OCR, Spellcheck: Илья Франк, http://franklang.ru (мультиязыковой проект. Ильи Франка)
Erich Maria Remarque
Im Westen nichts Neues
Dieses Buch soll weder eine Anklage
noch ein Bekenntnis sein.
Es soll nur den Versuch machen,
uber eine Generation zu berichten,
die vom Kriege zersturt wurde -
auch wenn sie seinen Granaten entkam.
Wir liegen neun Kilometer hinter der Front. Gestern wurden wir
abgelust; jetzt haben wir den Magen voll weißer Bohnen mit Rindfleisch
und sind satt und zufrieden. Sogar fur abends hat jeder noch ein
Kochgeschirr voll fassen kunnen; dazu gibt es außerdem doppelte Wurst-
und Brotportionen - das schafft. So ein Fall ist schon lange nicht mehr
dagewesen: der Kuchenbulle mit seinem roten Tomatenkopf bietet das Essen
direkt an; jedem, der vorbeikommt, winkt er mit seinem Luffel zu und fullt
ihm einen kruftigen Schlag ein. Er ist ganz verzweifelt, weil er nicht
weiß, wie er seine Gulaschkanone leer kriegen soll. Tjaden und Muller
haben ein paar Waschschusseln aufgetrieben und sie sich bis zum Rand
gestrichen voll geben lassen, als Reserve. Tjaden macht das aus
Freßsucht, Muller aus Vorsicht. Wo Tjaden es lußt, ist allen ein
Rutsel. Er ist und bleibt ein magerer Hering.
Das Wichtigste aber ist, daß es auch doppelte Rauchportionen
gegeben hat. Fur jeden zehn Zigarren, zwanzig Zigaretten und zwei Stuck
Kautabak, das ist sehr anstundig. Ich habe meinen Kautabak mit Katczinsky
gegen seine Zigaretten getauscht, das macht fur mich vierzig Zigaretten.
Damit langt man schon einen Tag.
Dabei steht uns diese ganze Bescherung eigentlich nicht zu. So splendid
sind die Preußen nicht. Wir haben sie nur einem Irrtum zu verdanken.
Vor vierzehn Tagen mußten wir nach vorn, um abzulusen. Es war
ziemlich ruhig in unserm Abschnitt, und der Furier hatte deshalb fur den Tag
unserer Ruckkehr das normale Quantum Lebensmittel erhalten und fur die
hundertfunfzig Mann starke Kompanie vorgesorgt. Nun aber gab es gerade am
letzten Tage bei uns uberraschend viel Langrohr und dicke Brocken, englische
Artillerie, die stundig auf unsere Stellung trommelte, so daß wir
starke Verluste hatten und nur mit achtzig Mann zuruckkamen.
Wir waren nachts eingeruckt und hatten uns gleich hingehauen, um erst
einmal anstundig zu schlafen; denn Katczinsky hat recht: es wure alles nicht
so schlimm mit dem Krieg, wenn man nur mehr Schlaf haben wurde. Vorne ist es
doch nie etwas damit, und vierzehn Tage jedes mal sind eine lange Zeit.
Es war schon Mittag, als die ersten von uns aus den Baracken krochen.
Eine halbe Stunde sputer hatte jeder sein Kochgeschirr gegriffen, und wir
versammelten uns vor der Gulaschmarie, die fettig und nahrhaft roch. An der
Spitze naturlich die Hungrigsten: der kleine Albert Kropp, der von uns am
klarsten denkt und deshalb erst Gefreiter ist; - Muller V, der noch
Schulbucher mit sich herumschleppt und vom Notexamen truumt; im Trommelfeuer
buffelt er physikalische Lehrsutze; - Leer, der einen Vollbart trugt und
große Vorliebe fur Mudchen aus den Offizierspuffs hat; er schwurt
darauf, daß sie durch Armeebefehl verpflichtet wuren, seidene Hemden
zu tragen und bei Gusten vom Hauptmann aufwurts vorher zu baden; - und als
vierter ich, Paul Buumer. Alle vier neunzehn Jahre alt, alle vier aus
derselben Klasse in den Krieg gegangen.
Dicht hinter uns unsere Freunde. Tjaden, ein magerer Schlosser, so alt
wie wir, der grußte Fresser der Kompanie. Er setzt sich schlank zum
Essen hin und steht dick wie eine schwangere Wanze wieder auf; - Haie
Westhus, gleich alt, Torfstecher, der bequem ein Kommißbrot in eine
Hand nehmen und fragen kann: Ratet mal, was ich in der Faust habe; -
Detering, ein Bauer, der nur an seinen Hof und an seine Frau denkt; - und
endlich Stanislaus Katczinsky, das Haupt unserer Gruppe, zuh, schlau,
gerissen, vierzig Jahre alt, mit einem Gesicht aus Erde, mit blauen Augen,
hungenden Schultern und einer wunderbaren Witterung fur dicke Luft, gutes
Essen und schune Druckposten. Unsere Gruppe bildete die Spitze der Schlange
vor der Gulaschkanone. Wir wurden ungeduldig, denn der ahnungslose
Kuchenkarl stand noch immer und wartete. Endlich rief Katczinsky ihm zu:
"Nun mach deinen Bouillonkeller schon auf, Heinrich! Man sieht doch,
daß die Bohnen gar sind."
Der schuttelte schlufrig den Kopf: "Erst mußt ihr alle da sein."
Tjaden grinste: "Wir sind alle da."
Der Unteroffizier merkte noch nichts. "Das kunnte euch so passen! Wo
sind denn die andern?"
"Die werden heute nicht von dir verpflegt! Feldlazarett und
Massengrab."
Der Kuchenbulle war erschlagen, als er die Tatsachen erfuhr. Er wankte.
"Und ich habe fur hundertfunfzig Mann gekocht."
Kropp stieß ihm in die Rippen. "Dann werden wir endlich mal satt.
Los, fang an!"
Plutzlich aber durchfuhr Tjaden eine Erleuchtung. Sein spitzes
Mausegesicht fing ordentlich an zu schimmern, die Augen wurden klein vor
Schlauheit, die Backen zuckten, und er trat dichter heran: "Menschenskind,
dann hast du ja auch fur hundertfunfzig Mann Brot empfangen, was?" Der
Unteroffizier nickte verdattert und geistesabwesend. Tjaden packte ihn am
Rock. "Und Wurst auch?"
Der Tomatenkopf nickte wieder.
Tjadens Kiefer bebten. "Tabak auch?"
"Ja, alles."
Tjaden sah sich strahlend um. "Donnerwetter, das nennt man Schwein
haben! Das ist dann ja alles fur uns! Da kriegt jeder ja - wartet mal -
tatsuchlich, genau doppelte Portionen!"
Jetzt aber erwachte die Tomate wieder zum Leben und erklurte: "Das geht
nicht."
Doch nun wurden auch wir munter und schoben uns heran.
"Warum geht das denn nicht, du Mohrrube?" fragte Katczinsky.
"Was fur hundertfunfzig Mann ist, kann doch nicht fur achtzig sein."
"Das werden wir dir schon zeigen", knurrte Muller.
"Das Essen meinetwegen, aber Portionen kann ich nur fur achtzig Mann
ausgeben", beharrte die Tomate.
Katczinsky wurde urgerlich. "Du mußt wohl mal abgelust werden,
was? Du hast nicht fur achtzig Mann, sondern fur die 2. Kompanie Furage
empfangen, fertig. Die gibst du aus! Die 2. Kompanie sind wir."
Wir ruckten dem Kerl auf den Leib. Keiner konnte ihn gut leiden, er war
schon ein paarmal schuld daran gewesen, daß wir im Graben das Essen
viel zu sput und kalt bekommen hatten, weil er sich bei etwas Granatfeuer
mit seinem Kessel nicht nahe genug herantraute, so daß unsere
Essenholer einen viel weiteren Weg machen mußten als die der andern
Kompanien. Da war Bulcke von der ersten ein besserer Bursche. Er war zwar
fett wie ein Winterhamster, aber er schleppte, wenn es darauf ankam, die
Tupfe selbst bis zur vordersten Linie.
Wir waren gerade in der richtigen Stimmung, und es hutte bestimmt
Kleinholz gegeben, wenn nicht unser Kompaniefuhrer aufgetaucht wure. Er
erkundigte sich nach dem Streitfall und sagte vorluufig nur: "Ja, wir haben
gestern starke Verluste gehabt -"
Dann guckte er in den Kessel. "Die Bohnen scheinen gut zu sein."
Die Tomate nickte. "Mit Fett und Fleisch gekocht."
Der Leutnant sah uns an. Er wußte, was wir dachten. Auch sonst
wußte er noch manches, denn er war zwischen uns groß geworden
und als Unteroffizier zur Kompanie gekommen. Er hob den Deckel noch einmal
vom Kessel und schnupperte. Im Weggehen sagte er: "Bringt mir auch einen
Teller voll. Und die Portionen werden alle verteilt. Wir kunnen sie
brauchen."
Die Tomate machte ein dummes Gesicht. Tjaden tanzte um sie herum.
"Das schadet dir gar nichts! Als ob ihm das Proviantamt gehurt, so tut
er. Und nun fang an, du alter Speckjuger, und verzuhle dich nicht -"
"Hung dich auf!" fauchte die Tomate. Sie war geplatzt, so etwas ging
ihr gegen den Verstand. Sie begriff die Welt nicht mehr. Und als wollte sie
zeigen, daß nun schon alles egal sei, verteilte sie pro Kopf
freiwillig noch ein halbes Pfund Kunsthonig.
Der Tag ist wirklich gut heute. Sogar Post ist da, fast jeder hat ein
paar Briefe und Zeitungen. Nun schlendern wir zu der Wiese hinter den
Baracken hinuber. Kropp hat den runden Deckel eines Margarinefasses unterm
Arm.
Am rechten Rande der Wiese ist eine große Massenlatrine erbaut,
ein uberdachtes, stabiles Gebuude. Doch das ist was fur Rekruten, die noch
nicht gelernt haben, aus jeder Sache Vorteil zu ziehen. Wir suchen etwas
Besseres. uberall verstreut stehen numlich noch kleine Einzelkusten fur
denselben Zweck. Sie sind viereckig, sauber, ganz aus Holz getischlert,
rundum geschlossen, mit einem tadellosen, bequemen Sitz. An den
Seitenfluchen befinden sich Handgriffe, so daß man sie transportieren
kann.
Wir rucken drei im Kreise zusammen und nehmen gemutlich Platz. Vor zwei
Stunden werden wir hier nicht wieder aufstehen.
Ich weiß noch, wie wir uns anfangs genierten als Rekruten in der
Kaserne, wenn wir die Gemeinschaftslatrine benutzen mußten. Turen gibt
es da nicht, es sitzen zwanzig Mann nebeneinander wie in der Eisenbahn. Sie
sind mit einem Blick zu ubersehen; - der Soldat soll eben stundig unter
Aufsicht sein.
Wir haben inzwischen mehr gelernt, als das bißchen Scham zu
uberwinden. Mit der Zeit wurde uns noch ganz anderes geluufig.
Hier draußen ist die Sache aber geradezu ein Genuß. Ich
weiß nicht mehr, weshalb wir fruher an diesen Dingen immer scheu
vorbeigehen mußten, sie sind ja ebenso naturlich wie Essen und
Trinken. Und man brauchte sich vielleicht auch nicht besonders daruber zu
uußern, wenn sie nicht so eine wesentliche Rolle bei uns spielten und
gerade uns neu gewesen wuren - den ubrigen waren sie lungst
selbstverstundlich.
Dem Soldaten ist sein Magen und seine Verdauung ein vertrauteres Gebiet
als jedem anderen Menschen. Drei Viertel seines Wortschatzes sind ihm
entnommen, und sowohl der Ausdruck huchster Freude als auch der tiefster
Entrustung findet hier seine kernige Untermalung. Es ist unmuglich, sich auf
eine andere Art so knapp und klar zu uußern. Unsere Familien und
unsere Lehrer werden sich schun wundern, wenn wir nach Hause kommen, aber es
ist hier nun einmal die Universalsprache.
Fur uns haben diese ganzen Vorgunge den Charakter der Unschuld
wiedererhalten durch ihre zwangsmußige uffentlichkeit. Mehr noch: sie
sind uns so selbstverstundlich, daß ihre gemutliche
Erledigung ebenso gewertet wird wie meinetwegen ein schun
durchgefuhrter, bombensicherer Grand ohne viere. Nicht umsonst ist fur
Geschwutz aller Art das Wort "Latrinenparole" entstanden; diese Orte sind
die Klatschecken und der Stammtischersatz beim Kommiß.
Wir fuhlen uns augenblicklich wohler als im noch so weiß
gekachelten Luxuslokus. Dort kann es nur hygienisch sein; hier aber ist es
schun.
Es sind wunderbar gedankenlose Stunden. uber uns steht der blaue
Himmel. Am Horizont hungen hellbestrahlte gelbe Fesselballons und die
weißen Wulkchen der Flakgeschosse. Manchmal schnellen sie wie eine
Garbe hoch, wenn sie einen Flieger verfolgen.
Nur wie ein sehr fernes Gewitter huren wir das gedumpfte Brummen der
Front. Hummeln, die vorubersummen, ubertunen es schon.
Und rund um uns liegt die bluhende Wiese. Die zarten Rispen der Gruser
wiegen sich, Kohlweißlinge taumeln heran, sie schweben im weichen,
warmen Wind des Sputsommers, wir lesen Briefe und Zeitungen und rauchen, wir
setzen die Mutzen ab und legen sie neben uns, der Wind spielt mit unseren
Haaren, er spielt mit unseren Worten und Gedanken.
Die drei Kusten stehen mitten im leuchtenden, roten Klatschmohn. -
Wir legen den Deckel des Margarinefasses auf unsere Knie. So haben wir
eine gute Unterlage zum Skatspielen. Kropp hat die Karten bei sich. Nach
jedem Nullouvert wird eine Partie Schieberamsch eingelegt. Man kunnte ewig
so sitzen.
Die Tune einer Ziehharmonika klingen von den Baracken her. Manchmal
legen wir die Karten hin und sehen uns an. Einer sagt dann: "Kinder, Kinder
-", oder: "Das hutte schiefgehen kunnen -", und wir versinken einen
Augenblick in Schweigen. In uns ist ein starkes, verhaltenes Gefuhl, jeder
spurt es, das braucht nicht viele Worte. Leicht hutte es sein kunnen,
daß wir heute nicht auf unsern Kusten sußen, es war verdammt
nahe daran. Und darum ist alles neu und stark - der rote Mohn und das gute
Essen, die Zigaretten und der Sommerwind.
Kropp fragt: "Hat einer von euch Kemmerich noch mal gesehen?"
"Er liegt in St. Joseph", sage ich.
Muller meint, er habe einen Oberschenkeldurchschuß, einen guten
Heimatpaß.
Wir beschließen, ihn nachmittags zu besuchen.
Kropp holt einen Brief hervor. "Ich soll euch grußen von
Kantorek."
Wir lachen. Muller wirft seine Zigarette weg und sagt: "Ich wollte, der
wure hier."
Kantorek war unser Klassenlehrer, ein strenger, kleiner Mann in grauem
Schoßrock, mit einem Spitzmausgesicht. Er hatte ungefuhr dieselbe
Statur wie der Unteroffizier Himmelstoß, der "Schrecken des
Klosterberges". Es ist ubrigens komisch, daß das Ungluck der Welt so
oft von kleinen Leuten herruhrt, sie sind viel energischer und
unvertruglicher als großgewachsene. Ich habe mich stets gehutet, in
Abteilungen mit kleinen Kompaniefuhrern zu geraten; es sind meistens
verfluchte Schinder.
Kantorek hielt uns in den Turnstunden so lange Vortruge, bis unsere
Klasse unter seiner Fuhrung geschlossen zum Bezirkskommando zog und sich
meldete. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er uns durch seine Brillengluser
anfunkelte und mit ergriffener Stimme fragte: "Ihr geht doch mit,
Kameraden?"
Diese Erzieher haben ihr Gefuhl so oft in der Westentasche parat; sie
geben es ja auch stundenweise aus. Doch daruber machten wir uns damals noch
keine Gedanken.
Einer von uns allerdings zugerte und wollte nicht recht mit. Das war
Josef Behm, ein dicker, gemutlicher Bursche. Er ließ sich dann aber
uberreden, er hutte sich auch sonst unmuglich gemacht. Vielleicht dachten
noch mehrere so wie er; aber es konnte sich niemand gut ausschließen,
denn mit dem Wort "feige" waren um diese Zeit sogar Eltern rasch bei der
Hand. Die Menschen hatten eben alle keine Ahnung von dem, was kam. Am
vernunftigsten waren eigentlich die armen und einfachen Leute; sie hielten
den Krieg gleich fur ein Ungluck, wuhrend die bessergestellten vor Freude
nicht aus noch ein wußten, obschon gerade sie sich uber die Folgen
viel eher hutten klarwerden kunnen.
Katczinsky behauptet, das kume von der Bildung, sie mache dumlich. Und
was Kat sagt, das hat er sich uberlegt.
Sonderbarerweise war Behm einer der ersten, die fielen. Er erhielt bei
einem Sturm einen Schuß in die Augen, und wir ließen ihn fur tot
liegen. Mitnehmen konnten wir ihn nicht, weil wir ubersturzt zuruck
mußten. Nachmittags hurten wir ihn plutzlich rufen und sahen ihn
draußen herumkriechen. Er war nur bewußtlos gewesen. Weil er
nichts sah und wild vor Schmerzen war, nutzte er keine Deckung aus, so
daß er von druben abgeschossen wurde, ehe jemand herankam, um ihn zu
holen.
Man kann Kantorek naturlich nicht damit in Zusammenhang bringen; - wo
bliebe die Welt sonst, wenn man das schon Schuld nennen wollte. Es gab ja
Tausende von Kantoreks, die alle uberzeugt waren, auf eine fur sie bequeme
Weise das Beste zu tun.
Darin liegt aber gerade fur uns ihr Bankerott.
Sie sollten uns Achtzehnjuhrigen Vermittler und Fuhrer zur Welt des
Erwachsenseins werden, zur Welt der Arbeit, der Pflicht, der Kultur und des
Fortschritts, zur Zukunft. Wir verspotteten sie manchmal und spielten ihnen
Meine Streiche, aber im Grunde glaubten wir ihnen. Mit dem Begriff der
Autoritut, dessen Truger sie waren, verband sich m unseren Gedanken
grußere Einsicht und menschlicheres Wissen. Doch der erste Tote, den
wir sahen, zertrummerte diese uberzeugung. Wir mußten erkennen,
daß unser Alter ehrlicher war als das ihre; sie hatten vor uns nur die
Phrase und die Geschicklichkeit voraus. Das erste Trommelfeuer zeigte uns
unseren Irrtum, und unter ihm sturzte die Weltanschauung zusammen, die sie
uns gelehrt hatten.
Wuhrend sie noch schrieben und redeten, sahen wir Lazarette und
Sterbende; - wuhrend sie den Dienst am Staate als das Grußte
bezeichneten, wußten wir bereits, daß die Todesangst sturker
ist. Wir wurden darum keine Meuterer, keine Deserteure, keine Feiglinge -
alle diese Ausdrucke waren ihnen ja so leicht zur Hand -, wir liebten unsere
Heimat genauso wie sie, und wir gingen bei jedem Angriff mutig vor; - aber
wir unterschieden jetzt, wir hatten mit einem Male sehen gelernt. Und wir
sahen, daß nichts von ihrer Welt ubrig blieb. Wir waren plutzlich auf
furchtbare Weise allein; - und wir mußten allein damit fertig werden.
Bevor wir zu Kemmerich aufbrechen, packen wir seine Sachen ein; er wird
sie unterwegs gut brauchen kunnen.
Im Feldlazarett ist großer Betrieb; es riecht wie immer nach
Karbol, Eiter und Schweiß. Man ist aus den Baracken manches gewohnt,
aber hier kann einem doch flau werden. Wir fragen uns nach Kemmerich durch;
er liegt in einem Saal und empfungt uns mit einem schwachen Ausdruck von
Freude und hilfloser Aufregung. Wuhrend er bewußtlos war, hat man ihm
seine Uhr gestohlen.
Muller schuttelt den Kopf: "Ich habe dir ja immer gesagt, daß man
eine so gute Uhr nicht mitnimmt."
Muller ist etwas tapsig und rechthaberisch. Sonst wurde er den Mund
halten, denn jeder sieht, daß Kemmerich nicht mehr aus diesem Saal
herauskommt. Ob er seine Uhr wiederfindet, ist ganz egal, huchstens,
daß man sie nach Hause schicken kunnte.
"Wie geht's denn, Franz?" fragt Kropp.
Kemmerich lußt den Kopf sinken. "Es geht ja - ich habe bloß
so verfluchte Schmerzen im Fuß."
Wir sehen auf seine Decke. Sein Bein liegt unter einem Drahtkorb, das
Deckbett wulbt sich dick daruber. Ich trete Muller gegen das Schienbein,
denn er bruchte es fertig, Kemmerich zu sagen, was uns die Sanituter
draußen schon erzuhlt haben: daß Kemmerich keinen Fuß mehr
hat. Das Bein ist amputiert.
Er sieht schrecklich aus, gelb und fahl, im Gesicht sind schon die
fremden Linien, die wir so genau kennen, weil wir sie schon hundertmal
gesehen haben. Es sind eigentlich keine Linien, es sind mehr Zeichen. Unter
der Haut pulsiert kein Leben mehr; es ist bereits herausgedrungt bis an den
Rand des Kurpers, von innen arbeitet sich der Tod durch, die Augen
beherrscht er schon. Dort liegt unser Kamerad Kemmerich, der mit uns vor
kurzem noch Pferdefleisch gebraten und im Trichter gehockt hat; - er ist es
noch, und er ist es doch nicht mehr, verwaschen, unbestimmt ist sein Bild
geworden, wie eine fotografische Platte, auf der zwei Aufnahmen gemacht
worden sind. Selbst seine Stimme klingt wie Asche.
Ich denke daran, wie wir damals abfuhren. Seine Mutter, eine gute,
dicke Frau, brachte ihn zum Bahnhof. Sie weinte ununterbrochen, ihr Gesicht
war davon gedunsen und geschwollen. Kemmerich genierte sich deswegen, denn
sie war am wenigsten gefaßt von allen, sie zerfloß furmlich in
Fett und Wasser. Dabei hatte sie es auf mich abgesehen, immer wieder ergriff
sie meinen Arm und flehte mich an, auf Franz draußen achtzugeben. Er
hatte allerdings auch ein Gesicht wie ein Kind und so weiche Knochen,
daß er nach vier Wochen Tornistertragen schon Plattfuße bekam.
Aber wie kann man im Felde auf jemand achtgeben!
"Du wirst ja nun nach Hause kommen", sagt Kropp, "auf Urlaub huttest du
mindestens noch drei, vier Monate warten mussen."
Kemmerich nickt. Ich kann seine Hunde nicht gut ansehen, sie sind wie
Wachs. Unter den Nugeln sitzt der Schmutz des Grabens, er sieht blauschwarz
aus wie Gift. Mir fullt ein, daß diese Nugel weiterwachsen werden,
lange noch, gespenstische Kellergewuchse, wenn Kemmerich lungst nicht mehr
atmet. Ich sehe das Bild vor mir: sie krummen sich zu Korkenziehern und
wachsen und wachsen, und mit ihnen die Haare auf dem zerfallenden Schudel,
wie Gras auf gutem Boden, genau wie Gras, wie ist das nur muglich -?
Muller buckt sich. "Wir haben deine Sachen mitgebracht, Franz."
Kemmerich zeigt mit der Hand. "Legt sie unters Bett."
Muller tut es. Kemmerich fungt wieder von der Uhr an. Wie soll man ihn
nur beruhigen, ohne ihn mißtrauisch zu machen!
