine pruponderante Stellung als des ersten Gesellen
auch nur ironisch in Zweifel gezogen hutte, sah Druot keinen Anlass,
Grenouilles Ratschlugen nicht zu folgen, ja, ihm sogar nicht mit der Zeit
immer mehr Entscheidungen ganz offen zu uberlassen.
Immer huufiger geschah es, dass Grenouille nicht mehr nur ruhrte,
sondern zugleich auch beschickte, heizte und siebte, wuhrend Druot auf einen
Sprung in die >Quatre Dauphins< verschwand, fur ein Glas Wein, oder
hinauf zu Madame, um dort nach dem Rechten zu sehn. Er wusste, dass er sich
auf Grenouille verlassen konnte. Und Grenouille, obwohl er doppelte Arbeit
verrichtete, genoss es, allein zu sein, sich in der neuen Kunst zu
perfektionieren und gelegentlich kleine Experimente zu machen. Und mit
diebischer Freude stellte er fest, dass die von ihm bereitete Pomade
ungleich feiner, dass seine Essence Absolue um Grade reiner war als die
gemeinsam mit Druot erzeugte.
Ende Juli begann die Zeit des Jasmins, im August die der
Nachthyazinthe. Beide Blumen waren von so exquisitem und zugleich fragilem
Parfum, dass ihre Bluten nicht nur vor Sonnenaufgang gepfluckt werden
mussten, sondern auch die speziellste, zarteste Verarbeitung erheischten.
Wurme verminderte ihren Duft, das plutzliche Bad im heißen
Mazerationsfett hutte ihn vullig zersturt. Diese edelsten aller Bluten
ließen sich ihre Seele nicht einfach entreißen, man musste sie
ihnen regelrecht abschmeicheln. In einem besonderen Beduftungsraum wurden
sie auf mit kuhlem Fett bestrichene Platten gestreut oder locker in
ulgetrunkte Tucher gehullt und mussten sich langsam zu Tode schlafen. Erst
nach drei oder vier Tagen waren sie verwelkt und hatten ihren Duft an das
benachbarte Fett und ul abgeatmet. Dann zupfte man sie vorsichtig ab und
streute frische Bluten aus. Der Vorgang wurde wohl zehn, zwanzig Mal
wiederholt, und bis sich die Pomade sattgesogen hatte und das duftende ul
aus den Tuchern abgepresst werden konnte, war es September geworden. Die
Ausbeute war noch um ein Wesentliches geringer als bei der Mazeration. Die
Qualitut aber einer solchen durch kalte Enfleurage gewonnenen Jasminpaste
oder eines Huile Antique de Tubereuse ubertraf die jedes anderen Produkts
der parfumistischen Kunst an Feinheit und Originaltreue. Namentlich beim
Jasmin schien es, als habe sich der sußhaftende, erotische Duft der
Blute auf den Fettplatten wie in einem Spiegel abgebildet und strahle nun
vullig naturgetreu zuruck - cum grano salis freilich. Denn Grenouilles Nase
erkannte selbstverstundlich noch den Unterschied zwischen dem Geruch der
Blute und ihrem konservierten Duft: Wie ein zarter Schleier lag da der
Eigengeruch des Fetts - es mochte so rein sein, wie es wollte - uber dem
Duftbild des Originals, milderte es, schwuchte das Eklatante sanft ab,
machte vielleicht sogar seine Schunheit fur gewuhnliche Menschen uberhaupt
erst ertruglich... In jedem Falle aber war die kalte Enfleurage das
raffinierteste und wirksamste Mittel, zarte Dufte einzufangen. Ein besseres
gab es nicht. Und wenn die Methode auch nicht genugte, Grenouilles Nase
vollkommen zu uberzeugen, so wusste er doch, dass sie zur Dupierung einer
Welt von Dumpfnasen tausendmal hinreichte.
Schon nach kurzer Zeit hatte er seinen Lehrmeister Druot, ebenso wie
beim Mazerieren, auch in der Kunst der kalten Beduftung uberflugelt und ihm
dies auf die bewuhrte, unterwurfig diskrete Weise klargemacht. Druot
uberließ es ihm gerne, hinaus zum Schlachthof zu gehen und dort die
geeignetsten Fette zu kaufen, sie zu reinigen, auszulassen, zu filtrieren
und ihr Mischverhultnis zu bestimmen - eine fur Druot immer huchst diffizile
und gefurchtete Aufgabe, denn ein unreines, ranziges oder zu sehr nach
Schwein, Hammel oder Rind riechendes Fett konnte die kostbarste Pomade
ruinieren. Er uberließ es ihm, den Abstand der Fettplatten im
Beduftungsraum, den Zeitpunkt des Blutenwechsels, den Suttigungsgrad der
Pomade zu bestimmen, uberließ ihm bald alle prekuren Entscheidungen,
die er, Druot, uhnlich wie seinerzeit Baldini, immer nur ungefuhr nach
angelernten Regeln treffen konnte, die Grenouille aber mit dem Wissen seiner
Nase traf - was Druot freilich nicht ahnte.
"Er hat eine gluckliche Hand", sagte Druot, "er hat ein gutes Gefuhl
fur die Dinge." Und manchmal dachte er auch: "Er ist ganz einfach viel
begabter als ich, er ist ein hundertmal besserer Parfumeur." Und zugleich
hielt er ihn fur einen ausgemachten Trottel, da Grenouille, wie er glaubte,
nicht das geringste Kapital aus seiner Begabung schlug, er aber, Druot, es
mit seinen bescheideneren Fuhigkeiten demnuchst zum Meister bringen wurde.
Und Grenouille besturkte ihn in dieser Meinung, gab sich mit Fleiß
dummlich, zeigte nicht den geringsten Ehrgeiz, tat, als wisse er gar nichts
von seiner eigenen Genialitut, sondern als handle er nur nach den
Anordnungen des viel erfahreneren Druot, ohne den er ein Nichts wure. Auf
diese Weise kamen sie recht gut miteinander aus.
Dann wurde es Herbst und Winter. In der Werkstatt ging es ruhiger zu.
Die Blutendufte lagen in Tiegeln und Flakons gefangen im Keller, und wenn
nicht Madame die eine oder andre Pomade auszuwaschen wunschte oder einen
Sack getrockneter Gewurze destillieren ließ, war nicht mehr allzu viel
zu tun. Oliven gab es noch, Woche fur Woche ein paar Kurbe voll. Sie
pressten ihnen das Jungfernul ab und gaben den Rest in die ulmuhle. Und
Wein, von dem Grenouille einen Teil zu Alkohol destillierte und
rektifizierte.
Druot ließ sich immer weniger blicken. Er tat seine Pflicht im
Bett von Madame, und wenn er erschien, nach Schweiß und Samen
stinkend, so nur, um alsbald in die >Quatre Dauphins< zu verschwinden.
Auch Madame kam selten herunter. Sie beschuftigte sich mit ihren
Vermugensangelegenheiten und mit der Umarbeitung ihrer Garderobe fur die
Zeit nach dem Trauerjahr. Oft sah Grenouille tagelang niemanden außer
der Magd, bei der er mittags Suppe bekam und abends Brot und Oliven. Er ging
kaum aus. Am korporativen Leben, namentlich den regelmußigen
Gesellentreffen und Umzugen beteiligte er sich gerade so huufig, dass er
weder durch seine Abwesenheit noch durch seine Gegenwart auffiel.
Freundschaften oder nuhere Bekanntschaften hatte er keine, achtete aber
peinlich darauf, nicht womuglich als arrogant oder außenseiterisch zu
gelten. Er uberließ es den anderen Gesellen, seine Gesellschaft fad
und unergiebig zu finden. Er war ein Meister in der Kunst, Langeweile zu
verbreiten und sich als unbeholfenen Trottel zu geben - freilich nie so
ubertrieben, dass man sich mit Genuss uber ihn lustig machen oder ihn als
Opfer fur irgendeinen der derben Zunftspuße gebrauchen hutte kunnen.
Es gelang ihm, als vollstundig uninteressant zu gelten. Man ließ ihn
in Ruhe. Und nichts anderes wollte er.
Er verbrachte seine Zeit im Atelier. Druot gegenuber behauptete er, er
wolle ein Rezept fur Kulnisches Wasser erfinden. In Wirklichkeit aber
experimentierte er mit ganz anderen Duften. Sein Parfum, das er in
Montpellier gemischt hatte, ging, obwohl er es sehr sparsam verwendete,
allmuhlich zu Ende. Er kreierte ein neues. Aber diesmal begnugte er sich
nicht mehr damit, aus hastig zusammengesetzten Materialien den
Menschengrundgeruch schlecht und recht zu imitieren, sondern er setzte
seinen Ehrgeiz daran, sich einen persunlichen Duft oder vielmehr eine
Vielzahl persunlicher Dufte zuzulegen.
Zunuchst machte er sich einen Unauffulligkeitsgeruch, ein mausgraues
Duftkleid fur alle Tage, bei dem der kusigsuuerliche Duft des Menschlichen
zwar noch vorhanden war, sich aber gleichsam nur noch wie durch eine dicke
Schicht von leinenen und wollenen Gewundern, die uber trockne Greisenhaut
gelegt sind, an die Außenwelt verstrumte. So riechend konnte er sich
bequem unter Menschen begeben. Das Parfum war stark genug, um die Existenz
einer Person olfaktorisch zu begrunden, und zugleich so diskret, dass es
niemanden behelligte. Grenouille war damit geruchlich eigentlich nicht
vorhanden und dennoch in seiner Prusenz immer aufs Bescheidenste
gerechtfertigt - ein Zwitterzustand, der ihm sowohl im Hause Arnulfi als
auch bei seinen gelegentlichen Gungen durch die Stadt sehr zupass kam.
Bei gewissen Gelegenheiten freilich erwies sich der bescheidene Duft
als hinderlich. Wenn er im Auftrag von Druot Besorgungen zu machen hatte
oder fur sich selbst bei einem Hundler etwas Zibet oder ein paar Kurner
Moschus kaufen wollte, konnte es geschehen, dass man ihn in seiner perfekten
Unauffulligkeit entweder vullig ubersah und nicht bediente oder zwar sah,
aber falsch bediente oder wuhrend des Bedienens wieder vergaß. Fur
solche Anlusse hatte er sich ein etwas rasseres, leicht schweißiges
Parfum zurechtgemixt, mit einigen olfaktorischen Ecken und Kanten, das ihm
eine derbere Erscheinung verlieh und die Leute glauben machte, es sei ihm
eilig und ihn trieben dringende Geschufte. Auch mit einer Imitation von
Druots aura seminalis, die er mittels Beduftung eines fettigen Leintuchs
durch eine Paste von frischen Enteneiern und angegorenem Weizenmehl
tuuschend uhnlich herzustellen wusste, hatte er gute Erfolge, wenn es darum
ging, ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit zu erregen.
Ein anderes Parfum aus seinem Arsenal war ein mitleiderregender Duft,
der sich bei Frauen mittleren und huheren Alters bewuhrte. Er roch nach
dunner Milch und sauberem weichem Holz. Grenouille wirkte damit - auch wenn
er unrasiert, finsterer Miene und bemuntelt auftrat - wie ein armer blasser
Bub in einem abgewetzten Juckchen, dem geholfen werden musste. Die
Marktweiber, wenn sie seiner anruchig wurden, steckten ihm Nusse und trockne
Birnen zu, weil er so hungrig und hilflos aussah, wie sie fanden. Und bei
der Frau des Metzgers, einer an und fur sich unerbittlich strengen Vettel,
durfte er sich alte stinkende Fleisch- und Knochenreste aussuchen und gratis
mitnehmen, denn sein Unschuldsduft ruhrte ihr mutterliches Herz. Aus diesen
Resten wiederum bezog er durch direktes Digerieren mit Alkohol die
Hauptkomponente eines Geruchs, den er sich zulegte, wenn er unbedingt allein
und gemieden sein wollte. Der Geruch schuf um ihn eine Atmosphure leisen
Ekels, einen fauligen Hauch, wie er beim Erwachen aus alten ungepflegten
Mundern schlugt. Er war so wirkungsvoll, dass sogar der wenig zimperliche
Druot sich unwillkurlich abwenden und das Freie aufsuchen musste, ohne sich
freilich ganz deutlich bewusst zu werden, was ihn wirklich abgestoßen
hatte. Und ein paar Tropfen des Repellents, auf die Schwelle der Kabane
getruufelt, genugten, jeden muglichen Eindringling, Mensch oder Tier,
fernzuhalten.
Im Schutz dieser verschiedenen Geruche, die er je nach den
uußeren Erfordernissen wie die Kleider wechselte und die ihm alle dazu
dienten, in der Welt der Menschen unbehelligt zu sein und in seinem Wesen
unerkannt zu bleiben, widmete sich Grenouille nun seiner wirklichen
Leidenschaft: der subtilen Jagd nach Duften. Und weil er ein großes
Ziel vor der Nase hatte und noch uber ein Jahr lang Zeit, ging er nicht nur
mit brennendem Eifer, sondern auch ungemein planvoll und systematisch vor
beim Schurfen seiner Waffen, beim Ausfeilen seiner Techniken, bei der
allmuhlichen Perfektionierung seiner Methoden. Er fing dort an, wo er bei
Baldini aufgehurt hatte, bei der Gewinnung der Dufte lebloser Dinge: Stein,
Metall, Glas, Holz, Salz, Wasser, Luft...
Was damals mit Hilfe des groben Verfahrens der Destillation kluglich
misslungen war, gelang nun dank der starken absorbierenden Kraft der Fette.
Einen messingnen Turknauf, dessen kuhl-schimmliger, belegter Duft ihm
gefiel, umkleidete Grenouille fur ein paar Tage mit Rindertalg. Und siehe,
als er den Talg herunterschabte und prufte, so roch er, in zwar sehr
geringem Maße, aber doch eindeutig nach eben jenem Knauf. Und selbst
nach einer Lavage in Alkohol war der Geruch noch da, unendlich zart,
entfernt, vom Dunst des Weingeists uberschattet und auf der Welt wohl nur
von Grenouilles feiner Nase wahrnehmbar aber eben doch da, und das
hieß: zumindest im Prinzip verfugbar. Hutte er zehntausend Knuufe und
wurde er sie tausend Tage lang mit Talg umkleiden, er kunnte einen winzigen
Tropfen Essence Absolue von Messingknaufduft erzeugen, so stark, dass
jedermann die Illusion des Originals ganz unabweisbar vor der Nase hutte.
Das gleiche gelang ihm mit dem porusen Kalkduft eines Steins, den er
auf dem Olivenfeld vor seiner Kabane gefunden hatte. Er mazerierte ihn und
gewann ein kleines Butzchen Steinpomade, deren infinitesimaler Geruch ihn
unbeschreiblich ergutzte. Er kombinierte ihn mit anderen, von allen
muglichen Gegenstunden aus dem Umkreis seiner Hutte abgezogenen Geruchen und
produzierte nach und nach ein olfaktorisches Miniaturmodell jenes
Olivenhains hinter dem Franziskanerkloster, das er in einem winzigen Flakon
verschlossen mit sich fuhren und wann es ihm gefiel geruchlich auferstehen
lassen konnte.
Es waren virtuose Duftkunststucke, die er vollbrachte, wunderschune
kleine Spielereien, die freilich niemand außer ihm selbst wurdigen
oder uberhaupt nur zur Kenntnis nehmen konnte. Er selbst aber war entzuckt
von den sinnlosen Perfektionen, und es gab in seinem Leben weder fruher noch
sputer Momente eines tatsuchlich unschuldigen Glucks wie zu jener Zeit, da
er mit spielerischem Eifer duftende Landschaften, Stilleben und Bilder
einzelner Gegenstunde erschuf. Denn bald ging er zu lebenden Objekten uber.
Er machte Jagd auf Winterfliegen, Larven, Ratten, kleinere Katzen und
ertrunkte sie in warmem Fett. Nachts schlich er sich in Stulle, um Kuhe,
Ziegen und Ferkel fur ein paar Stunden mit fettbeschmierten Tuchern zu
umhullen oder in ulige Bandagen einzuwickeln. Oder er stahl sich in ein
Schafgehege, um heimlich ein Lamm zu scheren, dessen duftende Wolle er in
Weingeist wusch. Die Ergebnisse waren zunuchst noch nicht recht
befriedigend. Denn anders als die geduldigen Dinge Knauf und Stein
ließen sich die Tiere ihren Duft nur widerwillig abnehmen. Die
Schweine schabten die Bandagen an den Pfosten ihrer Koben ab. Die Schafe
schrien, wenn er sich nachts mit dem Messer nuherte. Die Kuhe schuttelten
stur die fetten Tucher von den Eutern. Einige Kufer, die er fing,
produzierten, wuhrend er sie verarbeiten wollte, eklig stinkende Sekrete,
und Ratten, wohl aus Angst, schissen ihm in seine olfaktorisch
hochempfindlichen Pomaden. Jene Tiere, die er mazerieren wollte, gaben,
anders als die Bluten, ihren Duft nicht klaglos oder nur mit einem stummen
Seufzer ab, sondern wehrten sich verzweifelt gegen das Sterben, wollten sich
partout nicht unterruhren lassen, strampelten und kumpften und erzeugten
dadurch unverhultnismußig hohe Mengen Angst- und Todesschweiß,
die das arme Fett durch ubersuuerung verdarben. So konnte man naturlich
nicht vernunftig arbeiten. Die Objekte mussten ruhiggestellt werden, und
zwar so plutzlich, dass sie gar nicht mehr dazu kamen, Angst zu haben oder
sich zu widersetzen. Er musste sie tuten.
Als erstes probierte er es mit einem kleinen Hund. Druben vor dem
Schlachthaus lockte er ihn mit einem Stuck Fleisch von seiner Mutter weg bis
in die Werkstatt, und wuhrend das Tier mit freudig erregtem Hecheln nach dem
Fleisch in Grenouilles Linker schnappte, schlug er ihm mit einem Holzscheit,
den er in der Rechten hielt, kurz und derb auf den Hinterkopf. Der Tod kam
so plutzlich uber den kleinen Hund, dass der Ausdruck des Glucks noch um
seine Lefzen und in seinen Augen war, als Grenouille ihn lungst im
Beduftungsraum auf einen Rost zwischen die Fettplatten gebettet hatte, wo er
nun seinen reinen, von Angstschweiß ungetrubten Hundeduft verstrumte.
Freilich galt es aufzupassen! Leichen, ebenso wie abgepfluckte Bluten, waren
rasch verderblich. Und so hielt Grenouille bei seinem Opfer Wache, etwa
zwulf Stunden lang, bis er bemerkte, dass die ersten Schlieren des zwar
angenehmen, doch verfulschend riechenden Leichendufts aus dem Kurper des
Hundes quollen. Sofort unterbrach er die Enfleurage, schaffte die Leiche weg
und barg das wenige beduftete Fett in einem Kessel, wo er es sorgfultig
auswusch. Er destillierte den Alkohol bis auf die Menge eines Fingerhutes ab
und fullte diesen Rest in ein winziges Glasruhrchen. Das Parfum roch
deutlich nach dem feuchten, frischtalgigen und ein wenig scharfen Duft des
Hundefells, es roch sogar erstaunlich stark danach. Und als Grenouille die
alte Hundin vom Schlachthaus daran schnuppern ließ, da brach sie in
Freudengeheul aus und winselte und wollte ihre Nustern nicht mehr von dem
Ruhrchen nehmen. Grenouille aber verschloss es dicht und steckte es zu sich
und trug es noch lange bei sich als Erinnerung an jenen Tag des Triumphs, an
dem es ihm zum ersten Mal gelungen war, einem lebenden Wesen die duftende
Seele zu rauben.
Dann, sehr allmuhlich und mit uußerster Vorsicht, machte er sich
an die Menschen heran. Er pirschte zunuchst aus sicherer Distanz mit
weitmaschigem Netz, denn es kam ihm weniger darauf an, große Beute zu
machen, als vielmehr, das Prinzip seiner Jagdmethode zu erproben.
Mit seinem leichten Duft der Unauffulligkeit getarnt, mischte er sich
im Wirtshaus zu den >Quatre Dauphins< abends unter die Guste und
heftete winzige Fetzen ul- und fettgetrunkten Stoffs unter Bunke und Tische
und in verborgene Nischen. Ein paar Tage sputer sammelte er sie wieder ein
und prufte. Tatsuchlich atmeten sie neben allen muglichen Kuchendunsten,
Tabaksqualm- und Weingeruchen auch ein wenig Menschenduft ab. Er blieb aber
sehr vage und verschleiert, war mehr die Ahnung eines allgemeinen Brodems
als ein persunlicher Geruch. Eine uhnliche Massenaura, doch reiner und ins
Erhaben- Schwitzige gesteigert, war in der Kathedrale zu gewinnen, wo
Grenouille seine Probefuhnchen am 24. Dezember unter den Bunken aushungte
und sie am 26. wieder einholte, nachdem nicht weniger als sieben Messen uber
ihnen abgesessen worden waren: Ein schauerliches Duftkonglomerat aus
Afterschweiß, Menstruationsblut, feuchten Kniekehlen und verkrampften
Hunden, durchmischt mit ausgestoßner Atemluft aus tausend
chorsingenden und avemarianuschelnden Kehlen und dem beklemmenden Dampf des
Weihrauchs und der Myrrhe hatte sich auf den imprugnierten Fetzchen
abgebildet: schauerlich in seiner nebulusen, unkonturierten,
ubelkeiterregenden Ballung und doch schon unverkennbar menschlich.
