Roman


     (Auszug:
     Kapitel 1, 12, 13
     OCR: Korrektor)
     Der Roman  einer  Generation  zwischen  den Kriegen: Das Inflationsjahr
1923. Es ist die Zeit der Spekulanten und  Schieber, der kleinen Beamten und
großen  Kaufleute, der verarmten  Rentner  und Kriegsversehrten, einer
Gesellschaft in moralischer Auflusung, Eine ganze Generation hat auf bittere
Weise gelernt zu uberleben -  aber nicht, sich im Leben zurechtzufinden. Wie
Ludwig,  der  im Krieg wie  so viele  andere seine Jugend  verlor und  nicht
weiß, wo er hingehurt Auf  der Suche  nach  Liebe und einem  Platz  im
leben begegnet er der schunen, aber schizophrenen Isabelle..,

     "Mit seinem Schwarzen Obelisken hat Erich Maria Remarque  einer kurzen,
aber wesentlichen Epoche der jungeren deutschen Geschichte ein literarisches
Denkmal gesetzt." Frankfurter Allgemeine Zeitung
     Scheltet nicht, wenn ich  einmal von alten  Zeiten rede. Die Welt liegt
wieder im fahlen Licht der Apokalypse,  der Geruch des Blutes und der  Staub
der  letzten  Zersturung  sind  noch  nicht verflogen,  und  schon  arbeiten
Laboratorien und Fabriken  aufs  neue mit  Hochdruck daran, den  Frieden  zu
erhalten durch  die Erfindung  von Waffen, mit denen  man den ganzen Erdball
sprengen kann.
     Den  Frieden  der Welt! Nie  ist mehr  daruber  geredet und nie weniger
dafur getan  worden als  in unserer Zeit; nie hat es  mehr falsche Propheten
gegeben,  nie  mehr Lugen,  nie mehr Tod, nie mehr  Zersturung und nie  mehr
Trunen  als  in unserem Jahrhundert, dem zwanzigsten,  dem des Fortschritts,
der Technik, der Zivilisation, der Massenkultur und des Massenmordens. -
     Darum schelte  nicht,  wenn ich einmal zuruckgehe  zu  den  sagenhaften
Jahren, als die Hoffnung noch wie eine Flagge uber uns wehte und  wir  an so
verduchtige Dinge glaubten wie Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Toleranz - und
auch daran, daß ein  Weltkrieg  genug Belehrung  sein  musse fur  eine
Generation. -
     1 Die Sonne scheint  in das Buro  der Grabdenkmalsfirma  Heinrich Kroll
& Suhne. Es ist April 1923, und das  Geschuft geht gut. Das Fruhjahr hat
uns nicht im Stich gelassen, wir verkaufen  glunzend und werden arm dadurch,
aber was kunnen wir machen - der Tod ist unerbittlich und  nicht abzuweisen,
und menschliche Trauer verlangt nun einmal  nach  Monumenten  in  Sandstein,
Marmor  und,  wenn  das  Schuldgefuhl  oder die Erbschaft betruchtlich sind,
sogar  nach dem kostbaren schwarzen schwedischen  Granit, allseitig poliert.
Herbst und  Fruhjahr  sind die  besten Jahreszeiten fur die Hundler  mit den
Utensilien  der Trauer- dann  sterben  mehr  Menschen  als im Sommer und  im
Winter  -; im  Herbst, weil die  Sufte schwinden, und  im Fruhjahr, weil sie
erwachen und  den geschwuchten Kurper verzehren wie ein zu dicker Docht eine
zu  dunne Kerze.  Das  wenigstens  behauptet  unser  ruhrigster  Agent,  der
Totengruber Liebermann vom Stadtfriedhof, und  der  muß  es wissen; er
ist achtzig  Jahre alt, hat uber zehntausend  Leichen eingegraben,  sich von
seiner  Provision an Grabdenkmulern ein Haus am Fluß  mit einem Garten
und  einer Forellenzucht gekauft und ist durch seinen Beruf ein  abgeklurter
Schnapstrinker geworden. Das einzige, was er haßt, ist das Krematorium
der Stadt. Es ist unlautere Konkurrenz.  Wir mugen es auch nicht.  An  Urnen
ist nichts zu verdienen.
     Ich sehe auf die Uhr. Es  ist kurz vor Mittag,  und da heute  Sonnabend
ist,   mache   ich   Schluß.  Ich  stulpe   den  Blechdeckel  auf  die
Schreibmaschine,  trage  den Vervielfultigungsapparat  "Presto"  hinter  den
Vorhang, ruume  die  Steinproben beiseite  und  nehme  die  photographischen
Abzuge  von  Kriegerdenkmulern   und  kunstlerischem   Grabschmuck  aus  dem
Fixierbad. Ich bin nicht nur Reklamechef, Zeichner und Buchhalter der Firma;
ich  bin seit einem Jahr auch ihr einziger Buroangestellter und  als solcher
nicht einmal vom Fach.
     Genießerisch hole ich eine Zigarre aus der Schublade. Es ist eine
schwarze Brasil. Der Reisende fur die Wurttembergische Metallwarenfabrik hat
sie  mir  am  Morgen gegeben, um  hinterher zu  versuchen, mir  einen Posten
Bronzekrunze  anzudrehen;  die   Zigarre   ist  also  gut.  Ich  suche  nach
Streichhulzern, aber, wie fast immer, sind sie verlegt. Zum Gluck brennt ein
kleines Feuer im Ofen. Ich rolle einen Zehnmarkschein zusammen, halte ihn in
die Glut und  zunde  mit  damit die Zigarre  an. Das Feuer im Ofen ist  Ende
April  eigentlich nicht mehr nutig; es  ist  nur  ein Verkaufseinfall meines
Arbeitgebers  Georg Kroll. Er  glaubt, daß  Leute in Trauer, die  Geld
ausgeben  mussen, das lieber  in  einem  warmen  Zimmer  tun, als  wenn  sie
frieren. Trauer sei bereits ein Frieren  der Seele, und wenn dazu noch kalte
Fuße kumen, sei es schwer, einen guten Preis herauszuholen. Wurme taue
auf;  auch  den Geldbeutel.  Deshalb ist unser  Buro uberheizt,  und  unsere
Vertreter haben als obersten Grundsatz eingepaukt  bekommen, nie  bei kaltem
Wetter oder Regen  zu  versuchen, auf  dem Friedhof einen  Abschluß zu
machen - immer nur in  der  warmen Bude  und, wenn muglich, nach dem  Essen.
Trauer, Kulte und Hunger sind schlechte Geschuftspartner.
     Ich werfe den Rest des Zehnmarkscheins in den Ofen und richte mich auf.
Im  selben   Moment  hure   ich,  wie  im   Hause   gegenuber  ein   Fenster
aufgestoßen wird.  Ich brauche nicht hinzusehen, um zu wissen, was los
ist. Vorsichtig beuge ich  mich uber den Tisch, als hutte ich noch etwas  an
der Schreibmaschine zu  tun. Dabei  schiele ich  verstohlen in einen kleinen
Handspiegel, den ich so gestellt  habe, daß ich das Fenster beobachten
kann.  Es ist, wie immer,  Lisa, die Frau des Pferdeschluchters Watzek,  die
nackt dort steht und guhnt und sich reckt. Sie  ist erst jetzt aufgestanden.
Die Straße ist alt und schmal,  Lisa kann uns sehen und wir  sie,  und
sie  weiß  es; deshalb  steht sie  da.  Plutzlich  verzieht sie  ihren
großen Mund, lacht mit allen Zuhnen und zeigt auf den Spiegel. Sie hat
ihn  mit ihren  Raubvogelaugen entdeckt. Ich urgere  mich, erwischt zu sein,
benehme mich aber, als merke ich nichts und gehe in einer  Rauchwolke in den
Hintergrund des Zimmers. Nach einer Weile komme ich zuruck. Lisa grinst. Ich
blicke hinaus, aber ich sehe sie nicht an, sondern tue, als winke ich jemand
auf   der  Straße  zu.   Zum   uberfluß   werfe  ich  noch  eine
Kußhand  ins Leere.  Lisa fullt  darauf herein.  Sie ist neugierig und
beugt sich vor, um  nachzuschauen,  wer da sei. Niemand ist da. Jetzt grinse
ich. Sie deutet urgerlich mit dem Finger auf die Stirn und verschwindet.
     Ich weiß eigentlich nicht, warum ich diese Komudie auffuhre. Lisa
ist das, was man ein Prachtweib nennt, und ich kenne einen Haufen Leute, die
gern ein paar Millionen zahlen wurden, um jeden Morgen einen solchen Anblick
zu genießen.  Ich genieße ihn auch, aber trotzdem reizt er mich,
weil  diese  faule  Krute, die erst  mittags  aus  dem Bett klettert,  ihrer
Wirkung so  unverschumt  sicher ist.  Sie  kommt gar nicht auf den Gedanken,
daß nicht jeder sofort mit ihr  schlafen muchte. Dabei ist  ihr das im
Grunde ziemlich  gleichgultig.  Sie steht am  Fenster  mit  ihrer  schwarzen
Ponyfrisur  und  ihrer  frechen  Nase  und  schwenkt  ein  Paar  Bruste  aus
erstklassigem Carrara-Marmor herum wie  eine  Tante vor einem Suugling  eine
Spielzeugklapper. Wenn sie ein Paar  Luftballons hutte,  wurde sie  fruhlich
die hinaushalten. Da  sie nackt ist, sind es eben ihre Bruste,  das ist  ihr
vullig egal. Sei freut sich  ganz einfach daruber,  daß  sie lebt  und
daß alle  Munner verruckt nach ihr sein mussen, und dann vergißt
sie es und fullt mit ihrem gefrußigen Mund uber ihr Fruhstuck her. Der
Pferdeschluchter Watzek tutet inzwischen mØde, alte Droschkenguule.
     Lisa  erscheint   aufs   neue.  Sie  trugt  jetzt  einen   ansteckbaren
Schnurrbart und ist außer sich uber  diesen  geistvollen  Einfall. Sie
grußte  militurisch,  und  ich  nehme  schon  an,  daß  sie   so
unverschumt ist, damit den alten Feldwebel a.D. Knopf von nebenan zu meinen;
dann aber  erinnere  ich mich, daß Knopfs Schlafzimmer nur ein Fenster
nach dem Hof hat.  Und Lisa ist raffiniert genug,  zu  wissen, daß man
sie von den paar Nebenhuusern nicht beobachten kann.
     Plutzlich, als  bruchen irgendwo Schalldumme, beginnen die Glocken  der
Marienkirche zu luuten. Die Kirche steht am Ende  der Gasse, und die Schluge
druhnen, als fielen sie vom Himmel direkt ins Zimmer.  Gleichzeitig sehe ich
vor dem  zweiten Burofenster,  das nach  dem Hof geht, wie eine geisterhafte
Melone  den kahlen  Schudel  meines Arbeitgebers  vorubergleiten. Lisa macht
eine  rupelhafte  Geburde  und  schließt  ihr  Fenster.  Die  tugliche
Versuchung des heiligen Antonius ist wieder einmal uberstanden.
     Georg Kroll ist knapp vierzig Jahre; aber  sein Kopf glunzt bereits wie
die Kegelbahn im Gartenrestaurant Boll. Er glunzt,  seit  ich ihn kenne, und
das  ist   jetzt  uber   funf   Jahre  her.  Er  glunzt  so,   daß  im
Schutzengraben, wo wir im selben  Regiment  waren, ein Extrabefehl  bestand,
daß  Georg auch bei ruhigster Front seinen Stahlhelm aufbehalten musse
-  so  sehr hutte seine  Glatze selbst den sanftmutigsten  Gegner  verlockt,
durch einen Schuß festzustellen, ob sie ein riesiger  Billardball  sei
oder nicht.
     Ich reiße  die Knochen  zusammen  und  melde:  "Hauptquartier der
Firma   Kroll   und   Suhne!   Stab   bei   Feindbeobachtung.    Verduchtige
Truppenbewegungen im Bezirk des Pferdeschluchters Watzek."
     "Aha!" sagt Georg. "Lisa bei der Morgengymnastik. Ruhren  Sie Gefreiter
Bodmer!  Warum tragen Sie vormittags keine Scheuklappen wie  das Paukenpferd
einer  Kavalleriekapelle  und  schutzen  so Ihre Tugend? Kennen Sie die drei
kostbarsten Dinge des Lebens nicht?"
     "Wie  soll ich  sie kennen, Herr Oberstaatsanwalt,  wenn ich das  Leben
selbst noch suche?"
     "Tugend, Einfalt  und Jugend",  dekretiert Georg. "Einmal verloren, nie
wieder  zu gewinnen! Und was ist  hoffnungsloser  als  Erfahrung. Alter  und
kahle Intelligenz?"
     "Armut, Krankheit und Einsamkeit", erwidere ich und ruhre.
     "Das  sind  nur andere  Namen fur  Erfahrung, Alter und  mißleite
Intelligenz."
     Georg  nimmt mir die  Zigarre  aus  dem Mund, betrachtet  sie kurz  und
bestimmt  sie  wie  ein   Sammler   einen   Schmetterling.  "Beute  von  der
Metallwarenfabrik."
     Er  zieht eine schune angerauchte, goldbraune Meerschaumspitze aus  der
Tasche, paßt die Brasil hinein und raucht sie weiter.
     "Ich habe nichts gegen die Beschlagnahme  der Zigarre", sage  ich.  "Es
ist rohe  Gewalt, und mehr kennst  du  ehemaliger Unteroffizier ja nicht vom
Leben. Aber wozu die Zigarrenspitze? Ich bin kein Syphilitiker."
     "Und ich kein Homosexueller."
     "Georg", sage ich.  "Im  Kriege  hast du mit meinem Luffel  Erbsensuppe
gegessen, wenn ich sie in der Kuche gestohlen hatte. Und der Luffel wurde in
meinen schmutzigen Stiefeln aufbewahrt und nie gewaschen."
     Georg betrachtet die Asche der Brasil. Sie ist schneeweiß.
     "Der  Krieg ist viereinhalb Jahre vorbei", doziert er. "Damals sind wir
durch maßloses  Ungluck  zu  Menschen  geworden.  Heute  hat  uns  die
schamlose Jagd nach Besitz aufs neue zu Ruubern gemacht. Um das zu
     tarnen, brauchen  wir wieder den Firnis  gewisser Manieren. Ergo!  Aber
hast  du  nicht  noch eine  zweite  Brasil?  Die  Metallwarenfabrik versucht
Angestellte nie mit einer einzigen zu bestechen."
     Ich  hole  die  zweite Zigarre  aus  der Schublade  und  gebe sie  ihm.
"Intelligenz, Erfahrung und Alter scheinen doch fur etwas gut zu sein", sage
ich.
     Er grinst und hundigt mir dafur  eine Schachtel  Zigaretten aus, in der
sechs fehlen. "War sonst was los?" fragt er.
     "Nichts.   Keine   Kunden.   Aber   ich   muß  dringend  um  eine
Gehaltserhuhung ersuchen."
     "Schon wieder? Du hast doch erst gestern eine gehabt!"
     "Nicht  gestern.  Heute  morgen  um  neun.  Lumpige  achttausend  Mark.
Immerhin, heute morgen um neun war das wenigstens noch etwas. Inzwischen ist
der  neue  Dollarkurs  herausgekommen,  und ich  kann nun statt einer  neuen
Krawatte nur noch eine Flasche billigen Wein dafur kaufen.  Ich brauche aber
eine Krawatte."
     "Wie steht der Dollar jetzt?"
     "Heute mittag sechsunddreißigtausend  Mark. Heute morgen waren es
noch dreißigtausend."
     Georg Kroll  besieht seine Zigarre. "Sechsunddreißigtausend!  Das
geht ja wie das Katzenrammeln! Wo soll das enden?"
     "In  einer  allgemeinen  Pleite,  Herr  Feldmarschall",  erwidere  ich.
"Inzwischen aber mussen wir leben. Hast du Geld mitgebracht?"
     "Nur einen kleinen  Handkoffer  voll fur  heute und morgen.  Tausender,
Zehntausender, sogar noch ein paar Pakete mit lieben, alten Hundertern. Etwa
funf Pfund Papiergeld. Die Inflation geht ja jetzt so schnell, daß die
Reichsbank   mit   dem   Drucken   nicht   mehr    nachkommt.   Die    neuen
Hunderttausendernoten sind erst  seit vierzehn  Tagen raus -und jetzt mussen
bald  schon  Millionenscheine  gedruckt  werden.  Wann  sind   wir   in  den
Milliarden?"
     "Wenn es so weitergeht, in ein paar Monaten."
     "Mein Gott!" seufzt Georg. "Wo  sind  die  schunen  ruhigen Zeiten  von
1922. Da stieg  der Dollar  in  einem  Jahr  nur von  zweihundertfunfzig auf
zehntausend.  Ganz  zu  schweigen  von  1921  -  da  waren  es  nur  lumpige
dreihundert Prozent."