Muller taucht mit einem Paar Fliegerstiefel wieder auf. Es sind
herrliche englische Schuhe aus weichem, gelbem Leder, die bis zum Knie
reichen und ganz hinauf geschnurt werden, eine begehrte Sache. Muller ist
von ihrem Anblick begeistert, er hult ihre Sohlen gegen seine eigenen
klobigen Schuhe und fragt: "Willst du denn die Stiefel mitnehmen, Franz?"
Wir denken alle drei das gleiche: selbst wenn er gesund wurde, kunnte
er nur einen gebrauchen, sie wuren fur ihn also wertlos. Aber wie es jetzt
steht, ist es ein Jammer, daß sie hierbleiben; - denn die Sanituter
werden sie naturlich sofort wegschnappen, wenn er tot ist.
Muller wiederholt: "Willst du sie nicht hier lassen?"
Kemmerich will nicht. Es sind seine besten Stucke.
"Wir kunnen sie ja umtauschen", schlugt Muller wieder vor, "hier
draußen kann man so was brauchen."
Doch Kemmerich ist nicht zu bewegen.
Ich trete Muller auf den Fuß; er legt die schunen Stiefel zugernd
wieder unter das Bett.
Wir reden noch einiges und verabschieden uns dann. "Mach's gut, Franz."
Ich verspreche ihm, morgen wiederzukommen. Muller redet ebenfalls
davon; er denkt an die Schnurschuhe und will deshalb auf dem Posten sein.
Kemmerich stuhnt. Er hat Fieber. Wir halten draußen einen
Sanituter an und reden ihm zu, Kemmerich eine Spritze zu geben.
Er lehnt ab. "Wenn wir jedem Morphium geben wollten, mußten wir
Fusser voll haben -"
"Du bedienst wohl nur Offiziere", sagt Kropp gehussig.
Rasch lege ich mich ins Mittel und gebe dem Sanituter zunuchst mal eine
Zigarette. Er nimmt sie. Dann frage ich: "Darfst du denn uberhaupt eine
machen?"
Er ist beleidigt. "Wenn ihr's nicht glaubt, was fragt ihr mich -"
Ich drucke ihm noch ein paar Zigaretten in die Hand. "Tu uns den
Gefallen -"
"Na, schun", sagt er. Kropp geht mit hinein, er traut ihm nicht und
will zusehen. Wir warten draußen.
Muller fungt wieder von den Stiefeln an." Sie wurden mir tadellos
passen. In diesen Kuhnen laufe ich mir Blasen uber Blasen. Glaubst du,
daß er durchhult bis morgen nach dem Dienst? Wenn er nachts abgeht,
haben wir die Stiefel gesehen -"
Albert kommt zuruck. "Meint ihr -?" fragt er.
"Erledigt", sagt Muller abschließend.
Wir gehen zu unsern Baracken zuruck. Ich denke an den Brief, den ich
morgen schreiben muß an Kemmerichs Mutter. Mich friert. Ich muchte
einen Schnaps trinken. Muller rupft Gruser aus und kaut daran. Plutzlich
wirft der kleine Kropp seine Zigarette weg, trampelt wild darauf herum,
sieht sich um, mit einem aufgelusten und versturten Gesicht, und stammelt:
"Verfluchte Scheiße, diese verfluchte Scheiße."
Wir gehen weiter, eine lange Zeit. Kropp hat sich beruhigt, wir kennen
das, es ist der Frontkoller, jeder hat ihn mal. Muller fragt ihn: "Was hat
dir der Kantorek eigentlich geschrieben?"
Er lacht: "Wir wuren die eiserne Jugend."
Wir lachen alle drei urgerlich. Kropp schimpft; er ist froh, daß
er reden kann. -
Ja, so denken sie, so denken sie, die hunderttausend Kantoreks! Eiserne
Jugend. Jugend! Wir sind alle nicht mehr als zwanzig Jahre. Aber jung?
Jugend? Das ist lange her. Wir sind alte Leute.
Es ist fur mich sonderbar, daran zu denken, daß zu Hause, in
einer Schreibtischlade, ein angefangenes Drama "Saul" und ein Stoß
Gedichte liegen. Manchen Abend habe ich daruber verbracht, wir haben ja fast
alle so etwas uhnliches gemacht; aber es ist mir so unwirklich geworden,
daß ich es mir nicht mehr richtig vorstellen kann.
Seit wir hier sind, ist unser fruheres Leben abgeschnitten, ohne
daß wir etwas dazu getan haben. Wir versuchen manchmal, einen
uberblick und eine Erklurung dafur zu gewinnen, doch es gelingt uns nicht
recht. Gerade fur uns Zwanzigjuhrige ist alles besonders unklar, fur Kropp,
Muller, Leer, mich, fur uns, die Kantorek als eiserne Jugend bezeichnet. Die
ulteren Leute sind alle fest mit dem Fruheren verbunden, sie haben Grund,
sie haben Frauen, Kinder, Berufe und Interessen, die schon so stark sind,
daß der Krieg sie nicht zerreißen kann. Wir Zwanzigjuhrigen aber
haben nur unsere Eltern und manche ein Mudchen. Das ist nicht viel - denn in
unserm Alter ist die Kraft der Eltern am schwuchsten, und die Mudchen sind
noch nicht beherrschend. Außer diesem gab es ja bei uns nicht viel
anderes mehr; etwas Schwurmertum, einige Liebhabereien und die Schule;
weiter reichte unser Leben noch nicht. Und davon ist nichts geblieben.
Kantorek wurde sagen, wir hutten gerade an der Schwelle des Daseins
gestanden. So uhnlich ist es auch. Wir waren noch nicht eingewurzelt. Der
Krieg hat uns weggeschwemmt. Fur die andern, die ulteren, ist er eine
Unterbrechung, sie kunnen uber ihn hinausdenken. Wir aber sind von ihm
ergriffen worden und wissen nicht, wie das enden soll. Was wir wissen, ist
vorluufig nur, daß wir auf eine sonderbare und schwermutige Weise
verroht sind, obschon wir nicht einmal oft mehr traurig werden.
Wenn Muller gern Kemmerichs Stiefel haben will, so ist er deshalb nicht
weniger teilnahmsvoll als jemand, der vor Schmerz nicht daran zu denken
wagte. Er weiß nur zu unterscheiden. Wurden die Stiefel Kemmerich
etwas nutzen, dann liefe Muller lieber barfuß uber Stacheldraht, als
groß zu uberlegen, wie er sie bekommt. So aber sind die Stiefel etwas,
das gar nichts mit Kemmerichs Zustand zu tun hat, wuhrend Muller sie gut
verwenden kann. Kemmerich wird sterben, einerlei, wer sie erhult. Warum soll
deshalb Muller nicht dahinter her sein, er hat doch mehr Anrecht darauf als
ein Sanituter! Wenn Kemmerich erst tot ist, ist es zu sput. Deshalb
paßt Muller eben jetzt schon auf.
Wir haben den Sinn fur andere Zusammenhunge verloren, weil sie
kunstlich sind. Nur die Tatsachen sind richtig und wichtig fur uns. Und gute
Stiefel sind selten.
Fruher war auch das anders. Als wir zum Bezirkskommando gingen, waren
wir noch eine Klasse von zwanzig jungen Menschen, die sich, manche zum
ersten Male, ubermutig gemeinsam rasieren ließ, bevor sie den
Kasernenhof betrat. Wir hatten keine festen Plune fur die Zukunft, Gedanken
an Karriere und Beruf waren bei den wenigsten praktisch bereits so bestimmt,
daß sie eine Daseinsform bedeuten konnten; - dafur jedoch steckten wir
voll Ungewisser Ideen, die dem Leben und auch dem Kriege in unseren Augen
einen idealisierten und fast romantischen Charakter verliehen.
Wir wurden zehn Wochen militurisch ausgebildet und in dieser Zeit
entscheidender umgestaltet als in zehn Jahren Schulzeit. Wir lernten,
daß ein geputzter Knopf wichtiger ist als vier Bunde Schopenhauer.
Zuerst erstaunt, dann erbittert und schließlich gleichgultig erkannten
wir, daß nicht der Geist ausschlaggebend zu sein schien, sondern die
Wichsburste, nicht der Gedanke, sondern das System, nicht die Freiheit,
sondern der Drill. Mit Begeisterung und gutem Willen waren wir Soldaten
geworden; aber man tat alles, um uns das auszutreiben. Nach drei Wochen war
es uns nicht mehr unfaßlich, daß ein betreßter Brieftruger
mehr Macht uber uns besaß als fruher unsere Eltern, unsere Erzieherund
sumtliche Kulturkreise von Plato bis Goethe zusammen. Mit unseren jungen,
wachen Augen sahen wir, daß der klassische Vaterlandsbegriff unserer
Lehrer sich hier vorluufig realisierte zu einem Aufgeben der Persunlichkeit,
wie man es dem geringsten Dienstboten nie zugemutet haben wurde.
Grußen, Strammstehen, Parademarsch, Gewehrprusentieren, Rechtsum,
Linksum, Hackenzusammenschlagen, Schimpfereien und tausend Schikanen: wir
hatten uns unsere Aufgabe anders gedacht und fanden, daß wir auf das
Heldentum wie Zirkuspferde vorbereitet wurden. Aber wir gewuhnten uns bald
daran. Wir begriffen sogar, daß ein Teil dieser Dinge notwendig, ein
anderer aber ebenso uberflussig war. Der Soldat hat dafur eine feine Nase.
Zu dreien und vieren wurde unsere Klasse uber die Korporalschaften
verstreut, zusammen mit friesischen Fischern, Bauern, Arbeitern und
Handwerkern, mit denen wir uns schnell anfreundeten. Kropp, Muller,
Kemmerich und ich kamen zur neunten Korporalschaft, die der Unteroffizier
Himmelstoß fuhrte.
Er galt als der schurfste Schinder des Kasernenhofes, und das war sein
Stolz. Ein kleiner, untersetzter Kerl, der zwulf Jahre gedient hatte, mit
fuchsigem, aufgewirbeltem Schnurrbart, im Zivilberuf Brieftruger. Auf Kropp,
Tjaden, Westhus und mich hatte er es besonders abgesehen, weil er unsern
stillen Trotz spurte.
Ich habe an einem Morgen vierzehnmal sein Bett gebaut. Immer wieder
fand er etwas daran auszusetzen und riß es herunter. Ich habe in
zwanzigstundiger Arbeit - mit Pausen naturlich - ein Paar uralte, steinharte
Stiefel so butterweich geschmiert, daß selbst Himmelstoß nichts
mehr daran auszusetzen fand; - ich habe auf seinen Befehl mit einer
Zahnburste die Korporalschaftsstube sauber geschrubbt; - Kropp und ich haben
uns mit einer Handburste und einem Fegeblech an den Auftrag gemacht, den
Kasernenhof vom Schnee reinzufegen, und wir hutten durchgehalten bis zum
Erfrieren, wenn nicht zufullig ein Leutnant aufgetaucht wure, der uns
fortschickte und Himmelstoß muchtig anschnauzte. Die Folge war leider
nur, daß Himmelstoß um so wutender auf uns wurde. Ich habe vier
Wochen hintereinander jeden Sonntag Wache geschoben und ebensolange
Stubendienst gemacht; - ich habe in vollem Gepuck mit Gewehrauf losem,
nassem Sturzacker "Sprung auf, marsch, marsch" und "Hinlegen" geubt, bis ich
ein Dreckklumpen war und zusammenbrach; - ich habe vier Stunden sputer
Himmelstoß mein tadellos gereinigtes Zeug vorgezeigt, allerdings mit
blutig geriebenen Hunden; - ich habe mit Kropp, Westhus und Tjaden ohne
Handschuhe bei scharfem Frost eine Viertelstunde "Stillgestanden" geubt, die
bloßen Finger am eisigen Gewehrlauf, lauernd umschlichen von
Himmelstoß, der auf die geringste Bewegung wartete, um ein Vergehen
festzustellen; - ich bin nachts um zwei Uhr achtmal im Hemd vom ob ersten
Stock der Kaserne heruntergerannt bis auf den Hof, weil meine Unterhose
einige Zentimeter uber den Rand des Schemels hinausragte, auf dem jeder
seine Sachen aufschichten mußte. Neben mir lief der Unteroffizier vom
Dienst, Himmelstoß, und trat mir auf die Zehen; - ich habe beim
Bajonettieren stundig mit Himmelstoß fechten mussen, wobei ich ein
schweres Eisengestell und er ein handliches Holzgewehr hatte, so daß
er mir bequem die Arme braun und blau schlagen konnte; allerdings geriet ich
dabei einmal so in Wut, daß ich ihn blindlings uberrannte und ihm
einen derartigen Stoß vor den Magen gab, daß er umfiel. Als er
sich beschweren wollte, lachte ihn der Kompaniefuhrer aus und sagte, er
solle doch aufpassen; erkannte seinen Himmelstoß und schien ihm den
Reinfall zu gunnen. - Ich habe mich zu einem perfekten Kletterer auf die
Spinde entwickelt; - ich suchte allmuhlich auch im Kniebeugen meinen
Meister; - wir haben gezittert, wenn wir nur seine Stimme hurten, aber
kleingekriegt hat uns dieses wildgewordene Postpferd nicht.
Als Kropp und ich im Barackenlager sonntags an einer Stange die
Latrineneimer uber den Hof schleppten und Himmelstoß, blitzblank
geschniegelt, zum Ausgehen bereit, gerade vorbeikam, sich vor uns hinstellte
und fragte, wie uns die Arbeit gefiele, markierten wir trotz allem ein
Stolpern und gussen ihm den Eimer uber die Beine. Er tobte, aber das
Maß war voll.
"Das setzt Festung", schrie er.
Kropp hatte genug. "Vorher aber eine Untersuchung, und da werden wir
auspacken", sagte er.
"Wie reden Sie mit einem Unteroffizier!" brullte Himmelstoß,
"sind Sie verruckt geworden? Warten Sie, bis Sie gefragt werden! Was wollen
Sie tun?"
"uber Herrn Unteroffizier auspacken!" sagte Kropp und nahm die Finger
an die Hosennaht.
Himmelstoß merkte nun doch, was los war, und schob ohne ein Wort
ab. Bevor er verschwand, krakehlte er zwar noch: "Das werde ich euch
eintrunken", - aber es war vorbei mit seiner Macht. Er versuchte es noch
einmal in den Sturzuckern mit "Hinlegen" und "Sprung auf, marsch, marsch".
Wir befolgten zwar jeden Befehl; denn Befehl ist Befehl, er muß
ausgefuhrt werden. Aber wir fuhrten ihn so langsam aus, daß
Himmelstoß in Verzweiflung geriet.
Gemutlich gingen wir auf die Knie, dann auf die Arme und so fort;
inzwischen hatte er schon wutend ein anderes Kommando gegeben. Bevor wir
schwitzten, war er heiser. Er ließ uns dann in Ruhe. Zwar bezeichnete
er uns immer noch als Schweinehunde. Aber es lag Achtung darin.
Es gab auch viele anstundige Korporale, die vernunftiger waren; die
anstundigen waren sogar in der uberzahl. Aber vor allem wollte jeder seinen
guten Posten hier in der Heimat so lange behalten wie muglich, und das
konnte er nur, wenn er stramm mit den Rekruten war.
Uns ist dabei wohl jeder Kasernenhofschliff zuteil geworden, der
muglich war, und oft haben wir vor Wut geheult. Manche von uns sind auch
krank dadurch geworden. Wolf ist sogar an Lungenentzundung gestorben. Aber
wir wuren uns lucherlich vorgekommen, wenn wir klein beigegeben hutten. Wir
wurden hart, mißtrauisch, mitleidlos, rachsuchtig, roh - und das war
gut; denn diese Eigenschaften fehlten uns gerade. Hutte man uns ohne diese
Ausbildungszeit in den Schutzengraben geschickt, dann wuren wohl die meisten
von uns verruckt geworden. So aber waren wir vorbereitet fur das, was uns
erwartete.
Wir zerbrachen nicht, wir paßten uns an; unsere zwanzig Jahre,
die uns manches andere so schwer machten, halfen uns dabei. Das Wichtigste
aber war, daß in uns ein festes, praktisches Zusammen
gehurigkeitsgefuhl erwachte, das sich im Felde dann zum Besten
steigerte, was der Krieg hervorbrachte: zur Kameradschaft!
Ich sitze am Bette Kemmerichs. Er verfullt mehr und mehr. Um uns ist
viel Radau. Ein Lazarettzug ist angekommen, und die transportfuhigen
Verwundeten werden ausgesucht. An Kemmerichs Bett geht der Arzt vorbei, er
sieht ihn nicht einmal an.
"Das nuchstemal, Franz", sage ich.
Er hebt sich in den Kissen auf die Ellbogen. "Sie haben mich
amputiert."
Das weiß er also doch jetzt. Ich nicke und antworte:
"Sei froh, daß du so weggekommen bist."
Er schweigt.
Ich rede weiter: "Es konnten auch beide Beine sein, Franz. Wegeler hat
den rechten Arm verloren. Das ist viel schlimmer. Du kommst ja auch nach
Hause."
Er sieht mich an. "Meinst du?"
"Naturlich."
Er wiederholt: "Meinst du?"
" Sicher, Franz. Du mußt dich nur erst von der Operation
erholen."
Er winkt mir, heranzurucken. Ich beuge mich uber ihn, und er flustert:
"Ich glaube es nicht."
"Rede keinen Quatsch, Franz, in ein paar Tagen wirst du es selbst
einsehen. Was ist das schon groß: ein amputiertes Bein; hier werden
ganz andere Sachen wieder zurechtgepflastert."
Er hebt eine Hand hoch. "Sieh dir das mal an, diese Finger."
"Das kommt von der Operation. Futtere nur ordentlich, dann wirst du
schon aufholen. Habt ihr anstundige Verpflegung?"
Er zeigt auf eine Schussel, die noch halb voll ist. Ich gerate in
Erregung. "Franz, du mußt essen. Essen ist die Hauptsache. Das ist
doch ganz gut hier."
Er wehrt ab. Nach einer Pause sagt er langsam: "Ich wollte mal
Oberfurster werden."
"Das kannst du noch immer", truste ich. "Es gibt jetzt großartige
Prothesen, du merkst damit gar nicht, daß dir etwas fehlt. Sie werden
an die Muskeln angeschlossen. Bei Handprothesen kann man die Finger bewegen
und arbeiten, sogar schreiben. Und außerdem wird da immer noch mehr
erfunden werden."
Er liegt eine Zeitlang still. Dann sagt er: " Du kannst meine
Schnurschuhe fur Muller mitnehmen.
Ich nicke und denke nach, was ich ihm Aufmunterndes sagen kann. Seine
Lippen sind weggewischt, sein Mund ist grußer geworden, die Zuhne
stechen hervor, als wuren sie aus Kreide. Das Fleisch zerschmilzt, die Stirn
wulbt sich sturker, die Backenknochen stehen vor. Das Skelett arbeitet sich
durch. Die Augen versinken schon. In ein paar Stunden wird es vorbei sein.
Er ist nicht der erste, den ich so sehe; aber wir sind zusammen
aufgewachsen, da ist es doch immer etwas anders. Ich habe die Aufsutze von
ihm abgeschrieben. Er trug in der Schule meistens einen braunen Anzug mit
Gurtel, der an den urmeln blankgewetzt war. Auch war er der einzige von uns,
der die große Riesenwelle am Reck konnte. Das Haar flog ihm wie Seide
ms Gesicht, wenn er sie machte. Kantorek war deshalb stolz auf ihn. Aber
Zigaretten konnte er nicht vertragen. Seine Haut war sehr weiß, er
hatte etwas von einem Mudchen.
Ich blicke auf meine Stiefel. Sie sind groß und klobig, die Hose
ist hineingeschoben; wenn man aufsteht, sieht man dick und kruftig in diesen
breiten Ruhren aus. Aber wenn wir baden gehen und uns ausziehen, haben wir
plutzlich wieder schmale Beine und schmale Schultern. Wir sind dann keine
Soldaten mehr, sondern beinahe Knaben, man wurde auch nicht glauben,
daß wir Tornister schleppen kunnen. Es ist ein sonderbarer Augenblick,
wenn wir nackt sind; dann sind wir Zivilisten und fuhlen uns auch beinahe
so.
Franz Kemmerich sah beim Baden klein und schmal aus wie ein Kind. Da
liegt er nun, weshalb nur? Man sollte die ganze Welt an diesem Bette
vorbeifuhren und sagen: Das ist Franz Kemmerich, neunzehneinhalb Jahre alt,
er will nicht sterben. Laßt ihn nicht sterben!
Meine Gedanken gehen durcheinander. Diese Luft von Karbol und Brand
verschleimt die Lungen, sie ist ein truger Brei, der erstickt.
Es wird dunkel. Kemmerichs Gesicht verbleicht, es hebt sich von den
Kissen und ist so blaß, daß es schimmert. Der Mund bewegt sich
leise. Ich nuhere mich ihm. Er flustert: "Wenn ihr meine Uhr findet, schickt
sie nach Hause."
Ich widerspreche nicht. Es hat keinen Zweck mehr. Man kann ihn nicht
uberzeugen. Mir ist elend vor Hilflosigkeit. Diese Stirn mit den
eingesunkenen Schlufen, dieser Mund, der nur noch Gebiß ist, diese
spitze Nase! Und die dicke weinende Frau zu Hause, an die ich schreiben
muß. Wenn ich nur den Brief schon weg hutte.
Lazarettgehilfen gehen herum mit Flaschen und Eimern. Einer kommt
heran, wirft Kemmerich einen forschenden Blick zu und entfernt sich wieder.
Man sieht, daß er wartet, wahrscheinlich braucht er das Bett.
Ich rucke nahe an Franz heran und spreche, als kunnte ihn das retten:
"Vielleicht kommst du in das Erholungsheim am Klosterberg, Franz, zwischen
den Villen. Du kannst dann vom Fenster aus uber die Felder sehen bis zu den
beiden Buumen am Horizont. Es ist jetzt die schunste Zeit, wenn das Korn
reift, abends in der Sonne sehen die Felder dann aus wie Perlmutter. Und die
Pappelauee am Klosterbach, in dem wir Stichlinge gefangen haben! Du kannst
dir dann wieder ein Aquarium anlegen und Fische zuchten, du kannst ausgehen
und brauchst niemand zu fragen, und Klavierspielen kannst du sogar auch,
wenn du willst."
Ich beuge mich uber sein Gesicht, das im Schatten liegt. Er atmet noch,
leise. Sein Gesicht ist naß, er weint. Da habe ich ja schunen Unsinn
angerichtet mit meinem dummen Gerede!
"Aber Franz" - ich umfasse seine Schulter und lege mein Gesicht an
seins. "Willst du jetzt schlafen?"
Er antwortet nicht. Die Trunen laufen ihm die Backen herunter. Ich
muchte sie abwischen, aber mein Taschentuch ist zu schmutzig.
Eine Stunde vergeht. Ich sitze gespannt und beobachte jede seiner
Mienen, ob er vielleicht noch etwas sagen muchte. Wenn er doch den Mund
auftun und schreien wollte! Aber er weint nur, den Kopf zur Seite gewandt.
Er spricht nicht von seiner Mutter und seinen Geschwistern, er sagt nichts,
es liegt wohl schon hinter ihm; - er ist
jetzt allein mit seinem kleinen neunzehnjuhrigen Leben und weint, weil
es ihn verlußt.
Dies ist der fassungsloseste und schwerste Abschied, den ich je gesehen
habe, obwohl es beiTiedjen auch schlimm war, der nach seiner Mutter brullte,
ein burenstarker Kerl, und der den Arzt mit aufgerissenen Augen angstvoll
mit einem Seitengewehr von seinem Bett fernhielt, bis er zusammenklappte.
Plutzlich stuhnt Kemmerich und fungt an zu rucheln.
Ich springe auf, stolpere hinaus und frage: "Wo ist der Arzt? Wo ist
der Arzt?"