Den ersten Individualgeruch ergatterte Grenouille im Hospiz der
Charite. Es gelang ihm, das eigentlich zur Verbrennung bestimmte Bettlaken
eines frisch an Schwindsucht verstorbenen Sucklergesellen zu entwenden, in
welchem dieser zwei Monate umhullt gelegen war. Das Tuch war so stark vom
Eigentalg des Sucklers durchsogen, dass es dessen Ausdunstungen wie eine
Enfleuragepaste absorbiert hatte und direkt der Lavage unterzogen werden
konnte. Das Resultat war gespenstisch: Unter Grenouilles Nase erstand der
Suckler aus der Weingeistsolution olfaktorisch von den Toten auf, schwebte,
wenngleich durch die eigentumliche Reproduktionsmethode und die zahlreichen
Miasmen seiner Krankheit schemenhaft entstellt, doch leidlich erkenntlich
als individuelles Duftbild im Raum: ein kleiner Mann von dreißig
Jahren, blond, mit plumper Nase, kurzen Gliedern, platten kusigen
Fußen, geschwollenem Geschlecht, galligem Temperament und fadem
Mundgeruch - kein schuner Mensch, geruchlich, dieser Suckler, nicht wert,
wie jener kleine Hund, lunger aufbewahrt zu werden. Und dennoch ließ
ihn Grenouille eine ganze Nacht lang als Duftgeist durch seine Kabane
flattern und schnupperte ihn immer wieder an, begluckt und tiefbefriedigt
vom Gefuhl der Macht, die er uber die Aura eines undern Menschen gewonnen
hatte. Am nuchsten Tag schuttete er ihn weg.
Noch einen Test unternahm er in diesen Wintertagen. Einer stummen
Bettlerin, die durch die Stadt zog, bezahlte er einen Franc dafur, dass sie
einen Tag lang mit verschiedenen Fett- und ulmischungen pruparierte Luppchen
auf der nackten Haut trug. Es fand sich, dass eine Kombination von
Lammnierenfett und mehrfach geluutertem Schweins- und Kuhtalg im Verhultnis
zwei zu funf zu drei unter Hinzufuhrung geringer Mengen von Jungfernul fur
die Aufnahme des menschlichen Geruchs am besten geeignet war.
Damit ließ es Grenouille bewenden. Er verzichtete darauf, sich
irgendeines lebenden Menschen im ganzen zu bemuchtigen und ihn parfumistisch
zu verarbeiten. So etwas wure immer mit Risiken verbunden gewesen und hutte
keine neuen Erkenntnisse gebracht. Er wusste, dass er nun die Techniken
beherrschte, eines Menschen Duft zu rauben, und es war nicht nutig, dass er
es sich erneut bewies.
Des Menschen Duft an und fur sich war ihm auch gleichgultig. Des
Menschen Duft konnte er hinreichend gut mit Surrogaten imitieren. Was er
begehrte, war der Duft gewisser Menschen: jener uußerst seltenen
Menschen numlich, die Liebe inspirieren. Diese waren seine Opfer.
Im Januar ehelichte die Witwe Arnulfi ihren ersten Gesellen Dominique
Druot, der damit zum Maitre Gantier et Parfumeur avancierte. Es gab ein
großes Essen fur die Gildenmeister, ein bescheideneres fur die
Gesellen, Madame kaufte eine neue Matratze fur ihr Bett, das sie nun
offiziell mit Druot teilte, und holte ihre bunte Garderobe aus dem Schrank.
Sonst blieb alles beim alten. Sie behielt den guten alten Namen Arnulfi bei,
behielt das ungeteilte Vermugen, die finanzielle Leitung des Geschufts und
die Schlussel zum Keller; Druot erfullte tuglich seine sexuellen Pflichten
und erfrischte sich danach beim Wein; und Grenouille, obwohl nun erster und
einziger Geselle, verrichtete das Gros der anfallenden Arbeit fur
unverundert kleinen Lohn, bescheidene Verpflegung und karge Unterkunft.
Das Jahr begann mit der gelben Flut von Kassien, mit Hyazinthen,
Veilchenblute und narkotischen Narzissen. An einem Sonntag im Murz - es
mochte etwa ein Jahr seit seiner Ankunft in Grasse vergangen sein - machte
sich Grenouille auf, nach dem Stand der Dinge im Garten hinter der Mauer am
anderen Ende der Stadt zu sehen. Er war diesmal auf den Duft vorbereitet,
wusste ziemlich genau, was ihn erwartete... und doch, als er sie dann
erwitterte, an der Porte Neuve schon, auf halbem Wege erst zu jener Stelle
an der Mauer, da klopfte sein Herz lauter, und er spurte, wie das Blut in
seinen Adern prickelte vor Gluck: sie war noch da, die unvergleichlich
schune Pflanze, sie hatte den Winter unbeschadet uberdauert, stand im Saft,
wuchs, dehnte sich, trieb pruchtigste Blutenstunde! Ihr Duft war, wie er es
erwartet hatte, kruftiger geworden, ohne an Feinheit einzubußen. Was
noch vor einem Jahr sich zart versprenkelt und vertrupfelt hatte, war nun
gleichsam legiert zu einem leicht pastosen Duftfluss, der in tausend Farben
schillerte und trotzdem jede Farbe band und nicht mehr abriss. Und dieser
Fluss, so stellte Grenouille selig fest, speiste sich aus sturker werdender
Quelle. Ein Jahr noch, nur noch ein Jahr, nur noch zwulf Monate, dann wurde
diese Quelle uberborden, und er kunnte kommen, sie zu fassen und den wilden
Ausstoß ihres Duftes einzufangen.
Er lief an der Mauer entlang bis zur bewussten Stelle, hinter der sich
der Garten befand. Obwohl das Mudchen offenbar nicht im Garten, sondern im
Haus war, in einer Kammer hinter geschlossenen Fenstern, wehte ihr Duft wie
eine stete sanfte Brise herab. Grenouille stand ganz still. Er war nicht
berauscht oder benommen wie das erste Mal, als er sie gerochen hatte. Er war
vom Glucksgefuhl des Liebhabers erfullt, der seine Angebetete von fern
belauscht oder beobachtet und weiß, er wird sie heimholen ubers Jahr.
Wahrhaftig, Grenouille, der soliture Zeck, das Scheusal, der Unmensch
Grenouille, der Liebe nie empfunden hatte und Liebe niemals inspirieren
konnte, stand an jenem Murztag an der Stadtmauer von Grasse und liebte und
war zutiefst begluckt von seiner Liebe.
Freilich liebte er nicht einen Menschen, nicht etwa das Mudchen im Haus
dort hinter der Mauer. Er liebte den Duft. Ihn allein und nichts anderes,
und ihn nur als den kunftigen eigenen. Er wurde ihn heimholen ubers Jahr,
das schwor er sich bei seinem Leben. Und nach diesem absonderlichen
Gelubnis, oder Verlubnis, diesem sich selbst und seinem kunftigen Duft
gegebenen Treueversprechen, verließ er den Ort frohgemut und kehrte
durch die Porte du Cours in die Stadt zuruck.
Als er nachts in der Kabane lag, holte er den Duft noch einmal aus der
Erinnerung herauf- er konnte der Versuchung nicht widerstehen - und tauchte
in ihm unter, liebkoste ihn und ließ sich selbst von ihm liebkosen, so
eng, so traumhaft nah, als besuße er ihn schon wirklich, seinen Duft,
seinen eigenen Duft, und er liebte ihn an sich und sich durch ihn eine
berauschte kustliche Weile lang. Er wollte dieses selbstverliebte Gefuhl mit
in den Schlaf hinubernehmen. Aber gerade m dem Moment, als er die Augen
schloss und nur noch einen Atemzug lang Zeit gebraucht hutte, um
einzuschlummern, da verließ es ihn, war plutzlich weg, und anstatt
seiner stand der kalte scharfe Ziegenstallgeruch im Raum.
Grenouille schrak auf. "Was ist", so dachte er, "wenn dieser Duft, den
ich besitzen werde... was ist, wenn er zu Ende geht? Es ist nicht wie in der
Erinnerung, wo alle Dufte unvergunglich sind. Der wirkliche verbraucht sich
an die Welt. Er ist fluchtig. Und wenn er aufgebraucht sein wird, dann wird
es die Quelle, aus der ich ihn genommen habe, nicht mehr geben. Und ich
werde nackt sein wie zuvor und mir mit meinen Surrogaten weiterhelfen
mussen. Nein, schlimmer wird es sein als zuvor! Denn ich werde ja inzwischen
ihn gekannt und besessen haben, meinen eigenen herrlichen Duft, und ich
werde ihn nicht vergessen kunnen, denn ich vergesse nie einen Duft. Und also
werde ich zeitlebens von meiner Erinnerung an ihn zehren, wie ich schon
jetzt, fur einen Moment, aus meiner Vorerinnerung an ihn, den ich besitzen
werde, gezehrt habe... Wozu also brauche ich ihn uberhaupt?"
Dieser Gedanke war Grenouille uußerst unangenehm. Es erschreckte
ihn maßlos, dass er den Duft, den er noch nicht besaß, wenn er
ihn besuße, unweigerlich wieder verlieren musste. Wie lange wurde er
vorhalten? Einige Tage? Ein paar Wochen? Vielleicht einen Monat lang, wenn
er sich ganz sparsam damit parfumierte? Und dann? Er sah sich schon den
letzten Tropfen aus der Flasche schutteln, den Flakon mit Weingeist spulen,
damit auch nicht der kleinste Rest verlorenginge, und sah dann, roch es, wie
sich sein geliebter Duft fur immer und unwiederbringlich verfluchtigte. Es
wurde sein wie ein langsames Sterben, eine Art umgekehrten Erstickens, ein
qualvolles allmuhliches Hinausverdunsten seiner selbst in die
grußliche Welt.
Er frustelte. Es uberkam ihn das Verlangen, seine Plune aufzugeben,
hinaus in die Nacht zu gehen und davonzuziehen. uber die verschneiten Berge
wollte er wandern, ohne Rast, hundert Meilen weit in die Auvergne, und dort
in seine alte Huhle kriechen und sich zutode schlafen. Aber er tat es nicht.
Er blieb sitzen und gab dem Verlangen nicht nach, obwohl es stark war. Er
gab ihm nicht nach, weil es ein altes Verlangen von ihm war, davonzuziehen
und sich in einer Huhle zu verkriechen. Erkannte das schon. Was er
allerdings noch nicht kannte, war der Besitz eines menschlichen Duftes, so
herrlich wie der Duft des Mudchens hinter der Mauer. Und wenn er auch
wusste, dass er den Besitz dieses Duftes mit seinem anschließenden
Verlust wurde entsetzlich teuer bezahlen mussen, so schienen ihm doch Besitz
und Verlust begehrenswerter als der lapidare Verzicht auf beides. Denn
verzichtet hatte er Zeit seines Lebens. Besessen und verloren aber noch nie.
Allmuhlich wichen die Zweifel und mit ihnen das Frusteln. Er spurte,
wie das warme Blut ihn wieder belebte und wie der Wille, das zu tun, was er
sich vorgenommen hatte, wieder Besitz von ihm ergriff. Und zwar muchtiger
als zuvor, da dieser Wille nun nicht mehr einer reinen Begierde entsprang,
sondern dazu noch einem erwogenen Entschluss. Der Zeck Grenouille, vor die
Wahl gestellt, in sich selbst zu vertrocknen oder sich fallenzulassen,
entschied sich fur das zweite, wohl wissend, dass dieser Fall sein letzter
sein wurde. Er legte sich aufs Lager zuruck, wohlig ins Stroh, wohlig unter
die Decke, und kam sich sehr heroisch vor.
Grenouille wure aber nicht Grenouille gewesen, wenn ihn ein
fatalistisch-heroisches Gefuhl lange befriedigt hutte. Dazu besaß er
einen zu zuhen Selbstbehauptungswillen, ein zu durchtriebenes Wesen und
einen zu raffinierten Geist. Gut - er hatte sich entschlossen, jenen Duft
des Mudchens hinter der Mauer zu besitzen. Und wenn er ihn nach wenigen
Wochen wieder verlure und an dem Verlust sturbe, so sollte auch das gut
sein. Besser aber wure es, nicht zu sterben und den Duft trotzdem zu
besitzen, oder zumindest seinen Verlust so lange als irgend muglich
hinauszuzugern. Man musste ihn haltbarer machen. Man musste seine
Fluchtigkeit bannen, ohne ihm seinen Charakter zu rauben - ein
parfumistisches Problem.
Es gibt Dufte, die haften jahrzehntelang. Ein mit Moschus eingeriebener
Schrank, ein mit Zimtul getrunktes Stuck Leder, eine Amberknolle, ein
Kustchen aus Zedernholz besitzen geruchlich fast das ewige Leben. Und andere
- Limettenul, Bergamotte, Narzissen- und Tuberosenextrakte und viele
Blutendufte verhauchen sich schon nach wenigen Stunden, wenn man sie rein
und ungebunden der Luft aussetzt. Der Parfumeur begegnet diesem fatalen
Umstand, indem er die allzu fluchtigen Dufte durch haftende bindet, ihnen
also gleichsam Fesseln anlegt, die ihren Freiheitsdrang zugeln, wobei die
Kunst darin besteht, die Fesseln so locker zu lassen, dass der gebundene
Geruch seine Freiheit scheinbar behult, und sie doch so eng zu schnuren,
dass er nicht fliehen kann. Grenouille war dieses Kunststuck einmal in
perfekter Weise beim Tuberosenul gelungen, dessen ephemeren Duft er mit
winzigen Mengen von Zibet, Vanille, Labdanum und Zypresse gefesselt und
damit erst recht eigentlich zur Geltung gebracht hatte. Warum sollte etwas
uhnliches nicht auch mit dem Duft des Mudchens muglich sein? Weshalb sollte
er diesen kostbarsten und fragilsten aller Dufte pur verwenden und
verschwenden? Wie plump! Wie außerordentlich unraffiniert! Ließ
man Diamanten ungeschliffen? Trug man Gold in Brocken um den Hals? War er,
Grenouille, etwa ein primitiver Duftstoffruuber wie Druot und wie die
anderen Mazeratoren, Destillierer und Blutenquetscher? Oder war er nicht
vielmehr der grußte Parfumeur der Welt?
Er schlug sich vor den Kopf vor Entsetzen, dass er nicht schon fruher
darauf gekommen war: Naturlich durfte dieser einzigartige Duft nicht roh
verwendet werden. Er musste ihn fassen wie den kostbarsten Edelstein. Ein
Duftdiadem musste er schmieden, an dessen erhabenster Stelle, zugleich
eingebunden in andere Dufte und sie beherrschend, sein Duft strahlte. Ein
Parfum wurde er machen nach allen Regeln der Kunst, und der Duft des
Mudchens hinter der Mauer sollte die Herznote sein.
Als Adjuvantien freilich, als Basis-, Mittel- und Kopfnote, als
Spitzengeruch und als Fixateur waren nicht Moschus und Zibet, nicht Rosenul
oder Neroli geeignet, das stand fest. Fur ein solches Parfum, fur ein
Menschenparfum, bedurfte es anderer Ingredienzen.
Im Mai desselben Jahres fand man in einem Rosenfeld, halben Wegs
zwischen Grasse und dem ustlich gelegenen Flecken Opio, die nackte Leiche
eines funfzehnjuhrigen Mudchens. Es war mit einem Knuppelhieb auf den
Hinterkopf erschlagen worden. Der Bauer, der es entdeckt hatte, war von dem
grausigen Fund so verwirrt, dass er sich fast selbst in Verdacht brachte,
indem er dem Polizeilieutenant mit zitternder Stimme meldete, er habe so
etwas Schunes noch nie gesehen - wo er doch eigentlich hatte sagen wollen,
er habe so etwas Entsetzliches noch nie gesehen.
Tatsuchlich war das Mudchen von exquisiter Schunheit. Es gehurte jenem
schwerblutigen Typ von Frauen an, die wie aus dunklem Honig sind, glatt und
suß und ungeheuer klebrig; die mit einer zuhflussigen Geste, einem
Haarwurf, einem einzigen langsamen Peitschenschwung ihres Blickes den Raum
beherrschen und dabei ruhig wie im Zentrum eines Wirbelsturmes stehen, der
eigenen Gravitationskraft scheinbar unbewusst, mit der sie Sehnsuchte und
Seelen von Munnern wie von Frauen unwiderstehlich an sich reißen. Und
sie war jung, blutjung, der Reiz des Typus war noch nicht ins Sumige
verflossen. Noch waren ihre schweren Glieder glatt und fest, die Bruste wie
aus dem Ei gepellt, und ihr fluchiges Gesicht, vom schwarzen starken Haar
umflogen, besaß noch zarteste Konturen und geheimste Stellen. Das Haar
selbst freilich war weg. Der Murder hatte es ihr abgeschnitten und
mitgenommen, ebenso wie die Kleider.
Man verduchtigte die Zigeuner. Den Zigeunern war alles zuzutrauen.
Zigeuner woben bekanntlich Teppiche aus alten Kleidern und stopften
Menschenhaar in ihre Kissen und fertigten aus Haut und Zuhnen von Gehenkten
kleine Puppen. Fur ein so perverses Verbrechen kamen nur Zigeuner in Frage.
Es waren aber zu der Zeit keine Zigeuner da, weit und breit nicht, das
letzte Mal hatten Zigeuner die Gegend im Dezember durchzogen.
In Ermangelung von Zigeunern verduchtigte man daraufhin italienische
Wanderarbeiter. Italiener waren aber auch keine da, fur sie war es zu fruh
im Jahr, sie wurden erst im Juni zur Jasminernte ins Land kommen, sie
konnten's also nicht gewesen sein. Schließlich gerieten die
Peruckenmacher in Verdacht, bei denen man nach dem Haar des ermordeten
Mudchens fahndete. Vergeblich. Dann sollten es die Juden gewesen sein, dann
die angeblich geilen Munche des Benediktinerklosters - die freilich alle
schon weit uber siebzig waren -, dann die Zisterzienser, dann die
Freimaurer, dann die Geisteskranken aus der Charitu, dann die Kuhler, dann
die Bettler und zu guter Letzt der sittenlose Adel, insbesondere der Marquis
von Cabris, denn der war schon zum dritten Mal verheiratet, veranstaltete,
wie es hieß, in seinen Kellern orgiastische Messen und trank dabei
Jungfrauenblut, um seine Potenz zu steigern. Konkretes ließ sich
freilich nicht beweisen. Niemand hatte den Mord beobachtet, Kleider und
Haare der Toten wurden nicht gefunden. Nach einigen Wochen stellte der
Polizeilieutenant seine Nachforschungen ein.
Mitte Juni kamen die Italiener, viele mit ihren Familien, um sich als
Pflucker zu verdingen. Die Bauern beschuftigten sie zwar, verboten aber,
eingedenk des Mordes, ihren Frauen und Tuchtern den Umgang mit ihnen. Sicher
war sicher. Denn obwohl die Wanderarbeiter fur den geschehenen Mord
tatsuchlich nicht verantwortlich waren, so hutten sie doch prinzipiell dafur
verantwortlich sein kunnen, und deshalb war es besser, vor ihnen auf der Hut
zu sein.
Nicht lange nach Beginn der Jasminernte geschahen zwei weitere Morde.
Wieder waren die Opfer bildschune Mudchen, wieder gehurten sie jenem
schwerblutigen schwarzhaarigen Typus an, wieder fand man sie nackt und
geschoren und mit einer stumpfen Wunde am Hinterkopf in den Blumenfeldern
liegen. Wieder fehlte vom Tuter jede Spur. Die Nachricht verbreitete sich
wie ein Lauffeuer, und es drohten schon Feindseligkeiten gegen das
zugezogene Volk auszubrechen, als bekannt wurde, dass beide Opfer
Italienerinnen waren, Tuchter eines Genueser Tagluhners.
Nun legte sich die Furcht uber das Land. Die Leute wussten nicht mehr,
auf wen sie ihre ohnmuchtige Wut richten sollten. Wohl gab es noch welche,
die die Irren oder den obskuren Marquis verduchtigten, aber so recht wollte
niemand daran glauben, denn jene standen Tag und Nacht unter Aufsicht, und
dieser war schon vor langer Zeit nach Paris abgereist. Also ruckte man nuher
zusammen. Die Bauern uffneten den Zugewanderten, die bis dahin auf freiem
Feld gelagert hatten, ihre Scheunen. Die Studter richteten in jedem Viertel
einen nuchtlichen Patrouillendienst ein. Der Polizeilieutenant versturkte
die Wachen an den Toren. Doch alle Vorkehrungen nutzten nichts. Wenige Tage
nach dem Doppelmord fand man wieder eine Mudchenleiche, ebenso zugerichtet
wie die vorigen. Diesmal handelte es sich um eine sardische Wuscherin aus
dem bischuflichen Palais, die nahe dem großen Wasserbecken an der
Fontaine de la Foux, also direkt vor den Toren der Stadt, erschlagen worden
war. Und obwohl die Konsuln, von der erregten Burgerschaft gedrungt, weitere
Maßnahmen ergriffen - schurfste Kontrollen an den Toren, Versturkung
der Nachtwachen, Ausgangsverbot fur alle weiblichen Personen nach Einbruch
der Dunkelheit -, verging in diesem Sommer keine Woche mehr, in der nicht
die Leiche eines jungen Mudchens gefunden wurde. Und immer waren es solche,
die gerade erst begonnen hatten, Frauen zu sein, und immer waren es die
schunsten und meist jener dunkle, haftende Typus. - Obwohl der Murder bald
auch nicht mehr den in der einheimischen Bevulkerung vorherrschenden
weichen, weißhuutigen und etwas beleibteren Mudchenschlag verschmuhte.
Sogar brunette, sogar dunkelblonde - sofern sie nicht zu mager waren -
fielen ihm neuerdings zum Opfer. Er spurte sie uberall auf, nicht mehr nur
im Umland von Grasse, sondern mitten in der Stadt, ja sogar in den Huusern.