     Ich sehe aus dem Fenster, das zur Straße hinausgeht.  Lisa  trugt
jetzt  einen  seidenen  Schlafrock,  mit Papageien  bedruckt. Sie hat  einen
Spiegel an die Fensterklinke gehungt und burstet ihre Muhne.
     "Sieh das  da an", sage ich bitter. "Es sut nicht, es erntet nicht, und
der himmlische Vater ernuhrt es  doch. Den Schlafrock hatte sie gestern noch
nicht. Seide, meterweise! Und ich  kann  nicht den Zaster  fur eine Krawatte
zusammenkriegen."
     Georg  schmunzelt: "Du bist eben  ein  schlichtes Opfer der  Zeit. Lisa
dagegen schwimmt mit vollen  Segeln auf den Wogen  der  deutschen Inflation.
Sie ist die Schune  Helena  der Schieber.  Mit Grabsteinen kann man  nun mal
nicht  reich werden,  mein Sohn. Warum gehst du nicht  in die Heringsbranche
oder in den Aktienhandel, wie dein Freund Willy?"
     "Weil  ich  ein sentimentaler  Philosoph bin  und  den Grabsteinen treu
bleibe.  Also wie ist es mit  der Gehaltserhuhung? Auch Philosophen brauchen
einen bescheidenen Aufwand an Garderobe."
     "Kannst du den Schlips nicht morgen kaufen?"
     "Morgen ist Sonntag. Und morgen brauche ich ihn."
     Georg  holt vom Vorplatz den Koffer mit  Geld herein.  Er greift hinein
und wirft nur zwei Pakete zu. "Reicht das?"
     Ich  sehe, daß es meistens  Hunderter sind.  "Gib ein halbes Kilo
mehr von dem Tapetenpapier", sage ich. "Das hier sind huchstens funftausend.
Katholische Schieber legen  das sonntags als Meßpfennig auf den Teller
und schumen sich, weil sie so geizig sind."
     Georg kratzt sich den kahlen  Schudel - eine  atavistische Geste,  ohne
Sinn  bei  ihm.  Dann reicht  er mir  einen  dritten Packen. "Gott sei Dank,
daß morgen Sonntag ist", sagt er. "Da gibt es keine Dollarkurse. Einen
Tag in der Woche steht die  Inflation still. Gott  hat das  sicher nicht so.
gemeint, als er den Sonntag schuf."
     "Wie ist es  eigentlich mit uns  ?" frage  ich. "Sind wir  pleite, oder
geht es uns glunzend?"
     Georg tut einen langen Zug aus seiner Meerschaumspitze.
     "Ich glaube, das weiß heute keiner mehr  von sich in Deutschland.
Nicht einmal der guttliche  Stinnes. Die Sparer sind  naturlich alle pleite.
Die Arbeiter und Gehaltsempfunger auch. Von den  kleinen Geschuftsleuten die
meisten, ohne es zu wissen. Wirklich glunzend geht es nur
     den Leuten mit Devisen, Aktien oder großen Sachwerten. Also nicht
uns. Genugt das zu deiner Erleuchtung?"
     "Sachwerte!" Ich sehe hinaus in den Garten,  in dem unser  Lager steht.
"Wir  haben  wahrhaftig nicht mehr allzu viele. Hauptsuchlich  Sandstein und
gegossenes Zeug. Aber wenig Marmor und Granit.  Und  das bißchen,  was
wir  haben,  verkauft  uns  dein Bruder mit Verlust. Am  besten wure es, wir
verkauften gar nichts, was?"
     Georg   braucht  nicht   zu  antworten.   Eine  Fahrradglocke  erklingt
draußen.   Schritte  kommen  uber  die  alten  Stufen.  Jemand  hustet
rechthaberisch. Es ist das Sorgenkind des Hauses, Heinrich Kroll junior, der
zweite Inhaber der Firma.
     Er ist ein kleiner,  korpulenter Mann mit einem  strohigen  Schnurrbart
und  staubigen,  gestreiften   Hosen,  die   durch   Radfahrklammern   unten
zusammengehalten werden.  Mit  leichter  Miñbilligung streifen  seine  Augen
Georg  und  mich.  Wir sind  fur  ihn  die Burohengste, die  den ganzen  Tag
herumbummeln,  wuhrend er der Mann  der  Tat ist, der den  Außendienst
betreut. Er ist unverwustlich. Mit  dem  Morgengrauen zieht er jeden Tag zum
Bahnhof  und dann mit dem Fahrrad auf die entlegensten  Durfer, wenn  unsere
Agenten,  die Totengruber  oder Lehrer, eine Leiche gemeldet  haben.  Er ist
nicht ungeschickt. Seine Korpulenz ist vertrauenswurdig; deshalb hult er sie
durch  fleißige Fruh- und  Dummerschoppen auf der  Huhe.  Bauern haben
kleine Dicke lieber als verhungert aussehende  Dunne. Dazu kommt sein Anzug.
Er trugt nicht, wie die Konkurrenz  bei Steinmeyer, einen schwarzen Gehrock;
auch   nicht,   wie   die   Reisenden   von   Hollmann   und  Klotz,   blaue
Straßenanzuge  - das eine ist zu deutlich,  das andere zu unbeteiligt.
Heinrich  Kroll  trugt  den  kleinen   Besuchsanzug,   gestreifte  Hose  mit
Marengo-Jackett, dazu  einen altmodischen, harten Stehkragen  mit Ecken  und
eine gedumpfte Krawatte mit viel Schwarz darin. Er hat vor zwei Jahren einen
Augenblick geschwankt,  als er dieses Kostum bestellte; er uberlegte, ob ein
Cutaway nicht passender fur ihn wure, entschied sich dann aber dagegen, weil
er zu klein  ist.  Es  war  ein glucklicher  Verzicht;  auch  Napoleon hutte
lucherlich  in  einem  Schwalbenschwanz  ausgesehen.  So,  in  der  heutigen
Aufmachung,  wirkt Heinrich  Kroll wie ein  kleiner Empfangschef  des lieben
Gottes - und das ist genau, wie es sein soll. Die
     Radfahrklammern   geben   dem   Ganzen  noch  einen   heimeligen,  aber
raffinierten Zug - von Leuten, die sie tragen,  glaubt man, im Zeitalter des
Autos billiger kaufen zu kunnen.
     Heinrich  legt seinen  Hut ab und wischt sich mit dem Taschentuch  uber
die Stirn. Es ist draußen ziemlich kuhl, und er schwitzt nicht; er tut
es  nur,  um  uns  zu  zeigen,  was fur  ein  Schwerarbeiter  er  gegen  uns
Schreibtischwanzen ist.
     "Ich   habe  das   Kreuzdenkmal  verkauft",  sagte  er  mit  gespielter
Bescheidenheit, hinter der ein gewaltiger Triumph schweigend brullt.
     "Welches? Das kleine aus Marmor?" frage ich hoffnungsvoll.
     "Das große", erwidert er noch schlichter und starrt mich an.
     "Was?  Das  aus  schwedischem  Granit  mit  dem  Doppelsockel  und  den
Bronzeketten?"
     "Das! Oder haben wir noch ein anderes?"
     Heinrich genießt  deutlich seine blude  Frage als einen Huhepunkt
sarkastischen Humors.
     "Nein", sage ich. "Wir haben kein anderes mehr.  Das ist ja  das Elend!
Es war das letzte. Der Felsen von Gibraltar."
     "Wie hoch hast du verkauft?" fragt jetzt Georg Kroll.
     Heinrich reckt sich. "Fur dreiviertel Millionen,  ohne Inschrift,  ohne
Fracht und ohne Einfassung. Die kommen noch dazu."
     "Großer Gott!" sagen Georg und ich gleichzeitig.
     Heinrich spendet uns einen Blick voll Arroganz; tote Schellfische haben
manchmal so einen  Ausdruck.  "Es  war  ein schwerer Kampf", erklurt er  und
setzt aus irgendeinem Grunde seinen Hut wieder auf.
     "Ich wollte, Sie hutten ihn verloren", erwidere ich.
     "Was?"
     "Verloren! Den Kampf!"
     "Was?" wiederholt Heinrich gereizt. Ich irritiere ihn leicht.
     "Er wollte, du huttest nicht verkauft", sagt Georg Kroll.
     "Was? Was soll denn das nun wieder heißen? Verdammt noch mal, man
plagt sich von morgens bis abends und  verkauft glunzend,  und dann wird man
als Lohn  in  dieser Bude mit Vorwurfen  empfangen! Geht mal selber  auf die
Durfer und versucht -"
     "Heinrich", unterbricht Georg ihn milde. "Wir wissen, daß du dich
     schindest. Aber wir leben heute in  einer Zeit, wo Verkaufen arm macht.
Wir haben seit Jahren eine Inflation. Seit dem Kriege, Heinrich. Dieses Jahr
aber  ist  die Inflation  in  galoppierende Schwindsucht verfallen.  Deshalb
bedeuten Zahlen nichts mehr."
     "Das weiß ich selbst. Ich bin kein Idiot."
     Niemand   antwortet   darauf   etwas.   Nur   Idioten   machen   solche
Feststellungen. Und denen zu widersprechen ist zwecklos. Ich  weiß das
von  meinen  Sonntagen in der  Irrenanstalt.  Heinrich  zieht  ein Notizbuch
hervor. "Das Kreuzdenkmal hat  uns  im  Einkauf funfzigtausend  gekostet. Da
sollte man meinen, daß  dreiviertel  Millionen ein ganz netter  Profit
wuren."
     Er  plutschert wieder in  Sarkasmus. Er  glaubt, er musse ihn  bei  mir
anwenden, weil ich  einmal  Schulmeister gewesen  bin. Ich war das kurz nach
dem  Kriege, in einem  verlassenen  Heidedorf,  fur  neun  Monate,  bis  ich
entfloh, die Wintereinsamkeit wie einen heulenden Hund auf den Fersen.
     "Es wure ein noch grußerer Profit, wenn Sie  statt des herrlichen
Kreuzdenkmals   den  verdammten  Obelisken  draußen  vor  dem  Fenster
verkauft hutten", sage ich. "Den hat Ihr verstorbener Herr Vater vor sechzig
Jahren  bei  der Grundung des Geschuftes noch billiger  eingekauft - fur  so
etwas wie funfzig Mark, der uberlieferung zufolge."
     "Den Obelisken? Was  hat  der Obelisk  mit  diesem Geschuft zu tun? Der
Obelisk ist unverkuuflich, das weiß jedes Kind."
     "Eben deshalb", sage ich. "Um den  wure es nicht schade gewesen. Um das
Kreuz ist es schade. Das mussen wir fur teures Geld wiederkaufen."
     Heinrich Kroll schnauft kurz. Er hat Polypen in seiner dicken Nase  und
schwillt leicht  an.  "Wollen  Sie mir  vielleicht  erzuhlen, daß  ein
Kreuzdenkmal heute dreiviertel Millionen im Einkauf kostet?"
     "Das  werden  wir bald  erfahren", sagt Georg  Kroll. "Riesenfeld kommt
morgen hier an. Wir mussen bei den Odenwulder Granitwerken neu bestellen; es
ist nicht mehr viel auf Lager."
     "Wir haben noch den Obelisken", erklure ich tuckisch.
     "Warum verkaufen Sie den nicht selber?" schnappt Heinrich.
     "So, Riesenfeld kommt morgen; da werde ich hierbleiben und auch mal mit
ihm reden! Dann werden wir sehen, was Preise sind!"
     Georg und ich wechseln einen  Blick. Wir wissen, daß wir Heinrich
von Riesenfeld fernhalten  werden, selbst wenn wir ihn besoffen  machen oder
ihm Rizinusul in  seinen  Sonntagsfruhschoppen  mischen mussen.  Der  treue,
altmodische   Geschuftsmann  wurde  Riesenfeld   zu  Tode   langweilen   mit
Kriegserinnerungen und  Geschichten aus der guten alten Zeit, als eine  Mark
noch  eine  Mark und die  Treue das Mark der Ehre  war, wie unser  geliebter
Feldmarschall  so treffend  geuußert  hat. Heinrich  hult  große
Stucke auf  solche Plattituden; Riesenfeld nicht. Riesenfeld hult Treue  fur
das, was man von anderen  verlangt, wenn es nachteilig fur sie ist - und von
sich selbst, wenn man Vorteile davon hat.
     "Preise wechseln jeden Tag", sagt Georg. "Da ist nichts zu besprechen."
     "So?  Glaubst du  vielleicht  auch,  daß ich  zu  billig verkauft
habe?"
     "Das kommt darauf an. Hast du Geld mitgebracht?"
     Heinrich  starrt Georg an. "Mitgebracht? Was  ist denn  das nun wieder?
Wie kann ich Geld mitbringen, wenn wir  noch nicht geliefert  haben? Das ist
doch unmuglich!"
     "Das  ist nicht  unmuglich", erwidere ich. "Es ist im  Gegenteil  heute
recht gebruuchlich. Man nennt das Vorauszahlung."
     "  Vorauszahlung!"  Heinrichs dicker  Zinken  zuckt  veruchtlich.  "Was
verstehen  Sie  Schulmeister  davon  ?  Wie  kann man  in  unserem  Geschuft
Vorauszahlungen  verlangen?  Von  den trauernden  Hinterbliebenen, wenn  die
Krunze auf  dem Grab noch nicht verwelkt sind? Wollen Sie da Geld  verlangen
fur etwas, was noch nicht geliefert ist?"
     "Naturlich!  Wann sonst? Dann sind  sie schwach und  rucken es leichter
heraus."
     "Dann sind sie schwach? Haben Sie eine Ahnung! Dann sind sie hurter als
Stahl! Nach all den Unkosten fur den  Arzt,  den Sarg, den Pastor, das Grab,
die  Blumen,  den   Totenschmaus  -   da   kriegen  Sie  keine   zehntausend
Vorauszahlung,  junger Mann!  Die  Leute mussen  sich  erst erholen! Und sie
mussen das, was sie bestellen, erst  auf  dem Friedhof stehen sehen, ehe sie
zahlen, und nicht nur  auf  dem Papier im Katalog, selbst wenn  er von Ihnen
gezeichnet  ist,  mit  chinesischer  Tusche  und  echtem Blattgold  fur  die
Inschriften und ein paar trauernden Hinterbliebenen als Zugabe."
     Wieder eine  der persunlichen  Entgleisungen Heinrichs! Ich beachte sie
nicht. Es ist wahr, ich  habe die Grabdenkmuler fur unsern Katalog nicht nur
gezeichnet und auf dem  Presto-Apparat vervielfultigt, sondern sie  auch, um
die   Wirkung  zu  erhuhen,  bemalt  und   mit   Atmosphure   versehen,  mit
Trauerweiden,    Stiefmutterchenbeeten,    Zypressen     und    Witwen    in
Trauerschleiern,  die die Blumen begießen.  Die Konkurrenz starb  fast
vor Neid, als wir  mit dieser Neuigkeit herauskamen; sie hatte weiter nichts
als  einfache Lagerphotographien, und auch  Heinrich  fand  die  Idee damals
großartig,  besonders die Anwendung  des Blattgoldes.  Um  den  Effekt
vullig  naturlich zu machen, hatte ich numlich die gezeichneten und gemalten
Grabsteine mit Inschriften aus in  Firnis aufgelusten Blattgold  geschmuckt.
Ich verlebte eine kustliche Zeit dabei; jeden Menschen, den ich nicht leiden
konnte,  ließ  ich sterben und  malte  ihm  seinen Grabstein -  meinem
Unteroffizier  aus der  Rekrutenzeit,  der  heute  noch fruhlich  lebt,  zum
Beispiel:  Hier  ruht nach  langem, unendlich qualvollem Leiden, nachdem ihm
alle  seine  Lieben  in  den Tod  vorausgegangen  sind, der Schutzmann  Karl
Flumer.  Das  war  nicht  ohne  Berechtigung  - der  Mann hatte  mich  stark
geschunden  und mich im  Felde  zweimal auf Patrouillen geschickt, von denen
ich nur  durch  Zufall lebendig zuruckgekommen war. Da konnte man  ihm schon
allerhand wunschen!
     "Herr Kroll", sage ich,  "erlauben Sie, daß wir Ihnen noch einmal
kurz die  Zeit erkluren. Die  Grundsutze,  mit denen  Sie aufgewachsen sind,
sind edel,  aber  sie fuhren heute zum  Bankrott. Geld verdienen kann  jetzt
jeder;  es  wertbestundig halten  fast  keiner. Das  Wichtige ist  nicht, zu
verkaufen, sondern  einzukaufen  und so rasch wie muglich bezahlt zu werden.