Als ich den weißen Kittel sehe, halte ich ihn fest. "Kommen Sie
rasch, Franz Kemmerich stirbt sonst."
Er macht sich los und fragt einen dabeistehenden Lazarettgehilfen: "Was
soll das heißen?"
Der sagt: "Bett 26, Oberschenkel amputiert."
Er schnauzt: "Wie soll ich davon etwas wissen, ich habe heute funf
Beine amputiert", schiebt mich weg, sagt dem Lazarettgehilfen: "Sehen Sie
nach", und rennt zum Operationssaal.
Ich bebe vor Wut, als ich mit dem Sanituter gehe. Der Mann sieht mich
an und sagt: "Eine Operation nach der andern, seit morgens funf Uhr - doll,
sage ich dir, heute allein wieder sechzehn Abgunge - deiner ist der
siebzehnte. Zwanzig werden sicher noch voll -"
Mir wird schwach, ich kann plutzlich nicht mehr. Ich will nicht mehr
schimpfen, es ist sinnlos, ich muchte mich fallen lassen und nie wieder
aufstehen.
Wir sind am Bette Kemmerichs. Er ist tot. Das Gesicht ist noch
naß von den Trunen. Die Augen stehen halb offen, sie sind gelb wie
alte Hornknupfe. -
Der Sanituter stußt mich in die Rippen.
"Nimmst du seine Sachen mit?"
Ich nicke.
Er fuhrt fort: "Wir mussen ihn gleich wegbringen, wir brauchen das
Bett. Draußen liegen sie schon auf dem Flur."
Ich nehme die Sachen und knupfe Kemmerich die Erkennungsmarke ab. Der
Sanituter fragt nach dem Soldbuch. Es ist nicht da.
Ich sage, daß es wohl auf der Schreibstube sein musse, und gehe.
Hinter mir zerren sie Franz schon auf eine Zeltbahn.
Vor der Tur fuhle ich wie eine Erlusung das Dunkel und den Wind. Ich
atme, so sehr ich es vermag, und spure die Luft warm und weich wie nie in
meinem Gesicht. Gedanken an Mudchen, an bluhende Wiesen, an weiße
Wolken fliegen mir plutzlich durch den Kopf. Meine Fuße bewegen sich
in den Stiefeln vorwurts, ich gehe schneller, ich laufe. Soldaten kommen an
mir voruber, ihre Gespruche erregen mich, ohne daß ich sie verstehe.
Die Erde ist von Kruften durchflossen, die durch meine Fußsohlen in
mich uberstrumen. Die Nacht knistert elektrisch, die Front gewittert dumpf
wie ein Trommelkonzert. Meine Glieder bewegen sich geschmeidig, ich fuhle
meine Gelenke stark, ich schnaufe und schnaube. Die Nacht lebt, ich lebe.
Ich spure Hunger, einen grußeren als nur vom Magen. -
Muller steht vor der Baracke und erwartet mich. Ich gebe ihm die
Schuhe. Wir gehen hinein, und er probiert sie an. Sie passen genau. -
Er kramt in seinen Vorruten und bietet mir ein schunes Stuck
Zervelatwurst an. Dazu gibt es heißen Tee mit Rum.
Wir bekommen Ersatz. Die Lucken werden ausgefullt, und die Strohsucke
in den Baracken sind bald belegt. Zum Teil sind es alte Leute, aber auch
funfundzwanzig Mann junger Ersatz aus den Feldrekrutendepots werden uns
uberwiesen. Sie sind fast ein Jahr junger als wir. Kropp stußt mich
an: "Hast du die Kinder gesehen?"
Ich nicke. Wir werfen uns in die Brust, lassen uns auf dem Hof
rasieren, stecken die Hunde in die Hosentaschen, sehen uns die Rekruten an
und fuhlen uns als steinaltes Militur.
Katczinsky schließt sich uns an. Wir wandern durch die
Pferdestulle und kommen zu den Ersatzleuten, die gerade Gasmasken und Kaffee
empfangen. Kat fragt einen der jungsten: "Habt wohl lange nichts
Vernunftiges zu futtern gekriegt, was?"
Der verzieht das Gesicht. "Morgens Steckrubenbrot - mittags
Steckrubengemuse, abends Steckrubenkoteletts und Steckrubensalat."
Katczinsky pfeift fachmunnisch. "Brot aus Steckruben? Da habt ihr Gluck
gehabt, sie machen es auch schon aus Sugespunen. Aber was meinst du zu
weißen Bohnen, willst du einen Schlag haben?"
Der Junge wird rot. "Verkohlen brauchst du mich nicht."
Katczinsky antwortet nichts als: "Nimm dein Kochgeschirr."
Wir folgen neugierig. Er fuhrt uns zu einer Tonne neben seinem
Strohsack. Sie ist tatsuchlich halb voll weißer Bohnen mit
Rindfleisch. Katczinsky steht vor ihr wie ein General und sagt: "Auge auf,
Finger lang! Das ist die Parole bei den Preußen."
Wir sind uberrascht. Ich frage: "Meine Fresse, Kat, wie kommst du denn
dazu?"
"Die Tomate war froh, als ich ihr's abnahm. Ich habe drei Stuck
Fallschirmseide dafur gegeben. Na, weiße Bohnen schmecken kalt doch
tadellos."
Er gibt gunnerhaft dem Jungen eine Portion auf und sagt: "Wenn du das
nuchstemal hier antrittst mit deinem Kochgeschirr, hast du in der linken
Hand eine Zigarre oder einen Priem. Verstanden?"
Dann wendet er sich zu uns. "Ihr kriegt naturlich so."
Katczinsky ist nicht zu entbehren, weil er einen sechsten Sinn hat. Es
gibt uberall solche Leute, aber niemand sieht ihnen von vornherein an,
daß es so ist. Jede Kompanie hat einen oder zwei davon. Katczinsky ist
der gerissenste, den ich kenne. Von Beruf ist er, glaube ich, Schuster, aber
das tut nichts zur Sache, er versteht jedes Handwerk. Es ist gut, mit ihm
befreundet zu sein. Wir sind es, Kropp und ich, auch Haie Westhus gehurt
halb und halb dazu. Er ist allerdings schon mehr ausfuhrendes Organ, denn er
arbeitet unter dem Kommando Kats, wenn eine Sache geschmissen wird, zu der
man Fuuste braucht. Dafur hat er dann seine Vorteile.
Wir kommen zum Beispiel nachts in einen vullig unbekannten Ort, ein
trubseliges Nest, dem man gleich ansieht, daß es ausgepowert ist bis
auf die Mauern. Quartier ist eine kleine, dunkle Fabrik, die erst dazu
eingerichtet worden ist. Es stehen Betten darin, vielmehr nur Bettstellen,
ein paar Holzlatten, die mit Drahtgeflecht bespannt sind.
Drahtgeflecht ist hart. Eine Decke zum Unterlegen haben wir nicht, wir
brauchen unsere zum Zudecken. Die Zeltbahn ist zu dunn.
Kat sieht sich die Sache an und sagt zu Haie Westhus: "Komm mal mit."
Sie gehen los, in den vullig unbekannten Ort hinein. Eine halbe Stunde
sputer sind sie wieder da, die Arme hoch voll Stroh. Kat hat einen
Pferdestall gefunden und damit das Stroh. Wir kunnten jetzt warm schlafen,
wenn wir nicht noch einen so entsetzlichen Kohldampf hutten.
Kropp fragt einen Artilleristen, der schon lunger in der Gegend ist:
"Gibt es hier irgendwo eine Kantine?"
Der lacht: "Hat sich was! Hier ist nichts zu holen. Keine Brotrinde
holst du hier."
"Sind denn keine Einwohner mehr da?"
Er spuckt aus. "Doch, ein paar. Aber die lungern selbst um jeden
Kuchenkessel herum und betteln."
Das ist eine buse Sache. Dann mussen wir eben den Schmachtriemen enger
schnallen und bis morgen warten, wenn die Furage kommt.
Ich sehe jedoch, wie Kat seine Mutze aufsetzt, und frage: "Wo willst du
hin, Kat?"
"Mal etwas die Lage spannen." Er schlendert hinaus.
Der Artillerist grinst huhnisch. "Spann man! Verheb dich nicht dabei."
Enttuuscht legen wir uns hin und uberlegen, ob wir die eisernen
Portionen anknabbern sollen. Aber es ist uns zu riskant. So versuchen wir
ein Auge voll Schlaf zu nehmen.
Kropp bricht eine Zigarette durch und gibt mir die Hulfte. Tjaden
erzuhlt von seinem Nationalgericht, großen Bohnen mit Speck. Er
verdammt die Zubereitung ohne Bohnenkraut. Vor allem aber soll man alles
durcheinander kochen, um Gottes willen nicht die Kartoffeln, die Bohnen und
den Speck getrennt. Jemand knurrte, daß er Tjaden zu Bohnenkraut
verarbeiten wurde, wenn er nicht sofort still wure. Darauf wird es ruhig in
dem großen Raum. Nur ein paar Kerzen flackern in den Flaschenhulsen,
und ab und zu spuckt der Artillerist aus.
Wir duseln ein bißchen, als die Tur aufgeht und Kat erscheint.
Ich glaube zu truumen: er hat zwei Brote unter dem Arm und in der Hand einen
blutigen Sandsack mit Pferdefleisch.
Dem Artilleristen fullt die Pfeife aus dem Munde. Er betastet das Brot.
"Tatsuchlich, richtiges Brot, und noch warm."
Kat redet nicht weiter daruber. Er hat eben Brot, das andere ist egal.
Ich bin uberzeugt, wenn man ihn in der Wuste aussetzte, wurde er in einer
Stunde ein Abendessen aus Datteln, Braten und Wein zusammenfinden.
Er sagt kurz zu Haie: "Hack Holz."
Dann holt er eine Bratpfanne unter seinem Rock hervor und zieht eine
Handvoll Salz und sogar eine Scheibe Fett aus der Tasche; - er hat an alles
gedacht. Haie macht auf dem Fußboden ein Feuer. Es prasselt durch die
kahle Fabrikhalle. Wir klettern aus den Betten.
Der Artillerist schwankt. Er uberlegt, ob er loben soll, damit
vielleicht auch etwas fur ihn abfullt. Aber Katczinsky sieht ihn gar nicht,
so sehr ist er Luft fur ihn. Da zieht er fluchend ab.
Kat kennt die Art, Pferdefleisch weichzubraten. Es darf nicht gleich in
die Pfanne, dann wird es hart. Vorher muß es in wenig Wasser
vorgekocht werden. Wir hocken uns mit unsern Messern im Kreis und schlagen
uns den Magen voll.
Das ist Kat. Wenn in einem Jahr in einer Gegend nur eine Stunde lang
etwas Eßbares aufzutreiben wure, so wurde er genau in dieser Stunde,
wie von einer Erleuchtung getrieben, seine Mutze aufsetzen, hinausgehen,
geradewegs wie nach einem Kompaß darauf zu, und es finden.
Er findet alles; - wenn es kalt ist, kleine Ofen und Holz, Heu und
Stroh, Tische, Stuhle - vor allem aber Fressen. Es ist rutselhaft, man
sollte glauben, er zaubere es aus der Luft. Seine Glanzleistung waren vier
Dosen Hummer. Allerdings hutten wir lieber Schmalz dafur gehabt.
Wir haben uns auf der Sonnenseite der Baracken hingehauen. Es riecht
nach Teer, Sommer und Schweißfußen.
Kat sitzt neben mir, denn er unterhult sich gern. Wir haben heute
mittag eine Stunde Ehrenbezeigungen geubt, weil Tjaden einen Major
nachlussig gegrußt hat. Das will Kat nicht aus dem Kopf. Er
uußert: "Paß auf, wir verlieren den Krieg, weil wir zu gut
grußen kunnen."
Kropp storcht nuher, barfuß, die Hosen aufgekrempelt. Er legt
seine gewaschenen Socken zum Trocknen aufs Gras. Kat sieht in den Himmel,
lußt einen kruftigen Laut huren und sagt versonnen dazu: "Jedes
Buhnchen gibt ein Tunchen."
Die beiden fangen an zu disputieren. Gleichzeitig wetten sie um eine
Flasche Bier auf einen Fliegerkampf, der sich uber uns abspielt.
Kat lußt sich nicht von seiner Meinung abbringen, die er als
altes Frontschwein wieder in Reimen von sich gibt: "Gleiche Luhnung,
gleiches Essen, war'der Krieg schon lungst vergessen." -
Kropp dagegen ist ein Denker. Er schlugt vor, eine Kriegserklurung
solle eine Art Volksfest werden mit Eintrittskarten und Musik wie bei
Stiergefechten. Dann mußten in der Arena die Minister und Generule der
beiden Lunder in Badehosen, mit Knuppeln bewaffnet, aufeinander losgehen.
Wer ubrigbliebe, dessen Land hutte gesiegt. Das wure einfacher und besser
als hier, wo die falschen Leute sich bekumpfen.
Der Vorschlag gefullt. Dann gleitet das Gespruch auf den Kasernendrill
uber.
Mir fullt dabei ein Bild ein. Gluhender Mittag auf dem Kasernenhof. Die
Hitze steht uber dem Platz. Die Kasernen wirken wie ausgestorben. Alles
schluft. Man hurt nur Trommler uben, irgendwo haben sie sich aufgestellt und
uben, ungeschickt, eintunig, stumpfsinnig. Welch ein Dreiklang:
Mittagshitze, Kasernenhof und Trommeluben!
Die Fenster der Kaserne sind leer und dunkel. Aus einigen hungen
trocknende Drillichhosen. Man sieht sehnsuchtig hinuber. Die Stuben sind
kuhl. -
Oh, ihr dunklen, muffigen Korporalschaftsstuben mit den eisernen
Bettgestellen, den gewurfelten Betten, den Spindschrunken und den Schemeln
davor! Selbst ihr kunnt das Ziel von Wunschen werden; hier draußen
seid ihr sogar ein sagenhafter Abglanz von Heimat, ihr Gelasse voll Dunst
von abgestandenen Speisen, Schlaf, Rauch und Kleidern!
Katczinsky beschreibt sie mit Farbenpracht und großer Bewegung.
Was wurden wir geben, wenn wir zu ihnen zuruck kunnten! Denn weiter wagen
sich unsre Gedanken schon gar nicht -
Ihr Instruktionsstunden in der Morgenfruhe - "Worin zerfullt das Gewehr
98?" - ihr Turnstunden am Nachmittag - "Klavierspieler vortreten. Rechts
heraus. Meldet euch in der Kuche zum Kartoffelschulen" -
Wir schwelgen in Erinnerungen. Kropp lacht plutzlich und sagt: "In
Luhne umsteigen."
Das war das liebste Spiel unseres Korporals. Luhne ist ein
Umsteigebahnhof. Damit unsre Urlauber sich dort nicht verlaufen sollten,
ubte Himmelstoß das Umsteigen mit uns in der Kasernenstube. Wir
sollten lernen, daß man in Luhne durch eine Unterfuhrung zum
Anschlußzug gelangte. Die Betten stellten die Unterfuhrung dar, und
jeder baute sich links davon auf. Dann kam das Kommando: "In Luhne
umsteigen!", und wie der Blitz kroch alles unter den Betten hindurch auf die
andere Seite. Das haben wir stundenlang geubt. -
Inzwischen ist das deutsche Flugzeug abgeschossen worden. Wie ein Komet
sturzt es in einer Rauchfahne abwurts. Kropp hat dadurch eine Flasche Bier
verloren und zuhlt mißmutig sein Geld.
"Der Himmelstoß ist als Brieftruger sicher ein bescheidener
Mann", sagte ich, nachdem sich Alberts Enttuuschung gelegt hat, "wie mag es
nur kommen, daß er als Unteroffizier ein solcher Schinder ist?"
Die Frage macht Kropp wieder mobil. "Das ist nicht nur Himmelstoß
allein, das sind sehr viele. Sowie sie Tressen oder einen Subel haben,
werden sie andere Menschen, als ob sie Beton gefressen hutten."
"Das macht die Uniform", vermute ich.
"So ungefuhr", sagt Kat und setzt sich zu einer großen Rede
zurecht, "aber der Grund liegt anderswo. Sieh mal, wenn du einen Hund zum
Kartoffelfressen abrichtest und du legst ihm dann nachher ein Stuck Fleisch
hin, so wird er trotzdem danach schnappen, weil das in seiner Natur liegt.
Und wenn du einem Menschen ein Stuckchen Macht gibst, dann geht es ihm
ebenso; er schnappt danach. Das kommt ganz von selber, denn der Mensch ist
an und fur sich zunuchst einmal ein Biest, und dann erst ist vielleicht
noch, wie bei einer Schmalzstulle, etwas Anstundigkeit draufgeschmiert. Der
Kommiß besteht nun darin, daß immer einer uber den andern Macht
hat. Das Schlimme ist nur, daß jeder viel zuviel Macht hat; ein
Unteroffizier kann einen Gemeinen, ein Leutnant einen Unteroffizier, ein
Hauptmann einen Leutnant derartig zwiebeln, daß er verruckt wird. Und
weil er das weiß, deshalb gewuhnt er es sich gleich schon etwas an.
Nimm nur die einfachste Sache: wir kommen vom Exerzierplatz und sind
hundemude. Da wird befohlen: Singen! Na, es wird ein schlapper Gesang, denn
jeder ist froh, daß er sein Gewehr noch schleppen kann. Und schon
macht die Kompanie kehrt und muß eine Stunde strafexerzieren. Beim
Ruckmarsch heißt es wieder: 'Singen!', und jetzt wird gesungen. Was
hat das Ganze fur einen Zweck? Der Kompaniefuhrer hat seinen Kopf
durchgesetzt, weil er die Macht dazu hat. Niemand wird ihn tadeln, im
Gegenteil, er gilt als stramm. Dabei ist so etwas nur eine Kleinigkeit, es
gibt doch noch ganz andere Sachen, womit sie einen schinden. Nun frage ich
euch: Mag der Mann in Zivil sein, was er will, in welchem Beruf kann er sich
so etwas leisten, ohne daß ihm die Schnauze eingeschlagen wird ? Das
kann er nur beim Kommiß! Seht ihr, und das steigt jedem zu Kopf! Und
es steigt ihm um so mehr zu Kopf, je weniger er als Zivilist zu sagen
hatte."
"Es heißt eben, Disziplin muß sein -", meint Kropp
nachlussig.
" Grunde", knurrt Kat, "haben sie immer. Mag ja auch sein. Aber es darf
keine Schikane werden. Und mach du das mal einem Schlosser oder Knecht oder
Arbeiter klar, erklure das mal einem Muskoten, und das sind doch die meisten
hier; der sieht nur, daß er geschunden wird und ins Feld kommt, und er
weiß ganz genau, was notwendig ist und was nicht. Ich sage euch,
daß der einfache Soldat hier vorn so aushult, das ist allerhand!
Allerhand ist das!"
Jeder gibt es zu, denn jeder weiß, daß nur im
Schutzengraben der Drill aufhurt, daß er aber wenige Kilometer hinter
der Front schon wieder beginnt, und sei es mit dem grußten Unsinn, mit
Grußen und Parademarsch. Denn es ist eisernes Gesetz: Der Soldat
muß auf jeden Fall beschuftigt werden.
Doch nun erscheint Tjaden, mit roten Flecken im Gesicht. Er ist so
aufgeregt, daß er stottert. Strahlend buchstabiert er:
"Himmelstoß ist unterwegs nach hier. Er kommt an die Front."
Tjaden hat eine Hauptwut auf Himmelstoß, weil der ihn im
Barackenlager auf seine Weise erzogen hat. Tjaden ist Bettnusser, nachts
beim Schlafen passiert es ihm eben. Himmelstoß behauptet steif und
fest, es sei nur Faulheit, und er fand ein seiner wurdiges Mittel, um Tjaden
zu heilen. Er trieb in der benachbarten Baracke einen zweiten Bettnusser
auf, der Kindervater hieß. Den quartierte er mit Tjaden zusammen. In
den Baracken standen die typischen Bettgestelle, zwei Betten ubereinander,
die Bettbuden aus Draht. Himmelstoß legte beide nun so zusammen,
daß der eine das obere, der andere das darunter befindliche Bett
bekam. Der untere war dadurch naturlich scheußlich daran. Dafur wurde
am nuchsten Abend gewechselt, der untere kam nach oben, damit er Vergeltung
hatte. Das war Himmelstoß' Selbsterziehung.
Der Einfall war gemein, aber in der Idee gut. Leider nutzte er nichts,
weil die Voraussetzung nicht stimmte: es war keine Faulheit bei den beiden.
Das konnte jeder merken, der ihre fahle Haut ansah. Die Sache endete damit,
daß immer einer von beiden auf dem Fußboden schlief. Er hutte
sich leicht dabei erkulten kunnen. -
Haie hat sich inzwischen auch neben uns niedergelassen. Er blinzelt mir
zu und reibt anduchtig seine Tatze. Wir haben zusammen den schunsten Tag
unseres Kommißlebens erlebt. Das war der Abend, bevor wir ins Feld
fuhren. Wir waren einem der Regimenter mit der hohen Hausnummer zugeteilt,
vorher aber zur Einkleidung in die Garnison zuruckbefurdert worden,
allerdings nicht zum Rekrutendepot, sondern in eine andere Kaserne. Am
nuchsten Morgen fruh sollten wir abfahren. Abends machten wir uns auf, um
mit Himmelstoß abzurechnen. Das hatten wir uns seit Wochen geschworen.
Kropp war sogar so weit gegangen, daß er sich vorgenommen hatte, im
Frieden das Postfach einzuschlagen, um sputer, wenn Himmelstoß wieder
Brieftruger war, sein Vorgesetzter zu werden. Er schwelgte in Bildern, wie
er ihn schleifen wurde. Denn das war es gerade, weshalb er uns nicht
kleinkriegen konnte; wir rechneten stets damit, daß wir ihn schon
einmal schnappen wurden, sputestens am Kriegsende.
Einstweilen wollten wir ihn grundlich verhauen. Was konnte uns schon
passieren, wenn er uns nicht erkannte und wir ohnehin morgen fruh abfuhren.
Wir wußten, in welcher Kneipe er jeden Abend saß. Wenn er
von dort zur Kaserne ging, mußte er durch eine dunkle, unbebaute
Straße. Dort lauerten wir ihm hinter einem Steinhaufen auf. Ich hatte
einen Bettuberzug bei mir. Wir zitterten vor Erwartung, ob er auch allein
sein wurde. Endlich hurten wir seinen Schritt, den kannten wir genau, wir
hatten ihn oft genug morgens gehurt, wenn die Tur aufflog und "Aufstehen!"
gebrullt wurde.
"Allein?" flusterte Kropp.
"Allein!" - Ich schlich mit Tjaden um den Steinhaufen herum.
Da blitzte schon sein Koppelschloß. Himmelstoß schien etwas
angeheitert zu sein; er sang. Ahnungslos ging er voruber.
Wir faßten das Bettuch, machten einen leisen Satz, stulpten es
ihm von hinten uber den Kopf, rissen es nach unten, so daß er wie in
einem weißen Sack dastand und die Arme nicht heben konnte. Das Singen
erstarb.
Im nuchsten Moment war Haie Westhus heran. Mit ausgebreiteten Armen
warf er uns zuruck, um nur ja der erste zu sein. Er stellte sich
genußreich in Positur, hob den Arm wie einen Signalmast, die Hand wie
eine Kohlenschaufel und knallte einen Schlag auf den weißen Sack, der
einen Ochsen hutte tuten kunnen.
Himmelstoß uberschlug sich, landete funf Meter weiter und fing an
zu brullen. Auch dafur hatten wir gesorgt, denn wir hatten ein Kissen bei
uns. Haie hockte sich hin, legte das Kissen auf die Knie, packte
Himmelstoß da, wo der Kopf war, und druckte ihn auf das Kissen. Sofort
wurde er im Ton gedumpfter. Haie ließ ihn ab und zu mal Luft
schnappen, dann kam aus dem Gurgeln ein prachtvoller heller Schrei, der
gleich wieder zart wurde.