Die Tochter eines Tischlers wurde in ihrer Kammer im funften Stock
erschlagen aufgefunden, und niemand im Haus hatte das geringste Geruusch
gehurt, und keiner der Hunde, die sonst jeden Fremden witterten und
verbellten, hatte angeschlagen. Der Murder schien unfassbar, kurperlos, wie
ein Geist zu sein.
Die Menschen empurten sich und beschimpften die Obrigkeit. Das kleinste
Gerucht fuhrte zu Zusammenrottungen. Ein fahrender Hundler, der Liebespulver
und andere Quacksalbereien verkaufte, wurde fast massakriert, denn es
hieß, seine Mittelchen enthielten gemahlenes Mudchenhaar. Auf das
Hotel de Cabris und auf das Hospiz der Charitu wurden Brandanschluge verubt.
Der Tuchhundler Alexandre Misnard erschoss seinen eigenen Hausdiener bei
dessen nuchtlicher Heimkehr, weil er ihn fur den beruchtigten Mudchenmurder
hielt. Wer es sich leisten konnte, schickte seine heranwachsenden Tuchter zu
entfernten Verwandten oder in Pensionate nach Nizza, Aix oder Marseille .
Der Polizeilieutenant wurde auf Drungen des Stadtrats seines Postens
enthoben. Sein Nachfolger ließ die Leichen der geschorenen Schunheiten
von einem urztekollegium auf ihren virginalen Zustand untersuchen. Es fand
sich, dass sie alle unberuhrt geblieben waren.
Sonderbarerweise vermehrte diese Erkenntnis das Entsetzen, anstatt es
zu mindern, denn insgeheim hatte jedermann angenommen, dass die Mudchen
missbraucht worden seien. Man hutte dann wenigstens ein Motiv des Murders
gekannt. Nun wusste man nichts mehr, nun war man vullig ratlos. Und wer an
Gott glaubte, rettete sich ins Gebet, es muge doch wenigstens das eigene
Haus von der teuflischen Heimsuchung verschont bleiben.
Der Stadtrat, ein Gremium der dreißig reichsten und angesehensten
Großburger und Adligen von Grasse, in ihrer Mehrzahl aufgeklurte und
antiklerikale Herren, die den Bischof bisher einen guten Mann hatten sein
lassen und aus den Klustern und Abteien am liebsten Warenlager oder Fabriken
gemacht hutten - die stolzen, muchtigen Herren des Stadtrats ließen
sich in ihrer Not herbei, Monseigneur den Bischof in einer unterwurfig
abgefassten Petition zu bitten, er muge das mudchenmordende Monster, dessen
die weltliche Macht nicht habhaft werden kunne, verfluchen und mit Bann
belegen, ebenso, wie es sein erlauchter Vorgunger im Jahre 1708 mit den
entsetzlichen Heuschrecken gemacht habe, die damals das Land bedrohten. Und
in der Tat wurde Ende September der Grasser Mudchenmurder, der bis dahin
nicht weniger als vierundzwanzig der schunsten Jungfrauen aus allen
Schichten des Volkes hinweggerafft hatte, per schriftlichem Anschlag sowie
mundlich von sumtlichen Kanzeln der Stadt, darunter der Kanzel von
Notre-Dame-du-Puy, durch den Bischof persunlich in feierlichen Bann und
Fluch getan.
Der Erfolg war durchschlagend. Die Morde hurten auf, von einem Tag zum
anderen. Oktober und November vergingen ohne Leiche. Anfang Dezember kamen
Berichte aus Grenoble, dass dort neuerdings ein Mudchenmurder umgehe, der
seine Opfer erdrossle und ihnen die Kleider in Fetzen vom Leibe und die
Haare in Buscheln vom Kopfe reiße. Und obwohl diese grobschluchtigen
Verbrechen keineswegs in Einklang mit den sauber ausgefuhrten Grasser Morden
standen, war doch alle Welt davon uberzeugt, es handle sich um ein und
denselben Tuter. Die Grasser schlugen drei Kreuze vor Erleichterung, dass
die Bestie nicht mehr bei ihnen, sondern im sieben Tagereisen entfernten
Grenoble wutete. Sie organisierten einen Fackelzug zu Ehren des Bischofs und
hielten am 24. Dezember einen großen Dankgottesdienst ab. Zum 1.
Januar 1766 wurden die versturkten Sicherheitsvorkehrungen gelockert und die
nuchtliche Ausgangssperre fur Frauen aufgehoben. Mit unglaublicher
Schnelligkeit kehrte die Normalitut ins uffentliche und private Leben
zuruck. Die Angst war wie weggeblasen, niemand redete mehr von dem Grauen,
das noch vor wenigen Monaten Stadt und Umland beherrscht hatte. Nicht einmal
in den betroffenen Familien sprach man noch davon. Es war, als habe der
bischufliche Fluch nicht nur den Murder, sondern auch jede Erinnerung an ihn
verbannt. Und den Menschen war es recht so.
Nur wer eine Tochter hatte, die gerade in das wundersame Alter kam, der
ließ sie immer noch nicht gerne ohne Aufsicht, dem wurde bange, wenn
es dummerte, und morgens, wenn er sie gesund und munter vorfand, war er
glucklich - freilich ohne sich den Grund dafur recht eingestehen zu wollen.
Einen Mann aber gab es in Grasse, der traute dem Frieden nicht. Er
hieß Antoine Richis, bekleidete das Amt des Zweiten Konsuls und wohnte
in einem stattlichen Anwesen am Beginn der Rue Droite.
Richis war Witwer und hatte eine Tochter namens Laure. Obwohl keine
vierzig Jahre alt und von ungebrochner Vitalitut, gedachte er eine
neuerliche Verehelichung noch einige Zeit hinauszuschieben. Erst wollte er
seine Tochter an den Mann bringen. Und zwar nicht an den ersten besten,
sondern an einen von Stande. Es gab da einen Baron von Bouyon, Besitzer
eines Sohnes und eines Lehens bei Vence, von guter Reputation und lausiger
Finanzlage, mit dem Richis schon Abmachungen uber eine kunftige Heirat der
Kinder getroffen hatte. Wenn Laure dann unter der Haube wure, wollte er
selbst seine freierlichen Fuhler in Richtung der hochangesehenen Huuser
Dree, Maubert oder Fontmichel ausstrecken - nicht weil er eitel war und auf
Teufel komm raus ein adeliges Bettgemahl besitzen musste, sondern weil er
eine Dynastie grunden und seine Nachkommenschaft auf ein Geleise setzen
wollte, welches zu huchstem gesellschaftlichem Ansehen und politischem
Einfluss fuhrte. Dazu brauchte er noch mindestens zwei Suhne, deren einer
sein Geschuft ubernahm, wuhrend der andere via juristische Laufbahn und das
Parlament in Aix selbst in den Adel aufruckte. Solche Ambitionen konnte er
jedoch als Mann seines Standes nur dann mit Aussicht auf Erfolg hegen, wenn
er seine Person und seine Familie aufs engste mit der provenzalischen
Nobilitut verband.
Was ihn uberhaupt zu derartig hochfliegenden Plunen berechtigte, war
sein sagenhafter Reichtum. Antoine Richis war der mit Abstand vermugendste
Burger weit und breit. Er besaß Latifundien nicht nur im Grasser Raum,
wo er Orangen, ul, Weizen und Hanf anbauen ließ, sondern auch bei
Vence und gegen Antibes zu, wo er verpachtet hatte. Er besaß Huuser in
Aix, Huuser auf dem Lande, Anteile an Schiffen, die nach Indien fuhren, ein
stundiges Kontor in Genua und das grußte Handelslager fur Duftstoffe,
Spezereien, ule und Leder Frankreichs.
Das Kostbarste jedoch, was Richis besaß, war seine Tochter. Sie
war sein einziges Kind, gerade sechzehn Jahre alt, mit dunkelroten Haaren
und grunen Augen. Sie hatte ein so entzuckendes Gesicht, dass Besucher jeden
Alters und Geschlechts augenblicks erstarrten und den Blick nicht mehr von
ihr nehmen konnten, ihr Gesicht geradezu leckten mit den Augen, als leckten
sie Eis mit der Zunge, und dabei den fur solch leckende Beschuftigung
typischen Ausdruck von dummlicher Hingegebenheit annahmen. Selbst Richis,
wenn er die eigne Tochter ansah, ertappte sich dabei, dass er fur
unbestimmte Zeit, fur eine Viertelstunde, fur eine halbe Stunde vielleicht,
die Welt und damit seine Geschufte vergaß - was ihm sonst nicht einmal
im Schlaf passierte -, sich vollkommen aufluste in des herrlichen Mudchens
Betrachtung und hinterher nicht mehr zu sagen wusste, was er eigentlich
getan hatte. Und neuerdings - er nahm es mit Unbehagen wahr -, abends beim
Zubettbringen oder manchmal morgens, wenn er ging, um sie zu wecken, und sie
lag noch schlafend, wie von Gotteshunden hingelegt, und durch den Schleier
ihres Nachtgewands druckten sich die Formen ihrer Huften und ihrer Bruste
ab, und aus dem Geviert von Busen, Achselschwung, Ellenbogen und glattem
Unterarm, in das sie ihr Gesicht gelegt hatte, stieg ihr ausgestoßner
Atem ruhig und heiß... - da ballte es sich ihm elend im Magen, und die
Kehle wurde ihm eng, und er schluckte, und, weiß Gott! er verfluchte
sich, dass er der Vater dieser Frau war und nicht ein Fremder, nicht
irgendein Mann, vor dem sie so luge wie jetzt vor ihm, und der sich ohne
Bedenken an sie, auf sie, in sie legen kunnte mit all seiner Begehrlichkeit.
Und der Schweiß brach ihm aus, und seine Glieder zitterten, indes er
diese grauenvolle Lust in sich erwurgte und sich hinabbeugte zu ihr, um sie
mit keuschem vuterlichem Kuss zu wecken.
Im vergangenen Jahr, zur Zeit der Morde, waren solch fatale
Anfechtungen noch nicht uber ihn gekommen. Der Zauber, den seine Tochter
damals auf ihn ausgeubt hatte, war - so wollte ihm wenigstens scheinen -
noch ein kindlicher Zauber gewesen. Und deshalb hatte er auch nie ernstlich
befurchtet, dass Laure Opfer jenes Murders werden kunnte, der, wie man
wusste, weder Kinder noch Frauen, sondern ausschließlich erwachsene
jungfruuliche Mudchen anfiel. Zwar hatte er die Bewachung seines Hauses
versturkt, die Fenster des Obergeschosses mit neuen Gittern versehen lassen
und die Zofe angewiesen, ihre Schlafkammer mit Laure zu teilen. Aber es
widerstrebte ihm, sie wegzuschicken, wie es seine Standesgenossen mit ihren
Tuchtern, ja sogar mit ihren ganzen Familien taten. Er fand dieses Verhalten
veruchtlich und unwurdig eines Mitglieds des Rates und Zweiten Konsuln, der,
wie er meinte, seinen Mitburgern ein Vorbild an Gelassenheit, Mut und
Unbeugsamkeit sein sollte. Außerdem war er ein Mann, der sich seine
Entschlusse nicht von anderen vorschreiben ließ, nicht von einer in
Panik geratenen Menge und schon gar nicht von einem einzelnen anonymen Lump
von Verbrecher. Und so war er wuhrend der ganzen schrecklichen Zeit einer
der wenigen in der Stadt gewesen, die gegen das Fieber der Angst gefeit
waren und einen kuhlen Kopf behielten. Doch dies, sonderbarerweise, underte
sich nun. Wuhrend numlich die Menschen draußen, als hutten sie den
Murder schon gehenkt, das Ende seines Treibens feierten und die unselige
Zeit bald ganz vergaßen, kehrte in das Herz Antoine Richis' die Angst
ein wie ein hußliches Gift. Lange Zeit wollte er sich's nicht zugeben,
dass es die Angst war, die ihn bewog, lungst fullige Reisen hinauszuzugern,
ungern das Haus zu verlassen, Besuche und Sitzungen abzukurzen, damit er nur
rasch wieder heimkehren kunne. Er entschuldigte sich vor sich selbst mit
Unpußlichkeit und uberarbeitung, gestand sich wohl auch zu, dass er
ein wenig besorgt sei, wie eben jeder Vater besorgt ist, der eine Tochter in
mannbarem Alter besitzt, eine durchaus normale Sorge... War denn nicht schon
der Ruhm ihrer Schunheit nach draußen gedrungen? Reckten sich nicht
schon die Hulse, wenn man mit ihr sonntags in die Kirche ging? Machten nicht
schon gewisse Herren im Rat Avancen, im eigenen Namen oder in dem ihrer
Suhne...?
Aber dann, eines Tages im Murz, saß Richis im Salon und sah, wie
Laure hinaus in den Garten ging. Sie trug ein blaues Kleid, uber das ihr
rotes Haar fiel, es loderte im Sonnenlicht, er hatte sie noch nie so schun
gesehen. Hinter einer Hecke verschwand sie. Und dann dauerte es vielleicht
nur zwei Herzschluge lunger, als er erwartet hatte, bevor sie wieder
auftauchte - und er war zutode erschrocken, denn er hatte zwei Herzschluge
lang gedacht, er habe sie fur immer verloren.
In der gleichen Nacht wachte er aus einem entsetzlichen Traum auf, an
dessen Inhalt er sich nicht mehr erinnern konnte, der aber mit Laure zu tun
hatte, und er sturzte in ihr Zimmer, uberzeugt, sie sei tot, luge gemordet,
geschundet und geschoren im Bett - und fand sie unversehrt.
Er ging zuruck in sein Gemach, schweißnass und bebend vor
Aufregung, nein, nicht vor Aufregung, sondern vor Angst, jetzt endlich
gestand er es sich ein, dass die schiere Angst ihn gepackt hatte, und indem
er es sich eingestand, wurde er ruhiger und klarer im Kopf. Wenn er ehrlich
war, so hatte er von Anfang an nicht an die Wirkung des bischuflichen
Bannfluchs geglaubt; auch nicht daran, dass der Murder jetzt in Grenoble
umgehe; auch nicht daran, dass er die Stadt uberhaupt verlassen hatte. Nein,
er lebte noch hier, mitten unter den Grassern, und irgendwann wurde er
wieder zuschlagen. Im August und September hatte Richis einige der
ermordeten Mudchen gesehen. Der Anblick hatte ihn entsetzt und zugleich, wie
er zugeben musste, fasziniert, denn sie waren alle, und jede auf sehr
spezielle Weise, von ausgesuchter Schunheit gewesen. Niemals hutte er
gedacht, dass es in Grasse so viel unerkannte Schunheit gab. Der Murder
hatte ihm die Augen geuffnet. Der Murder besaß einen exquisiten
Geschmack. Und er besaß ein System. Nicht nur, dass die Morde alle auf
die gleiche ordentliche Weise ausgefuhrt waren, auch die Wahl der Opfer
verriet eine beinahe ukonomisch planende Absicht. Zwar wusste Richis nicht,
was der Murder eigentlich von seinem Opfer begehrte, denn ihr Bestes: die
Schunheit und den Reiz ihrer Jugend konnte er ihnen ja nicht geraubt
haben... oder doch? Auf jeden Fall aber schien ihm der Murder, so absurd das
klingen mochte, kein destruktiver Geist zu sein, sondern ein sorgfultig
sammelnder. Wenn man sich numlich - so dachte Richis all die Opfer nicht
mehr als einzelne Individuen, sondern als Teile eines huheren Prinzips
vorstellte und sie wie in idealistischer Weise ihre jeweiligen Eigenschaffen
als zu einem einheitlichen Ganzen verschmolzen duchte, dann musste das aus
solchen Mosaiksteinen zusammengesetzte Bild das Bild der Schunheit
schlechthin sein, und der Zauber, der von ihm ausginge, wure nicht mehr von
menschlicher, sondern von guttlicher Art. (Wie wir sehen, war Richis ein
aufgeklurt denkender Mensch, der auch vor blasphemischen Schlussfolgerungen
nicht zuruckschreckte, und wenn er nicht in geruchlichen, sondern in
optischen Kategorien dachte, so kam er doch der Wahrheit sehr nahe.)
Gesetzt nun den Fall - so dachte Richis weiter -, der Murder war solch
ein Sammler von Schunheit und arbeitete am Bildnis der Vollkommenheit, und
sei es auch nur in der Phantasie seines kranken Hirns; gesetzt ferner, er
war ein Mann von huchstem Geschmack und perfekter Methode, wie er es in der
Tat zu sein schien, dann konnte man nicht annehmen, dass er auf den
kostbarsten Baustein zu jenem Bildnis verzichtete, den es auf Erden zu
finden gab: auf die Schunheit von Laure. Sein ganzes bisheriges Mordwerk
wure nichts wert ohne sie. Sie war der Schlussstein seines Gebuudes.
Richis, wuhrend er diese entsetzliche Folgerung zog, saß im
Nachtgewand auf seinem Bett und wunderte sich daruber, wie ruhig er geworden
war. Er frustelte und zitterte nicht mehr. Die unbestimmte Angst, die ihn
seit Wochen geplagt hatte, war verschwunden und dem Bewusstsein einer
konkreten Gefahr gewichen: Des Murders Sinn und Trachten war ganz offenbar
auf Laure gerichtet, von Anfang an. Und alle andern Morde waren Beiwerk fur
diesen letzten krunenden Mord. Zwar blieb unklar, welchen materiellen Zweck
die Morde haben sollten und ob sie einen solchen uberhaupt besaßen.
Aber das Wesentliche, numlich des Murders systematische Methode und sein
ideelles Motiv, hatte Richis durchschaut. Und je lunger er daruber
nachdachte, desto besser gefielen ihm beide und desto grußer wurde
seine Hochachtung vor dem Murder - eine Hochachtung freilich, die sogleich
wie aus einem blanken Spiegel auf ihn selbst zuruckstrahlte, denn immerhin
war er, Richis, es ja gewesen, der mit seinem feinen analytischen Verstand
dem Gegner auf die Schliche gekommen war.
Wenn er, Richis, selbst ein Murder wure und von des Murders selben
leidenschaftlichen Ideen besessen, hutte er auch nicht anders vorgehen
kunnen, als jener bisher vorgegangen war, und wurde wie dieser alles
daransetzen, sein Wahnsinnswerk durch einen Mord an Laure, der herrlichen,
der einzigartigen, zu krunen.
Dieser letzte Gedanke gefiel ihm ganz besonders gut. Dass er in der
Lage war, sich gedanklich in die Lage des kunftigen Murders seiner Tochter
zu versetzen, machte ihn dem Murder numlich haushoch uberlegen. Denn der
Murder, das stand fest, war bei all seiner Intelligenz gewiss nicht in der
Lage, sich in Richis' Lage zu versetzen - und sei's nur, weil er gewiss
nicht ahnen konnte, dass Richis sich lungst in seine, des Murders Lage
versetzt hatte. Im Grunde war das nicht anders als im Geschuftsleben auch -
mutatis mutandis, versteht sich. Einem Konkurrenten, dessen Absichten man
durchschaut hatte, war man uberlegen; von ihm ließ man sich nicht mehr
aufs Kreuz legen; nicht, wenn man Antoine Richis hieß, mit allen
Wassern gewaschen war und eine Kumpfernatur besaß. Schließlich
waren ihm der grußte Duftstoffhandel Frankreichs, sein Reichtum und
das Amt des Zweiten Konsuls nicht gnadenhalber in den Schoß gefallen,
sondern er hatte sie sich erkumpft, ertrotzt, erschlichen, indem er Gefahren
beizeiten erkannt, die Plune der Konkurrenten schlau erraten und Widersacher
ausgestochen hatte. Und seine kunftigen Ziele, die Macht und Nobilitut
seiner Nachkommenschaft, wurde er ebenso erreichen. Und nicht anders wurde
er die Plune jenes Murders durchkreuzen, seines Konkurrenten um den Besitz
an Laure - und wure es nur deshalb, weil Laure auch den Schlussstein im
Gebuude seiner, Richis', eigenen Plune bildete. Er liebte sie, gewiss; aber
er brauchte sie auch. Und was er brauchte zur Verwirklichung seiner huchsten
Ambitionen, das ließ er sich von niemandem entwinden, das hielt er
fest mit Zuhnen und mit Klauen.
Nun war ihm wohler. Nachdem es ihm gelungen war, seine nuchtlichen
uberlegungen betreffs Kampf mit dem Dumon auf die Ebene einer geschuftlichen
Auseinandersetzung herabzudrucken, spurte er, wie frischer Mut, ja ubermut
ihn erfasste. Verflogen war der letzte Rest von Angst, verschwunden das
Gefuhl von Verzagtheit und grumlicher Sorge, das ihn wie einen senilen
Tattergreis gequult hatte, weggeblasen der Nebel von dusteren Ahnungen, in
dem er seit Wochen herumtappte. Er befand sich auf vertrautem Terrain und
fuhlte sich jeder Herausforderung gewachsen.
Erleichtert, vergnugt fast, sprang er aus dem Bett, zog am Klingelband
und befahl seinem schlaftrunken hereintaumelnden Diener, Kleider und
Proviant zu packen, da er geduchte, bei Tagesanbruch in Begleitung seiner
Tochter nach Grenoble zu reisen. Dann zog er sich an und scheuchte das
ubrige Personal aus den Betten.