Wir  leben  im  Zeitalter  der  Sachwerte.  Geld  ist  eine  Illusion; jeder
weiß es,  aber viele glauben es  trotzdem noch  nicht. Solange das  so
ist,  geht die  Inflation weiter, bis das absolute Nichts erreicht  ist. Der
Mensch  lebt  zu 75 Prozent von seiner  Phantasie und nur zu  25 Prozent von
Tatsachen  - das  ist seine Sturke  und  seine Schwuche,  und deshalb findet
dieser Hexentanz der Zahlen immer noch  Gewinner und Verlierer.  Wir wissen,
daß wir keine absoluten  Gewinner sein kunnen; wir  muchten  aber auch
nicht ganz zu den  Verlierern zuhlen. Die  dreiviertel Million, fur  die Sie
heute verkauft haben, ist, wenn sie erst in zwei Monaten bezahlt wird, nicht
mehr wert als heute funfzigtausend Mark. Deshalb -"
     Heinrich ist dunkelrot  angeschwollen. Jetzt unterbricht er  mich. "Ich
bin kein Idiot",  erklurt  er zum zweiten Male. "Und Sie brauchen  mir keine
solchen albernen  Vortruge zu  halten. Ich  weiß  mehr vom praktischen
Leben als Sie.  Und  ich will lieber in Ehren untergehen als zu fragwurdigen
Schiebermethoden greifen, um zu existieren.  Solange ich  Verkaufsleiter der
Firma bin, wird das Geschuft im alten, anstundigen Sinne weitergefuhrt,  und
damit basta! Ich weiß, was ich weiß, und damit ist es  bis jetzt
gegangen, und so  wird es weitergehen! Ekelhaft,  einem die  Freude an einem
gelungenen Geschuft so verderben zu wollen! Warum sind Sie nicht Arschpauker
geblieben?"
     Er greift nach seinem Hut und wirft die Tur schmetternd hinter sich zu.
Wir  sehen  ihn  auf  seinen  stummigen  X-Beinen  uber  den  Hof  stampfen,
halbmiliturisch mit seinen  Radfahrklammern.  Er ist im Abmarsch  zu  seinem
Stammtisch in der Gastwirtschaft Blume.
     "Freude am Geschuft will er haben, dieser burgerliche Sadist", sage ich
urgerlich.  "Auch das  noch!  Wie  kann man unser  Geschuft  anders als  mit
frommem Zynismus  betreiben, wenn  man  seine  Seele bewahren  will?  Dieser
Heuchler aber will Freude am Schacher mit Toten  haben und hult das noch fur
sein angestammtes Recht!"
     Georg lacht.  "Nimm  dein  Geld,  und  laß uns  auch  aufbrechen!
Wolltest du dir nicht noch eine Krawatte  kaufen? Vorwurts damit! Heute gibt
es keine Gehaltserhuhungen mehr!"
     Er nimmt  den Koffer mit dem Geld und  stellt ihn achtlos in das Zimmer
neben  dem Buro, wo er schluft. Ich verstaue meine Packen in  einer Tute mit
der Aufschrift: Konditorei Keller  - feinste  Backwaren,  Lieferung auch ins
Haus.
     "Kommt Riesenfeld tatsuchlich?" frage ich.
     "Ja, er hat telegraphiert."
     "Was will er? Geld? Oder verkaufen?"
     "Das werden wir sehen", sagt Georg und schließt das Buro ab.
     2  Wir treten aus der Tur.  Die heftige Sonne  des sputen Aprils sturzt
auf uns herunter, als wurde  ein riesiges goldenes Becken mit Licht und Wind
ausgeschuttet.  Wir bleiben stehen. Der Garten steht in grunen Flammen,  das
Fruhjahr  rauscht im  jungen  Laub  der Pappel wie eine Harfe, und der erste
Flieder bluht.
     "Inflation!" sage ich. "Da hast du  auch eine - die wildeste von allen.
Es  scheint, daß  selbst die  Natur weiß, daß nur noch  in
Zehntausenden und Millionen gerechnet  wird. Sieh dir an,  was die Tulpen da
machen! Und das Weiß druben  und das Rot und uberall das Gelb! Und wie
das riecht!"
     Georg nickt, schnuppert und nimmt einen Zug aus  der Brasil; Natur  ist
fur ihn doppelt schun, wenn er dabei eine Zigarre rauchen kann.
     Wir fuhlen die Sonne auf unseren Gesichtern und blicken auf die Pracht.
Der Garten hinter  dem  Hause  ist  gleichzeitig der  Ausstellungsplatz  fur
unsere  Denkmuler.  Da stehen  sie,  angefuhrt wie eine Kompanie  von  einem
dunnen Leutnant, von dem Obelisken Otto, der  gleich  neben der  Tur  seinen
Posten  hat. Er ist das Stuck, das  ich Heinrich  geraten habe zu verkaufen,
das ulteste Denkmal der Firma,  ihr  Wahrzeichen und  eine  Monstrositut  an
Geschmacklosigkeit.   Hinter   ihm   kommen   zuerst  die  billigen  kleinen
Hugelsteine aus  Sandstein  und  gegossenem Zement, die  Grabsteine  fur die
Armen, die  brav  und anstundig  gelebt und  geschuftet  haben  und  dadurch
naturlich zu nichts gekommen sind. Dann folgen die grußeren, schon mit
Sockeln, aber  immer  noch billig,  fur  die, die schon etwas Besseres  sein
muchten, wenigstens im Tode, da es im Leben nicht muglich war. Wir verkaufen
mehr davon  als  von den ganz einfachen, und  man  weiß nicht,  ob man
diesen  versputeten Ehrgeiz der  Hinterbliebenen ruhrend oder absurd  finden
soll.  Das  nuchste sind  die  Hugelsteine aus  Sandstein mit  eingelassenen
Platten aus  Marmor, grauem Syenit oder  schwarzem  schwedischem Granit. Sie
sind bereits zu teuer fur den Mann, der  von seiner Hunde Arbeit gelebt hat.
Kleine Kaufleute, Werkmeister, Handwerker,  die einen eigenen Betrieb gehabt
haben, sind die  Kunden dafur - und naturlich  der  ewige  Unglucksrabe, der
kleine Beamte, der immer mehr vorstellen muß, als er ist, dieser brave
Stehkragenproletarier, von  dem keiner weiß,  wie er es  fertigbringt,
heutzutage noch zu existieren, da seine Gehaltserhuhungen stets viel zu sput
kommen.



     braucht, kann man  ihm nicht folgen und ihm  nicht  beistehen, das habe
ich  oft genug gesehen,  wenn  ich  im Kriege in die toten  Gesichter meiner
Kameraden geblickt  habe. Jeder  hat  seinen eigenen Tod  und  muß ihn
allein sterben, und niemand kann ihm dabei helfen.
     "Du lußt mich nicht allein?" flustert sie.
     "Ich lasse dich nicht allein."
     "Schwure es", sagt sie und bleibt stehen.
     "Ich schwure es", erwidere ich unbedenklich.
     "Gut, Rudolf." Sie seufzt, als wure jetzt vieles leichter.
     "Aber vergiß es nicht. Du vergißt so oft."
     "Ich werde es nicht vergessen."
     "Kusse mich."
     Ich ziehe  sie  an  mich.  Ich  fuhle  ein  sehr  leichtes  Grauen  und
weiß   nicht,  was  ich  tun   soll,  und  kusse  sie  mit  trockenen,
geschlossenen Lippen.
     Sie hebt  ihre Hunde um meinen  Kopf und hult ihn. Plutzlich  spure ich
einen  scharfen  Biß  und stoße  sie  zuruck.  Meine  Unterlippe
blutet. Sie hat hineingebissen. Ich starre  sie an. Sie luchelt. Ihr Gesicht
ist  verundert.  Es  ist  buse  und  schlau.  "Blut!"  sagt  sie  leise  und
triumphierend. "Du wolltest mich wieder betrugen, ich kenne dich! Aber jetzt
kannst du es nicht mehr. Es ist besiegelt. Du kannst nicht mehr weg!"
     "Ich  kann nicht mehr weg", sage  ich  ernuchtert. "Meinetwegen!  Darum
brauchst du mich  aber doch nicht wie eine Katze anzufallen. Wie das blutet!
Was soll ich der Oberin sagen, wenn sie mich so sieht?"
     Isabelle  lacht. "Nichts", erwidert  sie.  "Warum mußt  du  immer
etwas sagen? Sei doch nicht so feige!"
     Ich  spure  das Blut lau in meinem  Munde. Mein Taschentuch hat  keinen
Zweck - die Wunde muß sich von selbst schließen. GeneviÉve steht
vor mir. Sie ist plutzlich Jenny.  Ihr Mund ist klein und hußlich, und
sie  luchelt  schlau   und  boshaft.  Dann  beginnen  die  Glocken  fur  die
Maiandacht. Eine  Pflegerin kommt den Weg  entlang.  Ihr weißer Mantel
schimmert ungewiß im Zwielicht.
     Meine Wunde ist wuhrend der Andacht getrocknet, ich  habe meine tausend
Mark  empfangen und  sitze jetzt mit dem Vikar Bodendiek am Tisch. Bodendiek
hat seine seidenen Gewunder in  der kleinen Sakristei abgelegt. Vor funfzehn
Minuten war  er  noch  eine mystische  Figur -weihrauchumdampft stand er  in
Brokat und Kerzenlicht da und hob die goldene Monstranz mit dem Leib Christi
in  der Hostie uber die  Kupfe  der frommen Schwestern und  die Schudel  der
Irren,  die  Erlaubnis  haben, bei der Andacht dabeizusein - jetzt aber,  im
schwarzen  abgeschabten  Rock  und  dem  leicht  verschwitzten  weißen
Kragen,  der  hinten statt  vorne  geschlossen  ist,  ist  er  nur  noch ein
einfacher  Agent Gottes, gemutlich, kruftig, mit den roten Backen, der roten
Nase  und den  geplatzten  Aderchen  darin,  die  den  Liebhaber des  Weines
kennzeichnen. Er  weiß es nicht  -  aber er  war  mein Beichtvater fur
manche Jahre  vor dem Kriege, als wir, auf Anordnung der Schule, jeden Monat
beichten und kommunizieren  mußten. Wer  nicht ganz  dumm war, ging zu
Bodendiek. Er war schwerhurig,  und da  man bei der Beichte flustert, konnte
er  nicht  verstehen,  was  fur  Sunden  man bekannte. Er  gab  deshalb  die
leichtesten Bußen  auf.  Ein paar Vaterunser, und man war aller Sunden
ledig  und  konnte  Fußball  spielen  gehen  oder  in der  Studtischen
Leihbucherei versuchen, verbotene  Bucher zu bekommen. Das war etwas anderes
als beim Dompastor, zu  dem  ich einmal geriet, weil  ich es eilig hatte und
weil vor Bodendieks  Beichtstuhl  eine lange  Schlange  Wartender stand. Der
Dompastor  gab mir  eine  heimtuckische  Buße auf:  Ich mußte in
einer Woche wieder zur Beichte kommen, und als  ich es tat, fragte  er mich,
warum ich da sei. Da man in der Beichte nicht lugen darf, sagte  ich es ihm,
und er gab mir als Buße  ein paar Dutzend Rosenkrunze zu beten und den
Befehl, die folgende Woche ebenfalls wiederzukommen. Das ging so weiter, und
ich verzweifelte fast - ich sah mich bereits  mein ganzes Leben an der Kette
des Dompastors zu wuchentlichen Konfessionen verurteilt. Zum Gluck bekam der
heilige Mann  in der  vierten  Woche  die Masern  und  mußte  im  Bett
bleiben. Als mein Beichttag herankam, ging ich zu Bodendiek und erklurte ihm
mit lauter Stimme die Lage - der  Dompastor  habe  mich verpflichtet,  heute
wieder zu beichten, aber er sei krank. Was ich  tun  solle? Zu  ihm hingehen
kunne ich nicht, da Masern ansteckend seien. Bodendiek entschied,  daß
ich bei  ihm ebensogut  beichten kunne;  Beichte sei  Beichte  und  Preister
Priester. Ich tat es  und war  frei. Den Dompastor aber mied ich seither wie
die Pest.
     Wir sitzen in einem kleinen Zimmer  in der Nuhe des großen Saales
fur  die   freien   Kranken.  Es   ist   kein  eigentliches  Eßzimmer;
Bucherregale  stehen darin, ein Topf  mit  weißen Geranien,  ein  paar
Stuhle und Sessel und ein runder Tisch. Die Oberin hat uns eine Flasche Wein
geschickt, und wir  warten  auf das Essen.  Ich hutte  vor  zehn Jahren  nie
geglaubt, einmal mit meinem Beichtvater eine Flasche Wein  zu trinken - aber
ich hutte damals auch nie geglaubt,  daß ich einmal Menschen tuten und
dafur nicht aufgehungt, sondern dekoriert werden  wurde, und trotzdem ist es
so gekommen.
     Bodendiek probiert den  Wein.  "Ein  Schloß Reinhardshausener von
der Domune  des Prinzen Heinrich  von Preußen", erklurt  er anduchtig.
"Die Oberin hat  uns  da etwas  sehr  Gutes geschickt. Verstehen Sie was von
Wein?"
     "Wenig", sage ich.
     "Sie sollten es lernen. Speise und  Trank sind Gaben  Gottes.  Man soll
sie genießen und verstehen."
     "Der  Tod ist  sicher auch eine Gabe Gottes",  erwidere ich und  blicke
durch das  Fenster  in den dunklen Garten.  Es  ist windig geworden, und die
schwarzen Kronen der Buume schwanken. "Soll man den  auch genießen und
verstehen?"
     Bodendiek sieht mich uber den Rand seines Weinglases belustigt an. "Fur
einen  Christen ist der Tod kein Problem.  Er  braucht ihn  nicht gerade  zu
genießen;  aber  verstehen  kann er ihn ohne weiteres. Der Tod ist der
Eingang zum ewigen Leben. Da ist  nichts zu furchten. Und fur viele  ist  er
eine Erlusung."
     "Warum?"
     "Eine Erlusung von Krankheit, Schmerz, Einsamkeit und Elend."
     Bodendiek  nimmt einen genießerischen Schluck und  lußt ihn
hinter seinen roten Backen im Munde umhergehen.
     "Ich weiß", sage ich. "Die Erlusung vom irdischen Jammertal.
     Warum hat Gott es eigentlich geschaffen?" Bodendiek sieht im Augenblick
nicht so  aus, als  kunne er das Jammertal nicht ertragen.  Er ist  rund und
voll und hat die Schuße seines Priesterrocks uber die Lehne des Stuhls
gebreitet,  damit  sie nicht  zerknittern unter  dem Druck seines  kruftigen
Hinterns. So


     "Ich  hutte es nicht  sagen kunnen! Das  nicht!  Selbst  wenn  es  mein
sofortiger Tod gewesen wÄre. Es liegt nicht in meinem Charakter."
     "Das stimmt", sage ich. "Der Geizknochen wure lieber verreckt."
     "Das meine ich", erklurt Eduard, aufatmend, Hilfe gefunden zu haben. Er
wischt  sich die Stirn.  Seine Locken sind naß,  so hat ihn die letzte
Drohung  Valentins erschreckt.  Er  sah  schon  einen  Prozeß  um  das
"Walhalla" vor sich. "Also meinetwegen,  fur dieses Mal", sagt er  rasch, um
nicht weiter bedrungt zu werden. "Kellner, eine halbe Flasche Mosel."
     "Johannisberger Langenberg, eine  ganze  Flasche",  korrigiert Valentin
und wendet sich an mich. "Darf ich dich zu einem Glas einladen?"
     "Und ob!" erwidere ich.
     "Halt!" sagt Eduard. "Das  war bestimmt nicht in der Abmachung! Sie war
nur fur Valentin allein! Ludwig kostet mich ohnehin schon jeden Tag schweres
Geld, der Blutsauger mit den entwerteten Eßmarken!"
     "Sei ruhig, du  Giftmischer",  erwidere  ich.  "Dies ist  geradezu eine
Karma-Verknupfung. Du schießt  auf mich  mit Sonetten,  ich bade meine
Wunden  dafur  in deinem Rheinwein. Willst du, daß  ich einer gewissen
Dame  einen  Zwulfzeiler  in  der  Art  des  Aretino  uber  diese  Situation
zuschicke, du Wucherer an deinem Lebensretter?"
     Eduard verschluckt sich. "Ich brauche frische Luft", murmelt er wutend.
"Erpresser! Zuhulter! Schumt ihr euch eigentlich nie?"
     "Wir   schumen    uns   uber    schwierigere    Dinge,   du   harmloser
Millionenzuhler."  Valentin   und   ich  stoßen  an.  Der   Wein   ist
hervorragend.
     "Wie  ist  es mit  dem Besuch im Haus  der Sunde?" fragt Otto  Bambuss,
scheu vorubergleitend.
     "Wir gehen bestimmt, Otto. Wir sind es der Kunst schuldig."