Tjaden knupfte jetzt Himmelstoß die Hosentruger ab und zog ihm
die Hose herunter. Die Klopfpeitsche hielt er dabei mit den Zuhnen fest.
Dann erhob er sich und begann sich zu bewegen.
Es war ein wunderbares Bild: Himmelstoß auf der Erde, uber ihn
gebeugt, seinen Kopf auf den Knien, Haie mit teuflisch grinsendem Gesicht
und vor Lust offenem Maul, dann die zuckende, gestreifte Unterhose mit den
X-Beinen, die in der heruntergeschobenen Hose bei jedem Schlag die
originellsten Bewegungen machten, und daruber wie ein Holzhacker der
unermudliche Tjaden. Wir mußten ihn schließlich geradezu
wegreißen, um auch noch an die Reihe zu kommen.
Endlich stellte Haie Himmelstoß wieder auf die Beine und gab als
Schluß eine Privatvorstellung. Er schien Sterne pflucken zu wollen, so
holte seine Rechte aus zu einer Backpfeife. Himmelstoß kippte um. Haie
hob ihn wieder auf, stellte ihn sich parat und langte ihm ein zweites,
erstklassig gezieltes Ding mit der linken Hand. Himmelstoß heulte und
fluchtete auf allen vieren. Sein gestreifter Brieftrugerhintern leuchtete im
Mond.
Wir verschwanden im Galopp.
Haie sah sich noch einmal um und sagte ingrimmig, gesuttigt und etwas
rutselhaft: "Rache ist Blutwurst." -
Eigentlich konnte Himmelstoß froh sein; denn sein Wort, daß
immer einer den andern erziehen musse, hatte an ihm selbst Fruchte getragen.
Wir waren gelehrige Schuler seiner Methoden geworden.
Er hat nie heraus gekriegt, wem er die Sache verdankte. Immerhin gewann
er dabei ein Bettuch; denn als wir einige Stunden sputer noch einmal
nachsahen, war es nicht mehr zu finden.
Dieser Abend war der Grund, daß wir am nuchsten Morgen
einigermaßen gefaßt abfuhren. Ein wehender Vollbart bezeichnete
uns deshalb ganz geruhrt als Heldenjugend.
Wir mussen nach vorn zum Schanzen. Beim Dunkelwerden rollen die
Lastwagen an. Wir klettern hinauf. Es ist ein warmer Abend, und die
Dummerung erscheint uns wie ein Tuch, unter dessen Schutz wir uns wohl
fuhlen. Sie verbindet uns; sogar der geizige Tjaden schenkt mir eine
Zigarette und gibt mir Feuer.
Wir stehen nebeneinander, dicht an dicht, sitzen kann niemand. Das sind
wir auch nicht gewuhnt. Muller ist endlich mal guter Laune; er trugt seine
neuen Stiefel.
Die Motoren brummen an, die Wagen klappern und rasseln. Die
Straßen sind ausgefahren und voller Lucher. Es darf kein Licht gemacht
werden, deshalb rumpeln wir hinein, daß wir fast aus dem Wagen
purzeln. Das beunruhigt uns nicht weiter. Was kann schon passieren; ein
gebrochener Arm ist besser als ein Loch im Bauch, und mancher wunscht sich
geradezu eine solch gute Gelegenheit, nach Hause zu kommen.
Neben uns fahren in langer Reihe die Munitionskolonnen. Sie haben es
eilig, uberholen uns fortwuhrend. Wir rufen ihnen Witze zu, und sie
antworten.
Eine Mauer wird sichtbar, sie gehurt zu einem Hause, das abseits der
Straße liegt. Ich spitze plutzlich die Ohren. Tuusche ich mich? Wieder
hure ich deutlich Gunsegeschnatter. Ein Blick zu Katczinsky - ein Blick von
ihm zuruck; wir verstehen uns.
"Kat, ich hure da einen Kochgeschirraspiranten -"
Er nickt. "Wird gemacht, wenn wir zuruck sind. Ich weiß hier
Bescheid."
Naturlich weiß Kat Bescheid. Er kennt bestimmt jedes Gunsebein in
zwanzig Kilometer Umkreis.
Die Wagen erreichen das Gebiet der Artillerie. Die Geschutzstunde sind
gegen Fliegersicht mit Buschen verkleidet, wie zu einer Art militurischem
Laubhuttenfest. Diese Lauben suhen lustig und friedlich aus, wenn ihre
Insassen keine Kanonen wuren.
Die Luft wird diesig von Geschutzrauch und Nebel. Man schmeckt den
Pulverqualm bitter auf der Zunge. Die Abschusse krachen, daß unser
Wagen bebt, das Echo rollt tosend hinterher, alles schwankt. Unsere
Gesichter verundern sich unmerklich. Wir brauchen zwar nicht in die Gruben,
sondern nur zum Schanzen, aber in - jedem Gesicht steht jetzt: hier ist die
Front, wir sind in ihrem Bereich. Es ist das noch keine Angst. Wer so oft
nach vorn gefahren ist wie wir, der wird dickfellig. Nur die jungen Rekruten
sind aufgeregt. Kat belehrt sie: "Das war ein 30,5. Ihr hurt es am
Abschuß; - gleich kommt der Einschlag."
Aber der dumpfe Hall der Einschluge dringt nicht heruber. Er ertrinkt
im Gemurmel der Front. Kat horcht hinaus: "Die Nacht gibt es Kattun."
Wir horchen alle. Die Front ist unruhig. Kropp sagt:
"Die Tommys schießen schon."
Die Abschusse sind deutlich zu huren. Es sind die englischen Batterien,
rechts von unserm Abschnitt. Sie beginnen eine Stunde zu fruh. Bei uns
fingen sie immer erst Punkt zehn Uhr an.
"Was fullt denn denen ein", ruft Muller, "ihre Uhren gehen wohl vor."
"Es gibt Kattun, sag ich euch, ich spure es in den Knochen." Kat zieht
die Schultern hoch.
Neben uns druhnen drei Abschusse. Der Feuerstrahl schießt schrug
in den Nebel, die Geschutze brummen und rumoren. Wir frusteln und sind froh,
daß wir morgen fruh wieder in den Baracken sein werden.
Unsere Gesichter sind nicht blasser und nicht ruter als sonst; sie sind
auch nicht gespannter oder schlaffer, und doch sind sie anders. Wir fuhlen,
daß in unserm Blut ein Kontakt angeknipst ist. Das sind keine
Redensarten; es ist Tatsache. Die Front ist es, das Bewußtsein der
Front, das diesen Kontakt auslust. Im Augenblick, wo die ersten Granaten
pfeifen, wo die Luft unter den Abschussen zerreißt, ist plutzlich in
unsern Adern, unsern Hunden, unsern Augen ein geducktes Warten, ein Lauern,
ein sturkeres Wachsein, eine sonderbare Geschmeidigkeit der Sinne. Der
Kurper ist mit einem Schlage in voller Bereitschaft.
Oft ist es mir, als wure es die erschutterte, vibrierende Luft, die mit
lautlosem Schwingen auf uns uberspringt; oder als wure es die Front selbst,
von der eine Elektrizitut ausstrahlt, die unbekannte Nervenspitzen
mobilisiert.
Jedesmal ist es dasselbe: wir fahren ab und sind murrische oder
gutgelaunte Soldaten; - dann kommen die ersten Geschutzstunde, und jedes
Wort unserer Gespruche hat einen verunderten Klang. -
Wenn Kat vor den Baracken steht und sagt: "Es gibt Kattun -", so ist
das eben seine Meinung, fertig; - wenn er es aber hier sagt, so hat der Satz
eine Schurfe wie ein Bajonett nachts im Mond, er schneidet glatt durch die
Gedanken, er ist nuher und spricht zu diesem Unbewußten, das in uns
aufgewacht ist, mit einer dunklen Bedeutung, "es gibt Kattun" -. Vielleicht
ist es unser innerstes und geheimstes Leben, das erzittert und sich zur
Abwehr erhebt.
Fur mich ist die Front ein unheimlicher Strudel. Wenn man noch weit
entfernt von seinem Zentrum im ruhigen Wasser ist, fuhlt man schon die
Saugkraft, die einen an sich zieht, langsam, unentrinnbar, ohne viel
Widerstand. Aus der Erde, aus der Luft aber strumen uns Abwehrkrufte zu, -
am meisten von der Erde. Fur niemand ist die Erde so viel wie fur den
Soldaten. Wenn er sich an sie preßt, lange, heftig, wenn er sich tief
mit dem Gesicht und den Gliedern in sie hineinwuhlt in der Todesangst des
Feuers, dann ist sie sein einziger Freund, sein Bruder, seine Mutter, er
stuhnt seine Furcht und seine Schreie in ihr Schweigen und ihre
Geborgenheit, sie nimmt sie auf und entlußt ihn wieder zu neuen zehn
Sekunden Lauf und Leben, faßt ihn wieder, und manchmal fur immer.
Erde - Erde - Erde -!
Erde, mit deinen Bodenfalten und Luchern und Vertiefungen, in die man
sich hineinwerfen, hineinkauern kann! Erde, du gabst uns im Krampf des
Grauens, im Aufspritzen der Vernichtung, im Todesbrullen der Explosionen die
ungeheure Widerwelle gewonnenen Lebens! Der irre Sturm fast zerfetzten
Daseins floß im Ruckstrom von dir durch unsre Hunde, so daß wir
die geretteten in dich gruben und im stummen Angstgluck der uberstandenen
Minute mit unseren Lippen in dich hineinbissen! -
Wir schnellen mit einem Ruck in einem Teil unseres Seins beim ersten
Druhnen der Granaten um Tausende von Jahren zuruck. Es ist der Instinkt des
Tieres, der in uns erwacht, der uns leitet und beschutzt. Er ist nicht
bewußt, er ist viel schneller, viel sicherer, viel unfehlbarer als das
Bewußtsein. Man kann es nicht erkluren. Man geht und denkt an nichts -
plutzlich liegt man in einer Bodenmulde, und uber einen spritzen die
Splitter hinweg; - aber man kann sich nicht entsinnen, die Granate kommen
gehurt oder den Gedanken gehabt zu haben, sich hinzulegen. Hutte man sich
darauf verlassen sollen, man wure bereits ein Haufen verstreutes Fleisch. Es
ist das andere gewesen, diese hellsichtige Witterung in uns, die uns
niedergerissen und gerettet hat, ohne daß man weiß, wie. Wenn
sie nicht wure, gube es von Flandern bis zu den Vogesen schon lungst keine
Menschen mehr.
Wir fahren ab als murrische oder gutgelaunte Soldaten, - wir kommen in
die Zone, wo die Front beginnt, und sind Menschentiere geworden.
Ein durftiger Wald nimmt uns auf. Wir passieren die Gulaschkanonen.
Hinter dem Walde steigen wir ab. Die Wagen fahren zuruck. Sie sollen uns
morgens vor dem Hellwerden wieder abholen.
Nebel und Geschutzrauch stehen in Brusthuhe uber den Wiesen. Der Mond
scheint darauf. Auf der Straße ziehen Truppen. Die Stahlhelme
schimmern mit matten Reflexen im Mondlicht. Die Kupfe und die Gewehre ragen
aus dem weißen Nebel, nickende Kupfe, schwankende Gewehrluufe.
Weiter vorn hurt der Nebel auf. Die Kupfe werden hier zu Gestalten; -
Rucke, Hosen und Stiefel kommen aus dem Nebel wie aus einem Milchteich. Sie
formieren sich zur Kolonne. Die Kolonne marschiert, geradeaus, die Gestalten
schließen sich zu einem Keil, man erkennt die einzelnen nicht mehr,
nur ein dunkler Keil schiebt sich nach vorn, sonderbar ergunzt aus den im
Nebelteich heranschwimmenden Kupfen und Gewehren. Eine Kolonne - keine
Menschen.
Auf einer Querstraße fahren leichte Geschutze und Munitionswagen
heran. Die Pferde haben glunzende Rucken im Mondschein, ihre Bewegungen sind
schun, sie werfen die Kupfe, man sieht die Augen blitzen. Die Geschutze und
Wagen gleiten vor dem verschwimmenden Hintergrund der Mondlandschaft
voruber, die Reiter mit ihren Stahlhelmen sehen aus wie Ritter einer
vergangenen Zeit, es ist irgendwie schun und ergreifend.
Wir streben dem Pionierpark zu. Ein Teil von uns ladet sich gebogene,
spitze Eisenstube auf die Schultern, der andere steckt glatte Eisenstucke
durch Drahtrollen und zieht damit ab. Die Lasten sind unbequem und schwer.
Das Terrain wird zerrissener. Von vorn kommen Meldungen durch:
"Achtung, links tiefer Granattrichter" - "Vorsicht, Graben" -
Unsere Augen sind angespannt, unsere Fuße und Stucke fuhlen vor,
ehe sie die Last des Kurpers empfangen. Mit einmal hult der Zug; - man
prallt mit dem Gesicht gegen die Drahtrolle des Vordermannes und schimpft.
Einige zerschossene Wagen sind im Wege. Ein neuer Befehl. "Zigaretten
und Pfeifen aus." -Wir sind dicht an den Gruben.
Es ist inzwischen ganz dunkel geworden. Wir umgehen ein Wuldchen und
haben dann den Frontabschnitt vor uns.
Eine Ungewisse, rutliche Helle steht am Horizont von einem Ende zum
andern. Sie ist in stundiger Bewegung, durchzuckt vom Mundungsfeuer der
Batterien. Leuchtkugeln steigen daruber hoch, silberne und rote Bulle, die
zerplatzen und in weißen, grunen und roten Sternen niederregnen.
Franzusische Raketen schießen auf, die in der Luft einen Seidenschirm
entfalten und ganz langsam niederschweben. Sie erleuchten alles taghell, bis
zu uns dringt ihr Schein, wir sehen unsere Schatten scharf am Boden.
Minutenlang schweben sie, ehe sie ausgebrannt sind. Sofort steigen neue
hoch, uberall, und dazwischen wieder die grunen, roten und blauen.
"Schlamassel", sagt Kat.
Das Gewitter der Geschutze versturkt sich zu einem einzigen dumpfen
Druhnen und zerfullt dann wieder in Gruppeneinschluge. Die trockenen Salven
der Maschinengewehre knarren. uber uns ist die Luft erfullt von unsichtbarem
Jagen, Heulen, Pfeifen und Zischen. Es sind kleinere Geschosse; - dazwischen
orgeln aber auch die großen Kohlenkusten, die ganz schweren Brocken
durch die Nacht und landen weit hinteruns. Sie haben einen ruhrenden,
heiseren, entfernten Ruf, wie Hirsche in der Brunft, und ziehen hoch uber
dem Geheul und Gepfeife der kleineren Geschosse ihre Bahn.
Die Scheinwerfer beginnen den schwarzen Himmel abzusuchen. Sie rutschen
daruber hin wie riesige, am Ende dunner werdende Lineale. Einer steht still
und zittert nur wenig. Sofort ist ein zweiter bei ihm, sie kreuzen sich, ein
schwarzes Insekt ist zwischen ihnen und versucht zu entkommen: der Flieger.
Er wird unsicher, geblendet und taumelt.
Wir rammen die Eisenpfuhle in regelmußigen Abstunden fest. Immer
zwei Mann halten eine Rolle, die andern spulen den Stacheldraht ab. Es ist
der ekelhafte Draht mit den dichtstehenden, langen Stacheln. Ich bin das
Abrollen nicht mehr gewuhnt und reiße mir die Hand auf.
Nach einigen Stunden sind wir fertig Aber wir haben noch Zeit, bis die
Lastwagen kommen. Die meisten von uns legen sich hin und schlafen. Ich
versuche es auch. Doch es wird zu kuhl. Man merkt, daß wir nahe am
Meere sind, man wacht vor Kulte immer wieder auf.
Einmal schlafe ich fest. Als ich plutzlich mit einem Ruck hochfliege,
weiß ich nicht, wo ich bin. Ich sehe die Sterne, ich sehe die Raketen
und habe einen Augenblick den Eindruck, auf einem Fest im Garten
eingeschlafen zu sein. Ich weiß nicht, ob es Morgen oder Abend ist,
ich liege in der bleichen Wiege der Dummerung und warte auf weiche Worte,
die kommen mussen, weich und geborgen - weine ich? Ich fasse nach meinen
Augen, es ist so wunderlich, bin ich ein Kind? Sanfte Haut; - nur eine
Sekunde wuhrt es, dann erkenne ich die Silhouette Katczinskys. Er sitzt
ruhig, der alte Soldat, und raucht eine Pfeife, eine Deckelpfeife naturlich.
Als er bemerkt, daß ich wach bin, sagt er nur: "Du bist schun
zusammengefahren. Es war nur ein Zunder, er ist da ins Gebusch gesaust."
Ich setze mich hoch, ich fuhle mich sonderbar allein. Es ist gut,
daß Kat da ist. Er sieht gedankenvoll zur Front und sagt: "Ganz
schunes Feuerwerk, wenn's nicht so gefuhrlich wure."
Hinter uns schlugt es ein. Ein paar Rekruten fahren erschreckt auf.
Nach ein paar Minuten funkt es wieder heruber, nuher als vorher. Kat klopft
seine Pfeife aus. "Es gibt Zunder."
Schon geht es los. Wir kriechen weg, so gut es in der Eile geht. Der
nuchste Schuß sitzt bereits zwischen uns. Ein paar Leute schreien. Am
Horizont steigen grune Raketen auf. Der Dreck fliegt hoch, Splitter surren.
Man hurt sie noch aufklatschen, wenn der Lurm der Einschluge lungst wieder
verstummt ist.
Neben uns liegt ein verungstigter Rekrut, ein Flachskopf. Er hat das
Gesicht in die Hunde gepreßt. Sein Helm ist weggepurzelt. Ich fische
ihn heran und will ihn auf seinen Schudel stulpen. Er sieht auf, stußt
den Helm fort und kriecht wie ein Kind mit dem Kopf unter meinen Arm, dicht
an meine Brust. Die schmalen Schultern zucken. Schultern, wie Kemmerich sie
hatte.
Ich lasse ihn gewuhren. Damit der Helm aber wenigstens zu etwas nutze
ist, packe ich ihn auf seinen Hintern, nicht aus Bludsinn, sondern aus
uberlegung, denn das ist der huchste Fleck. Wenn da zwar auch dickes Fleisch
sitzt, Schusse hinein sind doch verflucht schmerzhaft, außerdem
muß man monatelang im Lazarett auf dem Bauch liegen und nachher
ziemlich sicher hinken.
Irgendwo hat es muchtig eingehauen. Man hurt Schreien zwischen den
Einschlugen.
Endlich wird es ruhig. Das Feuer ist uber uns hinweggefegt und liegt
nun auf den letzten Reservegruben. Wir riskieren einen Blick. Rote Raketen
flattern am Himmel. Wahrscheinlich kommt ein Angriff.
Bei uns bleibt es ruhig. Ich setze mich auf und ruttele den Rekruten an
der Schulter. "Vorbei, Kleiner! Ist noch mal gutgegangen."
Er sieht sich versturt um. Ich rede ihm zu: "Wirst dich schon
gewuhnen."
Er bemerkt seinen Helm und setzt ihn auf. Langsam kommt er zu sich.
Plutzlich wird er feuerrot und hat ein verlegenes Aussehen. Vorsichtig langt
er mit der Hand nach hinten und sieht mich gequult an. Ich verstehe sofort:
Kanonenfieber. Dazu hatte ich ihm eigentlich den Helm nicht gerade
dorthingepackt - aber ich truste ihn doch: "Das ist keine Schande, es haben
schon ganz andere Leute als du nach ihrem ersten Feueruberfall die Hosen
voll gehabt. Geh hinter den Busch da und schmeiß deine Unterhose weg.
Erledigt -"
Er trollt sich. Es wird stiller, doch das Schreien hurt nicht auf. "Was
ist los, Albert?" frage ich.
"Druben haben ein paar Kolonnen Volltreffer gekriegt."
Das Schreien dauert an. Es sind keine Menschen, sie kunnen nicht so
furchtbar schreien.
Kat sagt: "Verwundete Pferde."
Ich habe noch nie Pferde schreien gehurt und kann es kaum glauben. Es
ist der Jammer der Welt, es ist die gemarterte Kreatur, ein wilder,
grauenvoller Schmerz, der da stuhnt. Wir sind bleich. Detering richtet sich
auf. "Schinder, Schinder! Schießt sie doch ab!"
Er ist Landwirt und mit Pferden vertraut. Es geht ihm nahe. Und als
wure es Absicht, schweigt das Feuer jetzt beinahe. Um so deutlicher wird das
Schreien der Tiere. Man weiß nicht mehr, woher es kommt in dieser
jetzt so stillen, silbernen Landschaft, es ist unsichtbar, geisterhaft,
uberall, zwischen Himmel und Erde, es schwillt unermeßlich an -
Detering wird wutend und brullt: "Erschießt sie, erschießt sie
doch, verflucht noch mal!"
"Sie mussen doch erst die Leute holen", sagt Kat.
Wir stehen auf und suchen, wo die Stelle ist. Wenn man die Tiere
erblickt, wird es besser auszuhalten sein. Meyer hat ein Glas bei sich. Wir
sehen eine dunkle Gruppe Sanituter mit Tragbahren und schwarze,
grußere Klumpen, die sich bewegen. Das sind die verwundeten Pferde.
Aber nicht alle. Einige galoppieren weiter entfernt, brechen nieder und
rennen weiter. Einem ist der Bauch aufgerissen, die Gedurme hungen lang
heraus. Es verwickelt sich darin und sturzt, doch es steht wieder auf.
Detering reißt das Gewehr hoch und zielt. Kat schlugt es in die
Luft. "Bist du verruckt -?"
Detering zittert und wirft sein Gewehr auf die Erde.
Wir setzen uns hin und halten uns die Ohren zu. Aber dieses
entsetzliche Klagen und Stuhnen und Jammern schlugt durch, es schlugt
uberall durch.
Wir kunnen alle etwas vertragen. Hier aber bricht uns der Schweiß
aus. Man muchte aufstehen und fortlaufen, ganz gleich wohin, nur um das
Schreien nicht mehr zu huren. Dabei sind es doch keine Menschen, sondern nur
Pferde.
Von dem dunklen Knuuel lusen sich wieder Tragbahren. Dann knallen
einzelne Schusse. Die Klumpen zucken und werden flacher. Endlich! Aber es
ist noch nicht zu Ende. Die Leute kommen nicht an die verwundeten Tiere
heran, die in ihrer Angst fluchten, allen Schmerz in den weit aufgerissenen
Muulern. Eine der Gestalten geht aufs Knie, ein Schuß - ein Pferd
bricht nieder, - noch eins. Das letzte stemmt sich auf die Vorderbeine und
dreht sich im Kreise wie ein Karussell, sitzend dreht es sich auf den
hochgestemmten Vorderbeinen im Kreise, wahrscheinlich ist der Rucken
zerschmettert. Der Soldat rennt hin und schießt es nieder. Langsam,
demutig rutscht es zu Boden.
Wir nehmen die Hunde von den Ohren. Das Schreien ist verstummt. Nur ein
langgezogener, ersterbender Seufzer hungt noch in der Luft. Dann sind wieder
nur die Raketen, das Granatensingen und die Sterne da - und das ist fast
sonderbar.
Detering geht und flucht: "Muchte wissen, was die fur Schuld haben." Er
kommt nachher noch einmal heran. Seine Stimme ist erregt, sie klingt beinahe
feierlich, als er sagt: "Das sage ich euch, es ist die allergrußte
Gemeinheit, daß Tiere im Krieg sind."