Mitten in der Nacht erwachte das Haus in der Rue Droite zu emsigem
Leben. In der Kuche flammten die Feuer auf, durch die Gunge huschten die
aufgeregten Mugde, treppauf treppab eilte der Diener, in den Kellergewulben
klapperten die Schlussel des Lagerverwalters, im Hof leuchteten Fackeln,
Knechte liefen um Pferde, andere zerrten die Maultiere aus den Stullen, es
wurde gezuumt, gesattelt, gerannt und geladen - man hutte glauben kunnen,
die austrosardischen Horden seien plundernd und sengend im Anmarsch wie anno
1746 und der Hausherr ruste in panischer Eile zur Flucht. Doch keineswegs!
Der Hausherr saß souverun wie ein Marschall von Frankreich am
Schreibtisch seines Kontors, trank Milchkaffee und erließ seine
Anweisungen an die stundig hereinsturzenden Domestiken. Nebenher schrieb er
Briefe an den Burgermeister und Ersten Konsul, an seinen Notar, an seinen
Anwalt, an seinen Bankier in Marseille, an den Baron de Bouyon und an
diverse Geschuftspartner.
Gegen sechs Uhr fruh hatte er die Korrespondenz erledigt und alle zu
seinen Plunen notwendigen Verfugungen getroffen. Er steckte zwei kleine
Reisepistolen zu sich, schnallte sich seinen Geldgurtel um und sperrte den
Schreibtisch zu. Dann ging er seine Tochter wecken.
Um acht setzte sich die kleine Karawane in Bewegung. Richis ritt voran,
er war pruchtig anzusehen in einem weinroten, goldbetressten Rock, schwarzer
Redingote und schwarzem Hut mit kessem Federbusch. Ihm folgte seine Tochter,
bescheidener gekleidet, aber so strahlend schun, dass das Volk auf der
Straße und an den Fenstern nur Augen fur sie hatte, dass anduchtige
Ahs und Ohs durch die Menge gingen und die Munner ihren Hut zogen -
scheinbar vor dem zweiten Konsul, in Wahrheit aber vor ihr, der kuniglichen
Frau. Dann kam, fast unbeachtet, die Zofe, dann Richis' Diener mit zwei
Packpferden - die Verwendung eines Wagens verbot sich wegen des beruchtigt
schlechten Zustands der Grenobler Route -, und den Abschluss des Zuges
bildeten ein Dutzend mit allen muglichen Waren beladene Maultiere unter
Aufsicht zweier Knechte. An der Porte du Cours prusentierten die Wachen das
Gewehr und ließen es erst wieder sinken, als das letzte Maultier
vorubergetippelt war. Kinder liefen hinterher, noch eine ganze Weile lang,
winkten dem Tross nach, der sich langsam auf dem steilen, gewundenen Weg
bergwurts entfernte.
Auf die Menschen machte der Auszug des Antoine Richis mit seiner
Tochter einen seltsam tiefen Eindruck. Ihnen war, als hutten sie einem
archaischen Opfergang beigewohnt. Es hatte sich herumgesprochen, dass Richis
nach Grenoble reiste, in jene Stadt also, wo neuerdings das mudchenmordende
Monster hauste. Die Leute wussten nicht, was sie davon halten sollten. War
es struflicher Leichtsinn, was Richis tat, oder bewundernswerter Mut? War es
eine Herausforderung oder eine Besunftigung der Gutter? Sie ahnten nur sehr
undeutlich, dass sie das schune Mudchen mit den roten Haaren soeben zum
letzten Mal gesehen hatten. Sie ahnten, dass Laure Richis verloren war.
Diese Ahnung sollte sich als richtig erweisen, obwohl sie auf vullig
falschen Voraussetzungen beruhte. Richis zog numlich keineswegs nach
Grenoble. Der pompuse Auszug war nichts als eine Finte gewesen. Anderthalb
Meilen nordwestlich von Grasse, in der Nuhe des Dorfes Saint-Vallier,
ließ er anhalten. Er hundigte seinem Diener Vollmachten und
Begleitschreiben aus und befahl ihm, den Maultiertreck allein mit den
Knechten nach Grenoble zu bringen.
Er selbst wandte sich mit Laure und der Zofe in Richtung Cabris, wo er
eine Mittagspause einlegte, und ritt dann quer durch das Gebirge des
Tanneron nach Suden. Der Weg war uußerst beschwerlich, aber er
gestattete es, Grasse und das Grasser Becken in einem weiten westlichen
Bogen zu umgehen und bis zum Abend unerkannt die Kuste zu erreichen... Am
folgenden Tag - so Richis' Plan - wollte er sich mit Laure nach den
Lerinischen Inseln ubersetzen lassen, auf deren kleinerer sich das
wohlbefestigte Kloster Saint-Honorat befand. Es wurde von einem Huuflein
greiser, aber noch durchaus wehrfuhiger Munche bewirtschaftet, mit denen
Richis gut bekannt war, denn er kaufte und vertrieb schon seit Jahren die
gesamte klusterliche Produktion an Eukalyptuslikur, Pinienkernen und
Zypressenul. Und eben dort, im Kloster Saint-Honorat, dem neben dem
Zuchthaus von Chateau d'If und dem Staatsgefungnis der Ile
Sainte-Mar-guerite wohl sichersten Ort der Provence, gedachte er seine
Tochter furs erste unterzubringen. Er selbst wurde unverzuglich wieder aufs
Festland zuruckkehren, Grasse diesmal via Antibes und Cagnes ustlich
umgehen, um noch am Abend desselben Tages in Vence einzutreffen. Dorthin
hatte er bereits seinen Notar bestellt zwecks einer zu treffenden
Vereinbarung mit dem Baron de Bouyon uber die Verehelichung ihrer Kinder
Laure und Alphonse. Er wollte Bouyon ein Angebot machen, das dieser nicht
wurde ablehnen kunnen: ubernahme von Schulden in Huhe von 40000 Livre,
Mitgift bestehend aus einer Summe in gleicher Huhe sowie diversen Lundereien
und einer ulmuhle bei Maganosc, eine juhrliche Rente von 3000 Livre fur das
junge Paar. Einzige Bedingung Richis' war, dass die Ehe innerhalb von zehn
Tagen eingegangen und am Hochzeitstag vollzogen wurde, und dass das Paar
anschließend Wohnung in Vence nahm.
Richis wusste, dass er durch ein so eiliges Vorgehen den Preis fur die
Verbindung seines Hauses mit dem Haus derer von Bouyon ganz
unverhultnismußig in die Huhe trieb. Bei lungerem Zuwarten hutte er
sie billiger bekommen. Gebettelt hutte der Baron darum, die Tochter des
burgerlichen Großhundlers durch seinen Sohn standesmußig erhuhen
zu durfen, denn der Ruhm von Laures Schunheit wurde ja noch wachsen, ebenso
wie Richis' Reichtum und wie Bouyons finanzielle Misere. Aber sei's drum!
Nicht der Baron war bei diesem Handel der Gegner, sondern der unbekannte
Murder war es. Ihm galt es das Geschuft zu versalzen. Eine verheiratete
Frau, defloriert und womuglich schon geschwungert, passte nicht mehr in
seine exklusive Galerie. Der letzte Mosaikstein wure blind geworden, Laure
hutte fur den Murder jeden Wert verloren, sein Werk wure gescheitert. Und
diese Niederlage sollte er zu spuren bekommen! Richis wollte die Hochzeit in
Grasse abhalten, mit großem Pomp und in aller uffentlichkeit. Und wenn
er seinen Gegner auch nicht kannte und niemals kennen wurde, so sollte es
ihm doch ein Genuss sein, zu wissen, dass dieser dem Ereignis beiwohnte und
mit eignen Augen zusehen musste, wie ihm das Begehrteste vor der Nase
weggeschnappt wurde.
Der Plan war fein ausgedacht. Und wieder mussen wir Richis' Gespur
bewundern, mit dem er der Wahrheit nahekam. Denn in der Tat hutte die
Heimfuhrung der Laure Richis durch den Sohn des Baron de Bouyon fur den
Grasser Mudchenmurder eine vernichtende Niederlage bedeutet. Aber noch war
der Plan nicht verwirklicht. Noch hatte Richis seine Tochter nicht unter die
rettende Haube gebracht. Noch hatte er sie nicht in das sichere Kloster von
Saint-Honorat ubergesetzt. Noch schlugen sich die drei Reiter durch das
unwirtliche Gebirge des Tanneron. Manchmal waren die Wege so schlecht, dass
man von den Pferden absitzen musste. Es ging alles sehr langsam. Gegen Abend
hofften sie das Meer bei Napoule zu erreichen, einem kleinen Ort westlich
von Cannes.
Zu dem Zeitpunkt, da Laure Richis mit ihrem Vater Grasse verließ,
befand sich Grenouille am andern Ende der Stadt im Arnulfischen Atelier und
mazerierte Jonquillen. Er war allein, und er war guter Dinge. Seine Zeit in
Grasse neigte sich dem Ende zu. Der Tag des Triumphes stand bevor.
Draußen in der Kabane lagen in einem wattegepolsterten Kustchen
vierundzwanzig winzige Flakons mit der zu Tropfen geronnenen Aura von
vierundzwanzig Jungfrauen - kostbarste Essenzen, die Grenouille im
vergangenen Jahr durch kalte Fettenfleurage der Kurper, Digerieren von
Haaren und Kleidern, Lavage und Destillation gewonnen hatte. Und die
funfundzwanzigste, die kustlichste und wichtigste, wollte er sich heute
holen. Er hatte schon ein Tiegelchen mit mehrfach gereinigtem Fett, ein Tuch
von feinstem Leinen und einen Ballon hochrektifizierten Alkohols fur diesen
letzten Fischzug vorbereitet. Das Terrain war aufs genaueste sondiert. Es
herrschte Neumond.
Er wusste, dass ein Einbruchsversuch in das gut gesicherte Anwesen an
der Rue Droite sinnlos war. Deshalb wollte er sich schon bei Anbruch der
Dummerung, ehe noch die Tore geschlossen wurden, einschleichen und im Schutz
der eigenen Geruchlosigkeit, die ihn wie eine Tarnkappe der Wahrnehmung von
Mensch und Tier entzog, in irgendeinem Winkel des Hauses verbergen. Sputer
dann, wenn alles schlief, wurde er, vom Kompass seiner Nase durch die
Dunkelheit gefuhrt, zur Kammer seines Schatzes hinaufsteigen. Er wurde ihn
an Ort und Stelle im fettgetrunkten Tuch verarbeiten. Nur Haar und Kleider
wurde er wie gewuhnlich mitnehmen, da diese Teile direkt in Weingeist
ausgewaschen werden konnten, was sich bequemer in der Werkstatt machen
ließ. Fur die Endverarbeitung der Pomade und das Abdestillieren zu
Konzentrat veranschlagte er eine weitere Nacht. Und wenn alles gutging - und
er hatte keinen Grund, daran zu zweifeln, dass alles gutgehen wurde -, dann
war er ubermorgen im Besitz sumtlicher Essenzen fur das beste Parfum der
Welt, und er wurde Grasse verlassen als der bestriechende Mensch auf Erden.
Gegen Mittag war er mit seinen Jonquillen fertig. Er luschte das Feuer,
deckte den Fettkessel zu und ging vor die Werkstatt, um sich abzukuhlen. Der
Wind kam von Westen.
Schon mit dem ersten Atemzug merkte er, dass etwas nicht stimmte. Die
Atmosphure war nicht in Ordnung. Im Duftkleid der Stadt, diesem
vieltausendfudig gewebten Schleier, fehlte der goldene Faden. Wuhrend der
letzten Wochen war dieser duftende Faden so kruftig geworden, dass
Grenouille ihn sogar noch jenseits der Stadt bei seiner Kabane deutlich
wahrgenommen hatte. Jetzt war er weg, verschwunden, durch intensivstes
Schnuppern nicht mehr aufzuspuren. Grenouille war wie geluhmt vor Schreck.
Sie ist tot, dachte er. Dann, noch entsetzlicher: Es ist mir ein
anderer zuvorgekommen. Ein anderer hat meine Blume abgerupft und ihren Duft
an sich gebracht! Einen Schrei brachte er nicht heraus, dazu war seine
Erschutterung zu groß, aber zu Trunen reichte es, die in seinen
Augenwinkeln schwollen und plutzlich beiderseits der Nase herabsturzten.
Da kam Druot aus den >Quatre Dauphins< zum Mittagessen nach Hause
und erzuhlte en passant, heute fruh sei der Zweite Konsul mit zwulf
Maultieren und einer Tochter nach Grenoble gezogen. Grenouille schluckte die
Trunen hinunter und rannte davon, quer durch die Stadt zur Porte du Cours.
Auf dem Platz vor dem Tor hielt er an und schnupperte. Und im reinen, von
den Stadtgeruchen unberuhrten Westwind fand er tatsuchlich seinen goldenen
Faden wieder, dunn und schwach zwar, aber dennoch unverkennbar. Allerdings
wehte der geliebte Duft nicht von Nordwesten her, wohin die Straße
nach Grenoble fuhrte, sondern eher aus Richtung Cabris - wo nicht gar aus
Sudwesten.
Grenouille fragte die Wache, welche Straße der Zweite Konsul
genommen habe. Der Posten wies nach Norden. Nicht die Straße nach
Cabris? Oder die andere, die sudlich nach Auribeau und La Napoule fuhrte? -
Bestimmt nicht, sagte der Posten, er habe es mit eigenen Augen gesehen.
Grenouille rannte zuruck durch die Stadt zu seiner Kabane, packte
Leintuch, Pomadentopf, Spatel, Schere und eine kleine glatte Keule aus
Olivenholz in seinen Reisesack und machte sich unverzuglich auf den Weg -
nicht auf den Weg nach Grenoble, sondern auf den Weg, den ihm seine Nase
wies: nach Suden.
Dieser Weg, der direkte Weg nach Napoule, fuhrte an den Ausluufern des
Tanneron entlang durch die Flusssenken von Frayere und Siagne. Er war bequem
zu gehen. Grenouille kam rasch voran. Als zu seiner Rechten Auribeau
auftauchte, oben an den Bergkuppen hungend, roch er, dass er die Fluchtenden
fast eingeholt hatte. Wenig sputer war er auf gleicher Huhe mit ihnen. Er
roch sie jetzt einzeln, er roch sogar den Dunst ihrer Pferde. Sie konnten
huchstens eine halbe Meile westlich sein, irgendwo in den Wuldern des
Tanneron. Sie hielten nach Suden, aufs Meer zu. Genau wie er.
Gegen funf Uhr nachmittag erreichte Grenouille La Napoule. Er ging in
das Gasthaus, aß und bat um ein billiges Lager. Er sei ein
Gerbergeselle aus Nizza, sagte er, auf dem Weg nach Marseille . Er kunne im
Stall nuchtigen, hieß es. Dort legte er sich in eine Ecke und ruhte
aus. Er roch, dass die drei Reiter sich nuherten. Er brauchte nur noch zu
warten.
Zwei Stunden sputer - es dummerte schon stark kamen sie an. Um ihr
Inkognito zu wahren, hatten sie die Kleider gewechselt. Die beiden Frauen
trugen nun dunkle Gewunder und Schleier, Richis einen schwarzen Rock. Er gab
sich als Edelmann aus, kommend von Castellane; morgen wolle er auf die
Lerinischen Inseln ubersetzen, der Wirt solle fur ein Boot sorgen, das bei
Sonnenaufgang bereitstunde. Ob außer ihm und seinen Leuten noch andere
Guste im Haus seien? Nein, sagte der Wirt, nur ein Gerbergeselle aus Nizza,
der nuchtige im Stall.
Richis schickte die Frauen auf die Zimmer. Er selbst ging in den Stall,
um noch etwas aus den Satteltaschen zu holen, wie er sagte. Zunuchst konnte
er den Gerbergesellen nicht finden, er musste sich vom Rossknecht eine
Laterne geben lassen. Dann sah er ihn, in einem Winkel auf Stroh und einer
alten Decke liegend, den Kopf gegen seinen Reisesack gelehnt, tief
schlafend. Er sah so vollkommen unscheinbar aus, dass Richis fur einen
Moment den Eindruck hatte, er sei gar nicht vorhanden, sondern nur eine von
den schwankenden Schatten der Laternenkerze hingeworfene Schimure.
Jedenfalls stand fur Richis augenblicklich fest, dass von diesem geradezu
ruhrend harmlosen Wesen nicht die geringste Gefahr zu befurchten war, und er
entfernte sich leise, um seinen Schlaf nicht zu sturen, und kehrte ins Haus
zuruck.
Das Abendessen nahm er gemeinsam mit seiner Tochter auf dem Zimmer ein.
Er hatte sie uber Zweck und Ziel der seltsamen Reise nicht aufgeklurt, und
er tat es auch jetzt nicht, obwohl sie ihn darum bat. Morgen werde er sie
einweihen, sagte er, und sie kunne sich darauf verlassen, dass alles, was er
plane und tue, zu ihrem Besten und zukunftigen Gluck ausschlagen werde.
Nach dem Essen spielten sie einige Partien L'hombre, die er alle
verlor, weil er statt in seine Karten immerfort in ihr Gesicht schaute, um
sich an ihrer Schunheit zu ergutzen. Gegen neun Uhr brachte er sie in ihr
Zimmer, das dem seinen gegenuberlag, kusste sie zur Nacht und versperrte die
Ture von außen. Dann ging er selbst zu Bett.
Er war mit einem Mal sehr mude von den Anstrengungen des Tages und der
vergangenen Nacht und zugleich sehr zufrieden mit sich und dem Gang der
Dinge. Ohne den geringsten Gedanken der Sorge, ohne dustere Ahnungen, wie
sie ihn noch bis gestern jedesmal nach dem Luschen der Lampe gequult und
wach gehalten hatten, schlief er sofort ein, und schlief ohne Traum, ohne
Gestuhn, ohne krampfhaftes Zucken oder nervuses Um- und Umwulzen des
Kurpers. Zum ersten Mal seit langer Zeit fand Richis einen tiefen, ruhigen,
erquickenden Schlaf.
Um die gleiche Zeit erhob sich Grenouille von seinem Lager im Stall.
Auch er war zufrieden mit sich und dem Gang der Dinge und fuhlte sich
uußerst erfrischt, obwohl er keine Sekunde lang geschlafen hatte. Als
Richis in den Stall gekommen war, um ihn aufzusuchen, hatte er sich nur
schlafend gestellt, um den Eindruck von Harmlosigkeit, den er an und fur
sich schon wegen seines Unauffulligkeitsgeruchs ausstrahlte, noch
augenscheinlicher zu machen. Anders als Richis ihn, hatte ubrigens er Richis
uußerst pruzise wahrgenommen, olfaktorisch numlich, und Richis'
Erleichterung angesichts seiner war ihm keineswegs entgangen.
Und so hatten sich beide bei ihrer kurzen Begegnung gegenseitig von
ihrer Arglosigkeit uberzeugt, zu Unrecht und zu Recht, und das war gut so,
wie Grenouille fand, denn seine scheinbare und Richis' wirkliche
Arglosigkeit erleichterten ihm, Grenouille, das Geschuft - eine Anschauung
ubrigens, die Richis im umgekehrten Fall durchaus geteilt hutte.
Mit professioneller Beduchtigkeit ging Grenouille ans Werk. Er uffnete
den Reisesack, entnahm ihm Leintuch, Pomade und Spatel, breitete das Tuch
uber die Decke, auf der er gelegen hatte, und begann es mit der Fettpaste zu
bestreichen. Das war eine Arbeit, die ihre Zeit brauchte, denn es kam darauf
an, das Fett hier in dickerer, dort in dunnerer Schicht aufzutragen, je
nachdem, an welche Stelle des Kurpers die jeweilige Partie des Tuches zu
liegen kume. Mund und Achsel, Brust, Geschlecht und Fuße gaben
grußere Duftmengen ab als etwa Schienbeine, Rucken und Ellbogen;
Handfluchen grußere als Handrucken; Brauen grußere als Lider
etc. - und mussten dementsprechend kruftiger mit Fett versehen werden.
Grenouille modellierte also gleichsam ein Duftdiagramm des zu behandelnden
Kurpers auf das Leintuch, und dieser Teil der Arbeit war ihm eigentlich der
befriedigendste, denn es handelte sich um eine kunstlerische Technik, die
Sinne, Phantasie und Hunde gleichermaßen beschuftigte und obendrein
den Genuss des zu erwartenden Endergebnisses auf ideelle Weise vorwegnahm.
Als er das ganze Tupfchen Pomade aufgebraucht hatte, tupfte er noch da
und dort, nahm an einer Stelle des Tuches Fett ab, fugte an einer anderen
zu, retuschierte, uberprufte noch einmal die modellierte Fettlandschaft -
mit der Nase ubrigens, nicht mit den Augen, denn das ganze Geschuft spielte
sich in vollkommener Finsternis ab, was vielleicht ein weiterer Grund fur
Grenouilles ausgeglichen freudige Stimmung war. In dieser Neumondnacht
lenkte ihn nichts ab. Die Welt war nichts als nur Geruch und ein wenig
Brandungsgeruusch vom Meer her. Er war in seinem Element. Dann schlug er das
Tuch zusammen wie eine Tapete, so dass die befetteten Fluchen
aufeinanderlagen. Es war ihm dies eine schmerzliche Handlung, denn er wusste
wohl, dass sich selbst bei aller Vorsicht Teile der ausgeformten Konturen
dadurch abplatteten und verschoben. Aber es gab keine andere Muglichkeit,
das Tuch zu transportieren. Nachdem er es soweit gefaltet hatte, dass er es
ohne allzugroße Behinderung uber den Unterarm gelegt tragen konnte,
steckte er Spatel, Schere und die kleine Olivenholzkeule zu sich und schlich
hinaus ins Freie.
Der Himmel war bedeckt. Im Haus brannte kein Licht mehr. Der einzige
Funken in dieser stockfinsteren Nacht zuckte im Osten auf dem Leuchtturm des
Forts auf der Ile Sainte-Marguerite, uber eine Meile entfernt, ein winziger
heller Nadelstich in rabenschwarzem Tuch. Aus der Bucht kam ein leichter
fischiger Wind. Die Hunde schliefen.