     "Warum trinkt man eigentlich am liebsten bei Regen?" fragt Valentin und
schenkt neu ein. "Es mußte doch umgekehrt sein."
     "Muchtest du fur alles immer eine Erklurung haben?"
     "Naturlich nicht.  Wo  bliebe sonst  die Unterhaltung? Mir ist das  nur
aufgefallen."
     "Vielleicht  ist  es   der   Herdentrieb,   Valentin.  Flussigkeit   zu
Flussigkeit."
     "Mag sein. Aber ich pisse auch ufter an Tagen, wenn es regnet.  Das ist
doch zumindest sonderbar."
     Du  pißt mehr,  weil du mehr  trinkst.  Was ist daran sonderbar?"
Stimmt."  Valentin  nickt erleichtert. "Daran habe ich nicht gedacht.  Fuhrt
man auch mehr Kriege, weil mehr Menschen geboren werden?"
     12 Bodendiek  streicht  wie  eine große schwarze Kruhe  durch den
Nebel. "Nun", fragt er jovial. "Verbessern Sie noch immer die Welt?"
     "Ich betrachte sie", erwidere ich.
     "Aha! Der Philosoph! Und was finden Sie?"
     Ich schaue  in sein munteres Gesicht, das rot  und naß  vom Regen
unter  dem Schlapphut  leuchtet. "Ich finde, daß  das  Christentum die
Welt in zweitausend  Jahren  nicht wesentlich  weitergebracht hat", erwidere
ich.
     Einen Augenblick  verundert sich die wohlwollend uberlegene Miene; dann
ist  sie  wieder  wie  vorher.   "Meinen   Sie   nicht,  daß  Sie  ein
bißchen jung fur solche Urteile sind?"
     "Ja - aber  finden Sie nicht, daß es ein trostloses Argument ist,
jemand seine Jugend vorzuwerfen? Haben Sie nichts anderes?"
     "Ich  habe  eine  ganze  Menge   anderes.  Aber  nicht   gegen   solche
Albernheiten. Wissen Sie nicht, daß jede Verallgemeinerung ein Zeichen
von Oberfluchlichkeit ist?"
     "Ja", sage ich mude. "Ich habe das auch nur gesagt,  weil es regnet. Im
ubrigen ist etwas daran. Ich studiere seit  einigen Wochen Geschichte,  wenn
ich nicht schlafen kann."
     "Warum? Auch weil es ab und zu regnet?"
     Ich ignoriere den harmlosen Schuß. "Weil ich mich vor vorzeitigen
Zynismus und  lokaler  Verzweiflung bewahren muchte. Es ist nicht Jedermanns
Sache,  mit   einfachem  Glauben  an   die  heilige  Dreifaltigkeit  daruber
hinwegzusehen,  daß   wir  mitten  drin   sind,  einen   neuen   Krieg
vorzubereiten - nachdem wir gerade einen verloren haben, den Sie und
     Ihre   Herren   Kollegen   von   den   verschiedenen   protestantischen
Bekenntnissen  im  Namen  Gottes und  der Liebe  zum  Nuchsten gesegnet  und
geweiht haben - ich will zugeben, Sie etwas gedumpfter und verlegener - Ihre
Kollegen dafur  um  so munterer,  in Uniform, mit  den  Kreuzen rasselnd und
siegschnaubend."
     Bodendiek schuttelt den  Regen von seinem schwarzen Hut. "Wir haben den
Sterbenden im Felde  den  letzten  Trost gespendet - das scheinen Sie vullig
vergessen zu haben."
     "Sie hutten es nicht dazu kommen  lassen sollen! Warum  haben Sie nicht
gestreikt? Warum  haben Sie  Ihren Gluubigen den  Krieg nicht verboten?  Das
wure Ihre Aufgabe gewesen. Aber  die Zeiten der Murtyrer sind vorbei.  Dafur
habe ich oft genug, wenn  ich zum Feldgottes dienst mußte,  die Gebete
um  die Siege unserer  Waffen gehurt Glauben Sie, daß Christus fur den
Sieg der Galiluer gegen die Philister gebetet hutte?"
     "Der  Regen", erwidert Bodendiek  gemessen, "scheint  Sie  ungewuhnlich
emotionell und  demagogisch  zu machen. Sie wissen  anscheinend  schon recht
gut, daß man  auf geschickte Weise, mit Auslassungen, Umdrehungen  und
einseitiger Darstellung, alles  in der Welt angreifen und angreifbar  machen
kann."
     "Das weiß ich. Deshalb studiere ich ja Geschichte. Man hat uns in
der Schule  und  im Religionsunterricht  immer von  den dunklen, primitiven,
grausamen vorchristlichen  Zeiten  erzuhlt.  Ich  lese  das  nach und finde,
daß wir nicht viel besser sind - abgesehen von den Erfolgen in Technik
und Wissenschaft. Die aber benutzen wir zum  grußten Teil nur, um mehr
Menschen tuten zu kunnen."
     "Wenn man  etwas beweisen will, kann man alles beweisen, lieber Freund.
Das Gegenteil  auch. Fur jede  vorgefaßte  Meinung lassen sich Beweise
erbringen."
     "Das weiß ich auch",  sage ich.  "Die  Kirche  hat  das  auf  das
brillanteste vorgemacht, als sie die Gnostiker erledigte."
     "Die  Gnostiker!  Was  wissen denn Sie  von denen?" fragt Bodendiek mit
beleidigendem Erstaunen.
     "Genug, um  den Verdacht zu haben, daß sie  der tolerantere  Teil
des Christentums waren. Und alles, was ich bis jetzt in meinem Leben gelernt
habe, ist, Toleranz zu schutzen."
     "Toleranz -", sagt Bodendiek.
     "Toleranz!" wiederhole ich. "Rucksicht auf den anderen. Verstundnis fur
den anderen. Jeden auf  seine Weise  leben  lassen. Toleranz, die in  unserm
geliebten Vaterlande ein Fremdwort ist."
     Mir einen Wort,  Anarchie", erwidert Bodendiek leise und plutzlich sehr
scharf.
     Wir stehen vor der Kapelle. Die Lichter sind angezundet, und die bunten
Fenster schimmern trustlich in den wehenden Regen. Aus der offenen Tur kommt
der schwache Geruch  von Weihrauch. "Toleranz, Herr Vikar", sage ich. "Nicht
Anarchie, und Sie wissen den Unterschied. Aber Sie durfen ihn nicht zugeben,
weil Ihre Kirche ihn nicht hat. Sie sind alleinseligmachend! Niemand besitzt
den Himmel, nur  Sie!  Keiner  kann  lossprechen, nur  Sie!  Sie  haben  das
Monopol. Es  gibt keine  Religion  außer  der  Ihren!  Sie  sind  eine
Diktatur! Wie kunnen Sie da tolerant sein?"
     "Wir brauchen es nicht zu sein. Wir haben die Wahrheit."
     "Naturlich",  sage ich  und  zeige  auf die erleuchteten  Fenster. "Das
dort!  Trost  fur Lebensangst.  Denke nicht  mehr; ich weiß alles  fur
dich! Die Versprechung des Himmels und  die Drohung mit der  Hulle - spielen
auf den einfachsten Emotionen - was hat das mit der Wahrheit zu  tun, dieser
Fata Morgana unseres Gehirns?"
     "Schune Worte",  erklurt Bodendiek, lungst wieder  friedlich, uberlegen
und leicht sputtisch.
     "Ja, das ist alles, was wir haben - schune  Worte", sage ich, urgerlich
uber mich selbst. "Und Sie haben auch nichts anderes - schune Worte."
     Bodendiek tritt in die Kapelle. "Wir haben die heiligen Sakramente -"
     "Ja -"
     "Und  den  Glauben,  der  nur  Schwachkupfen,  denen  ihr bißchen
Schudel Verdauungsbeschwerden macht, als Dummheit und Weltflucht  erscheint,
Sie harmloser Regenwurm im Acker der Trivialitut."
     "Bravo." sage ich.  "Endlich werden auch Sie poetisch. Allerdings stark
sputbarock."
     Bodendiek lacht plutzlich. "Mein lieber Bodmer", erklurt er. "In den
     last  zweitausend Jahren des Bestehens der Kirche ist schon aus manchem
Saulus  ein  Paulus geworden.  Und wir haben  in dieser  Zeit  grußere
Zwerge gesehen und uberstanden als Sie.  Krabbeln Sie  nur munter weiter. Am
Ende jedes Weges steht Gott und wartet auf Sie."  Er verschwindet mit seinem
Regenschirm  in der  Sakristei, ein wohlgenuhrter Mann im schwarzen Gehrock.
In  einer   halben   Stunde  wird  er,  phantastischer   gekleidet  als  ein
Husarengeneral,  wieder  heraustreten und ein Vertreter Gottes sein. Es sind
die Uniformen, sagte Valentin Busch nach der zweiten Flasche Johannisberger,
wuhrend  Eduard Knobloch  in Melancholie  und Mordgedanken versank,  nur die
Uniformen Nimm  ihnen die Kostume weg, und es gibt keinen Menschen mehr, der
Soldat sein will.
     Ich  gehe  nach  der  Andacht mit Isabelle in  der  Allee spazieren. Es
regnet hier unregelmußiger - als hockten Schatten  in den  Buumen, die
sich mit Wasser  besprengen. Isabelle  trugt einen hochgeschlossenen dunklen
Regenmantel und eine kleine Kappe, die das Haar verdeckt. Nichts ist von ihr
zu sehen als das Gesicht, das durch  das Dunkel  schimmert wie ein  schmaler
Mond. Das Wetter ist  kalt  und windig, und niemand außer uns ist mehr
im Garten. Ich habe Bodendiek und den schwarzen urger, der manchmal grundlos
wie eine schmutzige Fontune aus  mir hervorschießt,  lungst vergessen.
Isabelle  geht dicht neben  mir, ich hure  ihre Schritte durch den Regen und
spure ihre Bewegungen und  ihre Wurme, und es scheint  die einzige Wurme  zu
sein, die in der Welt ubriggeblieben ist.
     Sie  bleibt  plutzlich  stehen.   Ihr   Gesicht   ist  blaß   und
entschlossen, und ihre Augen scheinen fast schwarz zu sein.
     "Du liebst mich nicht genug", stußt sie hervor.
     Ich sehe sie uberrascht an. "Es ist, soviel ich kann", sage ich.
     Sie steht eine  Weile schweigend. "Nicht genug", murmelt sie dann. "Nie
genug! Es ist nie genug!"
     "Ja", sage ich.  "Wahrscheinlich ist es  nie genug.  Nie im Leben, nie,
mit niemandem. Wahrscheinlich ist es  immer zu wenig, und das ist  das Elend
der Welt."
     "Es  ist  nicht genug",  wiederholt Isabelle, als hutte sie mich  nicht
gehurt. "Sonst wuren wir nicht noch zwei."
     "Du meinst, sonst wuren wir eins?"
     Sie nickt.
     Ich  denke an das Gespruch mit Georg, wuhrend wir den Gluhwein tranken.
"Wir werden immer zwei bleiben mussen, Isabelle", sage ich vorsichtig. "Aber
wir kunnen uns lieben und glauben, wir wuren nicht mehr zwei."
     "Glaubst du, wir sind schon einmal eins gewesen?"
     "Das weiß ich nicht. Niemand kunnte so  etwas  wissen.  Man wurde
keine Erinnerung haben."
     Sie  sieht mich starr aus dem Dunkel an. "Das ist es, Rudolf", flustert
sie. "Man hat keine. An  nichts. Warum nicht? Man sucht und sucht. Warum ist
alles fort? Es ist doch so viel dagewesen! Nur das weiß man noch! Aber
nichts anderes mehr. Warum weiß man es nicht mehr? Du und ich, war das
nicht einmal schon ? Sag es! Sag es doch! Wo ist es jetzt,
     Rudolf?"
     Der Wind wirft einen Schwall Wasser klatschend uber uns weg. Vieles ist
so, als  wure es  schon einmal gewesen,  denke ich. Es  kommt  oft ganz nahe
wieder heran  und steht vor einem, und man weiß,  es war schon  einmal
da,  genauso,  man  weiß  sogar einen Augenblick  fast  noch,  wie  es
weitergehen  muß, aber dann entschwindet es, wenn man  es fassen will,
wie Rauch oder eine tote Erinnerung.
     "Wir kunnten uns nie erinnern, Isabelle", sage ich. "Es wure so wie mit
dem  Regen.  Er ist  auch  etwas, das  eins geworden ist,  aus  zwei  Gasen,
Sauerstoff und Wasserstoff, die nun nicht mehr wissen, daß sie  einmal
Gase waren. Sie  sind jetzt nur noch Regen und haben keine Erinnerung an das
Vorher."
     "Oder  wie   Trunen",  sagt  Isabelle.  "Aber  Trunen  sind  voll   von
Erinnerungen."
     Wir gehen eine Zeitlang schweigend weiter. Ich denke an die sonderbaren
Momente, wenn  einen  unvermutet das  Doppelgungergesicht einer  scheinbaren
Erinnerung  uber viele Leben hinweg juh anzusehen scheint. Der Kies knirscht
unter  unseren Schuhen. Hinter der Mauer  des Gartens  hupt langgezogen  ein
Auto, als warte es  auf jemand, der entfliehen will. "Dann ist sie wie Tod",
sagt Isabelle schließlich.
     "Was?"
     "Liebe. Vollkommene Liebe."
     "Wer  weiß das,  Isabelle?  Ich glaube, niemand  kann das  jemals
wissen. Wir erkennen immer nur etwas, solange  wir jeder noch  ein Ich sind.
Wenn  unsere Ichs miteinander verschmulzen,  so wure es wie beim Regen.  Wir
wuren ein neues  Ich  und kunnten  uns an die einzelnen  fruheren Ichs nicht
mehr erinnern. Wir wuren etwas anderes - so verschieden wie Regen von Luft -
nicht mehr ein gesteigertes Ich durch ein Du."
     "Und wenn  Liebe vollkommen wure, so daß  wir  verschmulzen, dann
wure es wie Tod ?"
     "Vielleicht", sage ich zugernd. "Aber nicht so wie Vernichtung. Was Tod
ist,   weiß  niemand,  Isabelle.  Man  kann  ihn  deshalb  mit  nichts
vergleichen.  Aber wir wurden uns sicher nicht mehr  als  Selbst fuhlen. Wir
wurden nur wieder ein anderes einsames Ich werden."
     "Dann muß Liebe immer unvollkommen sein?"
     "Sie ist vollkommen genug", sage ich  und  verfluche mich, weil ich mit
meiner  pedantischen  Schulmeisterei  wieder  so  weit   in   ein   Gespruch
hineingeraten bin.
     Isabelle schuttelt den Kopf. "Weiche nicht aus,  Rudolf!  Sie muß
unvollkommen  sein, ich  sehe das  jetzt.  Wenn sie vollkommen wure, gube es
einen Blitz, und nichts wure mehr da."
     "Es wure noch etwas da - aber jenseits von unserer Erkenntnis."
     "So wie der Tod?"
     Ich sehe  sie an.  "Wer weiß das?" sage ich  vorsichtig,  um  sie
nicht  weiter zu erregen. "Vielleicht hat der Tod einen ganz falschen Namen.
Wir sehen ihn immer nur von  einer Seite. Vielleicht ist er  die vollkommene
Liebe zwischen Gott und uns."
     Der Wind wirft einen Schwall Regen durch die Blutter der Buume, die ihn
mit  Geisterhunden weiterwerfen. Isabelle  schweigt eine Weile.  "Ist  Liebe
deshalb so traurig?" fragt sie dann.
     "Sie ist nicht traurig. Sie macht nur traurig, weil sie unerfullbar und
nicht zu halten ist."
     Isabelle bleibt stehen. "Warum, Rudolf?" sagt sie plutzlich sehr heftig
und stampft mit den Fußen. "Warum muß das so sein?"
     Ich sehe in das  blasse, gespannte  Gesicht.  "Es ist das Gluck",  sage
ich.
     Sie starrt mich an. "Das ist das Gluck?"
     Ich nicke.
     "Das kann nicht sein! Es ist doch nichts als Ungluck!"
     Sie wirft sich gegen  mich, und ich halte sie  fest. Ich fuhle, wie das
Schluchzen gegen  ihre Schultern stußt. "Weine nicht", sage ich.  "Was
wurde sein, wenn man um so etwas schon weinen wollte?"
     "Um was denn sonst?"
     T  um  was sonst,  denke  ich. Um  alles andere,  um das Elend auf  die
verfluchten  Planeten, aber nicht um  das. "Es ist  kein Ungluck, Isabelle",
sage  ich.  "Es  ist  das  Gluck.  Wir  haben  nur  so  turichte  Namen  wie
'vollkommen' und 'unvollkommen' dafur."