Wir gehen zuruck. Es ist Zeit, zu unseren Wagen zu gelangen. Der Himmel
ist eine Spur heller geworden. Drei Uhr morgens. Der
Wind ist frisch und kuhl, die fahle Stunde macht unsere Gesichter
Wir tappen uns vorwurts im Gunsemarsch durch die Gruben und Trichter
und gelangen wieder in die Nebelzone. Katczinsky ist unruhig, das ist ein
schlechtes Zeichen.
"Was hast du, Kat?" fragt Kropp.
"Ich wollte, wir wuren erst zu Hause." - Zu Hause," er meint die
Baracken.
"Dauert nicht mehr lange, Kat."
Er ist nervus.
"Ich weiß nicht, ich weiß nicht -"
Wir kommen in die Laufgruben und dann in die Wiesen. Das Wuldchen
taucht auf; wir kennen hier jeden Schritt Boden. Da ist der Jugerfriedhof
schon mit den Hugeln und den schwarzen Kreuzen.
In diesem Augenblick pfeift es hinter uns, schwillt, kracht, donnert.
Wir haben uns gebuckt - hundert Meter vor uns schießt eine Feuerwolke
empor.
In der nuchsten Minute hebt sich ein Stuck Wald unter einem zweiten
Einschlag langsam uber die Gipfel, drei, vier Buume segeln mit und brechen
dabei in Stucke. Schon zischen wie Kesselventile die folgenden Granaten
heran - scharfes Feuer -
"Deckung!" brullt jemand - "Deckung!" -
Die Wiesen sind flach, der Wald ist zu weit und gefuhrlich; - es gibt
keine andere Deckung als den Friedhof und die Gruberhugel. Wir stolpern im
Dunkel hinein, wie hingespuckt klebt jeder gleich hinter einem Hugel.
Keinen Moment zu fruh. Das Dunkel wird wahnsinnig. Es wogt und tobt.
Schwurzere Dunkelheiten als die Nacht rasen mit Riesenbuckeln auf uns los,
uber uns hinweg. Das Feuer der Explosionen uberflackert den Friedhof.
Nirgendwo ist ein Ausweg. Ich wage im Aufblitzen der Granaten einen Blick
auf die Wiesen. Sie sind ein aufgewuhltes Meer, die Stichflammen der
Geschosse springen wie Fontunen heraus. Es ist ausgeschlossen, daß
jemand daruber hinwegkommt.
Der Wald verschwindet, er wird zerstampft, zerfetzt, zerrissen. Wir
mussen hier auf dem Friedhof bleiben.
Vor uns birst die Erde. Es regnet Schollen. Ich spure einen Ruck. Mein
urmel ist aufgerissen durch einen Splitter. Ich balle die Faust. Keine
Schmerzen. Doch das beruhigt mich nicht, Verletzungen schmerzen stets erst
sputer. Ich fahre uber den Arm. Er ist angekratzt, aber heil. Da knallt es
gegen meinen Schudel, daß mir das Bewußtsein verschwimmt. Ich
habe den blitzartigen Gedanken: Nicht ohnmuchtig werden!, versinke in
schwarzem Brei und komme sofort wieder hoch. Ein Splitter ist gegen meinen
Helm gehauen, er kam so weit her, daß er nicht durchschlug. Ich wische
mir den Dreck aus den Augen. Vor mir ist ein Loch aufgerissen, ich erkenne
es undeutlich. Granaten treffen nicht leicht in denselben Trichter, deshalb
will ich hinein. Mit einem Satze schnelle ich mich lang vor, flach wie ein
Fisch uber den Boden, da pfeift es wieder, rasch krieche ich zusammen,
greife nach der Deckung, fuhle links etwas, presse mich daneben, es gibt
nach, ich stuhne, die Erde zerreißt, der Luftdruck donnert in meinen
Ohren, ich krieche unter das Nachgebende, decke es uber mich, es ist Holz,
Tuch, Deckung, Deckung, armselige Deckung vor herabschlagenden Splittern.
Ich uffne die Augen, meine Finger halten einen urmel umklammert, einen
Arm. Ein Verwundeter? Ich schreie ihm zu, keine Antwort - ein Toter. Meine
Hand faßt weiter, in Holzsplitter, da weiß ich wieder, daß
wir auf dem Friedhof liegen.
Aber das Feuer ist sturker als alles andere. Es vernichtet die
Besinnung, ich krieche nur noch tiefer unter den Sarg, er soll mich
schutzen, und wenn der Tod selber in ihm liegt.
Vor mir klafft der Trichter. Ich fasse ihn mit den Augen wie mit
Fuusten, ich muß mit einem Satz hinein. Da erhalte ich einen Schlag
ins Gesicht, eine Hand klammert sich um meine Schulter - ist der Tote wieder
erwacht? - Die Hand schuttelt mich, ich wende den Kopf, in sekundenkurzem
Licht starre ich in das Gesicht Katczinskys, er hat den Mund weit offen und
brullt, ich hure nichts, er ruttelt mich, nuhert sich; in einem Moment des
Abschwellens erreicht mich seine Stimme: "Gas - Gaaas - Gaaas!
-Weitersagen!"
Ich reiße die Gaskapsel heran. Etwas entfernt von mir liegt
jemand. Ich denke an nichts mehr als an dies: Der dort muß es wissen:
"Gaaas - Gaaas -!"
Ich rufe, schiebe mich heran, schlage mit der Kapsel nach ihm, er merkt
nichts - noch einmal, noch einmal - er duckt sich nur - es ist ein Rekrut -
ich sehe verzweifelt nach Kat, er hat die Maske vor - ich reiße meine
auch heraus, der Helm fliegt beiseite, sie streift sich uber mein Gesicht,
ich erreiche den Mann, am nuchsten liegt mir seine Kapsel, ich fasse die
Maske, schiebe sie uber seinen Kopf, er greift zu - ich lasse los - und
liege plutzlich mit einem Ruck im Trichter.
Der dumpfe Knall der Gasgranaten mischt sich in das Krachen der
Explosivgeschosse. Eine Glocke druhnt zwischen die Explosionen, Gongs,
Metallklappern kunden uberallhin - Gas - Gas - Gaas -
Hinter mir plumpst es, einmal, zweimal. Ich wische die Augenscheiben
meiner Maske vom Atemdunst sauber. Es sind Kat, Kropp und noch jemand. Wir
liegen zu viert in schwerer, lauernder Anspannung und atmen so schwach wie
muglich.
Die ersten Minuten mit der Maske entscheiden uber Leben und Tod: ist
sie dicht? Ich kenne die furchtbaren Bilder aus dem Lazarett: Gaskranke, die
m tagelangem Wurgen die verbrannten Lungen stuckweise auskotzen.
Vorsichtig, den Mund auf die Patrone gedruckt, atme ich. Jetzt
schleicht der Schwaden uber den Boden und sinkt in alle Vertiefungen. Wie
ein weiches, breites Quallentier legt er sich in unseren Trichter, rukelt
sich hinein. Ich stoße Kat an: es ist besser herauszukriechen und oben
zu liegen, als hier, wo das Gas sich am meisten sammelt. Doch wir kommen
nicht dazu, ein zweiter Feuerhagel beginnt. Es ist, als ob nicht mehr die
Geschosse brullen; es ist, als ob die Erde selbst tobt.
Mit einem Krach saust etwas Schwarzes zu uns herab. Hart neben uns
schlugt es ein, ein hochgeschleuderter Sarg.
Ich sehe Kat sich bewegen und krieche hinuber. Der Sarg ist dem vierten
in unserem Loch auf den ausgestreckten Arm geschlagen. Der Mann versucht,
mit der andern Hand die Gasmaske abzureißen. Kropp greift rechtzeitig
zu, biegt ihm die Hand hart auf den Rucken und hult sie fest.
Kat und ich gehen daran, den verwundeten Arm frei zu machen. Der
Sargdeckel ist lose und geborsten, wir kunnen ihn leicht abreißen, den
Toten werfen wir hinaus, er sackt nach unten, dann versuchen wir, den
unteren Teil zu lockern.
Zum Gluck wird der Mann bewußtlos, und Albert kann uns helfen.
Wir brauchen nun nicht mehr so behutsam zu sein und arbeiten, was wir
kunnen, bis der Sarg mit einem Seufzer nachgibt unter dem daruntergesteckten
Spaten.
Es ist heller geworden. Kat nimmt ein Stuck des Deckels, legt es unter
den zerschmetterten Arm, und wir binden alle unsere Verbandspuckchen darum.
Mehr kunnen wir im Moment nicht tun.
Mein Kopf brummt und druhnt in der Gasmaske, er ist nahe am Platzen.
Die Lungen sind angestrengt, sie haben nur immer wieder denselben
heißen, verbrauchten Atem, die Schlufenadern schwellen, man glaubt zu
ersticken -
Graues Licht sickert zu uns herein. Wind fegt uber den Friedhof. Ich
schiebe mich uber den Rand des Trichters. In der schmutzigen Dummerung liegt
vor mir ein ausgerissenes Bein, der Stiefel ist vollkommen heil, ich sehe
das alles ganz deutlich im Augenblick. Aber jetzt erhebt sich wenige Meter
weiter jemand, ich putze die Fenster, sie beschlagen mir vor Aufregung
sofort wieder, ich starre hinuber - der Mann dort trugt keine Gasmaske mehr.
Noch Sekunden warte ich - er bricht nicht zusammen, er blickt suchend
umher und macht einige Schritte - der Wind hat das Gas zerstreut, die Luft
ist frei - da zerre ich ruchelnd ebenfalls die Maske weg und falle hin, wie
kaltes Wasser strumt die Luft in mich hinein, die Augen wollen brechen, die
Welle uberschwemmt mich und luscht mich dunkel aus.
Die Einschluge haben aufgehurt. Ich drehe mich zum Trichter und winke
den andern. Sie klettern herauf und reißen sich die Masken herunter.
Wir umfassen den Verwundeten, einer nimmt seinen geschienten Arm. So
stolpern wir hastig davon.
Der Friedhof ist ein Trummerfeld. Surge und Leichen liegen verstreut.
Sie sind noch einmal getutet worden; aber jeder von ihnen, der zerfetzt
wurde, hat einen von uns gerettet.
Der Zaun ist verwustet, die Schienen der Feldbahn druben sind
aufgerissen, sie starren hochgebogen in die Luft. Vor uns liegt jemand. Wir
halten an, nur Kropp geht mit dem Verwundeten weiter.
Der am Boden ist ein Rekrut. Seine Hufte ist blutverschmiert; er ist so
erschupft, daß ich nach meiner Feldflasche greife, in der ich Rum mit
Tee habe. Kat hult meine Hand zuruck und beugt sich uber ihn: "Wo hat's dich
erwischt, Kamerad?"
Er bewegt die Augen; er ist zu schwach zum Antworten.
Wir schneiden vorsichtig die Hose auf. Er stuhnt. "Ruhig, ruhig, es
wird ja besser -"
Wenn er einen Bauchschuß hat, darf er nichts trinken. Er hat
nichts erbrochen, das ist gunstig. Wir legen die Hufte bloß. Sie ist
ein einziger Fleischbrei mit Knochensplittern. Das Gelenk ist getroffen.
Dieser Junge wird nie mehr gehen kunnen.
Ich wische ihm mit dem befeuchteten Finger uber die Schlufe und gebe
ihm einen Schluck. In seine Augen kommt Bewegung. Jetzt erst sehen wir,
daß auch der rechte Arm blutet.
Kat zerfasert zwei Verbandspuckchen so breit wie muglich, damit sie die
Wunde decken. Ich suche nach Stoff, um ihn lose daruberzuwickeln. Wir haben
nichts mehr, deshalb schlitze ich dem Verwundeten das Hosenbein weiter auf,
um ein Stuck seiner Unterhose als Binde zu verwenden. Aber er trugt keine.
Ich sehe ihn genauer an: es ist der Flachskopf von vorhin.
Kat hat inzwischen aus den Taschen eines Toten noch Puckchen geholt,
die wir vorsichtig an die Wunde schieben. Ich sage dem Jungen, der uns
unverwandt ansieht: "Wir holen jetzt eine Bahre."
Da uffnet er den Mund und flustert: "Hierbleiben -"
Kat sagt: "Wir kommen ja gleich wieder. Wir holen fur dich eine Bahre."
Man kann nicht erkennen, ob er verstanden hat; er wimmert wie ein Kind
hinter uns her: "Nicht weggehen -"
Kat sieht sich um und flustert: "Sollte man da nicht einfach einen
Revolver nehmen, damit es aufhurt?"
Der Junge wird den Transport kaum uberstehen, und huchstens kann es
noch einige Tage mit ihm dauern. Alles bisher aber wird nichts sein gegen
diese Zeit, bis er stirbt. Jetzt ist er noch betuubt und fuhlt nichts. In
einer Stunde wird er ein kreischendes Bundel unertruglicher Schmerzen
werden. Die Tage, die er noch leben kann, bedeuten fur ihn eine einzige
rasende Qual. Und wem nutzt es, ob er sie noch hat oder nicht -
Ich nicke. "Ja, Kat, man sollte einen Revolver nehmen."
" Gib her", sagt er und bleibt stehen. Er ist entschlossen, ich sehe
es. Wir blicken uns um, aber wir sind nicht mehr allein. Vor uns sammelt
sich ein Huuflein, aus den Trichtern und Grubern kommen Kupfe. Wir holen
eine Bahre.
Kat schuttelt den Kopf. " So junge Kerle" - Er wiederholt es: "So
junge, unschuldige Kerle -"
Unsere Verluste sind geringer, als anzunehmen war: funf Tote und acht
Verwundete. Es war nur ein kurzer Feueruberfall. Zwei von unseren Toten
liegen in einem der aufgerissenen Gruber; wir brauchen sie bloß
zuzubuddeln.
Wir gehen zuruck. Schweigend trotten wir im Gunsemarsch hintereinander
her. Die Verwundeten werden zur Sanitutsstation gebracht. Der Morgen ist
trube, die Krankenwurter laufen mit Nummern und Zetteln, die Verletzten
wimmern. Es beginnt zu regnen.
Nach einer Stunde haben wir unsere Wagen erreicht und klettern hinauf.
Jetzt ist mehr Platz als vorher da.
Der Regen wird sturker. Wir breiten Zeltbahnen aus und legen sie auf
unsere Kupfe. Das Wasser trommelt darauf nieder. An den Seiten fließen
die Regenstruhnen ab. Die Wagen platschen durch die Lucher, und wir wiegen
uns im Halbschlaf hin und her.
Zwei Mann vorn im Wagen haben lange gegabelte Stucke bei sich. Sie
achten auf die Telefondruhte, die quer uber die Straße hungen, so
tief, daß sie unsere Kupfe wegreißen kunnen. Die beiden Leute
fangen sie mit ihren gegabelten Stucken auf und heben sie uber uns hinweg.
Wir huren ihren Ruf: "Achtung - Draht", und im Halbschlaf gehen wir in die
Kniebeuge und richten uns wieder auf.
Monoton pendeln die Wagen, monoton sind die Rufe, monoton rinnt der
Regen. Er rinnt auf unsere Kupfe und auf die Kupfe der Toten vorn, auf den
Kurper des kleinen Rekruten mit der Wunde, die viel zu groß fur seine
Hufte ist, er rinnt auf das Grab Kemmerichs, er rinnt auf unsere Herzen.
Ein Einschlag hallt irgendwo. Wir zucken auf, die Augen sind gespannt,
die Hunde wieder bereit, um die Kurper uber die Wunde des Wagens in den
Straßengraben zu werfen.
Es kommt nichts weiter. - Monoton nur die Rufe: "Achtung - Draht" - wir
gehen in die Knie, wir sind wieder im Halbschlaf.
Es ist beschwerlich, die einzelne Laus zu tuten, wenn man Hunderte hat.
Die Tiere sind etwas hart, und das ewige Knipsen mit den Fingernugeln wird
langweilig. Tjaden hat deshalb den Deckel einer Schuhputzschachtel mit Draht
uber einem brennenden Kerzenstumpf befestigt. In diese kleine Pfanne werden
die Luuse einfach hineingeworfen - es knackt, und sie sind erledigt.
Wir sitzen rundherum, die Hemden auf den Knien, den Oberkurper nackt in
der warmen Luft, die Hunde bei der Arbeit. Haie hat eine besonders feine Art
von Luusen: sie haben ein rotes Kreuz auf dem Kopf. Deshalb behauptet er,
sie aus dem Lazarett inThourhout mitgebracht zu haben, sie seien von einem
Oberstabsarzt persunlich. Er will auch das sich langsam in dem Blechdeckel
ansammelnde Fett zum Stiefelschmieren benutzen und brullte eine halbe Stunde
lang vor Lachen uber seinen Witz.
Doch heute hat er wenig Erfolg; etwas anderes beschuftigt uns zu sehr.
Das Gerucht ist Wahrheit geworden. Himmelstoß ist da. Gestern ist
er erschienen, wir haben seine wohlbekannte Stimme schon gehurt. Er soll zu
Hause ein paar junge Rekruten zu kruftig im Sturzacker gehabt haben. Ohne
daß er es wußte, war der Sohn des Regierungsprusidenten dabei.
Das brach ihm das Genick.
Hier wird er sich wundern. Tjaden erurtert seit Stunden alle
Muglichkeiten, wie er ihm antworten will. Haie sieht nachdenklich seine
große Flosse an und kneift mir ein Auge. Die Prugelei war der
Huhepunkt seines Daseins; er hat mir erzuhlt, daß er noch manchmal
davon truumt.
Kropp und Muller unterhalten sich. Kropp hat als einziger ein
Kochgeschirr voll Linsen erbeutet, wahrscheinlich bei der Pionierkuche.
Muller schielt gierig hin, beherrscht sich aber und fragt: ,.....
"Albert, was wurdest du tun, wenn jetzt mit einemmal Frieden wure?"
"Frieden gibt's nicht!" uußert Albert kurz.
"Na, aber wenn -", beharrt Muller, "was wurdest du machen?"
"Abhauen!" knurrt Kropp.
"Das ist klar. Und dann?"
"Mich besaufen", sagt Albert.
"Rede keinen Quatsch, ich meine es ernst -"
"Ich auch", sagt Albert, "was soll man denn anders machen."
Kat interessiert sich fur die Frage. Er fordert von Kropp seinen Tribut
an den Linsen, erhult ihn, uberlegt dann lange und meint: "Besaufen kunnte
man sich ja, sonst aber auf die nuchste Eisenbahn - und ab nach Muttern.
Mensch, Frieden, Albert -"
Er kramt in seiner Wachstuchbrieftasche nach einer Fotografie und zeigt
sie stolz herum. "Meine Alte!" Dann packt er sie weg und flucht: "Verdammter
Lausekrieg -"
"Du kannst gut reden", sage ich. "Du hast deinen Jungen und deine
Frau."
"Stimmt", nickt er, "ich muß dafur sorgen, daß sie was zu
essen haben."
Wir lachen. "Daran wird's nicht fehlen, Kat, sonst requierierst du
eben."
Muller ist hungrig und gibt sich noch nicht zufrieden. Er schreckt Haie
Westhus aus seinen Verprugeltruumen. "Haie, was wurdest du denn machen, wenn
jetzt Frieden wure?"
"Er mußte dir den Arsch vollhauen, weil du hier von so etwas
uberhaupt anfungst", sage ich, "wie kommt das eigentlich?"
"Wie kommt Kuhscheiße aufs Dach?" antwortet Muller lakonisch und
wendet sich wieder an Haie Westhus. Es ist zu schwer auf einmal fur Haie. Er
wiegt seinen sommersprossigen Schudel: "Du meinst, wenn kein Krieg mehr
ist?"
"Richtig. Du merkst auch alles."
"Dann kumen doch wieder Weiber, nicht?" - Haie leckt sich das Maul.
"Das auch."
"Meine Fresse noch mal", sagt Haie, und sein Gesicht taut auf, " dann
wurde ich mir so einen strammen Feger schnappen, so einen richtigen
Kuchendragoner, weißt du, mit ordentlich was dran zum Festhalten, und
sofort nichts wie 'rin in die Betten! Stell dir mal vor, richtige
Federbetten mit Sprungmatratzen, Kinners, acht Tage lang wurde ich keine
Hose wieder anziehen."
Alles schweigt. Das Bild ist zu wunderbar. Schauer laufen uns uber die
Haut. Endlich ermannt sich Muller und fragt: "Und danach?"
Pause. Dann erklurt Haie etwas verzwickt: "Wenn ich Unteroffizier wure,
wurde ich erst noch bei den Preußen bleiben und kapitulieren."
"Haie, du hast glatt einen Vogel", sage ich.
Er fragt gemutlich zuruck: "Hast du schon mal Torf gestochen? Probier's
mal."
Damit zieht er seinen Luffel aus dem Stiefelschaft und langt damit in
Alberts Eßnapf.
"Schlimmer als Schanzen in der Champagne kann's auch nicht sein",
erwiderte ich.
Haie kaut und grinst: "Dauert aber lunger. Kannst dich auch nicht
drucken."
"Aber, Mensch, zu Hause ist es doch besser, Haie."
"Teils, teils", sagt er und versinkt mit offenem Munde in Grubelei.
Man kann auf seinen Zugen lesen, was er denkt. Da ist eine arme
Moorkate, da ist schwere Arbeit in der Hitze der Heide vom fruhen Morgen bis
zum Abend, da ist spurlicher Lohn, da ist ein schmutziger Knechtsanzug --
"Hast beim Kommiß in Frieden keine Sorgen", teilt er mit, "jeden
Tag ist dein Futter da, sonst machst du Krach, hast dein Bett, alle acht
Tage reine Wusche wie ein Kavalier, machst deinen Unteroffiziersdienst, hast
dein schunes Zeug; - abends bist du ein freier Mann und gehst in die
Kneipe."
Haie ist außerordentlich stolz auf seine Idee. Er verliebt sich
darin. "Und wenn du deine zwulf Jahre um hast, kriegst du deinen
Versorgungsschein und wirst Landjuger. Den ganzen Tag kannst du
Spazierengehen."
Er schwitzt jetzt vor Zukunft. " Stell dir vor, wie du dann traktiert
wirst. Hier einen Kognak, da einen halben Liter. Mit einem Landjuger will
doch jeder gutstehen."
"Du wirst ja nie Unteroffizier, Haie", wirft Kat ein. Haie blickt ihn
betroffen an und schweigt. In seinen Gedanken sind jetzt wohl die klaren
Abende im Herbst, die Sonntage in der Heide, die Dorfglocken, die
Nachmittage und Nuchte mit den Mugden, die Buchweizenpfannkuchen mit den
großen Speckaugen, die sorglos verschwatzten Stunden im Krug -
Mit soviel Phantasie kann er so rasch nicht fertig werden; deshalb
knurrt er nur erbost: "Was ihr immer fur Bludsinn zusammenfragt."
Er streift sein Hemd uber den Kopf und knupft den Waffenrock zu.
"Was wurdest du machen, Tjaden?" ruft Kropp.
Tjaden kennt nur eins. "Aufpassen, daß mir Himmelstoß nicht
durchgeht."
Er muchte ihn wahrscheinlich am liebsten in einen Kufig sperren und
jeden Morgen mit einem Knuppel uber ihn herfallen. Zu Kropp schwurmt er:
"An deiner Stelle wurde ich sehen, daß ich Leutnant wurde. Dann
kannst du ihn schleifen, daß ihm das Wasser im Hintern kocht."
"Und du, Detering?" forscht Muller weiter. Er ist der geborene
Schulmeister mit seiner Fragerei.
Detering ist wortkarg. Aber auf dieses Thema gibt er Antwort. Er sieht
in die Luft und sagt nur einen Satz: "Ich wurde gerade noch zur Ernte
zurechtkommen." Damit steht er auf und geht weg.
Er macht sich Sorgen. Seine Frau muß den Hof bewirtschaften.