Grenouille ging zur uußeren Tennenluke, an die eine Leiter
gelehnt stand. Er hob die Leiter ab und balancierte sie aufrecht, drei
Sprossen unter den freien rechten Arm geklemmt, den uberstand gegen die
rechte Schulter gepresst, uber den Hof bis unter ihr Fenster. Das Fenster
stand halb offen. Als er die Leiter hinaufstieg, bequem wie auf einer
Treppe, begluckwunschte er sich zu dem Umstand, den Duft des Mudchens hier
in Napoule ernten zu durfen. In Grasse, bei vergitterten Fenstern und streng
bewachtem Haus, wure alles sehr viel schwieriger gewesen. Hier schlief sie
sogar allein. Er brauchte nicht einmal die Zofe auszuschalten.
Er druckte den Fensterflugel auf, schlupfte in die Kammer und legte das
Laken ab. Dann wandte er sich dem Bett zu. Der Duft ihres Haares dominierte,
denn sie lag auf dem Bauch, und sie hatte das Gesicht, vom Armwinkel
umrahmt, ins Kissen gedruckt, so dass sich ihr Hinterkopf in geradezu
idealer Weise dem Keulenschlag prusentierte.
Das Geruusch des Schlages war dumpf und knirschend. Er hasste es. Er
hasste es allein deshalb, weil es ein Geruusch war, ein Geruusch in seinem
ansonsten lautlosen Geschuft. Nur mit zusammengebissenen Zuhnen konnte er
dieses ekelhafte Geruusch ertragen, und nachdem es voruber war, stand er
noch eine Weile lang steif und verbissen da, die Hand um die Keule
gekrampft, als furchte er, das Geruusch kunne zuruckkehren als
widerhallendes Echo von irgendwoher. Es kehrte aber nicht zuruck, sondern
die Stille kehrte zuruck in die Kammer, eine vermehrte Stille sogar, da nun
nicht einmal mehr der schlurfende Atem des Mudchens ging. Und alsbald luste
sich Grenouilles verspannte Haltung (die man vielleicht auch als eine
Ehrfurchtshaltung oder eine Art verkrampfter Schweigeminute hutte deuten
kunnen), und sein Kurper sank geschmeidig in sich zusammen.
Er steckte die Keule weg und war nun nur noch von emsiger
Betriebsamkeit erfullt. Als erstes faltete er das Beduftungstuch
auseinander, breitete es locker mit der Ruckseite uber Tisch und Stuhle und
achtete darauf, dass die Fettseite unberuhrt blieb. Dann schlug er die
Bettdecke zuruck. Der herrliche Duft des Mudchens, der plutzlich warm und
massiv aufquoll, beruhrte ihn nicht. Er kannte ihn ja, und genießen,
genießen bis zum Rausch, wurde er ihn sputer, wenn er ihn erst
wirklich besaß. Jetzt ging es darum, muglichst viel davon einzufangen,
muglichst wenig verstrumen zu lassen, jetzt waren Konzentration und Eile
geboten.
Mit raschen Scherenschnitten schlitzte er das Nachtgewand auf, zog es
ihr aus, ergriff das befettete Laken und warf es uber ihren nackten Kurper.
Dann hob er sie hoch, strich ihr das uberhungende Tuch unter, rollte sie ein
wie ein Bucker den Strudel, falzte die Enden, umhullte sie von den Zehen bis
an die Stirn. Nur ihr Haar schaute noch aus dem Mumienverband hervor. Er
schnitt es dicht uber der Kopfhaut ab, packte es in ihr Nachthemd, das er zu
einem Bundel verknotete. Zuletzt klappte er ein freigelassenes Stuck Tuch
uber den geschorenen Schudel, strich das uberlappende Ende glatt, tupfte es
mit zartem Fingerdruck fest. Er uberprufte das ganze Paket. Kein Schlitz,
kein Luchlein, kein aufgekniffenes Fultlein klaffte mehr, an dem der Duft
des Mudchens hutte entweichen kunnen. Sie war perfektverpackt. Es blieb
nichts mehr zu tun, als zu warten, sechs Stunden lang, bis der Morgen
graute.
Er nahm den kleinen Sessel, auf dem ihre Kleider lagen, trug ihn ans
Bett und setzte sich. In dem weiten schwarzen Gewand hing noch der zarte
Hauch ihres Duftes, vermischt mit dem Geruch von Anisplutzchen, die sie als
Reiseproviant in die Tasche gesteckt hatte. Er legte seine Fuße auf
den Bettrand, in die Nuhe ihrer Fuße, deckte sich mit ihrem Kleid zu
und aß die Anisplutzchen. Er war mude. Aber er wollte nicht schlafen,
denn es gehurte sich nicht, dass man wuhrend der Arbeit schlief, auch wenn
die Arbeit nur aus Warten bestand. Er erinnerte sich an die Nuchte, die er
in der Werkstatt Baldinis beim Destillieren verbracht hatte: an den
rußgeschwurzten Alambic, an das flackernde Feuer, an das leise
spuckende Geruusch, mit dem das Destillat aus dem Kuhlrohr in die
Florentinerflasche trupfelte. Von Zeit zu Zeit hatte man nach dem Feuer
sehen mussen, hatte Destillierwasser nachfullen, die Florentinerflasche
wechseln, das erschupfte Destilliergut ersetzen mussen. Und dennoch war ihm
immer gewesen, als wache man nicht, um diese gelegentlich anfallenden
Tutigkeiten zu verrichten, sondern als habe die Wache ihren eigenen Sinn.
Selbst hier in dieser Kammer, wo sich der Prozess der Enfleurage ganz von
allein vollzog, ja, wo sogar ein unzeitiges Prufen, Wenden und Betun des
duftenden Pakets nur sturend hutte wirken kunnen selbst hier, so schien
Grenouille, war seine wachende Gegenwart wichtig. Der Schlaf hutte den Geist
des Gelingens gefuhrdet.
Es fiel ihm im ubrigen nicht schwer, wachzubleiben und zu warten, trotz
seiner Mudigkeit. Dieses Warten liebte er. Auch bei den vierundzwanzig
anderen Mudchen hatte er es geliebt, denn es war ja kein dumpfes Dahinwarten
und auch kein sehnsuchtiges Herbeiwarten, sondern ein begleitendes,
sinnvolles, gewissermaßen ein tutiges Warten. Es tat sich etwas
wuhrend dieses Wartens. Das Wesentliche tat sich. Und wenn er es auch nicht
selbst tat, so tat es sich doch durch ihn. Er hatte sein Bestes gegeben. Er
hatte all seine Kunstfertigkeit aufgebracht. Kein Fehler war ihm
unterlaufen. Das Werk war einzigartig. Es wurde von Erfolg gekrunt sein...
Nur noch ein paar Stunden warten musste er. Es befriedigte ihn zutiefst,
dieses Warten. Er hatte sich in seinem Leben nie so wohl gefuhlt, so ruhig,
so ausgeglichen, so eins und einig mit sich selbst - auch damals nicht in
seinem Berg - wie in diesen Stunden der handwerklichen Pause, da er in
tiefster Nacht bei seinen Opfern saß und wachend wartete. Es waren die
einzigen Momente, da sich in seinem dusteren Hirn fast heitere Gedanken
bildeten.
Sonderbarerweise gingen diese Gedanken nicht in die Zukunft. Er dachte
nicht an den Duft, den er in ein paar Stunden ernten wurde, nicht an das
Parfum aus funfundzwanzig Mudchenauren, nicht an kunftige Plune, Gluck und
Erfolg. Nein, er gedachte seiner Vergangenheit. Er erinnerte sich an die
Stationen seines Lebens vom Hause der Madame Gaillard und dem feuchtwarmen
Holzstoß davor bis zu seiner heutigen Reise in das kleine fischig
riechende Dorf Napoule. Er gedachte des Gerbers Grimal, Giuseppe Baldinis,
des Marquis de la Taillade-Espinasse. Er gedachte der Stadt Paris, ihres
großen tausendfach schillernden ublen Brodems, er gedachte des
rothaarigen Mudchens in der Rue des Marais, des freien Landes, des dunnen
Winds, der Wulder. Er gedachte auch des Bergs in der Auvergne - er umging
diese Erinnerung keineswegs -, seiner Huhle, der menschenleeren Luft. Er
gedachte auch seiner Truume. Und er gedachte all dieser Dinge mit
großem Wohlgefallen. Ja, es schien ihm, wenn er so zuruckdachte, dass
er ein vom Gluck besonders begunstigter Mensch sei und dass sein Schicksal
ihn auf zwar verschlungenen, doch letzten Endes richtigen Wegen gefuhrt habe
- wie wure es sonst muglich gewesen, dass er hierhergefunden hutte, in diese
dunkle Kammer, ans Ziel seiner Wunsche? Er war, wenn er sich's recht
uberlegte, ein wirklich begnadetes Individuum!
Ruhrung stieg in ihm auf, Demut und Dankbarkeit. "Ich danke dir", sagte
er leise, "ich danke dir, Jean-Baptiste Grenouille, dass du so bist, wie du
bist!" So ergriffen war er von sich selbst.
Dann schloss er die Lider - nicht, um zu schlafen, sondern um sich ganz
dem Frieden dieser Heiligen Nacht hinzugeben. Der Friede erfullte sein Herz.
Aber es schien ihm, als herrsche er auch ringsum. Er roch den friedlichen
Schlaf der Zofe im Nebenzimmer, den tiefbefriedigten Schlaf des Antoine
Richis jenseits des Ganges, er roch den friedlichen Schlummer des Wirts und
der Knechte, der Hunde, der Tiere im Stall, des ganzen Orts und des Meeres.
Der Wind hatte sich gelegt. Alles war still. Nichts sturte den Frieden.
Einmal bog er seinen Fuß zur Seite und beruhrte ganz sacht den
Fuß von Laure. Nicht ihren Fuß eigentlich, sondern gerade eben
das Tuch, das ihn umhullte, mit der dunnen Schicht Fett darunter, die sich
mit ihrem Duft trunkte, mit ihrem herrlichen Duft, mit seinem.
Als die Vugel zu schreien begannen - also noch geraume Zeit vor Anbruch
der Morgendummerung -, erhob er sich und vollendete seine Arbeit. Er schlug
das Tuch auseinander und zog es wie ein Pflaster von der Toten ab. Das Fett
schulte sich gut von der Haut. Nur an den verwinkelten Stellen blieben
einige Reste hungen, die er mit dem Spatel abstreichen musste. Die ubrigen
Pomadeschlieren wischte er mit Laures eigenem Unterhemd auf, mit dem er
zuletzt auch noch den Kurper von Kopf bis Fuß abrubbelte, so
grundlich, dass sich selbst noch das Porenfett in Krumeln von der Haut rieb,
und mit ihm die letzten Fusselchen und Fitzelchen ihres Duftes. Jetzt erst
war sie fur ihn wirklich tot, abgewelkt, blass und schlaff wie Blutenabfall.
Er warf das Unterhemd ins große enfleurierte Tuch, in dem allein
sie weiterlebte, legte das Nachtgewand mit ihren Haaren dazu und rollte
alles zu einem kleinen festen Paket zusammen, das er sich unter den Arm
klemmte. Er nahm sich nicht die Muhe, die Leiche auf dem Bett zuzudecken.
Und obwohl die Nachtschwurze sich schon ins Blaugraue der Morgendummerung
verwandelt hatte und die Dinge im Zimmer Kontur anzunehmen begannen, warf er
keinen Blick mehr auf ihr Bett, um sie wenigstens ein einziges Mal in seinem
Leben mit Augen zu sehen. Ihre Gestalt interessierte ihn nicht. Sie war fur
ihn als Kurper gar nicht mehr vorhanden, nur noch als kurperloser Duft. Und
diesen trug er unterm Arm und nahm ihn mit sich.
Leise schwang er sich auf die Brustung des Fensters und stieg die
Leiter hinab. Draußen war wieder Wind aufgekommen, und der Himmel
klarte auf und goss ein kaltes dunkelblaues Licht uber das Land.
Eine halbe Stunde sputer schlug die Magd in der Kuche Feuer. Als sie
vor das Haus trat, um Holz zu holen, sah sie die angelehnte Leiter, war aber
noch zu verschlafen, sich irgendeinen Reim darauf zu machen. Kurz nach sechs
ging die Sonne auf. Riesig und goldrot hob sie sich zwischen den beiden
Lerinischen Inseln aus dem Meer. Keine Wolke war am Himmel. Ein strahlender
Fruhlingstag begann.
Richis, dessen Zimmer nach Westen lag, erwachte um sieben. Er hatte zum
ersten Mal seit Monaten wirklich pruchtig geschlafen und blieb entgegen
seiner Gewohnheit noch eine Viertelstunde lang liegen, rukelte sich und
seufzte vor Vergnugen und lauschte dem angenehmen Rumoren, das aus der Kuche
heraufdrang. Als er dann aufstand und das Fenster weit uffnete und
draußen das schune Wetter gewahrte und die frische wurzige Morgenluft
einsog und die Brandung des Meeres hurte, da kannte seine gute Laune keine
Grenzen mehr, und er spitzte die Lippen und pfiff eine muntere Melodie.
Wuhrend er sich ankleidete, pfiff er weiter und pfiff immer noch, als
er sein Zimmer verließ und mit beschwingtem Schritt uber den Gang an
die Kammerture seiner Tochter trat. Er pochte. Und pochte wieder, ganz
leise, um sie nicht aufzuschrecken. Es kam keine Antwort. Er luchelte. Er
verstand gut, dass sie noch schlief.
Vorsichtig schob er den Schlussel ins Loch und drehte den Riegel,
leise, ganz leise, bedacht, sie nicht zu wecken, begierig fast, sie noch im
Schlaf vorzufinden, aus dem er sie wachkussen wollte, noch einmal, zum
letzten Mal, ehe er sie einem undern Mann geben musste.
Die Ture sprang auf, er trat ein, und das Sonnenlicht fiel ihm voll ins
Gesicht. Die Kammer war wie von gleißendem Silber gefullt, alles
strahlte, und er musste vor Schmerz fur einen Moment die Augen
schließen.
Als er sie wieder uffnete, sah er Laure auf dem Bett liegen, nackt und
tot und kahlrasiert und blendend weiß. Es war wie in dem Alptraum, den
er vorvergangene Nacht in Grasse gehabt und wieder vergessen hatte, und
dessen Inhalt ihm jetzt wie ein Blitzschlag ins Geduchtnisuhr. Alles war mit
einem Mal haargenau wie in jenem Traum, nur sehr viel heller.
Die Nachricht vom Mord an Laure Richis verbreitete sich so schnell im
Grasser Land, als hutte es geheißen "Der Kunig ist tot!" oder "Es gibt
Krieg!" oder "Die Piraten sind an der Kuste gelandet!", und uhnlichen,
schlimmeren Schrecken luste sie aus. Mit einem Mal war die sorgfultig
vergessene Angst wieder da, virulent wie im vergangenen Herbst, mit all
ihren Begleiterscheinungen: der Panik, der Empurung, der Wut, den
hysterischen Verduchtigungen, der Verzweiflung. Die Menschen blieben nachts
in den Huusern, sperrten ihre Tuchter ein, verbarrikadierten sich,
misstrauten einander und schliefen nicht mehr. Jedermann dachte, es werde
nun weitergehen wie damals, jede Woche ein Mord. Die Zeit schien um ein
halbes Jahr zuruckgesetzt.
Luhmender noch als vor einem halben Jahr war die Angst, denn die
plutzliche Ruckkunft der lungst uberwunden geglaubten Gefahr verbreitete ein
Gefuhl von Hilflosigkeit unter den Menschen. Wenn selbst des Bischofs Fluch
versagte! Wenn Antoine Richis, der große Richis, der reichste Burger
der Stadt, der Zweite Konsul, ein muchtiger, besonnener Mann, dem alle
Hilfsmittel zu Gebote standen, sein eigenes Kind nicht schutzen konnte! Wenn
des Murders Hand nicht einmal vor der heiligen Schunheit Laures
zuruckschreckte - denn in der Tat wie eine Heilige erschien sie allen, die
sie gekannt hatten, vor allem jetzt, hinterher, als sie tot war. Was gab es
da noch fur Hoffnung, dem Murder zu entgehen? Er war grausamer als die Pest,
denn vor der Pest konnte man fliehen, vor diesem Murder aber nicht, wie das
Beispiel Richis' bewies. Er besaß offenbar uberirdische Fuhigkeiten.
Er stand ganz gewiss mit dem Teufel im Bund, wenn er nicht selbst der Teufel
war. Und so wussten sich viele, vor allem die einfultigeren Gemuter, keinen
anderen Rat, als in die Kirche zu gehen und zu beten, ein jeder Berufsstand
zu seinem Patron, die Schlosser zum Heiligen Aloysius, die Weber zum
Heiligen Krispinius, die Gurtner zum Heiligen Antonius, die Parfumeure zum
Heiligen Josephus. Und sie nahmen ihre Frauen und Tuchter mit, beteten
gemeinsam, aßen und schliefen in der Kirche, verließen sie
selbst am Tage nicht mehr, uberzeugt, im Schutz der verzweifelten
Gemeinschaft und im Angesicht der Madonna die einzig mugliche Sicherheit vor
dem Ungeheuer zu finden, sofern es uberhaupt noch Sicherheit gab.
Andere, gewitztere Kupfe, schlossen sich, da die Kirche bereits schon
einmal versagt hatte, zu okkulten Gruppen zusammen, engagierten fur viel
Geld eine approbierte Hexe aus Gourdon, verkrochen sich in eine der vielen
Kalksteingrotten des Grasser Untergrunds und veranstalteten Satansmessen, um
sich den Leibhaftigen geneigt zu machen. Wieder andere, vornehmlich
Mitglieder des gehobenen Burgertums und des gebildeten Adels, setzten auf
modernste wissenschaftliche Methoden, magnetisierten ihre Huuser,
hypnotisierten ihre Tuchter, bildeten fluidale Schweigekreise in ihren
Salons und versuchten, mit gemeinschaftlich produzierten Gedankenemissionen
den Geist des Murders telepathisch zu bannen. Die Korporationen
organisierten eine Bußprozession von Grasse nach Napoule und zuruck.
Die Munche aus den funf Klustern der Stadt richteten einen permanenten
Bittgottesdienst ein, mit Dauergesungen, so dass bald an dieser, bald an
jener Ecke der Stadt ein ununterbrochenes Lamento zu huren war, bei Tag und
bei Nacht. Gearbeitet wurde kaum noch.
So harrte das Volk von Grasse in fieberhafter Untutigkeit, beinahe mit
Ungeduld, des nuchsten Mordanschlags. Dass er bevorstand, bezweifelte
niemand. Und insgeheim sehnte jeder die Schreckensnachricht herbei, in der
einzigen Hoffnung, dass sie nicht ihn selbst, sondern einen anderen betrufe.
Die Obrigkeit allerdings in Stadt, Land und Provinz ließ sich
diesmal nicht von der hysterischen Stimmung des Volkes anstecken. Zum ersten
Mal, seitdem der Mudchenmurder aufgetreten war, kam es zu planvoller und
ersprießlicher Zusammenarbeit zwischen den Vogteien von Grasse,
Draguignan und Toulon, zwischen Magistraten, Polizei, Intendant, Parlament
und Marine.
Der Grund fur dieses solidarische Vorgehen der Muchtigen war einerseits
die Befurchtung eines allgemeinen Volksaufstandes, andrerseits die Tatsache,
dass man seit dem Mord an Laure Richis Anhaltspunkte hatte, die eine
systematische Verfolgung des Murders uberhaupt erst ermuglichten. Der Murder
war gesehen worden. Offensichtlich handelte es sich um jenen ominusen
Gerbergesellen, der sich in der Mordnacht im Stall des Gasthofs von Napoule
aufgehalten hatte und am nuchsten Morgen spurlos verschwunden war. Nach
ubereinstimmenden Angaben des Wirts, des Stallknechts und Richis' war er ein
unscheinbarer, kleingewachsener Mann mit bruunlichem Rock und grobleinenem
Reisesack. Obwohl ansonsten die Erinnerung der drei Zeugen seltsam vage
blieb, sie etwa Gesicht, Haarfarbe oder Sprache des Mannes nicht hutten
beschreiben kunnen, wusste der Wirt doch noch zu sagen, dass ihm, wenn er
sich nicht tuusche, an Haltung und Gang des Fremden etwas Linkisches,
Hinkendes aufgefallen sei, wie von einer Beinverletzung oder einem
verkruppelten Fuß.
Mit diesen Indizien versehen nahmen schon gegen Mittag des Mordtags
zwei Reiterabteilungen der Marechaussee die Verfolgung des Murders in
Richtung Marseille auf - eine an der Kuste entlang, die andere uber den Weg
im Landesinnern. Die nuhere Umgebung von Napoule ließ man von
Freiwilligen durchkummen. Zwei Kommissionure des Grasser Landgerichts
reisten nach Nizza, um dort Nachforschungen uber den Gerbergesellen
anzustellen. In den Hufen von Frejus, Cannes und Antibes wurden alle
auslaufenden Schiffe kontrolliert, an der Grenze nach Savoyen jeder Weg
gesperrt, Reisende hatten sich auszuweisen. Eine steckbriefliche
Beschreibung des Tuters erschien fur die, die lesen konnten, an allen
Stadttoren von Grasse, Vence, Gourdon und an den Kirchturen der Durfer.