     "Nein, nein!" Sie schuttelt  heftig den Kopf  und lußt sich nicht
trusten. Sie weint und klammert sich an mich, und ich halte sie in den Armen
und fuhle,  daß nicht  ich recht  habe, sondern sie, daß sie  es
ist, die  keine Kompromisse kennt, daß in ihr  noch das erste, einzige
Warum  brennt, das vor aller Verschuttung  durch den Murtel des  Daseins  da
war, die erste Frage des erwachten Selbst.
     "Es  ist  kein Ungluck",  sage  ich  trotzdem.  "Ungluck ist etwas ganz
anderes, Isabelle."
     "Was?"
     "Ungluck ist nicht,  daß  man nie ganz eins werden  kann. Ungluck
ist,  daß man sich immerfort verlassen muß, jeden Tag  und  jede
Stunde. Man  weiß es und kann es nicht aufhalten, es rinnt einem durch
die  Hunde und ist  das Kostbarste, was  es gibt, und man kann es doch nicht
halten. Immer stirbt einer zuerst. Immer bleibt einer zuruck."
     Sie sieht auf. "Wie kann man verlassen, was man nicht hat?"
     "Man kann es", erwidere ich bitter. "Und wie man es kann! Es gibt viele
Stufen des  Verlassens und des Verlassenwerdens, und jede  ist  schmerzlich,
und viele sind wie der Tod."
     Isabeiles Trunen haben aufgehurt. "Woher weißt du das?" sagt sie.
"Du bist doch noch nicht alt."
     Ich bin alt  genug, denke ich. Ein Stuck von mir ist  alt geworden, als
ich aus dem Kriege zuruckkam.  "Ich weiß es", sage  ich.  "Ich habe es
erfahren."
     Ich habe es  erfahren,  denke ich. Wie oft  habe ich  den Tag verlassen
mussen, und die  Stunde,  und das Dasein, und den Baum  im  Morgenlicht, und
meine Hunde, und meine Gedanken, und es war jedesmal fur immer, und wenn ich
zuruckkam, war ich ein anderer. Man kann viel verlassen  und muß stets
alles hinter sich lassen, wenn  man dem Tode entgegentreten  muß,  man
ist immer nackt vor ihm, und wenn man  zuruckfindet, muß man alles neu
erwerben, was man zuruckgelassen hat.
     Isabeiles  Gesicht  schimmert  vor  mir  in  der  Regennacht, und  eine
plutzliche  Zurtlichkeit  uberstrumt  mich.  Ich  spure  wieder  in  welcher
Einsamkeit sie lebt, unerschrocken, allein mit ihren Geschichten bedroht von
ihnen und  ihnen hingegeben, ohne Dach, unter das sie fluchten  kunnte, ohne
Entspannung  und  ohne Ablenkung, ausgesetzt allen Winden  des Herzens, ohne
Hilfe von irgend jemand, ohne Klage und ohne Mitleid  mit  sich  selbst.  Du
sußes,  furchtloses  Herz, denke  ich, unberuhrt und  pfeilgerade  zum
Wesentlichen allein  hinzielend auch wenn  du es  nicht erreichst  und  dich
verirrst -  aber wer  verirrte sich nicht? Und haben nicht fast  alle lungst
aufgegeben? Wo  beginnt der Irrtum, das Narrentum,  die Feigheit, und wo die
Weisheit und wo der letzte Mut?
     Eine Glocke luutet.  Isabelle erschrickt. "Es ist Zeit", sage  ich. "Du
mußt hineingehen. Sie warten auf dich."
     "Kommst du mit?"
     "Ja."
     Wir gehen dem Hause zu. Als wir aus der Allee treten,  empfungt uns ein
Spruhregen,  den der  Wind in kurzen Stußen  wie einen nassen Schleier
umherfegt. Isabelle druckt sich an  mich. Ich blicke den Hugel hinunter  zur
Stadt. Nichts ist zu  sehen. Nebel  und Regen  haben uns isoliert. Nirgendwo
sieht man mehr ein Licht, wir sind ganz allein. Isabelle geht neben mir, als
gehurte sie fur immer zu mir und als hutte sie kein  Gewicht, und es scheint
mir wieder, als habe sie wirklich keines und sei wie die Figuren in Legenden
und Truumen, bei denen auch andere Gesetze gelten als im tuglichen Dasein.
     Wir stehen unter der Tur. "Komm!" sagt sie.
     Ich schuttle den Kopf. "Ich kann nicht. Heute nicht."
     Sie schweigt und  sieht mich an, gerade und klar, ohne Vorwurf und ohne
Enttuuschung; aber etwas  in ihr scheint auf einmal erloschen  zu  sein. Ich
senke  die Augen.  Mir  ist, als  hutte  ich ein Kind  geschlagen  oder eine
Schwalbe getutet. "Heute nicht", sage ich. "Sputer. Morgen."
     Sie dreht sich wortlos um und geht in die Halle. Ich sehe die Schwester
mit ihr die Treppe hinaufsteigen  und habe plutzlich das  Gefuhl etwas,  das
man nur einmal im Leben findet, unwiederbringlich verloren zu haben.
     Verwirrt stehe ich  herum. Was  hutte ich schon tun kunnen? Und wie bin
ich in  all dieses wieder hineingeraten? Ich  wollte  es doch nicht!  Dieser
verfluchte Regen!
     Langsam gehe ich dem  Haupthause  zu.  Wernicke  kommt im  weißen
Mantel  mit  einem  Regenschirm   heraus.   "Haben  Sie   Fruulein  Terhoven
abgeliefert?"
     "Ja."
     "Gut. Kummern Sie sich doch weiter etwas um sie. Besuchen  Sie sie auch
einmal tagsuber, wenn Sie Zeit haben."
     "Warum?"
     "Daraufkriegen  Sie  keine Antwort", erwidert Wernicke.  "Aber  sie ist
ruhig, wenn sie mit Ihnen zusammen war. Es ist gut fur sie. Genugt das?"
     "Sie hult mich fur jemand anders."
     "Das  macht  nichts. Mir kommt  es  nicht auf  Sie an - nur  auf  meine
Kranken." Wernicke blinzelt durch die Spruhnusse. "Bodendiek  hat  Sie heute
abend gelobt."
     "Was? - Dazu hatte er wahrhaftig keinen Grund!"
     "Er  behauptet, Sie seien auf dem Weg zuruck.  Zum Beichtstuhl  und zur
Kommunion."
     "So etwas!" erklure ich, ehrlich entrustet.
     "Verkennen  Sie die  Weisheit  der  Kirche nicht! Sie ist  die  einzige
Diktatur, die seit zweitausend Jahren nicht gesturzt worden ist."
     Ich  gehe zur  Stadt hinunter. Nebel weht seine grauen Fahnen durch den
Regen.  Isabelle geistert  durch  meine Gedanken.  Ich  habe  sie  im  Stich
gelassen;  das  ist es,  was sie jetzt glaubt, ich weiß es. Ich sollte
uberhaupt nicht mehr hinaufgehen, denke  ich. Es  verwirrt mich nur, und ich
bin  ohnehin verwirrt genug.  Aber  was wure, wenn sie nicht mehr  da  wure?
Wurde es nicht  so sein, als fehle mir  das Wichtigste, das, was nie alt und
verbraucht und alltuglich werden kann, weil man es nie besitzt?
     Ich  komme  zum  Hause  des  Schuhmachermeisters Karl  Brill.  Aus  der
Schuhbesohlanstalt dringen die Klunge eines Grammophons. Ich bin heute abend
hier zu einem  Herrenabend eingeladen. Es ist einer der beruhmten Abende, an
denen Frau  Beckmann  ihre akrobatische Kunst  zum  besten gibt.  Ich zugere
einen Augenblick - ich fuhle mich wahrhaftig nicht danach -, aber dann trete
ich ein. Gerade deshalb.
     Ein Schwall  von Tabaksrauch und Biergeruch empfungt  mich.  Karl Brill
steht auf und umarmt  mich,  leicht schwankend.  Er hat einen ebenso  kahlen
Kopf wie Georg Kroll, aber er trugt dafur alle seine Haare unter der Nase in
einem  muchtigen Walroßschnurrbart. "Sie  kommen  zur  rechten  Zeit",
erklurt  er.  "Die  Wetten sind gelegt. Wir brauchen nur  bessere Musik  als
dieses dumme Grammophon! Wie wure es mit dem Donauwellenwalzer?"
     "Gemacht!"
     Das  Klavier ist bereits in die  Schnellbesohlanstalt geschafft worden.
Es steht vor  den Maschinen. Im vorderen Teil des Raumes sind die Schuhe und
das Leder beiseite geschoben worden,  und  uberall,  wo es geht, sind Stuhle
und ein paar Sessel verteilt. Ein Faß Bier ist aufgelegt, und ein paar
Flaschen  Schnaps  sind  schon  leer.  Eine zweite  Batterie  steht auf  dem
Ladentisch. Auf dem Tisch liegt auch ein großer, mit Watte umwickelter
Nagel neben einem kruftigen Schusterhammer.
     Ich  schmettere den  Donauwellenwalzer herunter. Im Qualm schwanken die
Bundesbruder von Karl Brill umher. Sie sind bereits gut geladen. Karl stellt
ein Glas Bier und einen doppelten Steinhuger Schnaps auf das Klavier.
     "Klara bereitet sich vor",  sagt er. "Wir haben uber drei Millionen  in
Wetten  zusammen. Hoffentlich ist  sie  in  Huchstform; sonst  bin  ich halb
bankrott."
     Er blinzelt mir zu. "Spielen Sie etwas sehr Schmissiges, wenn es soweit
ist. Das facht sie immer muchtig an. Sie ist ja verruckt mit Musik."
     "Ich  werde den 'Einzug der Gladiatoren' spielen. Aber wie wure  es mit
einer kleinen Seitenwette fur mich?"
     Karl blickt auf. "Lieber  Herr Bodmer", sagt er verletzt.  "Sie  wollen
doch nicht gegen Klara wetten! Wie kunnen Sie dann uberzeugend spielen?"
     "Nicht gegen sie. Mit ihr. Eine Seitenwette."
     "Wieviel?" fragt Karl rasch.
     "Lumpige achtzigtausend", erwidere ich. "Es ist mein ganzes Vermugen."
     Karl uberlegt einen Augenblick. Dann dreht er sich um.
     "Ist  noch  jemand  da,  der achtzigtausend wetten  will? Gegen unseren
Klavierspieler?"
     "Ich!"  Ein  dicker  Mann  tritt  vor,  holt  Geld  aus  einem  kleinen
Kufferchen und knallt es auf den Ladentisch.
     Ich lege mein Geld  daneben. "Der Gott  der Diebe beschutze mich", sage
ich. "Sonst bin ich morgen aufs Mittagessen allein angewiesen."
     "Also los!" sagt Karl Brill.
     Der Nagel wird herumgezeigt. Dann tritt  Karl an die Wand, setzt ihn in
der  Huhe  eines  menschlichen  Gesußes an und  schlugt ihn  zu  einem
Drittel  ein.  Er  schlugt weniger stark,  als  seine  Geburden es  vermuten
lassen. "Sitzt gut und fest", sagt er und tut, als ruttele er kruftig an dem
Nagel.
     "Das werden wir erst einmal prufen."
     Der Dicke, der gegen mich gewettet hat,  tritt vor. Er bewegt den Nagel
und grinst. "Karl", sagt er hohnlachend. "Den blase ich ja aus der Wand. Gib
mal den Hammer her."
     "Blase ihn erst aus der Wand."
     Der   Dicke  blust  nicht.  Er  zerrt  kruftig,   und   der  Nagel  ist
draußen.  "Mit meiner  Hand",  sagt Karl Brill, "kann ich einen  Nagel
durch eine  Tischplatte schlagen. Mit  meinem Hintern nicht. Wenn ihr solche
Bedingungen stellt, lassen wir das Ganze lieber sein."
     Der Dicke antwortet nicht. Er nimmt den Hammer und schlugt den Nagel an
einer anderen Stelle der Wand ein.
     "Hier, wie ist das?"
     Karl Brill pruft.  Etwa sechs  oder sieben Zentimeter  des Nagels ragen
noch  aus der  Wand. "Zu  fest. Den kann  man nicht einmal mit der Hand mehr
herausreißen."
     "Entweder - oder", erklurt der Dicke.
     Karl pruft noch einmal. Der Dicke legt den Hammer auf den Ladenisch und
merkt nicht, daß Karl jedesmal, wenn er probiert, wie  fest der  Nagel
sei, ihn dadurch lockert.
     "Ich kann  keine  Wette  eins  zu  eins  darauf  annehmen",  sagt  Karl
schließlich. "Nur zwei zu eins, und auch da muß ich verlieren."
     Sie einigen sich auf sechs zu vier. Ein Haufen Geld turmt  sich auf dem
Ladentisch.  Karl hat  noch zweimal  entrustet an dem  Nagel  gezerrt  um zu
zeigen,  wie  unmuglich die Wette  sei.  Jetzt  spiele  ich den "Einzug  der
Gladiatoren", und  bald  darauf  rauscht  Frau Beckmann in die Werkstatt  in
einen losen, lachsroten  chinesischen  Kimono  gekleidet,  mit eingestickten
Puonien und einem Phunix auf dem Rucken.
     Sie  ist eine  imposante Figur mit dem  Kopf eines Bullenbeißers,
aber eines  eher hubschen  Bullenbeißers.  Sie  hat  reiches,  krauses
schwarzes   Haar   und   glunzende    Kirschenaugen    -   der   Rest    ist
bullenbeißerisch besonders das Kinn. Der Kurper ist muchtig und vullig
aus Eisen. Ein  Paar steinharter Bruste ragt  wie ein  Bollwerk hervor, dann
kommt eine im Verhultnis zierliche Taille und dann das beruhmte Gesuß,
um das es hier  geht. Es ist gewaltig und ebenfalls steinhart. Selbst  einem
Schmied  soll  es  angeblich  unmuglich  sein,  hineinzukneifen,  wenn  Frau
Beckmann  es  anspannt; er bricht sich eher  die Finger. Karl Brill hat auch
damit schon Wetten  gewonnen,  allerdings nur  im  intimsten Freundeskreise.
Heute, wo der Dicke dabei ist, wird nur das andere Experiment gemacht  - den
Nagel mit dem Gesuß aus der Wand zu reißen.
     Alles geht sehr sportlich und  kavaliersmußig  zu;  Frau Beckmann
grußt zwar, ist  aber  sonst  reserviert  und  beinahe abweisend.  Sie
betrachtet  die  Angelegenheit nur von  der  sportlich-geschuftlichen Seite.
Ruhig  stellt  sie  sich  mit  dem Rucken zur  Wand,  hinter einen niedrigen
Para-vent, macht ein paar fachmunnische Bewegungen und steht dann still, das
Kinn  gereckt,  bereit,  und  ernst,  wie  es sich  bei  einer  großen
sportlichen Leistung geziemt.
     Ich breche den Marsch ab  und beginne zwei tiefe Triller,  die  klingen
sollen wie die  Trommeln beim  Todessprung im  Zirkus  Busch.  Frau Beckmann
strafft sich und entspannt sich. Sie strafft sich  noch  zweimal  Karl Brill
wird nervus. Frau Beckmann erstarrt wieder, die  Augen zur  Decke gerichtet,
die Zuhne zusammengebissen. Dann  klappert es, und  sie  tritt von der  Wand
weg. Der Nagel liegt auf dem Boden.
     Ich spiele "Das Gebet einer Jungfrau", eine ihrer Lieblingsnummern. Sie
dankt  mit  einem  graziusen  Neigen  ihres  starken  Hauptes,  wunscht eine
wohlklingende "Gute Nacht allerseits", rafft den  Kimono enger um sich herum
und entschwindet.
     Karl  Brill  kassiert.  Er  reicht  mir  mein Geld  heruber.  Der Dicke
inspiziert den Nagel und die Wand. "Fabelhaft", sagt er.
     Ich  spiele  das   "Alpengluhen"  und  das  "Weserlied",  zwei  weitere
Favoriten Frau Beckmanns. Sie kann sie  im oberen Stock huren. Karl blinzelt
mir  stolz  zu; er ist  ja schließlich  der Besitzer dieser imposanten
Kneifzange. Steinhuger, Bier und Korn fließen. Ich trinke ein paar mit
und spiele weiter. Es paßt mir, jetzt nicht allein zu sein. Ich muchte
nachdenken,  und trotzdem  auf keinen Fall nachdenken. Meine Hunde sind voll
einer unbekannten  Zurtlichkeit,  etwas weht und  scheint sich  an  mich  zu
drungen, die Werkstatt verschwindet, der Regen ist wieder da,  der Nebel und
Isabelle und das Dunkel. Sie ist nicht krank, denke ich und weiß doch,
daß sie es  ist  - aber wenn sie  krank ist,  dann sind  wir alle noch
krunker -
     Ein lauter Streit weckt mich. Der Dicke hat Frau Beckmanns Formen nicht
vergessen  kunnen. Angefeuert  durch eine Anzahl Schnupse hat er  Karl Brill
ein dreifaches Angebot gemacht: funf Millionen fur einen Nachmittag mit Frau
Beckmann zum Tee -  eine  Million fur ein kurzes Gespruch jetzt, bei dem  er
sie wahrscheinlich zu einem ehrenhaften Abendessen ohne  Karl Brill einladen
muchte - und zwei Millionen fur ein paar  gute Griffe an das Prachtstuck der
Beckmannschen Anatomie,  hier  in der Werkstatt, unter Brudern in fruhlicher
Gesellschaft, also durchaus ehrenhaft.