Dabei haben sie ihm noch zwei Pferde weggeholt. Jeden Tag liest er die
Zeitungen, die kommen, ob es in seiner oldenburgischen Ecke auch nicht
regnet. Sie bringen das Heu sonst nicht fort.
In diesem Augenblick erscheint Himmelstoß. Er kommt direkt auf
unsere Gruppe zu. Tjadens Gesicht wird fleckig. Er legt sich lungelang ms
Gras und schließt die Augen vor Aufregung.
Himmelstoß ist etwas unschlussig, sein Gang wird langsamer. Dann
marschiert er dennoch zu uns heran. Niemand macht Miene, sich zu erheben.
Kropp sieht ihm interessiert entgegen.
Er steht jetzt vor uns und wartet. Da keiner etwas sagt, lußt er
ein "Na?" vom Stapel.
Ein paar Sekunden verstreichen; Himmelstoß weiß sichtlich
nicht, wie er sich benehmen soll. Am liebsten muchte er uns jetzt im Galopp
schleifen. Immerhin scheint er schon gelernt zu haben, daß die Front
kein Kasernenhof ist. Er versucht es abermals und wendet sich nicht mehr an
alle, sondern an einen, er hofft, so leichter Antwort zu erhalten. Kropp ist
ihm am nuchsten. Ihn beehrt er deshalb. "Na, auch hier?"
Aber Albert ist sein Freund nicht. Er antwortet knapp: "Bißchen
lunger als Sie, denke ich."
Der rutliche Schnurrbart zittert. "Ihr kennt mich wohl nicht mehr,
was?"
Tjaden schlugt jetzt die Augen auf. "Doch."
Himmelstoß wendet sich ihm zu: "Das ist doch Tjaden, nicht?"
Tjaden hebt den Kopf.
"Und weißt du, was du bist?"
Himmelstoß ist verblufft. "Seit wann duzen wir uns denn? Wir
haben doch nicht zusammen im Chausseegraben gelegen."
Er weiß absolut nichts aus der Situation zu machen. Diese offene
Feindseligkeit hat er nicht erwartet. Aber er hutet sich vorluufig; sicher
hat ihm jemand den Unsinn von Schussen in den Rucken vorgeschwatzt.
Tjaden wird auf die Frage nach dem Chausseegraben vor Wut sogar witzig.
"Nee, das warst du alleme."
Jetzt kocht Himmelstoß auch. Tjaden kommt ihm jedoch eilig zuvor.
Er muß seinen Spruch loswerden. "Was du bist, willst du wissen? Du
bist ein Sauhund, das bist du! Das wollt' ich dir schon lange mal sagen."
Die Genugtuung vieler Monate leuchtet ihm aus den blanken Schweinsaugen, als
er den Sauhund hinausschmettert.
Auch Himmelstoß ist nun entfesselt: "Was willst du Mistkuter, du
dreckiger Torfdeubel? Stehen Sie auf, Knochen zusammen, wenn ein
Vorgesetzter mit Ihnen spricht!"
Tjaden winkt großartig. "Sie kunnen ruhren, Himmelstoß.
Wegtreten."
Himmelstoß ist ein tobendes Exerzierreglement. Der Kaiser kunnte
nicht beleidigter sein. Er heult: "Tjaden, ich befehle Ihnen dienstlich:
Stehen Sie auf!"
"Sonst noch was?" fragt Tjaden.
"Wollen Sie meinem Befehl Folge leisten oder nicht?"
Tjaden erwidert gelassen und abschließend, ohne es zu wissen, mit
dem bekanntesten Klassikerzitat. Gleichzeitig luftet er seine Kehrseite.
Himmelstoß sturmt davon: " Sie kommen vors Kriegsgericht!"
Wir sehen ihn in der Richtung zur Schreibstube verschwinden.
Haie und Tjaden sind ein gewaltiges Torfstechergebrull. Haie lacht so,
daß er sich die Kinnlade ausrenkt und mit offenem Maul plutzlich
hilflos dasteht. Albert muß sie ihm mit einem Faustschlag erst wieder
einsetzen.
Kat ist besorgt. "Wenn er dich meldet, wird's buse."
"Meinst du, daß er es tut?" fragt Tjaden.
"Bestimmt", sage ich.
"Das mindeste, was du kriegst, sind funf Tage Dicken", erklurt Kat.
Das erschuttert Tjaden nicht. "Funf Tage Kahn sind funf Tage Ruhe."
"Und wenn du auf Festung kommst?" forscht der grundlichere Muller.
"Dann ist der Krieg fur mich so lange aus."
Tjaden ist ein Sonntagskind. Fur ihn gibt es keine Sorgen. Mit Haie und
Leer zieht er ab, damit man ihn nicht in der ersten Aufregung findet.
Muller ist noch immer nicht zu Ende. Er nimmt sich wieder Kropp vor.
"Albert, wenn du nun tatsuchlich nach Hause kumst, was wurdest du machen?"
Kropp ist jetzt satt und deshalb nachgiebiger. "Wieviel Mann wuren wir
dann eigentlich in der Klasse?"
Wir rechnen: von zwanzig sind sieben tot, vier verwundet, einer in der
Irrenanstalt. Es kumen huchstens also zwulf Mann zusammen.
"Drei sind davon Leutnants", sagt Muller. "Glaubst du, daß sie
sich von Kantorek anschnauzen ließen?"
"Wir glauben es nicht; wir wurden uns auch nicht mehr anschnauzen
lassen."
"Was hultst du eigentlich von der dreifachen Handlung im Wilhelm Teil?"
erinnert sich Kropp mit einem Male und brullt vor Lachen.
"Was waren die Ziele des Guttinger Hainbundes?" forscht auch Muller
plutzlich sehr streng.
"Wieviel Kinder hatte Karl der Kuhne?" erwidere ich ruhig.
"Aus Ihnen wird im Leben nichts, Buumer", quukt Muller.
"Wann war die Schlacht bei Zama?" will Kropp wissen.
"Ihnen fehlt der sittliche Ernst, Kropp, setzen Sie sich, drei minus
-", winke ich ab.
"Welche Aufgaben hielt Lykurgus fur die wichtigsten im Staate?" wispert
Muller und scheint an einem Kneifer zu rucken.
"Heißt es: Wir Deutsche furchten Gott, sonst niemand in der Welt,
oder wir Deutschen ...?" gebe ich zu bedenken.
"Wieviel Einwohner hat Melbourne ?" zwitschert Muller zuruck.
"Wie wollen Sie bloß im Leben bestehen, wenn Sie das nicht
wissen?" frage ich Albert empurt.
"Was versteht man unter Kohusion?" trumpft der nun auf.
Von dem ganzen Kram wissen wir nicht mehr allzuviel. Er hat uns auch
nichts genutzt. Aber niemand hat uns in der Schule beigebracht, wie man bei
Regen und Sturm eine Zigarette anzundet, wie man ein Feuer aus nassem Holz
machen kann - oder daß man ein Bajonett am besten in den Bauch
stußt, weil es da nicht festklemmt wie bei den Rippen.
Muller sagt nachdenklich: "Was nutzt es. Wir werden doch wieder auf die
Schulbank mussen."
Ich halte es fur ausgeschlossen. "Vielleicht machen wir ein Notexamen."
"Dazu brauchst du Vorbereitung. Und wenn du es schon bestehst, was
dann? Student sein ist nicht viel besser. Wenn du kein Geld hast, mußt
du auch buffeln."
"Etwas besser ist es. Aber Quatsch bleibt es trotzdem, was sie dir da
eintrichtern."
Kropp trifft unsere Stimmung:
"Wie kann man das ernst nehmen, wenn man hier draußen gewesen
ist."
"Aber du mußt doch einen Beruf haben", wendet Muller ein, als
wure er Kantorek in Person.
Albert reinigt sich die Nugel mit dem Messer. Wir sind erstaunt uber
dieses Stutzertum. Aber es ist nur Nachdenklichkeit. Er schiebt das Messer
weg und erklurt: "Das ist es ja. Kat und Detering und Haie werden wieder in
ihren Beruf gehen, weil sie ihn schon vorher gehabt haben. Himmelstoß
auch. Wir haben keinen gehabt. Wie sollen wir uns da nach diesem hier" - er
macht eine Bewegung zur Front - "an einen gewuhnen."
"Man mußte Rentier sein und dann ganz allein in einem Walde
wohnen kunnen -", sage ich, schume mich aber sofort uber diesen
Grußenwahn.
"Was soll das bloß werden, wenn wir zuruckkommen?" meint Muller,
und selbst er ist betroffen.
Kropp zuckt die Achseln. "Ich weiß nicht. Erst mal da sein, dann
wird sich's ja zeigen."
Wir sind eigentlich alle ratlos. "Was kunnte man denn machen?" frage
ich.
"Ich habe zu nichts Lust", antwortet Kropp mude. "Eines Tages bist du
doch tot, was hast du da schon? Ich glaube nicht, daß wir uberhaupt
zuruckkommen."
"Wenn ich daruber nachdenke, Albert", sage ich nach einer Weile und
wulze mich auf den Rucken, "so muchte ich, wenn ich das Wort Friede hure,
und es wure wirklich so, irgend etwas Unausdenkbares tun, so steigt es mir
zu Kopf. Etwas, weißt du, was wert ist, daß man hier im
Schlamassel gelegen hat. Ich kann mir bloß nichts vorstellen. Was ich
an Muglichem sehe, diesen ganzen Betrieb mit Beruf und Studium und Gehalt
und so weiter - das kotzt mich an, denn das war ja immer schon da und ist
widerlich. Ich finde nichts - ich finde nichts, Albert."
Mit einemmal scheint mir alles aussichtslos und verzweifelt.
Kropp denkt ebenfalls daruber nach. Es wird uberhaupt schwer werden mit
uns allen. Ob die sich in der Heimat eigentlich nicht manchmal Sorgen machen
deswegen? Zwei Jahre Schießen und Handgranaten - das kann man doch
nicht ausziehen wie einen Strumpf nachher -"
Wir stimmen darin uberein, daß es jedem uhnlich geht; nicht nur
uns hier; uberall, jedem, der in der gleichen Lage ist, dem einen mehr, dem
andern weniger. Es ist das gemeinsame Schicksal unserer Generation.
Albert spricht es aus. "Der Krieg hat uns fur alles verdorben."
Er hat recht. Wir sind keine Jugend mehr. Wir wollen die Welt nicht
mehr sturmen. Wir sind Fluchtende. Wir fluchten vor uns. Vor unserem Leben.
Wir waren achtzehn Jahre und begannen die Welt und das Dasein zu lieben; wir
mußten darauf schießen. Die erste Granate, die einschlug, traf
in unser Herz. Wir sind abgeschlossen vom Tutigen, vom Streben, vom
Fortschritt. Wir glauben nicht mehr daran; wir glauben an den Krieg.
Die Schreibstube wird lebendig. Himmelstoß scheint sie alarmiert
zu haben. An der Spitze der Kolonne trabt der dicke Feldwebel. Komisch,
daß fast alle etatsmußigen Feldwebel dick sind.
Ihm folgt der rachedurstende Himmelstoß. Seine Stiefel glunzen in
der Sonne.
Wir erheben uns. Der Spieß schnauft:
"Wo ist Tjaden?"
Naturlich weiß es keiner. Himmelstoß glitzert uns buse an.
"Bestimmt wißt ihr es. Wollt es bloß nicht sagen. Raus mit
der Sprache."
Der Spieß sieht sich suchend um; Tjaden ist nirgendwo zu
erblicken. Er versucht es andersherum. "In zehn Minuten soll Tjaden sich
auf der Schreibstube melden." Damit zieht er davon, Himmelstoß in
seinem Kielwasser.
"Ich habe das Gefuhl, daß mir beim nuchsten Schanzen eine
Drahtrolle auf die Beine von Himmelstoß fallen wird", vermutet Kropp.
"Wir werden an ihm noch viel Spaß haben", lacht Muller. Das ist
nun unser Ehrgeiz: einem Brieftruger die Meinung stoßen. -
Ich gehe in die Baracke und sage Tjaden Bescheid, damit er
verschwindet. Dann wechseln wir unsern Platz und lagern uns wieder, um
Karten zu spielen. Denn das kunnen wir: Kartenspielen, fluchen und Krieg
fuhren. Nicht viel fur zwanzig Jahre - zuviel fur zwanzig Jahre.
Nach einer halben Stunde ist Himmelstoß erneut bei uns. Niemand
beachtet ihn. Er fragt nach Tjaden. Wir zucken die Achseln.
"Ihr solltet ihn doch suchen", beharrt er.
"Wieso ihr?" erkundigt sich Kropp.
"Na, ihr hier -"
"Ich muchte Sie bitten, uns nicht zu duzen", sagt Kropp wie ein Oberst.
Himmelstoß fullt aus den Wolken. "Wer duzt euch denn?"
"Sie!"
"Ich?"
"Ja."
Es arbeitet in ihm. Er schielt Kropp mißtrauisch an, weil er
keine Ahnung hat, was der meint. Immerhin traut er sich in diesem Punkte
nicht ganz und kommt uns entgegen. "Habt ihr ihn nicht gefunden?"
Kropp legt sich ins Gras und sagt: "Waren Sie schon mal hier
draußen?"
"Das geht Sie gar nichts an", bestimmt Himmelstoß. "Ich verlange
Antwort."
"Gemacht", erwidert Kropp und erhebt sich. "Sehen Sie mal dorthin, wo
die kleinen Wulkchen stehen. Das sind die Geschosse der Flaks. Da waren wir
gestern. Funf Tote, acht Verwundete .Dabei war es eigentlich ein Spaß.
Wenn Sie nuchstens mit 'rausgehen, werden die Mannschaften, bevor sie
sterben, erst vor Sie hintreten, die Knochen zusammenreißen und zackig
fragen: Bitte wegtreten zu durfen! Bitte abkratzen zu durfen! Auf Leute wie
Sie haben wir hier gerade gewartet."
Er setzt sich wieder, und Himmelstoß verschwindet wie ein Komet.
"Drei Tage Arrest", vermutet Kat.
"Das nuchstemal lege ich los", sage ich zu Albert.
Aber es ist Schluß. Dafur findet abends beim Appell eine
Vernehmung statt. In der Schreibstube sitzt unser Leutnant Bertinck und
lußt einen nach dem andern rufen.
Ich muß ebenfalls als Zeuge erscheinen und klure auf, weshalb
Tjaden rebelliert hat. Die Bettnussergeschichte macht Eindruck.
Himmelstoß wird herangeholt und ich wiederhole meine Aussagen.
"Stimmt das?" fragt Bertinck Himmelstoß.
Der windet sich und muß es schließlich zugeben, als Kropp
die gleichen Angaben macht.
"Weshalb hat denn niemand das damals gemeldet?" fragt Bertinck.
Wir schweigen; er muß doch selbst wissen, was eine Beschwerde
uber solche Kleinigkeiten beim Kommiß fur Zweck hat. Gibt es beim
Kommiß uberhaupt Beschwerden ? Er sieht es wohl ein und kanzelt
Himmelstoß zunuchst ab, indem er ihm noch einmal energisch klarmacht,
daß die Front kein Kasernenhof sei. Dann kommt in versturktem
Maße Tjaden an die Reihe, der eine ausgewachsene Predigt und drei Tage
Mittelarrest erhult. Kropp diktiert er mit einem Augenzwinkern einen Tag
Arrest.
"Geht nicht anders", sagt erbedauernd zu ihm. Er ist ein vernunftiger
Kerl.
Mittelarrest ist angenehm. Das Arrestlokal ist ein fruherer
Huhnerstall; da kunnen beide Besuch empfangen, wir verstehen uns schon
darauf, hinzukommen. Dicker Arrest wure Keller gewesen. Fruher wurden wir
auch an einen Baum gebunden, doch das ist jetzt verboten. Manchmal werden
wir schon wie Menschen behandelt.
Eine Stunde nachdem Tjaden und Kropp hinter ihren Drahtgittern sitzen,
brechen wir zu ihnen auf. Tjaden begrußt uns kruhend.
Dann spielen wir bis in die Nacht Skat. Tjaden gewinnt naturlich, das
dumme Luder.
Beim Aufbrechen fragt Kat mich: "Was meinst du zu Gunsebraten?"
"Nicht schlecht", finde ich.
Wir klettern auf eine Munitionskolonne. Die Fahrt kostet zwei
Zigaretten. Kat hat sich den Ort genau gemerkt. Der Stall gehurt einem
Regimentsstab. Ich beschließe, die Gans zu holen, und lasse mir
Instruktionen geben. Der Stall ist hinter der Mauer, nur mit einem Pflock
verschlossen.
Kat hult mir die Hunde hin, ich stemme den Fuß hinein und
klettere uber die Mauer. Kat steht unterdessen Schmiere.
Einige Minuten bleibe ich stehen, um die Augen an die Dunkelheit zu
gewuhnen. Dann erkenne ich den Stall. Leise schleiche ich mich heran, taste
den Pflock ab, ziehe ihn weg und uffne die Tur.
Ich unterscheide zwei weiße Flecke. Zwei Gunse, das ist faul:
faßt man die eine, so schreit die andere. Also beide - wenn ich
schnell bin, klappt es.
Mit einem Satz springe ich zu. Eine erwische ich sofort, einen Moment
sputer die zweite. Wie verruckt haue ich die Kupfe gegen die Wand, um sie zu
betuuben. Aber ich muß wohl nicht genugend Wucht haben. Die Biester
ruuspern sich und schlagen mit Fußen und Flugeln um sich. Ich kumpfe
erbittert, aber, Donnerwetter, was hat so eine Gans fur Kraft! Sie zerren,
daß ich hin und her taumele. Im Dunkel sind diese weißen Lappen
scheußlich, meine Arme haben Flugel gekriegt, beinahe habe ich Angst,
daß ich mich zum Himmel erhebe, als hutte ich ein paar Fesselballons
in den Pfoten.
Da geht auch schon der Lurm los; einer der Hulse hat Luft geschnappt
und schnarrt wie eine Weckuhr. Ehe ich mich versehe, tappt es draußen
heran, ich bekomme einen Stoß, liege am Boden und hure wutendes
Knurren. Ein Hund.
Ich blicke zur Seite; da schnappt er schon nach meinem Halse. Sofort
liege ich still und ziehe vor allem das Kinn an den Kragen.
Es ist eine Dogge. Nach einer Ewigkeit nimmt sie den Kopf zuruck und
setzt sich neben mich. Doch wenn ich versuche, mich zu bewegen, knurrt sie.
Ich uberlege. Das einzige, was ich tun kann, ist, daß ich meinen
kleinen Revolver zu fassen kriege. Fort muß ich hier auf jeden Fall,
ehe Leute kommen. Zentimeterweise schiebe ich die Hand heran.
Ich habe das Gefuhl, daß es Stunden dauert. Immer eine leise
Bewegung und ein gefuhrliches Knurren; Stilliegen und erneuter Versuch. Als
ich den Revolver in der Hand habe, fungt sie an zu zittern. Ich drucke sie
auf den Boden und mache mir klar: Revolver hochreißen, schießen,
ehe er zufassen kann, und turmen.
Langsam hole ich Atem und werde ruhiger. Dann halte ich die Luft an,
zucke den Revolver hoch, es knallt, die Dogge spritzt jaulend zur Seite, ich
gewinne die Tur des Stalles und purzele uber eine der gefluchteten Gunse.
Im Galopp greife ich schnell noch zu, schmeiße sie mit einem
Schwung uber die Mauer und klettere selbst hoch. Ich bin noch nicht hinuber,
da ist die Dogge auch schon wieder munter und springt nach mir. Rasch lasse
ich mich fallen. Zehn Schritt vor mir steht Kat, die Gans im Arm. Sowie er
mich sieht, laufen wir.
Endlich kunnen wir verschnaufen. Die Gans ist tot, Kat hat das in einem
Moment erledigt. Wir wollen sie gleich braten, damit keiner etwas merkt. Ich
hole Tupfe und Holz aus der Baracke, und wir kriechen in einen kleinen
verlassenen Schuppen, den wir fur solche Zwecke kennen. Die einzige
Fensterluke wird dicht verhungt. Eine Art Herd ist vorhanden, auf
Backsteinen liegt eine eiserne Platte. Wir zunden ein Feuer an.
Kat rupft die Gans und bereitet sie zu. Die Federn legen wir sorgfultig
beiseite. Wir wollen uns zwei kleine Kissen daraus machen mit der
Aufschrift: "Ruhe sanft im Trommelfeuer!"
Das Artilleriefeuer der Front umsummt unsern Zufluchtsort. Lichtschein
flackert uber unsere Gesichter, Schatten tanzen auf der Wand. Manchmal ein
dumpfer Krach, dann zittert der Schuppen. Fliegerbomben. Einmal huren wir
gedumpfte Schreie. Eine Baracke muß getroffen sein.
Flugzeuge surren; das Tacktack von MaschirMßgewehren wird laut.
Aber von uns dringt kein Licht hinaus, dasrzu sehen wure.
So sitzen wir uns gegenuber, Kat und ich, zwei Soldaten in abgeschabten
Rucken, die eine Gans braten, mitten in der Nacht. Wir reden nicht viel,
aber wir sind voll zarterer Rucksicht miteinander, als ich mir denke,
daß Liebende es sein kunnen. Wir sind zwei Menschen, zwei winzige
Funken Leben, draußen ist die Nacht und der Kreis des Todes. Wir
sitzen an ihrem Rande, gefuhrdet und geborgen, uber unsere Hunde trieft
Fett, wir sind uns nahe mit unseren Herzen, und die Stunde ist wie der Raum:
uberflackert von einem sanften Feuer, gehen die Lichter und Schatten der
Empfindungen hin und her. Was weiß er von mir - was weiß ich von
ihm, fruher wure keiner unserer Gedanken uhnlich gewesen - jetzt sitzen wir
vor einer Gans und fuhlen unser Dasein und sind uns so nahe, daß wir
nicht daruber sprechen mugen.
Es dauert lange, eine Gans zu braten, auch wenn sie jung und fett ist.
Wir wechseln uns deshalb ab. Einer begießt sie, wuhrend der andere
unterdessen schluft. Ein herrlicher Duft verbreitet sich allmuhlich.
Die Geruusche von draußen werden zu einem Band, zu einem Traum,
der aber die Erinnerung nicht ganz verliert. Ich sehe im Halbschlaf Kat den
Luffel heben und senken, ich liebe ihn, seine Schultern, seine eckige,
gebeugte Gestalt - und zu gleicher Zeit sehe ich hinter ihm Wulder und
Sterne, und eine gute Stimme sagt Worte, die mir Ruhe geben, mir, einem
Soldaten, der mit seinen großen Stiefeln und seinem Koppel und seinem
Brotbeutel klein unter dem hohen Himmel den Weg geht, der vor ihm liegt, der
rasch vergißt und nur selten noch traurig ist, der immer weitergeht
unter dem großen Nachthimmel.
Ein kleiner Soldat und eine gute Stimme, und wenn man ihn streicheln
wurde, kunnte er es vielleicht nicht mehr verstehen, der Soldat mit den
großen Stiefeln und dem zugeschutteten Herzen, der marschiert, weil er
Stiefel trugt, und alles vergessen hat außer dem Marschieren. Sind am
Horizont nicht Blumen und eine Landschaft, die so still ist, daß er
weinen muchte, der Soldat? Stehen dort nicht Bilder, die er nicht verloren
hat, weil er sie nie besessen hat, verwirrend, aber dennoch fur ihn voruber?
Stehen dort nicht seine zwanzig Jahre?
Ist mein Gesicht naß, und wo bin ich? Kat steht vor mir, sein
riesiger gebuckter Schatten fullt uber mich wie eine Heimat. Er spricht
leise, er luchelt und geht zum Feuer zuruck.
Dann sagt er: "Es ist fertig."
"Ja, Kat."
Ich schuttele mich. In der Mitte des Raumes leuchtet der braune Braten.