Dreimal tuglich wurde sie ausgeschrieen. Die Sache mit dem vermuteten
Klumpfuß besturkte freilich die Ansicht, es handle sich bei dem Tuter
um den Teufel selbst, und schurte deshalb eher die Panik in der Bevulkerung,
als dass man verwertbare Hinweise erhielt.
Erst nachdem der Grasser Gerichtsprusident im Auftrag Richis' eine
Belohnung von nicht weniger als zweihundert Livres fur Hinweise zur
Ergreifung des Tuters ausgeschrieben hatte, fuhrten Denunziationen zur
Festnahme einiger Gerbergesellen in Grasse, Opio und Gourdon, von denen
einer tatsuchlich das Ungluck hatte, zu hinken. Diesen gedachte man schon
trotz seinem durch mehrere Zeugen gefestigten Alibi der Folter zu
unterziehen, als sich, am zehnten Tag nach geschehenem Mord, ein Mann der
Stadtwache bei der Magistratur meldete und den Richtern folgende Aussage
machte: Am Mittag jenes Tages sei er, Gabriel Tagliasco, Hauptmann der
Wache, an der Porte du Cours wie gewuhnlich Dienst tuend, von einem
Individuum, auf welches, wie er jetzt wisse, die steckbriefliche
Beschreibung ziemlich passe, angesprochen und wiederholt und in dringlicher
Weise nach dem Weg gefragt worden, auf welchem der Zweite Konsul mit seiner
Karawane am Morgen die Stadt verlassen habe. Dem Vorfall selbst habe er
weder damals noch sputer irgendeine Bedeutung beigemessen, und auch an das
Individuum hutte er sich aus eigener Kraft mit Bestimmtheit nicht mehr
erinnern kunnen - es sei so durchaus unbemerkenswert gewesen -, wenn er es
nicht gestern zufullig wieder gesehen hutte, und zwar hier in Grasse, in der
Rue de la Louve, vor dem Atelier des Maitre Druot und der Madame Arnulfi,
bei welcher Gelegenheit ihm auch aufgefallen sei, dass der Mensch, in die
Werkstatt zuruckkehrend, deutlich gehinkt habe. Eine Stunde sputer wurde
Grenouille verhaftet. Der Wirt und sein Stallknecht aus Napoule, die sich
wegen der Identifizierung der anderen Verduchtigen in Grasse aufhielten,
erkannten ihn sofort als den Gerbergesellen wieder, der bei ihnen
ubernachtet hatte: Dieser sei's und kein anderer, dieser musse der gesuchte
Murder sein.
Man untersuchte die Werkstatt, man untersuchte die Kabane im
Olivengarten hinter dem Franziskanerkloster. In einer Ecke, kaum versteckt,
lagen das zerschnittene Nachtgewand, das Unterhemd und die roten Haare der
Laure Richis. Und als man den Boden aufgrub, kamen nach und nach die Kleider
und Haare der anderen vierundzwanzig Mudchen zum Vorschein. Die Holzkeule
fand sich, mit der die Opfer erschlagen worden waren, und der leinene
Reisesack. Die Indizien waren uberwultigend. Man ließ die
Kirchenglocken luuten. Der Gerichtsprusident gab durch Ausruf und Anschlag
bekannt, dass der beruchtigte Mudchenmurder, nach dem man fast ein Jahr lang
gefahndet habe, endlich gefasst und in festem Gewahrsam sei.
Zunuchst glaubten die Leute nicht an die Verlautbarung. Sie hielten sie
fur eine Finte, mit der die Behurden ihre eigene Unfuhigkeit kaschieren und
die gefuhrlich gereizte Stimmung des Volkes beruhigen wollten. Zu gut
erinnerte man sich noch der Zeit, da es geheißen hatte, der Murder sei
nach Grenoble abgezogen. Zu fest hatte sich diesmal die Angst in die Seelen
der Menschen gefressen.
Erst als am folgenden Tag auf dem Kirchplatz vor der Pruvotu die
Beweisstucke uffentlich ausgestellt wurden - es war ein schauerliches Bild,
die funfundzwanzig Gewunder mit den funfundzwanzig Haarbuscheln, wie
Vogelscheuchen an Stangen aufgezogen, an der Stirnseite des Platzes, der
Kathedrale gegenuber, aufgereiht zu sehen - da wandelte sich die uffentliche
Meinung.
Zu vielen Hunderten defilierten die Menschen an der makabren Galerie
voruber. Angehurige der Opfer, die die Kleider wiedererkannten, brachen
schreiend zusammen. Die ubrige Menge, teils aus Sensationslust, teils um
vullig uberzeugt zu sein, begehrte den Murder zu sehen. Die Rufe nach ihm
wurden bald so laut, die Unruhe auf dem kleinen, menschenwogenden Platz so
bedrohlich, dass der Prusident sich entschloss, Grenouille aus seiner Zelle
heraufbringen zu lassen und ihn an einem Fenster des ersten Stocks der
Pruvotu zu prusentieren.
Als Grenouille ans Fenster trat, verstummte das Gebrull. Es war mit
einem Mal so vollstundig still wie an einem heißen Sommertag zur
Mittagsstunde, wenn alles draußen auf den Feldern ist oder sich in den
Schatten der Huuser verkriecht. Kein Tritt, kein Ruuspern, kein Atmen war
mehr zu huren. Die Menge war nur noch Auge und offener Mund, minutenlang.
Kein Mensch konnte es fassen, dass der windige, kleine, geduckte Mann dort
oben am Fenster, dieses Wurstchen, dieses armselige Huuflein, dieses Nichts,
uber zwei Dutzend Morde begangen haben sollte. Er sah einem Murder einfach
nicht gleich. Niemand hutte zwar sagen kunnen, wie er sich den Murder,
diesen Teufel, eigentlich vorgestellt hatte, aber alle waren sich einig: so
nicht! Und dennoch - obwohl der Murder den Vorstellungen der Leute so gar
nicht entsprach und seine Prusentation daher, wie man wurde meinen kunnen,
wenig uberzeugend hutte wirken sollen, ging paradoxerweise allein von der
Leibhaftigkeit dieses Menschen am Fenster und von der Tatsache, dass eben
nur er und kein anderer als Murder prusentiert wurde, eine uberzeugende
Wirkung aus. Sie dachten alle: Das kann doch nicht wahr sein! - und wussten
im selben Moment, dass es wahr sein musse.
Freilich, erst als die Wachen das Munnlein wieder zuruck ins Dunkel des
Zimmers gezogen hatten, erst als es also nicht mehr gegenwurtig und
sichtbar, sondern nur noch, wenn auch fur kurzeste Zeit, als Erinnerung,
fast muchte man sagen als Begriff in den Hirnen der Menschen existierte, als
Begriff eines abscheulichen Murders - da erst wich die Verbluffung der Menge
und schaffte Raum fur eine angemessene Reaktion: Die Munder klappten zu, die
tausend Augen belebten sich wieder. Und dann erscholl es in einem einzigen
donnernden Wut- und Racheschrei: "Wir wollen ihn haben!" Und sie schickten
sich an, die Pruvotu zu sturmen, um ihn mit eigenen Hunden zu erwurgen, zu
zerreißen und zu zerstuckeln. Die Wachen hatten alle Muhe, das Tor zu
verrammeln und den Mob zuruckzudrungen. Grenouille wurde schleunigst in sein
Verlies gebracht. Der Prusident trat ans Fenster und versprach ein schnelles
und exemplarisch strenges Verfahren. Trotzdem dauerte es noch Stunden, ehe
sich die Menge verlaufen, noch Tage, eh sich die Stadt leidlich beruhigt
hatte.
In der Tat ging der Prozess gegen Grenouille uußerst zugig
vonstatten, da nicht nur die Beweismittel erdruckend waren, sondern der
Angeklagte selbst bei den Vernehmungen ohne Umschweife die ihm zur Last
gelegten Morde gestand.
Allein nach seinen Motiven befragt, wusste er keine befriedigende
Antwort zu geben. Er wiederholte immer nur, er habe die Mudchen gebraucht
und sie deshalb erschlagen. Wozu er sie gebraucht habe und was das uberhaupt
bedeuten sollte, "er habe sie gebraucht" - dazu schwieg er. Man
uberantwortete ihn daraufhin der Folter, hungte ihn stundenlang an den
Fußen auf, pumpte ihm sieben Finten Wasser ein, setzte
Fußzwingen - ohne den geringsten Erfolg. Der Mensch schien gegen
kurperliche Schmerzen unempfindlich, gab keinen Laut von sich und sagte,
wenn er abermals befragt wurde, nichts als: "Ich habe sie gebraucht. " Die
Richter hielten ihn fur geisteskrank. Sie setzten die Folter ab und
beschlossen, das Verfahren ohne weitere Vernehmungen zu Ende zu bringen.
Die einzige Verzugerung, die sich noch ergab, war ein juristisches
Geplunkel mit dem Magistrat von Draguignan, in dessen Vogtei La Napoule
gelegen war, und dem Parlament in Aix, welche beide den Prozess an sich
bringen wollten. Aber die Grasser Richter ließen sich die Sache nicht
mehr entwinden. Sie waren es gewesen, die den Tuter gefasst hatten, in ihrem
Zustundigkeitsbereich war die uberwiegende Anzahl der Morde begangen worden,
und ihnen drohte der geballte Volkszorn, wenn sie den Murder einem anderen
Gericht uberließen. Sein Blut musste in Grasse fließen.
Am 15. April 1766 wurde das Urteil gefullt und dem Angeklagten in
seiner Zelle verlesen: "Der Parfumeurgeselle Jean-Baptiste Grenouille", so
hieß es da, "soll binnen achtundvierzig Stunden auf den Cours vor die
Tore der Stadt gefuhrt, dort, das Gesicht zum Himmel, auf ein Holzkreuz
gebunden werden, bei lebendigem Leib zwulf Schluge mit einer eisernen Stange
erhalten, die ihm die Gelenke der Arme, Beine, Huften und Schultern
zerschmettern, und danach auf dem Kreuze angeflochten aufgestellt werden bis
zu seinem Tode." Die ubliche Gnadenpraxis, den Delinquenten nach dem
Zerschmettern mittels eines Fadens zu erwurgen, wurde dem Scharfrichter
ausdrucklich untersagt, auch wenn der Todeskampf sich uber Tage hinziehen
sollte. Die Leiche sei nuchtens auf dem Schindanger zu vergraben, der Ort
nicht zu kennzeichnen.
Grenouille nahm den Spruch ohne Regung entgegen. Der Gerichtsdiener
fragte ihn nach seinem letzten Wunsch. "Nichts", sagte Grenouille; er habe
alles, was er brauche.
Ein Priester ging in die Zelle, um ihm die Beichte abzunehmen, kam aber
schon nach einer Viertelstunde unverrichteter Dinge wieder heraus. Der
Verurteilte habe ihn bei der Erwuhnung des Namens Gottes so absolut
verstundnislos angeschaut, als hure er diesen Namen soeben zum ersten Mal,
sich dann auf seiner Pritsche ausgestreckt, um sofort in tiefsten Schlaf zu
versinken. Jedes weitere Wort sei sinnlos gewesen.
In den folgenden zwei Tagen kamen viele Menschen, um den beruhmten
Murder aus der Nuhe zu sehen. Die Wurter ließen sie durch die Klappe
an der Zellenture einen Blick tun und verlangten sechs Sol pro Blick. Ein
Kupferstecher, der eine Skizze anfertigen wollte, musste zwei Franc
bezahlen. Das Motiv war aber eher enttuuschend. Der Gefangene, an Fuß-
und Handgelenken angekettet, lag die ganze Zeit auf der Pritsche und
schlief. Das Gesicht hatte er zur Wand gekehrt, und er reagierte weder auf
Klopfzeichen noch auf Zurufe. Der Zutritt zur Zelle war Besuchern strikt
verwehrt, und die Wurter wagten es trotz verlockender Angebote nicht, sich
uber dies Verbot hinwegzusetzen. Man furchtete, der Gefangene kunne von
einem Angehurigen seiner Opfer zur Unzeit ermordet werden. Aus dem gleichen
Grund durfte ihm auch kein Essen zugeschoben werden. Es hutte vergiftet sein
kunnen. Wuhrend der ganzen Gefangenschaft erhielt Grenouille sein Essen aus
der Gesindekuche des bischuflichen Palastes, welches der
Gefungnisoberaufseher vorzukosten hatte. Die letzten beiden Tage aß er
freilich gar nichts. Er lag und schlief. Gelegentlich klirrten seine Ketten,
und wenn der Wurter an die Turklappe eilte, konnte er ihn einen Schluck aus
der Wasserflasche nehmen, sich wieder aufs Lager werfen und weiterschlafen
sehen. Es schien, als sei dieser Mensch seines Lebens derart mude, dass er
nicht einmal mehr die letzten Stunden davon in wachem Zustand miterleben
wollte.
Unterdessen wurde der Cours fur die Hinrichtung vorbereitet.
Zimmerleute bauten ein Schafott, drei mal drei Meter groß und zwei
Meter hoch, mit Gelunder und einer soliden Treppe - ein so pruchtiges hatte
man in Grasse noch nie gehabt. Dazu eine Holztribune fur die Honoratioren
und einen Zaun gegen das gemeine Volk, das in gewisser Distanz gehalten
werden sollte. Die Fensterplutze in den Huusern links und rechts der Porte
du Cours und im Gebuude der Wache waren lungst zu exorbitanten Preisen
vermietet. Sogar in der etwas seitwurts gelegenen Charitu hatte der Gehilfe
des Scharfrichters den Kranken ihre Zimmer abgehandelt und mit hohem Gewinn
an Schaulustige weitervermietet. Die Limonadenverkuufer mischten kannenweise
Lakritzenwasser auf Vorrat, der Kupferstecher druckte seine im Gefungnis
genommene und aus der Phantasie noch ein wenig rasanter gestaltete Skizze
des Murders in vielen hundert Exemplaren, fliegende Hundler strumten zu
Dutzenden in die Stadt, die Bucker buken Gedenkplutzchen.
Der Scharfrichter, Monsieur Papon, der schon seit Jahren keinen
Delinquenten mehr zu zerbrechen gehabt hatte, ließ sich eine schwere
vierkantige Eisenstange schmieden und ging damit in den Schlachthof, um an
Tierkadavern seine Hiebe zu uben. Zwulf Schluge durfte er nur fuhren, und
mit diesen mussten die zwulf Gelenke sicher zerbrochen werden, ohne dass
wertvolle Teile des Kurpers, wie etwa Brust oder Kopf, beschudigt wurden -
ein diffiziles Geschuft, das grußtes Fingerspitzengefuhl erforderte.
Die Burger bereiteten sich auf das Ereignis wie auf einen hohen Festtag
vor. Dass nicht gearbeitet werden wurde, verstand sich von selbst. Die
Frauen bugelten ihr Feiertagshabit, die Munner staubten ihre Rucke aus und
ließen sich die Stiefel glunzend putzen. Wer eine Militurcharge oder
ein Amt besaß, wer Gildenmeister war, Advokat, Notar, Direktor einer
Bruderschaft oder sonst etwas Bedeutendes, der legte Uniform und offizielle
Tracht an, mit Orden, Schurpen, Ketten und mit kreideweiß gepuderter
Perucke. Die Gluubigen gedachten sich post festum zum Gottesdienst zu
versammeln, die Satansjunger zu einer deftigen luziferischen Dankmesse, die
gebildete Noblesse zur magnetischen Seance in den Hotels der Cabris',
Villeneuves und Fontmichels. In den Kuchen wurde schon gebacken und
gebraten, aus den Kellern Wein geholt und vom Markt der Blumenschmuck, in
der Kathedrale probten Organist und Kirchenchor.
Im Hause Richis an der Rue Drohe blieb es still. Richis hatte sich jede
Zurustung fur den "Tag der Befreiung", als welchen das Volk den
Hinrichtungstag des Murders bezeichnete, verbeten. Ihm war alles ein Ekel.
Die plutzlich wiederaufbrechende Furcht der Menschen war ihm ein Ekel
gewesen, ihre fiebrige Vorfreude war ihm ein Ekel. Sie selbst, die Menschen,
alle miteinander, waren ihm ein Ekel. Er hatte sich nicht an der
Prusentation des Tuters und seiner Opfer auf dem Platz vor der Kathedrale
beteiligt, nicht am Prozess, nicht am widerwurtigen Defilee der
Sensationslusternen vor der Zelle des Verurteilten. Zur Identifikation der
Haare und Kleider seiner Tochter hatte er das Gericht zu sich nach Hause
bestellt, kurz und gefasst seine Aussage gemacht und gebeten, man muge ihm
die Dinge als Reliquien uberlassen, was auch geschah. Er trug sie in Laures
Kammer, legte das zerschnittene Nachthemd und das Leibchen auf ihr Bett,
breitete die roten Haare ubers Kissen und setzte sich davor und
verließ die Kammer Tag und Nacht nicht mehr, als wolle er durch diese
sinnlose Wache gutmachen, was er in der Nacht von La Napoule versuumt hatte.
Er war so erfullt von Ekel, Ekel vor der Welt und vor sich selbst, dass er
nicht weinen konnte.
Auch vor dem Murder empfand er Ekel. Er wollte ihn nicht mehr als
Menschen sehen, nur noch als Opfer, das geschlachtet wurde. Erst bei der
Hinrichtung wollte er ihn sehen, wenn er auf dem Kreuz lag und die zwulf
Schluge auf ihn niederkrachten, dann wollte er ihn sehen, ganz nah wollte er
ihn dann sehen, er hatte sich einen Platz in vorderster Reihe reservieren
lassen. Und wenn sich das Volk verlaufen hutte, nach ein paar Stunden, dann
wollte er hinaufsteigen zu ihm aufs Blutgerust und sich neben ihn setzen und
Wache halten, nuchtelang, tagelang, wenn es sein musste, und ihm dabei in
die Augen schauen, dem Murder seiner Tochter, und ihm den ganzen Ekel in die
Augen truufeln, der in ihm war, den ganzen Ekel in seinen Todeskampf
hineinschutten wie eine brennende Suure, so lange, bis das Ding verreckt
war...
Danach? Was er danach tun wurde? Er wusste es nicht. Vielleicht wieder
sein gewohntes Leben aufnehmen, vielleicht heiraten, vielleicht einen Sohn
zeugen, vielleicht nichts tun, vielleicht sterben. Es war ihm vullig
gleichgultig. Daruber nachzudenken erschien ihm so sinnlos, als duchte er
daruber nach, was er nach seinem eigenen Tode tun sollte: nichts naturlich.
Nichts, was er jetzt schon wissen kunnte.
Die Hinrichtung war auf funf Uhr nachmittags angesetzt. Schon am Morgen
kamen die ersten Schaulustigen und sicherten sich Plutze. Sie brachten
Stuhle und Trittbunkchen mit, Sitzkissen, Verpflegung, Wein und ihre Kinder.
Als gegen Mittag die Landbevulkerung aus allen Himmelsrichtungen in Massen
herbeistrumte, war der Cours schon so dicht besetzt, dass die Neuankummlinge
auf den terrassenfurmig ansteigenden Gurten und Feldern jenseits des Platzes
und auf der Straße nach Grenoble lagern mussten. Die Hundler machten
bereits gute Geschufte, man aß, man trank, es summte und brodelte wie
bei einem Jahrmarkt. Bald waren wohl an die zehntausend Menschen
zusammengekommen, mehr als zum Fest der Jasminkunigin, mehr als zur
grußten Prozession, mehr als jemals zuvor in Grasse. Bis weit die
Hunge hinauf standen sie. Sie hingen in den Buumen, sie hockten auf den
Mauern und Duchern, sie drungten sich zu zehnt, zu zwulft in den
Fensteruffnungen. Nur im Zentrum des Cours, geschutzt vom Barrikadenzaun,
wie herausgestochen aus dem Teig der Menschenmenge, blieb noch ein freier
Platz fur die Tribune und fur das Schafott, das sich plutzlich ganz klein
ausmachte, wie ein Spielzeug oder wie die Buhne eines Puppentheaters. Und
eine Gasse wurde freigehalten, vom Richtplatz zur Porte du Cours und in die
Rue Droite hinein.
Kurz nach drei erschienen Monsieur Papon und seine Gehilfen. Beifall
rauschte auf. Sie trugen das aus Holzbalken gefugte Andreaskreuz zum
Schafott und brachten es auf die geeignete Arbeitshuhe, indem sie es mit
vier schweren Tischlerbucken unterstutzten. Ein Tischlergeselle nagelte es
fest. Jeder Handgriff der Henkersknechte und des Tischlers wurde von der
Menge mit Applaus bedacht. Als dann Papon mit der Eisenstange herbeitrat,
das Kreuz umging, seine Schritte ausmaß, bald von dieser, bald von
jener Seite einen imaginierten Schlag fuhrte, brach regelrechter Jubel aus.
Um vier begann sich die Tribune zu fullen. Es gab viel feine Leute zu
bestaunen, reiche Herren mit Lakaien und guten Manieren, schune Damen,
große Hute, glitzernde Kleider. Der gesamte Adel aus Stadt und Land
war zugegen. Die Herren des Rats erschienen in geschlossenem Zug, angefuhrt
von den beiden Konsuln. Richis trug schwarze Kleider, schwarze Strumpfe,
schwarzen Hut. Hinter dem Rat marschierte der Magistrat ein, unter Leitung
des Gerichtsprusidenten. Als letzter kam der Bischof im offenen Tragstuhl,
in leuchtend violettem Ornat und grunem Hutchen. Wer noch bedeckt war, nahm
sputestens jetzt die Mutze ab. Es wurde feierlich.