     Jetzt aber zeigt sich der Charakter Karls. Wenn der Dicke nur sportlich
interessiert wure,  kunnte er die Griffe vielleicht haben, schon gegen  eine
Wette von solch einer Lumperei wie  hunderttausend Mark - aber in bockhafter
Lust wird  sogar  der  Gedanke an einen  solchen  Griff von Karl als schwere
Beleidigung empfunden. "So eine  Schweinerei!" brullt  er. "Ich  dachte, ich
hutte nur Kavaliere hier!"
     "Ich bin Kavalier", lallt der Dicke. "Deshalb ja mein Angebot."
     "Sie sind ein Schwein."
     "Das auch. Sonst wure ich ja kein Kavalier. Sie sollten stolz sein, bei
einer solchen  Dame - haben  Sie denn  kein  Herz in der Brust? Was kann ich
machen, wenn meine Natur sich in mir aufbuumt? Wozu sind Sie
     beleidigt? Sie sind doch nicht mit ihr verheiratet!" Ich sehe, wie Karl
Brill zuckt, als hutte man ihn angeschossen. Er lebt in  wilder Ehe mit Frau
Beckmann, die eigentlich seine Haushulterin ist.
     Warum  er  sie  nicht heiratet,  weiß  niemand  -  huchstens  aus
derselben Hartnuckigkeit seines Charakters heraus, mit der er auch im Winter
ein Loch  ins Eis haut, um  schwimmen zu  kunnen.  Trotzdem  ist  dies seine
schwache Stelle.
     "Ich", stottert  der Dicke, "wurde ein  solches Juwel auf Hunden tragen
und sie in Samt und Seide hullen - Seide, rote  Seide  -", er schluchzt fast
und malt uppige Formen in die Luft. Die Flasche neben  ihm ist leer. Es  ist
ein tragischer Fall von Liebe  auf  den ersten Blick. Ich spiele weiter. Die
Vorstellung, daß der Dicke Frau Beckmann auf Hunden tragen kunnte, ist
zuviel fur mich.
     "Raus!" erklurt  Karl  Brill.  "Es  ist  genug.  Ich  hasse  es,  Guste
rauszuschmeißen, aber -"
     Ein furchtbarer Schrei  ertunt aus dem Hintergrund.  Wir springen  auf.
Ein kleiner Mann tanzt dort herum. Karl sturzt auf ihn zu, greift nach einer
Schere und stellt eine Maschine ab. Der kleine Mann wird ohnmuchtig.
     "Verdammt!  Wer  kann  auch  wissen,  daß  er   im  Suff  an  der
Schnellbesohlmaschine herumspielt!" flucht Karl.
     Wir  besichtigen  die  Hand.  Ein paar Fuden hungen  heraus. Es hat ihn
zwischen Zeigefinger  und Daumen  im weichen  Fleisch erwischt -  ein Gluck.
Karl gießt Schnaps auf die Wunde, und der kleine Mann kommt zu sich.
     "Amputiert?" fragt er voll Grauen,  als er seine  Hand  in Karls Pfoten
sieht.
     "Unsinn, der Arm ist noch dran."
     Der Mann seufzt  erleichtert,  als  Karl ihm  den Arm  vor seinen Augen
schuttelt. "Blutvergiftung, was?" fragt er.
     "Nein.  Aber die Maschine wird rostig von deinem Blut. Wir werden deine
Flosse mit Alkohol waschen, Jod draufschmieren und sie verbinden."
     "Jod? Tut das nicht weh?"
     "Es beißt eine Sekunde. So, als ob deine Hand einen sehr scharfen
Schnaps trinkt."
     Der kleine Mann  reißt  seine Hand  weg. "Den Schnaps trinke  ich
lieber selbst."
     Er holt ein nicht zu sauberes Taschentuch hervor, wickelt es um die
     Pfote und greift nach der Flasche. Karl grinst. Dann sieht er umher und
wird unruhig. "Wo ist der Dicke?"
     Keiner  weiß  es. "Vielleicht  hat  er sich dunne  gemacht", sagt
jemand und bekommt einen Schluckauf vor Lachen uber seinen Witz.
     Die  Tur uffnet sich. Der  Dicke  erscheint; waagerecht vornubergebeugt
stolpert er herein, hinter ihm, im lachsfarbenen Kimono, Frau Beckmann.  Sie
hat  ihm  die  Arme  nach hinten  hochgedreht  und  stußt  ihn in  die
Werkstatt. Mit  einem  kruftigen Schubs lußt sie los. Der  Dicke fullt
vornuber  in  die  Abteilung  fur  Damenschuhe.  Frau  Beckmann  macht  eine
Bewegung, als stuube sie sich die  Hunde ab, und geht hinaus. Karl Brill tut
einen  riesigen  Satz. Er zerrt den Dicken hoch. "Meine  Arme!" wimmert  der
verschmuhte Liebhaber. "Sie hat sie mir ausgedreht! Und mein Bauch! Oh, mein
Bauch! Was fur ein Schlag!"
     Erbraucht  uns nichts zu erkluren. Frau  Beckmann  ist ein ebenburtiger
Gegner fur Karl Brill, den Winterschwimmer und erstklassigen Turner, und hat
ihm bereits  zweimal einen Arm gebrochen, ganz zu schweigen von dem, was sie
mit einer Vase oder einem Schureisen anrichten kann. Es ist noch kein halbes
Jahr  her,  daß  zwei  Einbrecher  von  ihr nachts  in  der  Werkstatt
uberrascht  wurden. Beide  lagen hinterher wochenlang  im  Krankenhaus,  und
einer hat sich nie  von  einem Hieb mit einem eisernen Fußmodell  uber
den Schudel erholt,  bei  dem er gleichzeitig ein Ohr verlor.  Er redet wirr
seitdem.
     Karl  schleppt den Dicken ans Licht. Er ist weiß vor Wut, aber er
kann  nichts mehr  tun  - der Dicke ist  fertig. Es  ist, als wolle er einen
schwer  Typhuskranken verprugeln. Der Dicke  muß  einen furchterlichen
Schlag  in  die Organe erhalten  haben,  mit denen  er sundigen  wollte.  Er
unfuhig  zu gehen.  Karl kann ihn nicht einmal  rauswerfen. Wir legen ihn in
den Hintergrund auf das Abfalleder.
     "Das Schune bei  Karl ist, daß es immer  so gemutlich  ist", sagt
jemand, der versucht, das Klavier mit Bier zu trunken.
     ich habe  durch  die Große  Straße  nach  Hause.  Mein Kopf
schwimmt;
     uber zuviel getrunken, aber das wollte ich auch. Der Nebel treibt
     uber die  vereinzelten Lichter, die  noch in den Schaufenstern brennen,
und webt goldene Schleier um die  Laternen.  Im Fenster ein Schlachterladens
bluht  ein  Alpenrosenstock  neben  einem  geschlachteten  Ferkel, dem  eine
Zitrone in die blasse Schnauze  geklemmt worden ist. Wurste liegen  traulich
im  Kreise  herum.  Es  ist  ein  Stimmungsbild,  das  Schunheit  und  Zweck
harmonisch vereint. Ich stehe eine Zeitlang davor und wandere dann weiter.
     Auf  dem dunklen Hof pralle  ich im Nebel gegen  einen Schatten. Es ist
der alte Knopf, der wieder einmal vor dem schwarzen Obelisken steht. Ich bin
mit voller Wucht gegen ihn gerannt,  und er taumelt und schlingt  beide Arme
um den Obelisken,  als wolle  er ihn erklettern. "Es tut mir leid, daß
ich Sie gestoßen habe",  sage ich. "Aber weshalb stehen Sie auch hier?
Kunnen Sie Ihre Geschufte denn  wirklich nicht in  Ihrer Wohnung  erledigen?
Oder,  wenn  Sie schon  ein  Freiluftakrobat  sind,  warum  nicht  an  einer
Straßenecke?"
     Knopf lußt den Obelisken los. "Verdammt, jetzt ist es in die Hose
gegangen", murmelt er.
     "Das schadet Ihnen nichts. Nun erledigen Sie den Rest meinetwegen schon
hier."
     "Zu sput."
     Knopf stolpert  zu seiner Tur hinuber. Ich gehe die  Treppen hinauf und
beschließe, Isabelle  von dem  Geld,  das ich bei Karl Brill  gewonnen
habe, morgen einen Strauß Blumen zu schicken. Zwar bringt mir so etwas
gewuhnlich nur  Ungluck, aber ich weiß nun einmal nichts anderes. Eine
Zeitlang stehe ich noch am Fenster und sehe hinaus in die Nacht  und beginne
dann etwas beschumt  und  sehr leise, Worte und  Sutze zu  flustern, die ich
gerne einmal  jemandem  sagen  muchte,  aber  fur  die ich  niemanden  habe,
außer vielleicht Isabelle - doch die  weiß  ja nicht einmal, wer
ich uberhaupt bin. Doch wer weiß das schon von irgend jemand.
     13 Der Reisende Oskar Fuchs, genannt Trunen-Oskar, sitzt im  Buro. "Was
gibt  es,  Herr Fuchs ?" frage  ich. "Wie  steht  es  mit der Grippe in  den
Durfern?"
     "Ziemlich harmlos. Die Bauern sind gut im Futter. In der Stadt  ist  es
anders.  Ich habe zwei Fulle,  wo Hollmann und Klotz  vor dem Abschluß
stehen.  Ein  roter Granit, einseitig poliert,  Hugelstein,  zwei  bossierte
Sockel, ein Meter funfzig hoch, zwei Millionen zweihunderttausend Mark - ein
kleiner,  eins zehn hoch, eine Million dreihunderttausend Eier. Gute Preise.
Wenn Sie hunderttausend weniger  verlangen, haben  Sie sie. Meine  Provision
ist zwanzig Prozent."
     "Funfzehn", erwidere ich automatisch.
     "Zwanzig",  erklurt Trunen-Oskar. "Funfzehn kriege ich bei Hollmann und
Klotz auch. Wozu da der Verrat?"
     Er lugt. Hollmann und Klotz, deren Reisender er  ist,  zahlen ihm  zehn
Prozent und Spesen. Die Spesen bekommt er ohnehin; er macht also bei uns ein
Geschuft von zehn Prozent extra.
     "Barzahlung?"
     "Das mussen Sie selbst sehen. Die Leute sind gut situiert."
     "Herr Fuchs", sage ich. "Warum kommen Sie nicht ganz zu uns? Wir zahlen
besser als  Hollmann  und  Klotz und  kunnen  einen erstklassigen  Reisenden
brauchen."
     Fuchs  zwinkert.  "Es  macht  mir  so  mehr  Spaß.  Ich  bin  ein
gefuhlsmußiger Mensch.  Wenn ich  mich uber den alten Hollmann urgere,
schiebe ich Ihnen einen Abschluß zu,  als Rache. Wenn ich ganz fur Sie
arbeitete, wurde ich mich uber Sie urgern."
     "Da ist was dran", sage ich.
     "Das meine  ich. Ich  wurde dann  Sie  an Hollmann  und Klotz verraten.
Reisen in Grabsteinen ist langweilig; man muß es etwas beleben."
     "Langweilig? Fur Sie? Wo Sie doch jedesmal eine artistische Vorstellung
geben?"
     Fuchs  luchelt  wie  Gaston  Munch  im  Stadttheater,  nachdem  er  den
Karl-Heinz in "Alt-Heidelberg" gespielt hat.
     "Man tut,  was  man kann", erklurt er mit tobender Bescheidenheit. "Sie
sollen  sich  großartig  entwickelt  haben.  Ohne   Hilfsmittel.  Rein
intuitiv. Stimmt das?"
     Oskar, der fruher mit rohen Zwiebelscheiben  gearbeitet hat,  bevor  er
die  Trauerhuuser   betrat,   behauptet  jetzt,  die  Trunen  frei  wie  ein
großer Schauspieler erzeugen zu kunnen. Das ist naturlich ein riesiger
Fortschritt. Er  braucht so nicht weinend das  Haus zu betreten, wie bei der
Zweibeltechnik,  wo  dann,  wenn  das Geschuft  lunger  dauert,  die  Trunen
versiegen, weil er ja die Zwiebel nicht  anwenden kann,  solange die  ernden
dabeisitzen -  im  Gegenteil, er  kann  jetzt trockenen  Auges  eingehen und
wuhrend des Gespruches uber den Abgeschiedenen naturliche Trunen ausbrechen,
was selbstverstundlich von ganz anderer Wirkung  ist. Es ist ein Unterschied
wie zwischen  echten und kunstliehen Perlen. Oskar behauptet, so uberzeugend
zu sein, daß er sogar oft von den Hinterbliebenen getrustet und gelabt
wird.
     Georg Kroll kommt aus seiner Bude. Eine Fehlfarben-Havanna dampft unter
seiner Nase, und er ist  die Zufriedenheit selbst.  Geradewegs  geht er aufs
Ziel los.
     "Herr  Fuchs",  sagt er. "Ist es wahr, daß  Sie auf Befehl weinen
kunnen   oder  ist  das  eine   niedertruchtige  Schreckpropaganda   unserer
Konkurrenz?"
     Statt einer Antwort starrt Oskar  ihn an. "Nun?" fragt Georg. "Was ist?
Fuhlen Sie sich nicht gut?"
     "Einen  Augenblick!  Ich  muß  erst  in  Stimmung  kommen." Oskar
schließt die Augen. Als er  die Lider wieder uffnet, wirken sie  schon
etwas wußrig.  Er starrt Georg weiter an, und  nach einer Weile stehen
ihm tatsuchlich dicke Trunen in den blauen Augen.  Noch eine Minute, und sie
rollen ihm uber die Wangen. Oskar zieht ein Taschentuch heraus und tupft sie
auf.  "Wie  war  das?" fragt er  und zieht die  Uhr. "Knappe  zwei  Minuten.
Manchmal schaffe ich es in einer, wenn eine Leiche im Hause ist."
     "Großartig."
     Georg schenkt  von  dem  Kundenkognak  ein. "Sie  sollten  Schauspieler
werden, Herr Fuchs."
     "Daran habe ich auch schon  gedacht; aber  es gibt zu wenige Rollen, in
denen munnliche TrÄnen verlangt werden. Othello naturlich, sonst -"
     "Wie machen Sie es? Irgendein Trick?"
     "Imagination",    erwidert    Fuchs   schlicht.    "Starke,   bildhafte
Vorstellungskraft."
     "Was haben Sie sich denn jetzt vorgestellt?"
     Oskar trinkt  sein Glas  aus. "Offen gestanden,  Sie, Herr  Kroll.  Mit
zersplitterten Beinen und Armen und einem Schwarm Ratten,  der Ihnen langsam
das  Gesicht abfrißt,  wuhrend Sie  noch leben, wegen  der gebrochenen
Arme die Nager aber nicht abwehren kunnen. Entschuldigen  Sie, aber fur eine
so rasche Vorstellung brauchte ich ein sehr starkes Bild."
     Georg  fuhrt  sich  mit der Hand  uber  das  Gesicht. Es  ist noch  da.
"Stellen Sie sich auch  uhnliche Sachen von Hollmann und Klotz vor, wenn Sie
fur die arbeiten?" frage ich.
     Fuchs  schuttelt den Kopf. "Bei denen stelle ich mir vor, daß sie
hundert  Jahre  alt werden und  reich und  gesund bleiben, bis  sie an einem
Herzschlag im Schlaf schmerzlos abfahren  - dann strumen mir  die Trunen nur
so vor Wut."
     Georg  zahlt ihm  die Provisionen fur die  letzten beiden  Verrutereien
aus.  "Ich habe neuerdings  auch einen kunstlichen  Schluckauf  entwickelt",
sagt Oskar. "Sehr wirksam. Beschleunigt den Abschluß. Die Leute fuhlen
sich schuldig, weil sie glauben, es sei eine Folge der Teilnahme."
     "Herr Fuchs, kommen Sie zu uns!" sage ich impulsiv. "Sie gehuren in ein
kunstlerisch geleitetes Unternehmen, nicht zu kahlen Geldschindern."
     Trunen-Oskar luchelt gutig, schuttelt das Haupt und verabschiedet sich.