Wir holen unsere zusammenklappbaren Gabeln und unsere Taschenmesser heraus
und schneiden uns jeder eine Keule ab. Dazu essen wir Kommißbrot, das
wir in die Soße tunken. Wir essen langsam, mit vollem Genuß.
"Schmeckt es, Kat?"
"Gut! Dir auch?"
"Gut, Kat."
Wir sind Bruder und schieben uns gegenseitig die besten Stucke zu.
Hinterher rauche ich eine Zigarette, Kat eine Zigarre. Es ist noch viel
ubriggeblieben.
"Wie wure es, Kat, wenn wir Kropp und Tjaden ein Stuck bruchten?"
"Gemacht", sagt er. Wir schneiden eine Portion ab und wickeln sie
sorgfultig in Zeitungspapier. Den Rest wollen wir eigentlich in unsere
Baracke tragen, aber Kat lacht und sagt nur: "Tjaden."
Ich sehe es ein, wir mussen alles mitnehmen. So machen wir uns auf den
Weg zum Huhnerstall, um die beiden zu wecken. Vorher packen wir noch die
Federn weg.
Kropp und Tjaden halten uns fur eine Fata Morgana. Dann knirschen ihre
Gebisse. Tjaden hat einen Flugel mit beiden Hunden wie eine Mundharmonika im
Munde und kaut. Er suuft das Fett aus dem Topf und schmatzt: "Das vergesse
ich euch nie!"
Wir gehen zu unserer Baracke. Da ist der hohe Himmel wieder mit den
Sternen und der beginnenden Dummerung, und ich gehe darunter hin, ein Soldat
mit großen Stiefeln und vollem Magen, ein kleiner Soldat in der Fruhe
- aber neben mir, gebeugt und eckig, geht Kat, mein Kamerad.
Die Umrisse der Baracke kommen in der Dummerung auf uns zu wie ein
schwarzer, guter Schlaf.
Es wird von einer Offensive gemunkelt. Wir gehen zwei Tage fruher als
sonst an die Front. Auf dem Wege passieren wir eine zerschossene Schule. An
ihrer Lungsseite aufgestapelt steht eine doppelte, hohe Mauer von ganz
neuen, hellen, unpolierten Surgen. Sie riechen noch nach Harz und Kiefern
und Wald. Es sind mindestens hundert.
"Da ist ja gut vorgesorgt zur Offensive", sagt Muller erstaunt.
"Die sind fur uns", knurrt Detering.
"Quatsch nicht!" fuhrt Kat ihn an.
"Sei froh, wenn du noch einen Sarg kriegst", grinst Tjaden, "dir
verpassen sie doch nur eine Zeltbahn fur deine Schießbudenfigur,
paß auf!"
Auch die andern machen Witze, unbehagliche Witze, was sollen wir sonst
tun. - Die Surge sind ja tatsuchlich fur uns. In solchen Dingen klappt die
Organisation.
uberall vorn brodelt es. In der ersten Nacht versuchen wir uns zu
orientieren. Da es ziemlich still ist, kunnen wir huren, wie die Transporte
hinter der gegnerischen Front rollen, unausgesetzt, bis in die Dummerung
hinein. Kat sagt, daß sie nicht abrollen, sondern Truppen bringen,
Truppen, Munition, Geschutze.
Die englische Artillerie ist versturkt, das huren wir sofort. Es stehen
rechts von der Ferme mindestens vier Batterien 20,5 mehr, und hinter dem
Pappelstumpf sind Minenwerfer eingebaut. Außerdem ist eine Anzahl
dieser kleinen franzusischen Biester mit Aufschlagzundern hinzugekommen.
Wir sind in gedruckter Stimmung. Zwei Stunden nachdem wir in den
Unterstunden stecken, schießt uns die eigene Artillerie in den Graben.
Es ist das drittemal in vier Wochen. Wenn es noch Zielfehler wuren, wurde
keiner was sagen, aber es liegt daran, daß die Rohre zu ausgeleiert
sind; sie streuen bis in unsern Abschnitt, so
unsicher werden die Schusse oft. In dieser Nacht haben wir dadurch zwei
Verwundete.
Die Front ist ein Kufig, in dem man nervus warten muß auf das,
was geschehen wird. Wir liegen unter dem Gitter der Granatenbogen und leben
in der Spannung des Ungewissen. uber uns schwebt der Zufall. Wenn ein
Geschoß kommt, kann ich mich ducken, das ist alles; wohin es schlugt,
kann ich weder genau wissen noch beeinflussen.
Dieser Zufall ist es, der uns gleichgultig macht. Ich saß vor
einigen Monaten in einem Unterstand und spielte Skat; nach einer Weile stand
ich auf und ging, Bekannte in einem andern Unterstand zu besuchen. Als ich
zuruckkam, war von dem ersten nichts mehr zu sehen, er war von einem
schweren Treffer zerstampft. Ich ging zum zweiten zuruck und kam gerade
rechtzeitig, um zu helfen, ihn aufzugraben. Er war inzwischen verschuttet
worden.
Ebenso zufullig, wie ich getroffen werde, bleibe ich am Leben. Im
bombensicheren Unterstand kann ich zerquetscht werden, und auf freiem Felde
zehn Stunden Trommelfeuer unverletzt uberstehen. Jeder Soldat bleibt nur
durch tausend Zufulle am Leben. Und jeder Soldat glaubt und vertraut dem
Zufall.
Wir mussen auf unser Brot achtgeben. Die Ratten haben sich sehr
vermehrt in der letzten Zeit, seit die Gruben nicht mehr recht in Ordnung
sind. Detering behauptet, es wure das sicherste Vorzeichen fur dicke Luft.
Die Ratten hier sind besonders widerwurtig, weil sie so groß
sind. Es ist die Art, die man Leichenratten nennt. Sie haben
scheußliche, busartige, nackte Gesichter, und es kann einem ubel
werden, wenn man ihre langen, kahlen Schwunze sieht.
Sie scheinen recht hungrig zu sein. Bei fast allen haben sie das Brot
angefressen. Kropp hat es unter seinem Kopf fest in die Zeltbahn gewickelt,
doch er kann nicht schlafen, weil sie ihm uber das Gesicht laufen, um
heranzugelangen. Detering wollte schlau sein; er hatte an der Decke einen
dunnen Draht befestigt und sein Brot darangehungt. Als er nachts seine
Taschenlampe anknipst, sieht er den Draht hin und her schwanken. Auf dem
Brot reitet eine fette Ratte.
Schließlich machen wir ein Ende. Die Stucke Brot, die von den
Tieren benagt sind, schneiden wir sorgfultig aus; wegwerfen kunnen wir das
Brot ja auf keinen Fall, weil wir morgen sonst nichts zu essen haben.
Die abgeschnittenen Scheiben legen wir in der Mitte auf dem Boden
zusammen. Jeder nimmt seinen Spaten heraus und legt sich schlagbereit hin.
Detering, Kropp und Kat halten ihre Taschenlampen bereit.
Nach wenigen Minuten huren wir das erste Schlurfen und Zerren. Es
versturkt sich, nun sind es viele kleine Fuße. Da blitzen die
Taschenlampen auf, und alles schlugt auf den schwarzen Haufen ein, der
auseinanderzischt. Der Erfolg ist gut. Wir schaufeln die Rattenteile uber
den Grabenrand und legen uns wieder auf die Lauer.
Noch einige Male gelingt uns der Schlag. Dann haben die Tiere etwas
gemerkt oder das Blut gerochen. Sie kommen nicht mehr. Trotzdem ist der
Brotrest auf dem Boden am nuchsten Tage von ihnen weggeholt.
Im benachbarten Abschnitt haben sie zwei große Katzen und einen
Hund uberfallen, totgebissen und angefressen.
Am nuchsten Tage gibt es Edamer Kuse. Jeder erhult fast einen
Viertelkuse. Das ist teilweise gut, denn Edamer schmeckt - und es ist
teilweise faul, denn fur uns waren die dicken roten Bulle bislang immer ein
Anzeichen fur schweren Schlamassel. Unsere Ahnung steigert sich, als noch
Schnaps ausgeteilt wird. Vorluufig trinken wir ihn; aber uns ist nicht wohl
zumute dabei.
Tagsuber machen wir Wettschießen auf Ratten und lungern umher.
Die Patronen und Handgranatenvorrute werden reichlicher. Die Bajonette
revidieren wir selbst. Es gibt numlich welche, die gleichzeitig auf der
stumpfen Seite als Suge eingerichtet sind. Wenn die druben jemand damit
erwischen, wird er rettungslos abgemurkst. Im Nachbarabschnitt sind Leute
von uns wiedergefunden worden, denen mit diesen Sugeseitengewehren die Nasen
abgeschnitten und die Augen ausgestochen waren. Dann hatte man ihnen den
Mund und Nase mit Sugespunen gefullt und sie so erstickt.
Einige Rekruten haben noch Seitengewehre uhnlicher Art; wir schaffen
sie weg und besorgen ihnen andere.
Das Seitengewehr hat allerdings an Bedeutung verloren. Zum Sturmen ist
es jetzt manchmal Mode, nur mit Handgranaten und Spaten vorzugehen. Der
geschurfte Spaten ist eine leichtere und vielseitigere Waffe, man kann ihn
nicht nur unter das Kinn stoßen, sondern vor allem damit schlagen, das
hat grußere Wucht; besonders wenn man schrug zwischen Schulter und
Hals trifft, spaltet man leicht bis zur Brust durch. Das Seitengewehr bleibt
beim Stich oft stecken, man muß dann erst dem andern kruftig gegen den
Bauch treten, um es loszukriegen, und in der Zwischenzeit hat man selbst
leicht eins weg. Dabei bricht es noch außerdem manchmal ab.
Nachts wird Gas abgeblasen. Wir erwarten den Angriff und liegen mit den
Masken fertig, bereit, sie abzureißen, sowie der erste Schatten
auftaucht.
Der Morgen graut, ohne daß etwas erfolgt. Nur immer dieses
nervenzerreibende Rollen druben, Zuge, Zuge, Lastwagen, Lastwagen, was
konzentriert sich da nur? Unsere Artillerie funkt stundig hinuber, aber es
hurt nicht auf, es hurt nicht auf. -
Wir haben mude Gesichter und sehen aneinander vorbei. "Es wird wie an
der Somme, da hatten wir nachher sieben Tage und Nuchte Trommelfeuer", sagt
Kat duster. Er hat gar keinen Witz mehr, seit wir hier sind, und das ist
schlimm, denn Kat ist ein altes Frontschwein, das Witterung besitzt. Nur
Tjaden freut sich der guten Portionen und des Rums; er meint sogar, wir
wurden genauso in Ruhe zuruckkehren, es wurde gar nichts passieren.
Fast scheint es so. Ein Tag nach dem andern geht voruber. Ich sitze
nachts im Loch auf Horchposten. uber mir steigen die Raketen und
Leuchtschirme auf und nieder. Ich bin vorsichtig und gespannt, mein Herz
klopft. Immer wieder liegt mein Auge auf der Uhr mit dem Leuchtzifferblatt;
der Zeiger will nicht weiter. Der Schlaf hungt in meinen Augenlidern, ich
bewege die Zehen in den Stiefeln, um wachzubleiben. Nichts geschieht, bis
ich abgelust werde; - nur immer das Rollen druben. Wir werden allmuhlich
ruhig und spielen stundig Skat und Mauscheln. Vielleicht haben wir Gluck.
Der Himmel hungt tagsuber voll Fesselballons. Es heißt, daß
von druben jetzt auch hier Tanks eingesetzt werden sollen und
Infanterieflieger beim Angriff. Das interessiert uns aber weniger als das,
was von den neuen Flammenwerfern erzuhlt wird.
Mitten in der Nacht erwachen wir. Die Erde druhnt. Schweres Feuer liegt
uber uns. Wir drucken uns in die Ecken. Geschosse aller Kaliber kunnen wir
unterscheiden.
Jeder greift nach seinen Sachen und vergewissert sich alle Augenblicke
von neuem, daß sie da sind. Der Unterstand bebt, die Nacht ist ein
Brullen und Blitzen. Wir sehen uns bei dem sekundenlangen Licht an und
schutteln mit bleichen Gesichtern und gepreßten Lippen die Kupfe.
Jeder fuhlt es mit, wie die schweren Geschosse die Grabenbrustung
wegreißen, wie sie die Buschung durchwuhlen und die obersten
Betonklutze zerfetzen. Wir merken den dumpferen, rasenderen Schlag, der dem
Prankenhieb eines fauchenden Raubtiers gleicht, wenn der Schuß im
Graben sitzt. Morgens sind einige Rekruten bereits grun und kotzen. Sie sind
noch zu unerfahren.
Langsam rieselt widerlich graues Licht in den Stollen und macht das
Blitzen der Einschluge fahler. Der Morgen ist da. Jetzt mischen sich
explodierende Minen in das Artilleriefeuer. Es ist das Wahnsinnigste an
Erschutterung, was es gibt. Wo sie niederfegen, ist ein Massengrab.
Die Ablusungen gehen hinaus, die Beobachter taumeln herein, mit Schmutz
beworfen, zitternd. Einer legt sich schweigend in die Ecke und ißt,
der andere, ein Ersatzreservist, schluchzt; er ist zweimal uber die
Brustwehr geflogen durch den Luftdruck der Explosion, ohne sich etwas
anderes zu holen als einen Nervenschock.
Die Rekruten sehen zu ihm hin. So etwas steckt rasch an, wir mussen
aufpassen, schon fangen verschiedene Lippen an zu flattern. Gut ist,
daß es Tag wird; vielleicht erfolgt der Angriff vormittags.
Das Feuer schwucht nicht ab. Es liegt auch hinter uns. So weit man
sehen kann, spritzen Dreck- und Eisenfontunen. Ein sehr breiter Gurtel wird
bestrichen.
Der Angriff erfolgt nicht, aber die Einschluge dauern an. Wir werden
langsam taub. Es spricht kaum noch jemand. Man kann sich auch nicht
verstehen.
Unser Graben ist fast fort. An vielen Stellen reicht er nur noch einen
halben Meter hoch, er ist durchbrochen von Luchern, Trichtern und Erdbergen.
Direkt vor unserm Stollen platzt eine Granate. Sofort ist es dunkel. Wir
sind zugeschuttet und mussen uns ausgraben. Nach einer Stunde ist der
Eingang wieder frei, und wir sind etwas gefaßter, weil wir Arbeit
hatten.
Unser Kompaniefuhrer klettert herein und berichtet, daß zwei
Unterstunde weg sind. Die Rekruten beruhigen sich, als sie ihn sehen. Er
sagt, daß heute abend versucht werden soll, Essen heranzubringen.
Das klingt trustlich. Keiner hat daran gedacht, außer Tjaden. Nun
ruckt etwas wieder von draußen nuher; - wenn Essen geholt werden soll,
kann es ja nicht so schlimm sein, denken die Rekruten. Wir sturen sie nicht,
wir wissen, daß Essen ebenso wichtig wie Munition ist und nur deshalb
herangeschafft werden muß.
Aber es mißlingt. Eine zweite Staffel geht los. Auch sie kehrt
um. Schließlich ist Kat dabei, und selbst er erscheint
unverrichtetersache wieder. Niemand kommt durch, kein Hundeschwanz ist
schmal genug fur dieses Feuer.
Wir ziehen unsere Schmachtriemen enger und kauen jeden Happen dreimal
so lange. Doch es reicht trotzdem nicht aus; wir haben verfluchten
Kohldampf. Ich bewahre mir eine Kante auf; das Weiche esse ich heraus, die
Kante bleibt im Brotbeutel; ab und zu knabbere ich mal daran.
Die Nacht ist unertruglich. Wir kunnen nicht schlafen, wir stieren vor
uns hin und duseln. Tjaden bedauert, daß wir unsere angefressenen
Brotstucke fur die Ratten vergeudet haben. Wir hutten sie ruhig aufheben
sollen. Jeder wurde sie jetzt essen. Wasser fehlt uns auch, aber noch nicht
so sehr.
Gegen Morgen, als es noch dunkel ist, entsteht Aufregung. Durch den
Eingang sturzt ein Schwurm fluchtender Ratten und jagt die Wunde hinauf. Die
Taschenlampen beleuchten die Verwirrung. Alle schreien und fluchen und
schlagen zu. Es ist der Ausbruch der Wut und der Verzweiflung vieler
Stunden, der sich entludt. Die Gesichter sind verzerrt, die Arme schlagen,
die Tiere quietschen, es fullt schwer, daß wir aufhuren, fast hutte
einer den anderen angefallen.
Der Ausbruch hat uns erschupft. Wir liegen und warten wieder. Es ist
ein Wunder, daß unser Unterstand noch keine Verluste hat. Er ist einer
der wenigen tiefen Stollen, die es jetzt noch gibt.
Ein Unteroffizier kriecht herein; der hat ein Brot bei sich. Drei
Leuten ist es doch gegluckt, nachts durchzukommen und etwas Proviant zu
holen. Sie haben erzuhlt, daß das Feuer in unverminderter Sturke bis
zu den Artilleriestunden luge. Es sei ein Rutsel, wo die druben so viele
Geschutze hernuhmen.
Wir mussen warten, warten. Mittags passiert das, womit ich schon
rechnete. Einer der Rekruten hat einen Anfall. Ich habe ihn schon lange
beobachtet, wie er ruhelos die Zuhne bewegte und die Fuuste ballte und
schloß. Diese gehetzten, herausspnngenden Augen kennen wir zur Genuge.
In den letzten Stunden ist er nur scheinbar stiller geworden. Er ist in sich
zusammengesunken wie ein morscher Baum.
Jetzt steht er auf, unauffullig kriecht er durch den Raum, verweilt
einen Augenblick und rutscht dann dem Ausgang zu. Ich lege mich herum und
frage: "Wo willst du hin?"
"Ich bin gleich wieder da", sagt er und will an mir vorbei. "Warte doch
noch, das Feuer lußt schon nach."
Er horcht auf, und das Auge wird einen Moment klar. Dann hat es wieder
den truben Glanz wie bei einem tollwutigen Hund, er schweigt und drungt mich
fort. "Eine Minute, Kamerad!" rufe ich.
Kat wird aufmerksam. Gerade als der Rekrut mich fortstußt, packt
er zu, und wir halten ihn fest.
Sofort beginnt er zu toben: "Laßt mich los, laßt mich
'raus, ich will hier'raus!"
Er hurt auf nichts und schlugt um sich, der Mund ist naß und
spruht Worte, halbverschluckte, sinnlose Worte. Es ist ein Anfall von
Unterstandsangst, er hat das Gefuhl, hier zu ersticken, und kennt nur den
einen Trieb: hinauszugelangen. Wenn man ihn laufen ließe, wurde er
ohne Deckung irgendwohin rennen. Er ist nicht der erste.
Da er sehr wild ist und die Augen sich schon verdrehen, so hilft es
nichts, wir mussen ihn verprugeln, damit er vernunftig wird. Wir tun es
schnell und erbarmungslos und erreichen, daß er vorluufig wieder ruhig
sitzt. Die andern sind bleich bei der Geschichte geworden; hoffentlich
schreckt es sie ab. Dieses Trommelfeuer ist zuviel fur die armen Kerle; sie
sind vom Feldrekrutendepot gleich in einen Schlamassel geraten, der selbst
einem alten Mann graue Haare machen kunnte.
Die stickige Luft fullt uns nach diesem Vorgang noch mehr auf die
Nerven. Wir sitzen wie in unserm Grabe und warten nur darauf, daß wir
zugeschuttet werden. Plutzlich heult und blitzt es ungeheuer, der Unterstand
kracht in allen Fugen unter einem Treffer, glucklicherweise einem leichten,
dem die Betonklutze standgehalten haben. Es klirrt metallisch und
furchterlich, die Wunde wackeln, Gewehre, Helme, Erde, Dreck und Staub
fliegen. Schwefeliger Qualm dringt ein. Wenn wir statt in dem festen
Unterstand in einem der leichten Dinger sußen, wie sie neuerdings
gebaut werden, lebte jetzt keiner mehr.
Die Wirkung ist aber auch so schlimm genug. Der Rekrut von vorhin tobt
schon wieder, und zwei andere schließen sich an. Einer reißt aus
und luuft weg. Wir haben Muhe mit den beiden andern. Ich sturze hinter dem
Fluchtenden her und uberlege, ob ich ihm in die Beine schießen soll; -
da pfeift es heran, ich werfe mich hin, und als ich aufstehe, ist die
Grabenwand mit heißen Splittern, Fleischfetzen und Uniformlappen
bepflastert. Ich klettere zuruck.
Der erste scheint wirklich verruckt geworden zu sein. Er rennt mit dem
Kopf wie ein Bock gegen die Wand, wenn man ihn loslußt. Wir werden
nachts versuchen mussen, ihn nach hinten zu bringen. Vorluufig binden wir
ihn so fest, daß man ihn beim Angriff sofort wieder losmachen kann.
Kat schlugt vor, Skat zu spielen; - was soll man tun, vielleicht ist es
leichter dann. Aber es wird nichts daraus, wir lauschen auf jeden Einschlag,
der nuher ist, und verzuhlen uns bei den Stichen oder bedienen nicht die
Farbe. Wir mussen es lassen. Wie in einem gewaltig druhnenden Kessel sitzen
wir, auf den von allen Seiten losgeschlagen wird.
Noch eine Nacht. Wir sind jetzt stumpf vor Spannung. Es ist eine
tudliche Spannung, die wie ein schartiges Messer unser Ruckenmark entlang
kratzt. Die Beine wollen nicht mehr, die Hunde zittern, der Kurper ist eine
dunne Haut uber muhsam unterdrucktem Wahnsinn, uber einem gleich hemmungslos
ausbrechenden Gebrull ohne Ende. Wir haben kein Fleisch und keine Muskeln
mehr, wir kunnen uns nicht mehr ansehen, aus Furcht vor etwas
Unberechenbarem. So pressen wir die Lippen aufeinander - es wird
vorubergehen - es wird vorubergehen - vielleicht kommen wir durch.
Mit einem Male huren die nahen Einschluge auf. Das Feuer dauert an,
aber es ist zuruckverlegt, unser Graben ist frei. Wir greifen nach den
Handgranaten, werfen sie vor den Unterstand und springen hinaus. Das
Trommelfeuer hat aufgehurt, dafur liegt hinter uns ein schweres Sperrfeuer.
Der Angriff ist da.
Niemand wurde glauben, daß in dieser zerwuhlten Wuste noch
Menschen sein kunnten; aber jetzt tauchen uberall aus dem Graben die
Stahlhelme auf, und funfzig Meter von uns entfernt ist schon ein
Maschinengewehr in Stellung gebracht, das gleich losbellt.
Die Drahtverhaue sind zerfetzt. Immerhin halten sie noch etwas auf. Wir
sehen die Sturmenden kommen. Unsere Artillerie funkt. Maschinengewehre
knarren, Gewehre knattern. Von druben arbeiten sie sich heran. Haie und
Kropp beginnen mit den Handgranaten. Sie werfen, so rasch sie kunnen, die
Stiele werden ihnen abgezogen zugereicht. Haie wirft sechzig Meter weit,
Kropp funfzig, das ist ausprobiert und wichtig. Die von druben kunnen im
Laufen nicht viel eher etwas machen, als bis sie auf dreißig Meter
heran sind.
Wir erkennen die verzerrten Gesichter, die flachen Helme, es sind
Franzosen. Sie erreichen die Reste des Drahtverhaus und haben schon
sichtbare Verluste. Eine ganze Reihe wird von dem Maschinengewehr neben uns
umgelegt; dann haben wir viele Ladehemmungen, und sie kommen nuher.
Ich sehe einen von ihnen in einen spanischen Reiter sturzen, das
Gesicht hoch erhoben. Der Kurper sackt zusammen, die Hunde bleiben hungen,
als wollte er beten. Dann fullt der Kurper ganz weg, und nur noch die
abgeschossenen Hunde mit den Armstumpfen hungen im Draht.