Dann geschah etwa zehn Minuten lang nichts. Die Herrschaften hatten
Platz genommen, das Volk harrte reglos, niemand aß mehr, alles
wartete. Papon und seine Knechte standen auf der Buhne des Schafotts wie
angeschraubt. Die Sonne hing groß und gelb uber dem Esterei. Aus dem
Grasser Becken kam ein lauer Wind und trug den Duft der Orangenbluten
herauf. Es war sehr warm und geradezu unwahrscheinlich still.
Endlich, als man schon meinte, die Spannung kunne nicht lunger
andauern, ohne in einen tausendfachen Schrei, einen Tumult, eine Raserei
oder ein sonstiges Massenereignis zu zerplatzen, hurte man in der Stille
Pferdegetrappel und das Knirschen von Rudern.
Die Rue Droite herunter kam ein geschlossener zweispunniger Wagen
gefahren, der Wagen des Polizeilieutenants. Er passierte das Stadttor und
erschien, nun fur jedermann sichtbar, in der schmalen Gasse, die zum
Richtplatz fuhrte. Der Polizeilieutenant hatte auf diese Art der Vorfuhrung
bestanden, da er anders die Sicherheit des Delinquenten nicht garantieren zu
kunnen glaubte. ublich war sie durchaus nicht. Das Gefungnis lag kaum funf
Minuten vom Richtplatz entfernt, und wenn ein Verurteilter diese kurze
Strecke, aus welchem Grunde immer, zu Fuß nicht mehr bewultigte, so
hutte es ein offner Eselskarren auch getan. Dass einer zur eigenen
Hinrichtung in der Karosse vorfuhr, mit Kutscher, livrierten Dienern und
Reiterbegleitung, das hatte man noch nicht erlebt.
Trotzdem kam in der Menge nicht Unruhe oder Unmut auf, im Gegenteil.
Man war zufrieden, dass uberhaupt etwas geschah, hielt die Sache mit der
Kutsche fur einen gelungenen Einfall, uhnlich wie im Theater, wo man es
schutzt, wenn ein bekanntes Stuck auf uberraschend neue Weise prusentiert
wird. Viele fanden sogar, der Auftritt sei angemessen. Einem so
außergewuhnlich abscheulichen Verbrecher gebuhrte eine
außerordentliche Behandlung. Man konnte ihn nicht wie einen ordinuren
Straßenruuber in Ketten auf den Platz zerren und erschlagen. Daran
wure nichts Sensationelles gewesen. Ihn vom Equipagenpolster weg auf das
Andreaskreuz zu fuhren - das war von ungleich einfallsreicherer Grausamkeit.
Die Kutsche hielt zwischen Schafott und Tribune. Die Lakaien sprangen
ab, uffneten den Schlag und klappten das Treppchen herunter. Der
Polizeilieutenant stieg aus, nach ihm ein Offizier der Wache und endlich
Grenouille. Er trug einen blauen Rock, ein weißes Hemd, weiße
Seidenstrumpfe und schwarze Schnallenschuhe. Er war nicht gefesselt. Niemand
fuhrte ihn am Arm. Er entstieg der Kutsche wie ein freier Mann.
Und dann geschah ein Wunder. Oder so etwas uhnliches wie ein Wunder,
numlich etwas dermaßen Unbegreifliches, Unerhurtes und Unglaubliches,
dass alle Zeugen es im nachhinein als Wunder bezeichnet haben wurden, wenn
sie uberhaupt noch jemals darauf zu sprechen gekommen wuren, was nicht der
Fall war, da sie sich sputer allesamt schumten, uberhaupt daran beteiligt
gewesen zu sein.
Es war numlich so, dass die zehntausend Menschen auf dem Cours und auf
den umliegenden Hungen sich von einem Moment zum anderen von dem
unerschutterlichen Glauben durchtrunkt fuhlten, der kleine Mann im blauen
Rock, der soeben aus der Kutsche gestiegen war, kunne unmuglich ein Murder
sein. Nicht dass sie an seiner Identitut zweifelten! Da stand derselbe
Mensch, den sie vor wenigen Tagen auf dem Kirchplatz am Fenster der Pruvotu
gesehen hatten und den sie, wuren sie damals seiner habhaft geworden, in
wutendem Hass gelyncht hutten. Derselbe, der zwei Tage zuvor aufgrund
erdruckender Beweise und eigenen Gestundnisses rechtskruftig verurteilt
worden war. Derselbe, dessen Erschlagung durch den Scharfrichter sie noch
vor einer Minute gierig ersehnt hatten. Er war's, unzweifelhaft! Und doch -
er war es auch nicht, er konnte es nicht sein, er konnte kein Murder sein.
Der Mann, der auf dem Richtplatz stand, war die Unschuld in Person. Das
wussten in diesem Moment alle vom Bischof bis zum Limonadenverkuufer, von
der Marquise bis zur kleinen Wuscherin, vom Prusidenten des Gerichts bis zum
Gassenjungen.
Auch Papon wusste es. Und seine Fuuste, die den Eisenstab umklammert
hielten, zitterten. Ihm war mit einem Mal so schwach in seinen starken
Armen, so weich in den Knien, so bang im Herzen wie einem Kind. Er wurde
diesen Stab nicht heben kunnen, niemals im Leben wurde er die Kraft
aufbringen, ihn gegen den kleinen unschuldigen Mann zu erheben, ach, er
furchtete den Moment, da er heraufgefuhrt wurde, er schlotterte, er musste
sich auf seinen murderischen Stab stutzen, um nicht vor Schwuche in die Knie
zu sinken, der große, starke Papon!
Nicht anders erging es den zehntausend Munnern und Frauen und Kindern
und Greisen, die versammelt waren: Sie wurden schwach wie kleine Mudchen,
die dem Charme ihres Liebhabers erliegen. Es uberkam sie ein muchtiges
Gefuhl von Zuneigung, von Zurtlichkeit, von toller kindischer Verliebtheit,
ja, weiß Gott, von Liebe zu dem kleinen Murdermann, und sie konnten,
sie wollten nichts dagegen tun. Es war wie ein Weinen, gegen das man sich
nicht wehren kann, wie ein lange zuruckgehaltenes Weinen, das aus dem Bauch
aufsteigt und alles Widerstundliche wunderbar zersetzt, alles verflussigt
und ausschwemmt. Nur noch liquide waren die Menschen, innerlich in Geist und
Seele aufgelust, nur noch von amorpher Flussigkeit, und einzig ihr Herz
spurten sie als haltlosen Klumpen in ihrem Innern schwanken und legten es,
eine jede, ein jeder, in die Hand des kleinen Mannes im blauen Rock, auf
Gedeih und Verderb: Sie liebten ihn.
Grenouille stand nun wohl schon mehrere Minuten lang am geuffneten
Schlag der Kutsche und ruhrte sich nicht. Der Lakai neben ihm war in die
Knie gesunken und sank noch immer weiter bis hin zu jener vullig
prostrativen Haltung, wie sie im Orient vor dem Sultan und vor Allah ublich
ist. Und selbst in dieser Haltung zitterte und schwankte er noch und wollte
weitersinken, sich flach auf die Erde legen, in sie hinein, unter sie. Bis
ans andre Ende der Welt wollte er sinken vor lauter Ergebenheit. Der
Offizier der Wache und der Polizeilieutenant, beides trutzige Munner, deren
Aufgabe es gewesen wure, den Verurteilten jetzt aufs Blutgerust zu fuhren
und seinem Henker auszuliefern, konnten keine koordinierten Handlungen mehr
zustande bringen. Sie weinten und nahmen ihre Hute ab, setzten sie wieder
auf, warfen sie zu Boden, fielen sich gegenseitig in die Arme, lusten sich,
fuchtelten unsinnig mit den Armen in der Luft herum, rangen die Hunde,
zuckten und grimassierten wie vom Veitstanz Befallene.
Die weiter entfernt befindlichen Honoratioren gaben sich ihrer
Ergriffenheit auf kaum diskretere Weise hin. Ein jeder ließ dem Drang
seines Herzens freien Lauf. Da waren Damen, die sich beim Anblick
Grenouilles die Fuuste in den Schoß stemmten und seufzten vor Wonne;
und andere, die vor sehnsuchtigem Verlangen nach dem herrlichen Jungling -
denn so erschien er ihnen - sang- und klanglos in Ohnmacht versanken. Da
waren Herren, die in einem fort von ihren Sitzen aufspritzten und sich
wieder niederließen und wieder aufsprangen, muchtig schnaufend und die
Fuuste um die Degengriffe ballend, als wollten sie ziehen, und, indem sie
schon zogen, den Stahl wieder zuruckstießen, dass es in den Scheiden
nur so klapperte und knackte; und andere, die die Augen stumm zum Himmel
richteten und ihre Hunde zum Gebet verkrampften; und Monseigneur, der
Bischof, der, als sei ihm ubel, mit dem Oberkurper vornuberklappte und die
Stirn auf seine Knie schlug, bis ihm das grune Hutchen vom Kopfe kollerte;
und dabei war ihm gar nicht ubel, sondern er schwelgte nur zum ersten Mal in
seinem Leben in religiusem Entzucken, denn ein Wunder war geschehen vor
aller Augen, der Herrgott huchstpersunlich war dem Henker in den Arm
gefallen, indem er den als Engel offenbarte, der vor der Welt ein Murder
schien - o dass dergleichen noch geschah im 18. Jahrhundert. Wie groß
war der Herr! Und wie klein und windig war man selbst, der man einen
Bannfluch gesprochen hatte, ohne daran zu glauben, bloß zur Beruhigung
des Volkes! O welche Anmaßung, o welche Kleingluubigkeit! Und nun tat
der Herr ein Wunder! O welch herrliche Demutigung, welch suße
Erniedrigung, welche Gnade, als Bischof von Gott so gezuchtigt zu werden.
Das Volk jenseits der Barrikade gab sich unterdessen immer schamloser
dem unheimlichen Gefuhlsrausch hin, den Grenouilles Erscheinen ausgelust
hatte. Wer zu Beginn bei seinem Anblick nur Mitgefuhl und Ruhrung verspurt
hatte, der war nun von nackter Begehrlichkeit erfullt, wer zunuchst
bewundert und begehrt hatte, den trieb es zur Ekstase. Alle hielten den Mann
im blauen Rock fur das schunste, attraktivste und vollkommenste Wesen, das
sie sich denken konnten: Den Nonnen erschien er als der Heiland in Person,
den Satansgluubigen als strahlender Herr der Finsternis, den Aufgeklurten
als das Huchste Wesen, den jungen Mudchen als ein Murchenprinz, den Munnern
als ein ideales Abbild ihrer selbst. Und alle fuhlten sie sich von ihm an
ihrer empfindlichsten Stelle erkannt und gepackt, er hatte sie im erotischen
Zentrum getroffen. Es war, als besitze der Mann zehntausend unsichtbare
Hunde und als habe er jedem der zehntausend Menschen, die ihn umgaben, die
Hand aufs Geschlecht gelegt und liebkose es auf just jene Weise, die jeder
einzelne, ob Mann oder Frau, in seinen geheimsten Phantasien am sturksten
begehrte.
Die Folge war, dass die geplante Hinrichtung eines der
verabscheuungswurdigsten Verbrechers seiner Zeit zum grußten Bacchanal
ausartete, das die Welt seit dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert gesehen
hatte: Sittsame Frauen rissen sich die Blusen auf, entblußten unter
hysterischen Schreien ihre Bruste, warfen sich mit hochgezogenen Rucken auf
die Erde. Munner stolperten mit irren Blicken durch das Feld von geilem
aufgespreiztem Fleisch, zerrten mit zitternden Fingern ihre wie von
unsichtbaren Frusten steifgefrorenen Glieder aus der Hose, fielen uchzend
irgendwohin, kopulierten in unmuglichster Stellung und Paarung, Greis mit
Jungfrau, Tagluhner mit Advokatengattin, Lehrbub mit Nonne, Jesuit mit
Freimaurerin, alles durcheinander, wie's gerade kam. Die Luft war schwer vom
sußen Schweißgeruch der Lust und laut vom Geschrei, Gegrunze und
Gestuhn der zehntausend Menschentiere. Es war infernalisch.
Grenouille stand und luchelte. Vielmehr erschien es den Menschen, die
ihn sahen, als luchle er mit dem unschuldigsten, liebevollsten,
bezauberndsten und zugleich verfuhrerischsten Lucheln der Welt. Aber es war
in Wirklichkeit kein Lucheln, sondern ein hußliches, zynisches
Grinsen, das auf seinen Lippen lag und das seinen ganzen Triumph und seine
ganze Verachtung widerspiegelte. Er, Jean-Baptiste Grenouille, geboren ohne
Geruch am stinkendsten Ort der Welt, stammend aus Abfall, Kot und Verwesung,
aufgewachsen ohne Liebe, lebend ohne warme menschliche Seele einzig aus
Widerborstigkeit und der Kraft des Ekels, klein, gebuckelt, hinkend,
hußlich, gemieden, ein Scheusal innen wie außen - er hatte es
erreicht, sich vor der Welt beliebt zu machen. Was heißt beliebt!
Geliebt! Verehrt! Verguttert! Er hatte die prometheische Tat vollbracht. Den
guttlichen Funken, den andre Menschen mir nichts, dir nichts in die Wiege
gelegt bekommen und der ihm als einzigem vorenthalten worden war, hatte er
sich durch unendliches Raffinement ertrotzt. Mehr noch! Er hatte ihn sich
recht eigentlich selbst in seinem Innern geschlagen. Er war noch
grußer als Prometheus. Er hatte sich eine Aura erschaffen, strahlender
und wirkungsvoller, als sie je ein Mensch vor ihm besaß. Und er
verdankte sie niemandem - keinem Vater, keiner Mutter und am allerwenigsten
einem gnudigen Gott - als einzig sich selbst. Er war in der Tat sein eigener
Gott, und ein herrlicherer Gott als jener weihrauchstinkende Gott, der in
den Kirchen hauste. Vor ihm lag ein leibhaftiger Bischof auf den Knien und
winselte vor Vergnugen. Die Reichen und Muchtigen, die stolzen Herren und
Damen erstarben in Bewunderung, indes das Volk im weiten Rund, darunter
Vuter, Mutter, Bruder, Schwestern seiner Opfer, ihm zu Ehren und in seinem
Namen Orgien feierten. Ein Wink von ihm, und alle wurden ihrem Gott
abschwuren und ihn, den Großen Grenouille anbeten.
Ja, er war der Große Grenouille! Jetzt trat's zutage. Er war's,
wie einst in seinen selbstverliebten Phantasien, so jetzt in Wirklichkeit.
Er erlebte in diesem Augenblick den grußten Triumph seines Lebens.
Und er wurde ihm furchterlich. Er wurde ihm furchterlich, denn er
konnte keine Sekunde davon genießen. In dem Moment, da er aus der
Kutsche auf den sonnenhellen Platz getreten war, angetan mit dem Parfum, das
vor den Menschen beliebt macht, mit dem Parfum, an dem er zwei Jahre lang
gearbeitet hatte, dem Parfum, das zu besitzen er sein Leben lang gedurstet
hatte... in diesem Moment, da er sah und roch, wie unwiderstehlich es wirkte
und wie mit Windeseile sich verbreitend es die Menschen um ihn her
gefangennahm, - in diesem Moment stieg der ganze Ekel vor den Menschen
wieder in ihm auf und vergullte ihm seinen Triumph so grundlich, dass er
nicht nur keine Freude, sondern nicht einmal das geringste Gefuhl von
Genugtuung verspurte. Was er sich immer ersehnt hatte, dass numlich die
undern Menschen ihn liebten, wurde ihm im Augenblick seines Erfolges
unertruglich, denn er selbst liebte sie nicht, er hasste sie. Und plutzlich
wusste er, dass er nie in der Liebe, sondern immer nur im Hass Befriedigung
funde, im Hassen und Gehasstwerden.
Aber der Hass, den er fur die Menschen empfand, blieb von den Menschen
ohne Echo. Je mehr er sie in diesem Augenblick hasste, desto mehr
vergutterten sie ihn, denn sie nahmen von ihm nichts wahr als seine
angemaßte Aura, seine Duftmaske, sein geraubtes Parfum, und dies in
der Tat war zum Verguttern gut.
Er hutte sie jetzt am liebsten alle vom Erdboden vertilgt, die
stupiden, stinkenden, erotisierten Menschen, genauso wie er damals im Land
seiner rabenschwarzen Seele die fremden Geruche vertilgt hatte. Und er
wunschte sich, dass sie merkten, wie sehr er sie hasste, und dass sie ihn
darum, um dieses seines einzigen jemals wahrhaft empfundenen Gefuhls willen
widerhassten und ihn ihrerseits vertilgten, wie sie es ja ursprunglich
vorgehabt hatten. Er wollte sich ein Mal im Leben entuußern. Er wollte
ein Mal im Leben sein wie andere Menschen auch und sich seines Innern
entuußern: wie sie ihrer Liebe und ihrer dummen Verehrung, so er
seines Hasses. Er wollte ein Mal, nur ein einziges Mal, in seiner wahren
Existenz zur Kenntnis genommen werden und von einem anderen Menschen eine
Antwort erhalten auf sein einziges wahres Gefuhl, den Hass.
Aber daraus wurde nichts. Daraus konnte nichts werden. Und heute schon
gar nicht. Denn er war ja maskiert mit dem besten Parfum der Welt, und er
trug unter dieser Maske kein Gesicht, sondern nichts als seine totale
Geruchlosigkeit. Da wurde ihm plutzlich ubel, denn er fuhlte, dass die Nebel
wieder stiegen.
Wie damals in der Huhle im Traum im Schlaf im Herzen in seiner
Phantasie stiegen mit einem Mal die Nebel, die entsetzlichen Nebel seines
eigenen Geruchs, den er nicht riechen konnte, weil er geruchlos war. Und wie
damals wurde ihm unendlich bang und angst, und er glaubte, ersticken zu
mussen. Anders als damals aber war dies kein Traum und kein Schlaf, sondern
die blanke Wirklichkeit. Und anders als damals lag er nicht allein in einer
Huhle, sondern stand auf einem Platz im Angesicht von zehntausend Menschen.
Und anders als damals half hier kein Schrei, der ihn erwachen ließe
und befreite, und half keine Flucht zuruck in die gute, warme, rettende
Welt. Denn dies, hier und jetzt, war die Welt, und dies, hier und jetzt, war
sein verwirklichter Traum. Und er selbst hatte es so gewollt.
Die furchterlichen stickigen Nebel stiegen weiter aus dem Morast seiner
Seele, indes um ihn das Volk in orgiastischen und orgastischen Verzuckungen
uchzte. Ein Mann kam auf ihn zugelaufen. Von der vordersten Reihe der
Honoratiorentribune war er aufgesprungen, so heftig, dass ihm sein schwarzer
Hut vom Kopf gefallen war, und flatterte nun mit wehendem schwarzem Rock
uber den Richtplatz wie ein Rabe oder wie ein ruchender Engel. Es ar Richis.
Er wird mich tuten, dachte Grenouille. Er ist der einzige, der sich
nicht von meiner Maske tuuschen lusst. Er kann sich nicht tuuschen lassen.
Der Duft seiner Tochter klebt an mir, so verruterisch deutlich wie Blut. Er
muss mich erkennen und tuten. Er muss es tun.
Und er breitete seine Arme aus, um den heransturzenden Engel zu
empfangen. Schon glaubte er, den Dolch- oder Degenstoß als herrlich
prickelnden Schlag gegen die Brust zu spuren und die Klinge, die durch alle
Duftpanzer und stickigen Nebel hindurchging, mitten in sein kaltes Herz
hinein - endlich, endlich etwas in seinem Herzen, etwas anderes als er
selbst! Er fuhlte sich fast schon erlust.
Doch dann lag mit einem Mal Richis an seiner Brust, kein ruchender
Engel, sondern ein erschutterter, kluglich schluchzender Richis, und umfing
ihn mit den Armen, krallte sich regelrecht fest an ihm, als funde er sonst
keinen Halt in einem Meer von Gluckseligkeit. Kein befreiender
Dolchstoß, kein Stich ins Herz, nicht einmal in Fluch oder nur ein
Schrei des Hasses. Statt dessen Richis' trunennasse Wange an der seinen
klebend und ein zitternder Mund, der ihm zuwinselte: "Vergib mir, mein Sohn,
mein lieber Sohn, vergib mir!"
Da wurde es ihm von innen her weiß vor Augen, und die
uußere Welt wurde rabenschwarz. Die gefangenen Nebel gerannen zu einer
tobenden Flussigkeit wie kochende, schuumende Milch. Sie uberfluteten ihn,
pressten mit unertruglichem Druck gegen die innere Schalenwand seines
Kurpers, ohne Auslass zu finden. Er wollte fliehen, um Himmels willen
fliehen, aber wohin... Er wollte zerplatzen, explodieren wollte er, um nicht
an sich selbst zu ersticken. Endlich sank er nieder und verlor das
Bewusstsein.
Als er wieder zu sich kam, lag er im Bett der Laure Richis. Ihre
Reliquien, Kleider und ihr Haar, waren weggeruumt worden. Eine Kerze brannte
auf dem Nachttisch. Durch das angelehnte Fenster hurte er von Ferne den
Jubel der feiernden Stadt. Antoine Richis saß auf einem Schemel neben
dem Bett und wachte. Er hatte Grenouilles Hand in die seine gelegt und
streichelte sie.
Noch bevor er die Augen aufschlug, prufte Grenouille die Atmosphure. Im
Innern war sie still. Nichts brodelte und presste mehr. Es herrschte wieder
die gewohnte kalte Nacht in seiner Seele, die er brauchte, um sein
Bewusstsein frostig und klar zu machen und nach außen zu lenken: Dort
roch er sein Parfum. Es hatte sich verundert. Die Spitzen waren etwas
schwucher geworden, so dass nun die Herznote von Laures Geruch noch
herrlicher hervortrat, ein mildes, dunkles, funkelndes Feuer. Er fuhlte sich
sicher. Er wusste, dass er noch fur Stunden unangreifbar war, und uffnete
die Augen.