"Ich kann nun mal nicht.  Ohne etwas Verrat wurde ich ja nichts sein als ein
flennender Waschlappen. Der Verrat balanciert mich. Verstehen Sie?"
     Wir  verstehen",  sagt  Georg.  "Von  Bedauern   zerrissen,   aber  wir
respektieren Persunlichkeit uber alles."
     Ich notiere  die Adressen fur die Hugelsteine  auf  ein  Blatt und uber
gebe sie Heinrich  Kroll, der im Hof  seine Fahrradreifen aufpumpt. Er sieht
die Zettel veruchtlich an. Fur ihn als alten Nibelungen ist Oskar ein
     gemeiner Lump, obschon er von ihm, ebenfalls als alter Nibelunge, nicht
ungern profitiert. "Fruher hatten wir so etwas nicht nutig", erklurt
     er. "Gut, daß main Vater das nicht mehr erlebt hat."
     "Ihr   Vater  wure   nach  allem,  was  ich  uber  diesen  Pionier  des
Grabsteinwesens gehurt habe,  außer  sich  vor Freude gewesen,  seinen
Konkurrenten  einen solchen Streich zu spielen", erwidere  ich. "Er war eine
Kumpfernatur  -  nicht  wie  Sie  auf dem  Felde  der  Ehre, sondern in  den
Schutzengruben rucksichtslosen  Geschuftslebens. Kriegen wir  ubrigens  bald
die Restzahlung  fur das allseitig polierte Kreuzdenkmal, das Sie  im  April
verkauft haben? Die zweihunderttausend, die noch fehlen? Wissen Sie, was die
jetzt wert sind? Nicht einmal einen Sokkel."
     Heinrich  brummt etwas und  steckt den  Zettel  ein. Ich  gehe  zuruck,
zufrieden,  ihn  etwas  gedumpft zu  haben.  Vor dem  Hause steht das  Stuck
Dachruhre,  das  beim  letzten Regen  abgebrochen  ist.  Die Handwerker sind
gerade fertig; sie haben das abgebrochene  Stuck  erneuert. "Wie  ist es mit
der  alten  Ruhre?"  fragt  der  Meister. "Die kunnen  Sie doch  nicht  mehr
brauchen. Sollen wir sie mitnehmen?"
     "Klar", sagt Georg.
     Die  Ruhre steht an den Obelisken gelehnt, Knopfs Freiluft-Pissoir. Sie
ist einige  Meter lang und am  Ende rechtwinklig gebogen. Ich habt plutzlich
einen  Einfall. "Lassen Sie sie hier  stehen",  sage  ich. "Wir brauchen sie
noch."
     "Wofur?" fragt Georg.
     "Fur  heute  abend.  Du  wirst  es  sehen.  Es  wird  eine interessante
Vorstellung werden."
     Heinrich Kroll  radelt davon.  Georg und  ich stehen  vor  der  Tur und
trinken  ein  Glas  Bier,   das  Frau  Kroll  uns  durch  das  Kuchenfenster
herausreicht. Es ist sehr  heiß. Der Tischler Wilke schleicht  vorbei.
Er trugt ein paar Flaschen und wird in einem mit Hobelspunen ausgepolsterten
Sarg   seinen   Mittagsschlaf   halten.   Schmetterlinge   spielen  um   die
Kreuzdenkmuler. Die bunte Katze der Familie  Knopf ist truchtig. "Wie  steht
der Dollar?" frage ich. "Hast du telefoniert?"
     "Funfzehntausend Mark huher  als heute  morgen. Wenn es so  weitergeht,
kunnen  wir Riesenfelds  Wechsel  mit  dem  Wert  eines  kleinen Hugelsteins
bezahlen."
     "Wunderbar.  Schade,  daß  wir nichts davon behalten haben. Nimmt
einem etwas vom nutigen Enthusiasmus, was?"
     Georg lacht. "Auch  vom Ernst  des  Geschuftes.  Abgesehen von Heinrich
naturlich. Was machst du heute abend?"
     "Ich gehe  nach  oben; zu Wernicke. Da weiß man wenigstens nichts
vom Ernst und von der Lucherlichkeit des Geschuftslebens.  Dort oben geht es
nur ums Dasein. Immer um das ganze Sein, um die volle Existenz, um das Leben
und nichts als das Leben. Darunter  gibt es nichts. Wenn man lungere Zeit da
lebte, wurde  einem  unser luppisches Geschacher  um Kleinigkeiten  verruckt
vorkommen."
     "Bravo",  erwidert Georg. "Fur diesen Unsinn verdienst  du ein  zweites
Glas  eiskaltes   Bier."  Er  nimmt  unsere   Gluser  und  reicht  sie   ins
Kuchenfenster hinein. "Gnudige Frau, bitte noch einmal dasselbe." Frau Kroll
streckt ihren  grauen Kopf heraus.  "Wollt ihr  einen frischen  Rollmops und
eine Gurke dazu?"
     "Unbedingt! Mit einem Stuck Brot. Das kleine Dejeuner  fur jede Art von
Weltschmerz", erwidert Georg und reicht mir mein Glas. "Hast du
     welchen?"
     "Ein  anstundiger  Mensch  in  meinem  Alter  hat  immer  Weltschmerz",
erwidere ich fest. "Es ist das Recht der Jugend."
     "Ich dachte, man hutte dir die Jugend beim Militur gestohlen?"
     "Stimmt.  Ich bin  immer  noch auf der Suche nach ihr, finde  sie  aber
nicht. Deshalb habe ich einen doppelten  Weltschmerz. So wie ein amputierter
Fuß doppelt schmerzt."
     Das Bier ist wunderbar kalt. Die Sonne brennt uns auf die  Schudel, und
auf einmal ist,  trotz allen Weltschmerzes, wieder einer der Augenblicke da,
wo man dem  Dasein sehr  dicht in die  grungoldenen Augen starrt. Ich trinke
mein Bier anduchtig aus. Alle  meine Adern scheinen plutzlich ein  Sonnenbad
genommen zu haben. "Wir vergessen immer wieder, daß wir nur kurze Zeit
diesen Planeten bewohnen", sage ich. "Deshalb haben wir einen vullig irrigen
Weltkomplex. Den von Menschen, die ewig leben. Hast du das schon gemerkt?"
     "Und wie!  Es  ist  der  Kardinalfehler der  Menschheit. An  sich  ganz
vernunftige Leute lassen  grauenhaften Verwandten  auf diese Weise Millionen
von Dollars zukommen, anstatt sie selbst zu verbrauchen."
     "Gut!  Was  wurdest du  tun, wenn du wußtest, daß du morgen
sterben mußtest?"
     "Keine Ahnung."
     "Nein? Gut, ein tag ist vielleicht eine zu kurze Zeit. Was wurdest du
     tun, wenn du wußtest, daß du in einer Woche dahin wurest?"
     "Immer noch keine Ahnung."
     "Irgendwas mußtest du doch tun!  Wie wure es, wenn du einen Monat
Zeit huttest?"
     "Ich wurde wahrscheinlich so  weiterleben wie jetzt", sagt Georg,  "Ich
hutte  sonst den  ganzen Monat durch  das elende  Gefuhl, mein Leben  bisher
falsch gelebt zu haben."
     "Du huttest einen Monat Zeit, es zu korrigieren."
     Georg schuttelt den Kopf. "Ich hutte einen Monat Zeit, es zu bereuen."
     "Du  kunntest unser  Lager verkaufen an Hollmann und Klotz, nach Berlin
fahren und einen Monat mit Schauspielern, Kunstlern und eleganten Huren  ein
atemberaubendes Leben fuhren."
     "Der Zaster wurde nicht fur acht Tage reichen. Und die Damen wurden nur
Barmudchen  sein.  Außerdem  lese  ich   lieber   daruber.   Phantasie
enttuuscht nie.  Aber  wie ist es  mit dir?  Was  wurdest du machen, wenn du
wußtest, daß du in vier Wochen sterben wurdest?"
     "Ich?" sage ich betroffen.
     "Ja, du."
     Ich blicke in die  Runde. Da ist  der  Garten, grun und heiß,  in
allen Farben des Hochsommers, da  segeln  die Schwalben, da ist das  endlose
Blau des Himmels,  und oben aus seinem Fenster glotzt  der  alte  Knopf, der
gerade aus seinem Rausch erwacht ist,  in  Hosentrugern  und einem karierten
Hemd auf  uns herab. "Ich muß daruber nachdenken",  sage ich.  "Sofort
kann  ich es nicht sagen. Es ist zuviel.  Ich  habe  jetzt  nur  das Gefuhl,
daß ich explodieren  wurde, wenn ich es so wußte,  daß  es
mir als genug erschiene."
     "Denke nicht zu stark  nach; sonst mussen wir dich zu Wernicke bringen.
Aber nicht zum Orgelspielen."
     "Das  ist  es", sage ich. "Wahrhaftig,  das ist  es! Wenn  wir  es ganz
erkennen kunnten, wurden wir verruckt."
     "Noch ein Glas Bier?" fragt Frau Kroll durch das Kuchenfenster. "Es ist
auch Himbeerkompott da. Frisches."
     "Gerettet!" sage ich.  "Sie haben  mich soeben  gerettet, gnudige Frau.
Ich war wie ein Pfeil auf dem Wege zur Sonne und zu Wernicke. Gott sei Dank,
alles ist noch da! Nichts  ist verbrannt! Das  suße Leben  spielt noch
mit Schmetterlingen und Fliegen um uns herum, es ist nicht in
     Asche zerstuubt, es ist  da, es hat noch alle seine  Gesetze, auch die,
die wir ihm angelegt haben  wie einem Vollblut ein  Geschirr! Trotzdem, kein
Himbeerkompott zu Bier, bitte! Dafur aber ein Stuck fließend en Harker
Kuse. Guten Morgen, Herr Knopf! Ein schuner Tag! Was halten Sie vom Leben?"
     Knopf  starrt  mich an. Sein Gesicht  ist grau, und  unter seinen Augen
Krisen Sucke. Nach einer Weile winkt er verurgert ab und schließt sein
Fenster. "Wolltest du  nicht noch  was von ihm?" fragt Georg. "Ja, aber erst
heute abend."
     Wir  treten bei Eduard Knobloch ein.  "Sieh da",  sage  ich und  bleibe
stehen, als  wure  ich  gegen  einen Baum  gerannt.  "So  spielt  das  Leben
scheinbar auch! Ich hutte es ahnen sollen!"
     In der Weinabteilung  sitzt Gerda  an einem Tisch, auf dem  ein  Bukett
Tigerlilien steht. Sie ist  allein und hackt gerade  auf ein Stuck Rehrucken
ein, das fast  so groß ist wie der Tisch. "Was  sagst  du dazu?" frage
ich Georg. "Riecht das nicht nach Verrat?"
     "War etwas zu verraten?" fragt Georg zuruck.
     "Nein. Aber wie wure es mit Vertrauensbruch?"
     "War ein Vertrauen zu brechen?"
     "Laß  das, Sokrates!" erwidere ich. "Siehst du  nicht,  daß
Eduards dicke Pfoten hier im Spiele sind?"
     "Das sehe ich. Aber wer hat dich verraten? Eduard oder Gerda?"
     "Gerda! Wer sonst? Der Mann hat nie etwas damit zu tun."
     "Die Frau auch nicht."
     "Wer denn?"
     "Du. Wer sonst?"
     "Gut",  sage  ich. "Du hast leicht reden. Du  wirst nicht  betrogen. Du
betrugst selbst.".
     Georg nickt selbstgefullig. "Liebe ist eine Sache des Gefuhls", doziert
er "Keine der Moral Gefuhl aber kennt keinen Verrat. Es nimmt  zu, schwindet
oder wechselt - wo ist da Verrat? Es ist kein Kontrakt. Hast du Gerdas Ohren
nicht mit deinem Schmerz um Erna vollgeheult?"
     "Nur im Anfang. Sie war ja dabei, als der Krach in der Roten Muhle
     "Dann jammere jetzt nicht. Verzichte oder handle."
     Ein Tisch neben  uns  wird  frei. Wir  setzen uns. Der Kellner Freidank
ruumt ab. "Wo ist Herr Knobloch?" frage ich.
     Freidank sieht sich um. "Ich weiß nicht- er war die ganze Zeit an
dem Tisch mit der Dame druben."
     "Einfach,  was?" sage  ich  zu Georg. "Soweit wuren wir.  Ich  bin  ein
naturliches Opfer der  Inflation. Schon wieder. Erst Erna, jetzt Gerda.  Bin
ich ein geborener Hahnrei? Dir passiert so was nicht."
     "Kumpfe!"  erwidert  Georg. "Noch  ist  nichts verloren.  Geh  zu Gerda
hinuber!"
     "Womit soll ich kumpfen? Mit Grabsteinen? Eduard gibt ihr Rehrukken und
widmet  ihr Gedichte. Bei den  Gedichten kennt  sie den  Unterschied in  der
Qualitut  nicht  - beim  Eisen  leider. Und ich Esel  habe  mir  das  selbst
zuzuschreiben!  Ich  habe  sie hierhergebracht  und  ihren  Appetit geweckt.
Buchstublich!"
     "Dann  verzichte",  sagt Georg.  "Wozu  kumpfen?  Um  Gefuhle  kann man
sowieso nicht kumpfen."
     "Nein ? Weshalb rutst du mir dann vor einer Minute, ich solle es tun?"
     "Weil heute Dienstag ist. Da kommt Eduard  - in  seinem Sonntagsgehrock
und mit einer Rosenknospe im Knopfloch. Du bist erledigt."
     Eduard stutzt,  als  er uns  sieht.  Er  schielt zu  Gerda  hinuber und
begrußt uns dann mit der Herablassung des Siegers.
     "Herr Knobloch", sagt Georg.  "Ist Treue das  Mark der Ehre,  wie unser
geliebter Feldmarschall es verkundet hat, oder nicht?"
     "Es  kommt  darauf an",  erwidert  Eduard  vorsichtig.  "Heute gibt  es
Kunigsberger Klops mit Tunke und Kartoffeln. Ein gutes Essen."
     "Darf  der  Soldat dem Kameraden in  den Rucken fallen ?"  fragt  Georg
weiter. "Der Bruder dem Bruder? Der Poet dem Poeten?"
     "Poeten greifen sich dauernd an. Sie leben davon."
     " Sie  leben vom offenen Kampf; nicht vom Dolchstoß in den Magen"
erklure ich.
     Eduard  schmunzelt  breit. "Der Sieg dem  Sieger,  mein lieber  Ludwig,
catch  as  catch  can. Jammere ich, wenn  ihr mit Eßmarken  kommt, die
keine Nuß mehr wert sind?"
     "Ja", sage ich, "und wie!"
     Eduard  wird in diesem  Augenblick beiseite geschoben. "Kinder, da seid
ihr ja", sagt Gerda herzlich "Laßt uns zusammen essen! Ich habe
     gehofft, ihr wurdet kommen!"
     "Du sitzest in der Weinabteilung", erwidere  ich giftig.  "Wir  trinken
Bier."
     "Ich trinke auch lieber Bier. Ich setze mich zu euch."
     "Erlaubst du, Eduard?" frage ich. "Catch as catch can?"
     "Was hat Eduard da zu erlauben?" fragt Gerda. "Er freut sich doch, wenn
ich mit seinen Freunden esse. Nicht wahr, Eduard?"
     Die  Schlange  nennt  ihn  bereits  beim  Vornamen.  Eduard   stottert.
"Naturlich, nichts dagegen, selbstverstundlich, eine Freude -"
     Erbietet  ein schunes Bild,  rot, wutend und  verbissen luchelnd. "Eine
hubsche   Rosenknospe   trugst   du   da",   sage   ich.    "Bist   du   auf
Freiersfußen? Oder ist das einfache Freude an der Natur?"
     "Eduard hat ein sehr feines Gefuhl fur Schunheit", erwidert Gerda.
     "Das hat er",  bestutige ich. "Hattest du das gewuhnliche  Mittagessen?
Lieblose Kunigsberger Klopse in irgendeiner geschmacklosen deutschen Tunke?"
     Gerda lacht. "Eduard, zeig, daß du ein  Kavalier bist!  Laß
mich deine beiden Freunde zum Essen einladen! Sie behaupten dauernd, du
     wurest entsetzlich geizig.  Laß uns ihnen das Gegenteil beweisen.
Wir haben -"
     "Kunigsberger Klops", unterbricht Eduard sie.  "Gut, laden  wir sie zum
Klops ein. Ich werde fur einen extra guten sorgen."
     "Rehrucken", sagt Gerda.
     Eduard  uhnelt  einer   defekten  Dampfmaschine.  "Das  da  sind  keine
Freunde", erklurt er. "Was?"
     "Wir  sind Blutsfreunde, wie  Valentin", sage  ich.  "Erinnerst du dich
noch an unser letztes Gespruch im Dichterklub? Soll ich es laut wieder-
     holen? In welcher Versform dichtest du jetzt?"