Richis' Blick ruhte auf ihm. Unendliches Wohlwollen lag in diesem
Blick, Zurtlichkeit, Ruhrung und die hohle, dummliche Tiefe des Liebenden.
Er luchelte und druckte Grenouilles Hand fester und sagte: "Es wird
jetzt alles gut werden. Der Magistrat hat dein Urteil kassiert. Alle Zeugen
haben abgeschworen. Du bist frei. Du kannst tun, was du willst. Aber ich
will, dass du bei mir bleibst. Ich habe eine Tochter verloren, ich will dich
als meinen Sohn gewinnen. Du bist ihr uhnlich. Du bist schun wie sie, deine
Haare, dein Mund, deine Hand... Ich habe die ganze Zeit deine Hand gehalten,
deine Hand ist wie die ihre. Und wenn ich in deine Augen sehe, so ist mir,
als schaue sie mich an. Du bist ihr Bruder, und ich will, dass du mein Sohn
wirst, meine Freude, mein Stolz, mein Erbe. Leben deine Eltern noch?"
Grenouille schuttelte den Kopf, und Richis' Gesicht wurde puterrot vor
Gluck. "Dann wirst du mein Sohn werden?" stammelte er und fuhr von seinem
Schemel hoch, um sich auf den Rand des Bettes zu setzen und auch Grenouilles
zweite Hand zu pressen. "Wirst du? Wirst du? Willst du mich zu deinem Vater
haben? Sage nichts! Sprich nicht! Du bist noch zu schwach, um zu sprechen.
Nicke nur!"
Grenouille nickte. Da brach Richis das Gluck wie roter Schweiß
aus allen Poren, und er beugte sich zu Grenouille herab und kusste ihn auf
den Mund.
"Schlaf jetzt, mein lieber Sohn!" sagte er, als er sich wieder
aufgerichtet hatte. "Ich werde bei dir wachen, solange bis du eingeschlafen
bist." Und nachdem er ihn eine lange Zeit in stummer Seligkeit betrachtet
hatte: "Du machst mich sehr, sehr glucklich."
Grenouille zog die Mundwinkel leicht auseinander, wie er es den
Menschen abgeschaut hatte, die lucheln. Dann schloss er die Augen. Er
wartete eine Weile, ehe er seinen Atem ruhiger und tiefer gehen ließ,
wie es die Schlufer tun. Er spurte Richis' liebenden Blick auf seinem
Gesicht. Einmal spurte er, wie Richis sich abermals vorbeugte, um ihn zu
kussen, es dann aber unterließ, aus Scheu, ihn zu wecken. Endlich
wurde die Kerze ausgeblasen, und Richis schlich sich auf Zehenspitzen aus
der Kammer.
Grenouille blieb liegen, bis er in Haus und Stadt kein Geruusch mehr
hurte. Als er dann aufstand, dummerte es schon. Er kleidete sich an und
machte sich davon, leise uber den Flur, leise die Stiege hinab und durch den
Salon hinaus auf die Terrasse. Von hier aus konnte man uber die
Stadtmauersehen, uber die Schussel des Grasser Landes, bei klarem Wetter
wohl auch bis zum Meer. Jetzt hing ein dunner Nebel, ein Dunst eher, uber
den Feldern, und die Dufte, die von dorther kamen, Gras, Ginster und Rose,
waren wie gewaschen, rein, simpel, trustlich einfach. Grenouille durchquerte
den Garten und stieg uber die Mauer.
Oben am Cours musste er sich noch einmal durch Menschendunste kumpfen,
ehe er das freie Land gewann. Der ganze Platz und die Hunge glichen einem
riesigen verlotterten Heerlager. Zu Tausenden lagen die betrunkenen, von den
Ausschweifungen des nuchtlichen Festes erschupften Gestalten herum, manche
nackt, manche halb entblußt und halb bedeckt von Kleidern, unter die
sie sich wie unter ein Stuck Decke verkrochen hatten. Es stank nach saurem
Wein, nach Schnaps, nach Schweiß und Pisse, nach Kinderscheiße
und nach verkohltem Fleisch. Da und dort qualmten noch die Feuerstellen, an
denen sie gebraten, gesoffen und getanzt hatten. Hie und da gluckste noch
aus dem tausendfachen Geschnarche ein Lallen oder ein Geluchter auf. Es mag
auch sein, dass manch einer noch wachte und sich die letzten Fetzen von
Bewusstsein aus dem Gehirn zechte. Aber niemand sah Grenouille, der uber die
verstreuten Leiber stieg, vorsichtig und rasch zugleich, wie durch Morast.
Und wer ihn sah, der erkannte ihn nicht. Er duftete nicht mehr. Das Wunder
war vorbei.
Am Ende des Cours angelangt, nahm er nicht die Straße nach
Grenoble, nicht die nach Cabris, sondern er ging querfeldein in westliche
Richtung davon, ohne sich noch ein einziges Mal umzuschauen. Als die Sonne
aufstieg, fett und gelb und stechendheiß, war er lungst verschwunden.
Die Grasser erwachten mit einem entsetzlichen Kater. Selbst denen, die
nicht getrunken hatten, war bleischwer im Kopf und speiubel in Magen und
Gemut. Auf dem Cours, in hellstem Sonnenlicht, suchten biedere Bauern nach
den Kleidern, die sie im Exzess der Orgie von sich geschleudert hatten,
suchten sittsame Frauen nach ihren Munnern und Kindern, schulten sich
wildfremde Menschen entsetzt aus intimster Umarmung, standen sich Bekannte,
Nachbarn, Gatten plutzlich in peinlichster uffentlicher Nacktheit gegenuber.
Vielen erschien dieses Erlebnis so grauenvoll, so vollstundig
unerklurlich und unvereinbar mit ihren eigentlichen moralischen
Vorstellungen, dass sie es buchstublich im Augenblick seines Stattfindens
aus ihrem Geduchtnis luschten und sich infolgedessen auch sputer wahrhaftig
nicht mehr daran zuruckerinnern konnten. Andere, die ihren
Wahrnehmungsapparat nicht so souverun beherrschten, versuchten, wegzuschauen
und wegzuhuren und wegzudenken was nicht ganz einfach war, denn die Schande
war zu offensichtlich und zu allgemein. Wer seine Habseligkeiten und seine
Angehurigen gefunden hatte, machte sich so rasch und so unauffullig wie
muglich davon. Gegen Mittag war der Platz wie leergefegt.
Die Leute in der Stadt kamen, wenn uberhaupt, erst gegen Abend aus den
Huusern, um die dringendsten Besorgungen zu erledigen. Man grußte sich
nur fluchtig beim Begegnen, sprach nur uber das Belangloseste. uber die
Ereignisse des Vortags und der vergangenen Nacht fiel kein Wort. So
hemmungslos und frisch heraus man sich gestern noch gegeben hatte, so
schamhaft war man jetzt. Und alle waren so, denn alle waren schuldig. Nie
schien das Einvernehmen unter den Grasser Burgern besser als in jener Zeit.
Man lebte wie in Watte.
Manche freilich mussten sich allein kraft ihres Amtes direkter mit dem
befassen, was geschehen war. Die Kontinuitut des uffentlichen Lebens, die
Unverbruchlichkeit von Recht und Ordnung erforderten rasche Maßnahmen.
Schon am Nachmittag tagte der Stadtrat. Die Herren, darunter auch der Zweite
Konsul, umarmten sich stumm, als gelte es, das Gremium durch diese
verschwurerische Geste neu zu konstituieren. Dann beschloss man una anima
und ohne dass der Vorkommnisse oder gar des Namens Grenouille auch nur
Erwuhnung getan worden wure, "die Tribune und das Schafott auf dem Cours
unverzuglich abreißen zu lassen und den Platz und die umliegenden
zertrampelten Felder wieder in ihren vormaligen ordentlichen Zustand
versetzen zu lassen". Hierfur wurden hundertsechzig Livre bewilligt.
Gleichzeitig tagte das Gericht in der Pruvotu. Der Magistrat kam ohne
Aussprache uberein, den "Fall G." als erledigt zu betrachten, die Akten zu
schließen und ohne Registratur zu archivieren und ein neues Verfahren
gegen einen bislang unbekannten Murder von funfundzwanzig Jungfrauen im
Grasser Raum zu eruffnen. An den Polizeilieutenant erging der Befehl, die
Untersuchungen unverzuglich aufzunehmen.
Schon am nuchsten Tag wurde er fundig. Aufgrund eindeutiger
Verdachtsmomente verhaftete man Dominique Druot, Maitre Parfumeur in der Rue
de la Louve, in dessen Kabane ja schließlich die Kleider und Haare
sumtlicher Opfer gefunden worden waren. Von seinem anfunglichen Leugnen
ließen sich die Richter nicht tuuschen. Nach vierzehnstundiger Folter
gestand er alles und bat sogar um eine muglichst baldige Hinrichtung, die
ihm schon fur den folgenden Tag gewuhrt wurde. Man knupfte ihn im
Morgengrauen auf, ohne großes Tamtam, ohne Schafott und Tribunen, im
Beisein lediglich des Henkers, einiger Mitglieder des Magistrats, eines
Arztes und eines Priesters. Die Leiche ließ man, nachdem der Tod
eingetreten, festgestellt und protokollarisch niedergelegt war, unverzuglich
beisetzen. Damit war der Fall erledigt.
Die Stadt hatte ihn ohnehin schon vergessen, und zwar so vollstundig,
dass Reisende, die in den folgenden Tagen eintrafen und sich beiluufig nach
dem beruchtigten Grasser Mudchenmurder erkundigten, nicht einen einzigen
vernunftigen Menschen fanden, der ihnen Auskunft hutte erteilen kunnen. Nur
ein paar Narren aus der Charitu, notorische Geisteskranke, plapperten noch
irgend etwas daher von einem großen Fest auf der Place du Cours,
dessentwegen sie hutten ihre Zimmer ruumen mussen.
Und bald hatte sich das Leben gunzlich normalisiert. Die Leute
arbeiteten fleißig und schliefen gut und gingen ihren Geschuften nach
und hielten sich rechtschaffen. Das Wasser sprudelte wie eh und je aus den
vielen Quellen und Brunnen und schwemmte den Schlamm durch die Gassen. Die
Stadt stand wieder schubig und stolz an den Hungen uber dem fruchtbaren
Becken. Die Sonne schien warm. Bald war es Mai. Man erntete Rosen.
Grenouille ging nachts. Wie zu Beginn seiner Reise wich er den Studten
aus, mied die Straßen, legte sich bei Tagesanbruch schlafen, stand
abends auf und ging weiter. Er fraß, was er am Wege fand: Gruser,
Pilze, Bluten, tote Vugel, Wurmer. Er durchzog die Provence, uberquerte in
einem gestohlenen Kahn die Rhone sudlich von Orange, folgte dem Lauf der
Arduche bis tief in die Cevennen hinein und dann dem Allier nach Norden.
In der Auvergne kam er dem Plomb du Cantal nahe. Er sah ihn westlich
liegen, groß und silbergrau im Mondlicht, und er roch den kuhlen Wind,
der von ihm kam. Aber es verlangte ihn nicht hinzugehen. Er hatte keine
Sehnsucht mehr nach dem Huhlenleben. Diese Erfahrung war ja schon gemacht
und hatte sich als unlebbar erwiesen. Ebenso wie die andere Erfahrung, die
des Lebens unter den Menschen. Man erstickte da und dort. Er wollte
uberhaupt nicht mehr leben. Er wollte nach Paris gehen und sterben. Das
wollte er.
Von Zeit zu Zeit griff er in seine Tasche und schloss die Hand um den
kleinen glusernen Flakon mit seinem Parfum. Das Fluschchen war noch fast
voll. Fur den Auftritt in Grasse hatte er bloß einen Tropfen
verbraucht. Der Rest wurde genugen, um die ganze Welt zu bezaubern. Wenn er
wollte, kunnte er sich in Paris nicht nur von Zehn-, sondern von
Hunderttausenden umjubeln lassen; oder nach Versailles spazieren, um sich
vom Kunig die Fuße kussen zu lassen; dem Papst einen parfumierten
Brief schreiben und sich als der neue Messias offenbaren; in Notre-Dame vor
Kunigen und Kaisern sich selbst zum Oberkaiser salben, ja sogar zum Gott auf
Erden - falls man sich als Gott uberhaupt noch salbte...
All das kunnte er tun, wenn er nur wollte. Er besaß die Macht
dazu. Er hielt sie in der Hand. Eine Macht, die sturker war als die Macht
des Geldes oder die Macht des Terrors oder die Macht des Todes: die
unuberwindliche Macht, den Menschen Liebe einzuflußen. Nur eines
konnte diese Macht nicht: sie konnte ihn nicht vor sich selber riechen
machen. Und mochte er auch vor der Welt durch sein Parfum erscheinen als ein
Gott - wenn er sich selbst nicht riechen konnte und deshalb niemals wusste,
wer er sei, so pfiff er drauf, auf die Welt, auf sich selbst, auf sein
Parfum.
Die Hand, die den Flakon umschlossen hatte, duftete ganz zart, und wenn
er sie an seine Nase fuhrte und schnupperte, dann wurde ihm wehmutig, und
fur ein paar Sekunden vergaß er zu laufen und blieb stehen und roch.
Niemand weiß, wie gut dies Parfum wirklich ist, dachte er. Niemand
weiß, wie gut es gemacht ist. Die andern sind nur seiner Wirkung
untertan, ja, sie wissen nicht einmal, dass es ein Parfum ist, das auf sie
wirkt und sie bezaubert. Der einzige, der es jemals in seiner wirklichen
Schunheit erkannt hat, bin ich, weil ich es selbst geschaffen habe. Und
zugleich bin ich der einzige, den es nicht bezaubern kann. Ich bin der
einzige, fur den es sinnlos ist.
Und ein andermal, da war er schon in Burgund: Als ich an der Mauer
stand, unterhalb des Gartens, in dem das rothaarige Mudchen spielte, und ihr
Duft zu mir heruberwehte... oder vielmehr das Versprechen ihres Dufts, denn
ihr sputerer Duft existierte ja noch gar nicht - vielleicht war das, was ich
damals empfand, demjenigen uhnlich, was die Menschen auf dem Cours
empfanden, als ich sie mit meinem Parfum uberschwemmte...? Aber dann verwarf
er den Gedanken: Nein, es war etwas anderes. Denn ich wusste ja, dass ich
den Duft begehrte, nicht das Mudchen. Die Menschen aber glaubten, sie
begehrten mich, und was sie wirklich begehrten, blieb ihnen ein Geheimnis.
Dann dachte er nichts mehr, denn das Denken war nicht seine Sturke, und
er war auch schon im Orleanais.
Er uberquerte die Loire bei Sully. Einen Tag sputer hatte er den Duft
von Paris in der Nase. Am 25. Juni 1767 betrat er die Stadt durch die Rue
Saint-Jacques fruhmorgens um sechs.
Es wurde ein heißer Tag, der heißeste bisher in diesem
Jahr. Die tausendfultigen Geruche und Gestunke quollen wie aus tausend
aufgeplatzten Eiterbeulen. Kein Wind regte sich. Das Gemuse an den
Marktstunden erschlaffte, eh es Mittag war. Fleisch und Fische verwesten. In
den Gassen stand die verpestete Luft. Selbst der Fluss schien nicht mehr zu
fließen, sondern nur noch zu stehen und zu stinken. Es war wie am Tag
von Grenouilles Geburt.
Er ging uber den Pont Neuf ans rechte Ufer, und weiter zu den Hallen
und zum Cimetiere des Innocents. In den Arkaden der Gebeinhuuser lungs der
Rue aux Fers ließ er sich nieder. Das Gelunde des Friedhofs lag wie
ein zerbombtes Schlachtfeld vor ihm, zerwuhlt, zerfurcht, von Gruben
durchzogen, von Schudeln und Gebeinen ubersut, ohne Baum, Strauch oder
Grashalm, eine Schutthalde des Todes.
Kein lebender Mensch ließ sich blicken. Der Leichengestank war so
schwer, dass selbst die Totengruber sich verzogen hatten. Sie kamen erst
nach Sonnenuntergang wieder, um bei Fackellicht bis in die Nacht hinein
Gruben fur die Toten des nuchsten Tages auszuheben.
Nach Mitternacht erst - die Totengruber waren schon gegangen - belebte
sich der Ort mit allem muglichen Gesindel, Dieben, Murdern, Messerstechern,
Huren, Deserteuren, jugendlichen Desperados. Ein kleines Lagerfeuer wurde
angezundet, zum Kochen und damit sich der Gestank verzehre.
Als Grenouille aus den Arkaden kam und sich unter diese Menschen
mischte, nahmen sie ihn zunuchst gar nicht wahr. Er konnte unbehelligt an
ihr Feuer treten, als sei er einer von ihnen. Das besturkte sie sputer in
der Meinung, es musse sich bei ihm um einen Geist oder einen Engel oder
sonst etwas ubernaturliches gehandelt haben. Denn ublicherweise reagierten
sie huchst empfindlich auf die Nuhe eines Fremden.
Der kleine Mann in seinem blauen Rock aber sei plutzlich einfach
dagewesen, wie aus dem Boden herausgewachsen, mit einem kleinen Fluschchen
in der Hand, das er entstupselte. Dies war das erste, woran sich alle
erinnern konnten: dass da einer stand und ein Fluschchen entstupselte. Und
dann habe er sich mit dem Inhalt dieses Fluschchens uber und uber
besprenkelt und sei mit einem Mal von Schunheit ubergussen gewesen wie von
strahlendem Feuer.
Fur einen Moment wichen sie zuruck aus Ehrfurcht und bassem Erstaunen.
Aber im selben Moment spurten sie schon, dass das Zuruckweichen mehr wie ein
Anlaufnehmen war, dass ihre Ehrfurcht in Begehren umschlug, ihr Erstaunen in
Begeisterung. Sie fuhlten sich zu diesem Engelsmenschen hingezogen. Ein
rabiater Sog ging von ihm aus, eine reißende Ebbe, gegen die kein
Mensch sich stemmen konnte, um so weniger, als sich kein Mensch gegen sie
hutte stemmen wollen, denn es war der Wille selbst, den diese Ebbe
unterspulte und in ihre Richtung trieb: hin zu ihm.
Sie hatten einen Kreis um ihn gebildet, zwanzig, dreißig Personen
und zogen diesen Kreis nun enger und enger. Bald fasste der Kreis sie nicht
mehr alle, sie begannen zu drucken, zu schieben und zu drungeln, jeder
wollte dem Zentrum am nuchsten sein.
Und dann brach mit einem Schlag die letzte Hemmung in ihnen, der Kreis
in sich zusammen. Sie sturzten sich auf den Engel, fielen uber ihn her,
rissen ihn zu Boden. Jeder wollte ihn beruhren, jeder wollte einen Teil von
ihm haben, ein Federchen, ein Flugelchen, einen Funken seines wunderbaren
Feuers. Sie rissen ihm die Kleider, die Haare, die Haut vom Leibe, sie
zerrupften ihn, sie schlugen ihre Krallen und Zuhne in sein Fleisch, wie die
Hyunen fielen sie uber ihn her.
Aber so ein Menschenkurper ist ja zuh und lusst sich nicht so einfach
auseinanderreißen, selbst Pferde haben da die grußte Muhe. Und
so blitzten bald die Dolche auf und stießen zu und schlitzten auf, und
uxte und Schlagmesser sausten auf die Gelenke herab, zerhieben krachend die
Knochen. In kurzester Zeit war der Engel in dreißig Teile zerlegt, und
ein jedes Mitglied der Rotte grapschte sich ein Stuck, zog sich, von
wollustiger Gier getrieben, zuruck und fraß es auf. Eine halbe Stunde
sputer war Jean-Baptiste Grenouille in jeder Faser vom Erdboden
verschwunden.
Als sich die Kannibalen nach gehabter Mahlzeit wieder m Feuer
zusammenfanden, sprach keiner ein Wort. Der eine oder andere stieß ein
wenig auf, spie ein Knuchelchen aus, schnalzte leise mit der Zunge, stupste
mit dem Fuß einen ubriggebliebenen Fetzen des blauen Rocks in die
Flammen: Sie waren alle ein bisschen verlegen und trauten sich nicht,
einander anzusehen. Einen Mord oder ein anderes niedertruchtiges Verbrechen
hatte jeder von ihnen, ob Mann oder Frau, schon einmal begangen. Aber einen
Menschen aufgefressen? Zu so etwas Entsetzlichem, dachten sie, seien sie nie
und nimmer imstande. Und sie wunderten sich, wie leicht es ihnen doch
gefallen war und dass sie, bei aller Verlegenheit, nicht den geringsten
Anflug von schlechtem Gewissen verspurten. Im Gegenteil! Es war ihnen,
wenngleich im Magen etwas schwer, im Herzen durchaus leicht zumute. In ihren
finsteren Seelen schwankte es mit einem Mal so angenehm heiter. Und auf
ihren Gesichtern lag ein mudchenhafter, zarter Glanz von Gluck. Daher
vielleicht die Scheu, den Blick zu heben und sich gegenseitig in die Augen
zu sehen.
Als sie es dann wagten, verstohlen erst und dann ganz offen, da mussten
sie lucheln. Sie waren außerordentlich stolz. Sie hatten zum ersten
Mal etwas aus Liebe getan.
Тексты в оригинале на английском, немецком и других языках смотрите в
библиотеке на сайте
http://frank.deutschesprache.ru/
Текст проверил Илья Франк
Популярность: 16, Last-modified: Tue, 07 Jan 2003 17:14:16 GmT