     "uber  was habt  ihr gesprochen?"  fragt Gerda. "uber nichts", erwidert
Eduard rasch.  "Die  beiden  hier  sagen nie  ein  wahres  Wort!  Witzbolde,
trostlose Witzbolde sind sie! Wissen nichts vom Ernst des Lebens."
     "Ich muchte wissen, wer außer Totengrubern und Sargtischlern mehr
vom Ernst des Lebens weiß als wir", sage ich.
     "Ach ihr!  Ihr wißt  nur  was von  der Lucherlichkeit des Todes",
erklurt  Gerda plutzlich aus  heiterem  Himmel.  "Und deshalb  versteht  ihr
nichts mehr vom Ernst des Lebens."
     Wir starren sie maßlos verblufft an. Das ist bereits unverkennbar
Eduards  Stil! Ich  fuhle, daß ich auf verlorenem Boden  kumpfe,  gebe
noch nicht auf.
     "Von wem hast du das ?" frage ich. "Du Sybille uber den dunklen Teichen
der Schwermut!"
     Gerda lacht. "Fur euch ist  das Leben immer  gleich beim  Grabstein. So
schnell  geht das  nicht  fur andere Menschen. Eduard zum Beispiel ist  eine
Nachtigall!"
     Eduard  bluht uber  seine fetten  Backen. "Wie  ist  es  also  mit  dem
Rehrucken?" fragt Gerda ihn.
     "Nun, schließlich, warum nicht?"
     Eduard  entschwindet.   Ich  sehe   Gerda   an.  "Bravo!"   sage   ich.
"Erstklassige Arbeit. Was sollen wir davon halten?"
     "Mach  nicht  ein  Gesicht  wie ein Ehemann", erwidert sie. "Freue dich
einfach deines Lebens, fertig."
     "Was ist das Leben?"
     "Das, was gerade passiert."
     "Bravo," sagt Georg. "Und herzlichen Dank fur die Einladung. Wir lieben
Eduard wirklich sehr; er versteht uns nur nicht."
     "Liebst du ihn auch?" frage ich Gerda.
     Sie lacht. "Wie kindisch  er  ist", sagt  sie zu Georg. "Kunnen Sie ihm
nicht  ein bißchen die Augen  daruber  uffnen,  daß  nicht alles
immer sein Eigentum ist? Besonders, wenn er selbst nichts dazu tut."
     "Ich versuche fortwuhrend,  ihn aufzukluren",  erwidert Georg,  "Er hat
nur einen Haufen Hindernisse in sich,  die er  Ideale  nennt.  Wenn  er erst
einmal merkt, daß das euphemistischer Egoismus ist, wird er sich schon
bessern."
     "Was ist euphemistischer Egoismus?"
     "Jugendliche Wichtigtuerei."
     Gerda lacht derartig, daß der Tisch zittert. "Ich habe das nicht
     ungern", erklurt sie "Aber  ohne Abwechslung ermudet es. Tatsachen sind
nun einmal Tatsachen."
     Ich hute mich  zu fragen, ob Tatsachen  wirklich Tatsachen seien. Gerda
sitzt  da, ehrlich und fest,  und wartet  mit  aufgestemmtem  Messer auf die
zweite Portion Rehrucken. Ihr Gesicht ist runder  als fruher; sie hat  schon
zugenommen bei Eduards Kost und strahlt mich an und ist
     nicht im mindesten  verlegen. Weshalb  sollte sie  auch? Was fur Rechte
habe ich tatsuchlich schon an ihr? Und wer betrugt im Augenblick wen?
     "Es ist wahr", sage ich. "Ich bin  mit egoistischen Atavismen  behangen
wie ein Fels mit Moos. Mea culpa!"
     "Recht,  Schatz", erwidert Gerda. "Genieße dein  Leben und  denke
nur, wenn es nutig ist."
     "Wann ist es nutig?"
     "Wenn du Geld verdienen mußt oder vorwurtskommen willst."
     "Bravo",  sagt  Georg  wieder.   In  diesem  Augenblick  erscheint  der
Rehrucken, und das Gespruch stockt.  Eduard uberwacht uns wie eine Bruthenne
ihre Kuken. Es ist das erstemal, daß er  uns unser Essen gunnt. Er hat
ein neues  Lucheln,  aus dem  ich nicht klug werde. Es ist voll  von feister
uberlegenheit,  und er  steckt  es  Gerda  ab  und  zu heimlich  zu  wie ein
Verbrecher jemandem einen Kassiber im Gefungnis.  Aber Gerda hat immer  noch
ihr altes, vullig offenes Lucheln, das sie unschuldig  wie ein Kommunionkind
mir zustrahlt,  wenn Eduard wegsieht. Sie ist junger als ich, aber  ich habe
das Gefuhl, daß sie mindestens vierzig Jahre mehr Erfahrung hat.
     "Iß, Baby", sagt sie.
     Ich esse  mit schlechtem Gewissen und starkem  Mißtrauen, und der
Rehbraten, eine Delikatesse  ersten Ranges,  schmeckt mir  plutzlich  nicht.
"Noch   ein   Stuckchen?"   fragt    Eduard   mich.    "Oder    noch   etwas
Preiselbeersoße?"
     Ich  starre  ihn  an.  Ich habe  das  Gefuhl, als  habe  mein  fruherer
Rekrutenunteroffizier  mir  vorgeschlagen,  ihn  zu kussen.  Auch  Georg ist
alarmiert. Ich  weiß, daß  er nachher behaupten wird,  der Grund
fur Eduards unglaubliche Freigebigkeit sei die Tatsache, daß Gerda mit
ihm bereits  geschlafen habe -  aber das  weiß ich dieses Mal  besser.
Rehrucken kriegt sie nur so lange, wie sie das noch nicht getan hat. Wenn er
sie erst hat, gibt es nur noch Kunigsberger Klopse  mit deutscher Tunke. Und
ich habe keine Sorge, daß Gerda das nicht auch weiß.
     Trotzdem  beschließe  ich,  mit  ihr  nach  dem  Essen   zusammen
wegzugehen.  Vertrauen   ist   zwar  Vertrauen,  aber   Eduard  hat   zuviel
verschiedene Likure in der Bar.
     Still und mit allen  Sternen hungt  die Nacht uber der Stadt. Ich hocke
am  Fenster meines  Zimmers und warte auf Knopf, fur den ich die  Regenruhre
vorbereitet habe. Sie reicht gerade ins Fenster hinein und luuft von da uber
den Toreingang bis  an das  Knopfsche Haus. Dort macht das kurze  Stuck eine
rechtwinklige Biegung zum Hof hin. Man kann aber die Ruhre vom Hof aus nicht
sehen.
     Ich warte und lese  die Zeitung.  Der Dollar ist um weitere zehntausend
Mark hinaufgeklettert. Gestern gab es  nur einen Selbstmord, dafur aber zwei
Streiks. Die Beamten haben nach langem Verhandeln  endlich eine Lohnerhuhung
erhalten, die inzwischen bereits so entwertet ist, daß sie jetzt  kaum
noch  einen Liter  Milch in der  Woche dafur kaufen  kunnen.  Nuchste  Woche
wahrscheinlich nur noch eine Schachtel Streichhulzer. Die Arbeitslosenziffer
ist um  weitere hundertfunfzigtausend  gestiegen.  Unruhen  mehren  sich  im
ganzen  Reich. Neue  Rezepte fur  die Verwertung  von Abfullen  in der Kuche
werden angepriesen. Die  Grippewelle steigt weiter.  Die Erhuhung der Renten
fur die  Alters-  und  Invalidenversicherung ist  einem  Komitee zum Studium
uberwiesen  worden. Man  erwartet in einigen Monaten  einen Bericht daruber.
Die  Rentner und  Invaliden versuchen sich in der Zwischenzeit durch Betteln
oder durch Unterstutzungen von  Bekannten und  Verwandten vor dem Verhungern
zu schutzen.
     Draußen kommen  leise Schritte heran. Ich luge vorsichtig aus dem
Fenster.  Es  ist nicht Knopf; es  ist ein Liebespaar,  das auf Zehenspitzen
durch den Hof in den Garten schleicht. Die Saison ist jetzt in vollem Gange,
und  die Not  der Liebenden ist grußer  als je. Wilke hat recht: Wohin
sollen  sie  gehen,  um  ungesturt zu  sein?  Wenn  sie  versuchen, in  ihre
mublierten  Zimmer zu  schleichen, liegt  die Wirtin auf der Lauer um sie im
Namen der Moral und des Neides wie ein  Engel mit dem Schwert auszutreiben -
in  uffentlichen Anlagen und Gurten werden sie von Polizisten angebrullt und
festgenommen -  fur Hotelzimmer haben sie  kein Geld - wohin sollen sie also
gehen? In  unserem  Hof  sind  sie  ungesturt. Die  grußeren Denkmuler
bieten Schutz vor anderen Paaren; man wird nicht  gesehen, und man kann sich
an sie  anlehnen und in  ihrem Schatten  flustern und sich umarmen, und  die
großen Kreuzdenkmuler sind nach wie vor fur die sturmisch Liebenden an
feuchten Tagen da,  wenn sie sich nicht  am Boden lagern kunnen; dann halten
die Mudchen sich an ihnen fest und  werden von ihren Bewerbern bedrungt, der
Regen  schlugt  in ihre  heißen Gesichter,  der Nebel  weht,  ihr Atem
fliegt stoßweise, und die  Kupfe, deren Haar ihr Geliebter mit  seinen
Fuusten gepackt  hat,  sind  hochgerissen  wie  die wiehernder  Pferde.  Die
Schilder, die ich neulich  angebracht habe, haben nichts genutzt. Wer  denkt
schon an seine Zehen, wenn sein ganzes Dasein in Flammen steht?
     Plutzlich hure ich Knopfs  Schritte in der Gasse. Ich sehe auf die Uhr.
Es ist halb drei;  der Schleifer vieler  Generationen unglucklicher Rekruten
muß   also  schwer   geladen   haben.   Ich   drehe  das   Licht   ab.
Zielbewußt steuert  Knopf sofort  auf den schwarzen  Obelisken zu. Ich
nehme das Ende der Regenruhre, das in  mein Fenster ragt, presse meinen Mund
dicht an die uffnung und sage: "Knopf!"
     Es  klingt hohl am anderen  Ende,  im  Rucken des  Feldwebels, aus  der
Ruhre,  als kume  es  aus einem Grabe.  Knopf  blickt um sich; er weiß
nicht, woher die Stimme kommt. "Knopf!" wiederhole ich. "Schwein! Schumst du
dich nicht? Habe ich dich deshalb erschaffen, damit du suufst und Grabsteine
anpißt, du Sau?"
     Knopf fuhrt wieder herum. "Was?" lallt er. "Wer ist da?"
     "Dreckfink!"  sage  ich,  und  es  klingt  geisterhaft  und unheimlich.
"Fragen  stellst du  auch noch? Hast  du  einen Vorgesetzten zu fragen? Steh
stramm, wenn ich mit dir rede!"
     Knopf starrt sein Haus an, von dem die Stimme kommt. Alle Fenster darin
sind dunkel  und geschlossen. Auch  die Tur ist  zu. Das Rohr  auf der Mauer
sieht  er  nicht."  Steh  stramm,   du  pflichtvergessener  Lump  von  einem
Feldwebel!" sage ich. "Habe  ich dir dafur Litzen am Kragen und einen langen
Subel  verliehen,  damit du Steine beschmutzest,  die  fur  den  Gottesacker
bestimmt  sind?" Und schurfer,  zischend, im Kommandoton: "Konchen zusammen,
wurdeloser Grabsteinnusser!"
     Das Kommando wirkt. Knopf steht stramm, die Hunde an der Hosennaht. Der
Mond spiegelt sich  in  seinen  weit aufgerissenen. Augen. "Knopf", sage ich
mit Gespensterstimme. "Du wirst zum Soldaten zweiter Klasse degradiert, wenn
ich  dich noch einmal erwische! Du  Schandfleck auf der  Ehre  des deutschen
Soldaten und des Vereins aktiver Feldwebel a. D."
     Knopf   horcht,   den   Kopf   etwas  seitlich   hochgereckt,  wie  ein
mondsuchtiger Hund. "Der Kaiser?" flustert er.
     "Knupfe deine  Hose zu und verschwinde!" flustere ich hohl zuruck. "Und
merke dir: Riskiere deine Sauerei noch einmal, und du  wirst  degradiert und
kastriert!  Kastriert  auch!  Und   nun  fort,  du   liederlicher  Zivilist,
marsch-marsch!"
     Knopf stolpert benommen auf seine Haustur los. Gleich darauf bricht das
Liebespaar  wie zwei aufgescheuchte Rehe aus  dem Garten und saust  auf  die
Straße hinaus. Das hatte ich naturlich nicht gewollt.
     14 Der Dichterklub ist bei Eduard versammelt. Der  Ausflug  zum Bordell
ist beschlossen. Otto Bambuss erhofft  davon eine Durchblutung seiner Lyrik;
Hans  Hungermann will sich Anregungen  holen fur seinen "Casanova" und einen
Zyklus in  freien Rhythmen: "Dumon Weib",  und selbst  Matthias  Grund,  der
Dichter  des  Buches  vom   Tode,  glaubt  fur  das  letzte  Delirium  eines
Paranoikers ein paar flotte Details erhaschen zu  kunnen.  "Warum  kommst du
nicht mit, Eduard?" frage ich.
     "Kein Bedurfnis", erklurt er uberlegen. "Habe alles, was ich brauche."
     "So?  Hast  du?"  Ich  weiß, was er  vorspiegeln  will,  und  ich
weiß auch daß er lugt.
     "Er  schluft  mit allen  Zimmermudchen  seines  Hotels",  erklurt  Hans
Hungermann. "Wenn  sie  sich  weigern,  entlußt  er  sie.  Er ist  ein
wahrhafter Volksfreund."
     "Zimmermudchen! Das  wurdest du  tun! Freie Rhythmen,  freie Liebe! Ich
nicht! Nie etwas im eigenen Hause! Alter Wahlspruch."
     "Mit Gusten auch nicht?"
     "Guste." Eduard richtet die Augen zum Himmel. "Da kann man
     sich  naturlich  oft  nicht helfen.  Die  Herzogin von  Bell-Armin  zum
Beispiel - "
     "Was zum Beispiel?" frage ich, als er schweigt.
     Eduard ziert sich. "Ein Kavalier ist diskret."
     Hungermann  bekommt einen Hustenanfall. "Schune Diskretion! Wie alt war
sie? Achtzig?"
     Eduard luchelt veruchtlich - aber im nuchsten  Moment fullt das Lucheln
von  ihm ab wie eine Maske, deren  Knoten gerissen ist; Valentin  Busch  ist
eingetreten. Er  ist  zwar  kein  literarischer Mann,  aber er  hat trotzdem
beschlossen,  mitzumachen.  Er  will  dabeisein,  wenn  Otto  Bambuss  seine
Jungfernschaft verliert. "Wie geht es, Eduard?"  fragt er. "Schun, daß
du noch am  Leben bist,  was ?  Das mit der  Herzogin huttest du sonst nicht
genießen kunnen."
     "Woher  weißt  du,  daß  es  wahr  ist?" frage  ich  vullig
uberrascht.
     "Habe  es  nur draußen im Gang gehurt.  Ihr redet  ziemlich laut.
Habt  wohl schon allerlei getrunken. Immerhin, ich gunne Eduard die Herzogin
von Herzen. Freue mich, daß ich es war, der ihn dafur retten konnte."
     "Es war  lange vor  dem Kriege", erklurt Eduard eilig. Er wittert einen
neuen Anschlag auf seinen Weinkeller.
     "Gut,  gut", erwidert Valentin nachgiebig. "Nach dem  Kriege  wirst  du
auch schon deinen Mann gestanden und Schunes erlebt haben."
     "In diesen Zeiten?"
     "Gerade  in diesen Zeiten!  Wenn  der  Mensch verzweifelt  ist, ist  er
leichter dem Abenteuer zugunglich. Und gerade Herzoginnen, Prinzessinnen und
Grufinnen sind in diesen Jahren sehr verzweifelt. Inflation, Republik, keine
kaiserliche Armee mehr, das kann ein Aristokratenherz schon brechen! Wie ist
es mit einer guten Flasche, Eduard?"
     "Ich  habe jetzt keine Zeit", erwidert Eduard  geistesgegenwurtig. "Tut
mir leid, Valentin,  aber heute geht es nicht. Wir machen mit dem Klub einen
Ausflug."
     "Gehst du denn mit?" frage ich.
     "Naturlich! Als Schatzmeister! Muß ich doch! Dachte vorhin  nicht
daran! Pflicht ist Pflicht."

ðÏÐÕÌÑÒÎÏÓÔØ: 5, Last-modified: Tue, 08 Feb 2005 14:39:26 GmT