Im Augenblick, als wir zuruckgehen, heben sich vorn drei Gesichter vom
Boden. Unter einem der Helme ein dunkler Spitzbart und zwei Augen, die fest
auf mich gerichtet sind. Ich hebe die Hand, aber ich kann nicht werfen in
diese sonderbaren Augen, einen verruckten Moment lang rast die ganze
Schlacht wie ein Zirkus um mich und diese beiden Augen, die allein
bewegungslos sind, dann reckt sich druben der Kopf auf, eine Hand, eine
Bewegung, und meine Handgranate fliegt hinuber, hinein.
Wir laufen zuruck, reißen spanische Reiter in den Graben und
lassen abgezogene Handgranaten hinter uns fallen, die uns einen feurigen
Ruckzug sichern. Von der nuchsten Stellung aus feuern die Maschinengewehre.
Aus uns sind gefuhrliche Tiere geworden. Wir kumpfen nicht, wir
verteidigen uns vor der Vernichtung. Wir schleudern die Granaten nicht gegen
Menschen, was wissen wir im Augenblick davon, dort hetzt mit Hunden und
Helmen der Tod hinter uns her, wir kunnen ihm seit drei Tagen zum ersten
Male ins Gesicht sehen, wir kunnen uns seit drei Tagen zum ersten Male
wehren gegen ihn, wir haben eine wahnsinnige Wut, wir liegen nicht mehr
ohnmuchtig wartend auf dem Schafott, wir kunnen zersturen und tuten, um uns
zu retten und zu ruchen.
Wir hocken hinter jeder Ecke, hinter jedem Stacheldrahtgestell und
werfen den Kommenden Bundel von Explosionen vor die Fuße, ehe wir
forthuschen. Das Krachen der Handgranaten schießt kraftvoll in unsere
Arme, in unsere Beine, geduckt wie Katzen laufen wir, uberschwemmt von
dieser Welle, die uns trugt, die uns grausam macht, zu Wegelagerern, zu
Murdern, zu Teufeln meinetwegen, dieser Welle, die unsere Kraft
vervielfultigt in Angst und Wut und Lebensgier, die uns Rettung sucht und
erkumpft. Kume dein Vater mit denen druben, du wurdest nicht zaudern, ihm
die Granate gegen die Brust zu werfen!
Die vorderen Gruben werden aufgegeben. Sind es noch Gruben? Sie sind
zerschossen, vernichtet - es sind nur einzelne Grabenstucke, Lucher,
verbunden durch Laufgunge, Trichternester, nicht mehr. Aber die Verluste
derer von druben huufen sich. Sie haben nicht mit so viel Widerstand
gerechnet.
Es wird Mittag. Die Sonne brennt heiß, uns beißt der
Schweiß in die Augen, wir wischen ihn mit dem urmel weg, manchmal ist
Blut dabei. Der erste etwas besser erhaltene Graben taucht auf. Er ist
besetzt und vorbereitet zum Gegenstoß, er nimmt uns auf. Unsere
Artillerie setzt muchtig ein und riegelt den Vorstoß ab.
Die Linien hinter uns stocken. Sie kunnen nicht vorwurts. Der Angriff
wird zerfetzt durch unsere Artillerie. Wir lauern. Das Feuer springt hundert
Meter weiter, und wir brechen wieder vor. Neben mir wird einem Gefreiten der
Kopf abgerissen. Er luuft noch einige Schritte, wuhrend das Blut ihm wie ein
Springbrunnen aus dem Halse schießt.
Es kommt nicht ganz zum Handgemenge, die andern mussen zuruck. Wir
erreichen unsere Grabenstucke wieder und gehen daruber hinaus vor.
Oh, dieses Umwenden! Man hat die schutzenden Reservestellungen
erreicht, man muchte hindurchkriechen, verschwinden; - und muß sich
umdrehen und wieder in das Grauen hinein. Wuren wir keine Automaten in
diesem Augenblick, wir blieben liegen, erschupft, willenlos. Aber wir werden
wieder mit vorwurts gezogen, willenlos und doch wahnsinnig wild und wutend,
wir wollen tuten, denn das dort sind unsere Todfeinde jetzt, ihre Gewehre
und Granaten sind gegen uns gerichtet, vernichten wir sie nicht, dann
vernichten sie uns!
Die braune Erde, die zerrissene, zerborstene braune Erde, fettig unter
den Sonnenstrahlen schimmernd, ist der Hintergrund rastlos dumpfen
Automatentunis, unser Keuchen ist das Abschnarren der Feder, die Lippen sind
trocken, der Kopf ist wuster als nach einer durchsoffenen Nacht - so taumeln
wir vorwurts, und in unsere durchsiebten, durchlucherten Seelen bohrt sich
quulend eindringlich das Bild der braunen Erde mit der fettigen Sonne und
den zuckenden und toten Soldaten, die da liegen, als mußte es so sein,
die nach unsern Beinen greifen und schreien, wuhrend wir uber sie
hinwegspringen.
Wir haben alles Gefuhl fureinander verloren, wir kennen uns kaum noch,
wenn das Bild des andern in unseren gejagten Blick fullt. Wir sind
gefuhllose Tote, die durch einen Trick, einen gefuhrlichen Zauber noch
laufen und tuten kunnen.
Ein junger Franzose bleibt zuruck, er wird erreicht, hebt die Hunde, in
einer hat er noch den Revolver - man weiß nicht, will er
schießen oder sich ergeben -, ein Spatenschlag spaltet ihm das
Gesicht. Ein zweiter sieht es und versucht, weiterzufluchten, ein Bajonett
zischt ihm in den Rucken. Er springt hoch, und die Arme ausgebreitet, den
Mund schreiend weit offen, taumelt er davon, in seinem Rucken schwankt das
Bajonett. Ein dritter wirft das Gewehr weg, kauert sich nieder, die Hunde
vor den Augen. Er bleibt zuruck mit einigen andern Gefangenen, um Verwundete
fortzutragen.
Plutzlich geraten wir in der Verfolgung an die feindlichen Stellungen.
Wir sind so dicht hinter den weichenden Gegnern, daß es uns
gelingt, fast gleichzeitig mit ihnen anzulangen. Dadurch haben wir wenig
Verluste. Ein Maschinengewehr klufft, wird aber durch eine Handgranate
erledigt. Immerhin haben die paar Sekunden fur funf Bauchschusse bei uns
ausgereicht. Kat schlugt einem der unverwundet gebliebenen
Maschinengewehrschutzen mit dem Kolben das Gesicht zu Brei. Die andern
erstechen wir, ehe sie ihre Handgranaten heraus haben. Dann saufen wir
durstig das Kuhlwasser aus.
uberall knacken Drahtzangen, poltern Bretter uber die Verhaue, springen
wir durch die schmalen Zugunge in die Gruben. Haie stußt einem
riesigen Franzosen seinen Spaten in den Hals und wirft die erste
Handgranate; wir ducken uns einige Sekunden hinter einer Brustwehr, dann ist
das gerade Stuck des Grabens vor uns leer. Schrug uber die Ecke zischt der
nuchste Wurf und schafft freie Bahn, im Vorbeilaufen fliegen geballte
Ladungen in die Unterstunde, die Erde ruckt, es kracht, dampft und stuhnt,
wir stolpern uber glitschige Fleischfetzen, uber weiche Kurper, ich falle in
einen zerrissenen Bauch, auf dem ein neues, sauberes Offizierskuppi liegt.
Das Gefecht stockt. Die Verbindung mit dem Feinde reißt ab. Da
wir uns hier nicht lange halten kunnen, werden wir unter dem Schutze unserer
Artillerie zuruckgenommen auf unsere Stellung. Kaum wissen wir es, als wir
in grußter Eile noch in die nuchsten Unterstunde sturzen, um von
Konserven an uns zu reißen, was wir gerade sehen, vor allem die
Buchsen mit Corned beef und Butter, ehe wir turmen.
Wir kommen gut zuruck. Es erfolgt vorluufig kein weiterer Angriff von
druben. uber eine Stunde liegen wir, keuchen und ruhen uns aus, ehe jemand
spricht. Wir sind so vullig ausgepumpt, daß wir trotz unseres starken
Hungers nicht an die Konserven denken. Erst allmuhlich werden wir wieder so
etwas wie Menschen.
Das Corned beef von druben ist an der ganzen Front beruhmt. Es ist
mitunter sogar der Hauptgrund zu einem uberraschenden Vorstoß von
unserer Seite, denn unsere Ernuhrung ist im allgemeinen schlecht; wir haben
stundig Hunger.
Insgesamt haben wir funf Buchsen geschnappt. Die Leute druben werden ja
verpflegt, das ist eine Pracht gegen uns Hungerleider mit unserer
Rubenmarmelade, das Fleisch steht da nur so herum, man braucht bloß
danach zu greifen. Haie hat außerdem ein dunnes franzusisches
Weißbrot erwischt und hinter sein Koppel geschoben wie einen Spaten.
An einer Ecke ist es ein bißchen blutig, doch das lußt sich
abschneiden.
Es ist ein Gluck, daß wir jetzt gut zu essen haben; wir werden
unsere Krufte noch brauchen. Sattessen ist ebenso wertvoll wie ein guter
Unterstand; deshalb sind wir so gierig danach, denn es kann uns das Leben
retten.
Tjaden hat noch zwei Feldflaschen Kognak erbeutet. Wir lassen sie
reihum gehen.
Der Abendsegen beginnt. Die Nacht kommt, aus den Trichtern steigen
Nebel. Es sieht aus, als wuren die Lucher von gespenstigen Geheimnissen
erfullt. Der weiße Dunst kriecht angstvoll umher, ehe er wagt, uber
den Rand hinwegzugleiten. Dann ziehen lange Streifen von Trichter zu
Trichter.
Es ist kuhl. Ich bin auf Posten und starre in die Dunkelheit. Mir ist
schwach zumute, wie immer nach einem Angriff, und deshalb wird es mir
schwer, mit meinen Gedanken allein zu sein. Es sind keine eigentlichen
Gedanken; es sind Erinnerungen, die mich in meiner Schwuche jetzt heimsuchen
und mich sonderbar stimmen.
Die Leuchtschirme gehen hoch - und ich sehe ein Bild, einen
Sommerabend, wo ich im Kreuzgang des Domes bin und auf hohe Rosenbusche
schaue, die in der Mitte des kleinen Kreuzgartens bluhen, in dem die
Domherren begraben werden. Rundum stehen die Steinbilder der Stationen des
Rosenkranzes. Niemand ist da; - eine große Stille hult dieses bluhende
Viereck umfangen, die Sonne liegt warm auf den dicken grauen Steinen, ich
lege meine Hand darauf und fuhle die Wurme. uber der rechten Ecke des
Schieferdaches strebt der grune Domturm in das matte, weiche Blau des
Abends. Zwischen den beglunzten kleinen Suulen der umlaufenden Kreuzgunge
ist das kuhle Dunkel, das nur Kirchen haben, und ich stehe dort und denke
daran, daß ich mit zwanzig Jahren die verwirrenden Dinge kennen werde,
die von den Frauen kommen.
Das Bild ist besturzend nahe, es ruhrt mich an, ehe es unter dem
Aufflammen der nuchsten Leuchtkugel zergeht.
Ich fasse mein Gewehr und rucke es zurecht. Der Lauf ist feucht, ich
lege meine Hand fest darum und zerreibe die Feuchtigkeit mit den Fingern.
Zwischen den Wiesen hinter unserer Stadt erhob sich an einem Bach eine
Reihe von alten Pappeln. Sie waren weithin sichtbar, und obschon sie nur auf
einer Seite standen, hießen sie die Pappelallee. Schon als Kinder
hatten wir eine Vorliebe fur sie, unerklurlich zogen sie uns an, ganze Tage
verbrachten wir bei ihnen und honen ihrem leisen Rauschen zu. Wir
saßen unter ihnen am Ufer des Baches und ließen die Fuße
in die hellen, eiligen Wellen hungen. Der reine Duft des Wassers und die
Melodie des Windes in den Pappeln beherrschten unsere Phantasie. Wir liebten
sie sehr, und das Bild dieser Tage lußt mir jetzt noch das Herz
klopfen, ehe es wieder geht.
Es ist seltsam, daß alle Erinnerungen, die kommen, zwei
Eigenschaften haben. Sie sind immer voll Stille, das ist das Sturkste an
ihnen, und selbst dann, wenn sie es nicht in dem Maße in Wahrheit
waren, wirken sie so. Sie sind lautlose Erscheinungen, die zu mir sprechen
mit Blicken und Geburden, wortlos und schweigend, - und ihr Schweigen ist
das Erschutternde, das mich zwingt, meinen urmel anzufassen und mein Gewehr,
um mich nicht vergehen zu lassen in dieser Auflusung und Lockung, in der
mein Kurper sich ausbreiten und sanft zerfließen muchte zu den stillen
Muchten hinter den Dingen.
Sie sind so still, weil das fur uns so unbegreiflich ist. An der Front
gibt es keine Stille, und der Bann der Front reicht so weit, daß wir
nie außerhalb von ihr sind. Auch in den zuruckgelegenen Depots und
Ruhequartieren bleibt das Summen und das gedumpfte Poltern des Feuers stets
in unseren Ohren. Wir sind nie so weit fort, daß wir es nicht mehr
huren. In diesen Tagen aber war es unertruglich.
Die Stille ist die Ursache dafur, daß die Bilder des Fruher nicht
so sehr Wunsche erwecken als Trauer - eine ungeheure, fassungslose
Schwermut. Sie waren - aber sie kehren nicht wieder. Sie sind vorbei, sie
sind eine andere Welt, die fur uns voruber ist. Auf den Kasernenhufen riefen
sie ein rebellisches, wildes Begehren hervor, da waren sie noch mit uns
verbunden, wir gehurten zu ihnen und sie zu uns, wenn wir auch getrennt
waren. Sie stiegen auf bei den Soldatenliedern, die wir sangen, wenn wir
zwischen Morgenrot und schwarzen Waldsilhouetten zum Exerzieren nach der
Heide marschierten, sie waren eine heftige Erinnerung, die in uns war und
aus uns kam.
Hier in den Gruben aber ist sie uns verlorengegangen. Sie steigt nicht
mehr aus uns auf; - wir sind tot, und sie steht fern am Horizont, sie ist
eine Erscheinung, ein rutselhafter Widerschein, der uns heimsucht, den wir
furchten und ohne Hoffnung lieben. Sie ist stark, und unser Begehren ist
stark - aber sie ist unerreichbar, und wir wissen es. Sie ist ebenso
vergeblich wie die Erwartung, General zu werden.
Und selbst wenn man sie uns wiedergube, diese Landschaft unserer
Jugend, wir wurden wenig mehr mit ihr anzufangen wissen. Die zarten und
geheimen Krufte, die von ihr zu uns gingen, kunnen nicht wiedererstehen. Wir
wurden in ihr sein und in ihr umgehen; wir wurden uns erinnern und sie
lieben und bewegt sein von ihrem Anblick. Aber es wure das gleiche, wie wenn
wir nachdenklich werden vor der Fotografie eines toten Kameraden; es sind
seine Zuge, es ist sein Gesicht, und die Tage, die wir mit ihm zusammen
waren, gewinnen ein trugerisches Leben in unserer Erinnerung; aber er ist es
nicht selbst.
Wir wurden nicht mehr verbunden sein mit ihr, wie wir es waren. Nicht
die Erkenntnis ihrer Schunheit und ihrer Stimmung hat uns ja angezogen,
sondern das Gemeinsame, dieses Gleichfuhlen einer Bruderschaft mit den
Dingen und Vorfullen unseres Seins, die uns abgrenzte und uns die Welt
unserer Eltern immer etwas unverstundlich machte; - denn wir waren irgendwie
immer zurtlich an sie verloren und hingegeben, und das Kleinste mundete uns
einmal immer in den Weg der Unendlichkeit. Vielleicht war es nur das
Vorrecht unserer Jugend - wir sahen noch keine Bezirke, und nirgendwo gaben
wir ein Ende zu; wir hatten die Erwartung des Blutes, die uns eins machte
mit dem Verlauf unserer Tage.
Heute wurden wir in der Landschaft unserer Jugend umhergehen wie
Reisende. Wir sind verbrannt von Tatsachen, wir kennen Unterschiede wie
Hundler und Notwendigkeiten wie Schluchter. Wir sind nicht mehr unbekummert
- wir sind furchterlich gleichgultig. Wir wurden da sein; aber wurden wir
leben?
Wir sind verlassen wie Kinder und erfahren wie alte Leute, wir sind roh
und traurig und oberfluchlich - ich glaube, wir sind verloren.
Meine Hunde werden kalt, und meine Haut schauert; dabei ist es eine
warme Nacht. Nur der Nebel ist kuhl, dieser unheimliche Nebel, der die Toten
vor uns beschleicht und ihnen das letzte, verkrochene Leben aussaugt. Morgen
werden sie bleich und grun sein und ihr Blut gestockt und schwarz.
Immer noch steigen die Leuchtschirme empor und werfen ihr
erbarmungsloses Licht uber die versteinerte Landschaft, die voll Krater und
Lichtkulte ist wie ein Mond. Das Blut unter meiner Haut bringt Furcht und
Unruhe herauf in meine Gedanken. Sie werden schwach und zittern, sie wollen
Wurme und Leben. Sie kunnen es nicht aushaken ohne Trost und Tuuschung, sie
verwirren sich vor dem nackten Bilde der Verzweiflung.
Ich hure das Klappern von Kochgeschirren und habe sofort das heftige
Verlangen nach warmem Essen, es wird mir gut tun und mich beruhigen. Mit
Muhe zwinge ich mich, zu warten, bis ich abgelust werde.
Dann gehe ich in den Unterstand und finde einen Becher mit Graupen vor.
Sie sind fett gekocht und schmecken gut, ich esse sie langsam. Aber ich
bleibe still, obschon die andern besser gelaunt sind, weil das Feuer
eingeschlafen ist.
Die Tage gehen hin, und jede Stunde ist unbegreiflich und
selbstverstundlich. Die Angriffe wechseln mit Gegenangriffen, und langsam
huufen sich auf dem Trichterfeld zwischen den Grubern die Toten. Die
Verwundeten, die nicht sehr weit weg liegen, kunnen wir meistens holen.
Manche aber mussen lange liegen, und wir huren sie sterben.
Einen suchen wir vergeblich zwei Tage hindurch. Er muß auf dem
Bauche liegen und sich nicht mehr umdrehen kunnen. Anders ist es nicht zu
erkluren, daß wir ihn nicht finden; denn nur wenn man mit dem Munde
dicht auf dem Boden schreit, ist die Richtung so schwer festzustellen.
Er wird einen busen Schuß haben, eine dieser schlimmen
Verletzungen, die nicht so stark sind, daß sie den Kurper rasch derart
schwuchen, daß man halb betuubt verdummert, und auch nicht so leicht,
daß man die Schmerzen mit der Aussicht ertragen kann, wieder heil zu
werden. Kat meint, er hutte entweder eine Beckenzertrummerung oder einen
Wirbelsuulenschuß. Die Brust sei nicht verletzt, sonst besuße er
nicht so viel Kraft zum Schreien. Man mußte ihn bei einer anderen
Verletzung sich auch bewegen sehen.
Er wird allmuhlich heiser. Die Stimme ist so unglucklich im Klang,
daß sie uberall herkommen kunnte. In der ersten Nacht sind dreimal
Leute von uns draußen. Aber wenn sie glauben, die Richtung zu haben,
und schon hinkriechen, ist die Stimme beim nuchstenmal, wenn sie horchen,
wieder ganz anderswo.
Bis in die Dummerung hinein suchen wir vergeblich. Tagsuber wird das
Gelunde mit Glusern durchforscht; nichts ist zu entdecken. Am zweiten Tag
wird der Mann leiser; man merkt, daß die Lippen und der Mund
vertrocknet sind.
Unser Kompaniefuhrer hat dem, der ihn findet, Vorzugsurlaub und drei
Tage Zusatz versprochen. Das ist ein muchtiger Anreiz, aber wir wurden auch
ohne das tun, was muglich ist; denn das Rufen ist furchtbar. Kat und Kropp
gehen sogar nachmittags noch einmal vor. Albert wird das Ohrluppchen dabei
abgeschossen. Es ist umsonst, sie haben ihn nicht bei sich.
Dabei ist deutlich zu verstehen, was er ruft. Zuerst hat er immer nur
um Hilfe geschrien - in der zweiten Nacht muß er etwas Fieber haben,
er spricht mit seiner Frau und seinen Kindern, wir kunnen oft den Namen
Elise heraushuren. Heute weint er nur noch. Abends erlischt die Stimme zu
einem Kruchzen. Aber er stuhnt noch die ganze Nacht leise. Wir huren es so
genau, weil der Wind auf unsern Graben zusteht. Morgens, als wir schon
glauben, er habe lungst Ruhe, dringt noch einmal ein gurgelndes Rucheln
heruber -.
Die Tage sind heiß, und die Toten liegen unbeerdigt. Wir kunnen
sie nicht alle holen, wir wissen nicht, wohin wir mit ihnen sollen. Sie
werden von den Granaten beerdigt. Manchen treiben die Buuche auf wie
Ballons. Sie zischen, rulpsen und bewegen sich. Das Gas rumort in ihnen.
Der Himmel ist blau und ohne Wolken. Abends wird es schwul, j und die
Hitze steigt aus der Erde. Wenn der Wind zu uns heruberweht, bringt er den
Blutdunst mit, der schwer und widerwurtig sußlich ist, diesen
Totenbrodem der Trichter, der aus Chloroform und Verwesung gemischt scheint
und uns ubelkeiten und Erbrechen verursacht.
Die Nuchte werden ruhig, und die Jagd auf die kupfernen Fuhrungsringe
der Granaten und die Seidenschirme der franzusischen Leuchtkugeln geht los.
Weshalb die Fuhrungsringe so begehrt sind, weiß eigentlich keiner
recht. Die Sammler behaupten einfach, sie seien wertvoll. Es gibt Leute, die
so viel davon mitschleppen, daß sie krumm und schief darunter gehen,
wenn wir abrucken.
Haie gibt wenigstens einen Grund an; er will sie seiner Braut als
Strumpfbunderersatz schicken. Daruber bricht bei den Friesen naturlich
unbundige Heiterkeit aus; sie schlagen sich auf die Knie, das ist ein Witz,
Donnerwetter, der Haie, der hat es hinter den Ohren. Besonders Tjaden kann
sich gar nicht fassen; er hat den grußten der Ringe in der Hand und
steckt alle Augenblicke sein Bein hindurch, um zu zeigen, wieviel da noch
frei ist. "Haie, Mensch, die muß ja Beine haben, Beine" - seine
Gedanken klettern etwas huher -, "und einen Hintern muß die dann ja
haben, wie - wie ein Elefant."
Er kann sich nicht genug tun. "Mit der muchte ich mal Schinkenkloppen
spielen, meine Fresse..."
Haie strahlt, weil seine Braut soviel Anerkennung findet, und
uußert selbstzufrieden und knapp: "Stramm isse!"
Die Seidenschirme sind praktischer zu verwerten. Drei oder vier ergeben
eine Bluse, je nach der Brustweite. Kropp und ich brauchen sie als
Taschentucher. Die andern schicken sie nach Hause. Wenn die Frauen sehen
kunnten, mit wieviel Gefahr diese dunnen Lappen oft geholt werden, wurden
sie einen schunen Schreck kriegen.
Kat uberrascht Tjaden, wie er von einem Blindgunger in aller Seelenruhe
die Ringe abzuklopfen versucht. Bei jedem andern wure das Ding explodiert,
Tjaden hat wie stets Gluck.
Einen ganzen Vormittag spielen zwei Schmetterlinge vor unserm Graben.
Es sind Zitronenfalter, ihre gelben Flugel haben rote Punkte. Was mag sie
nur hierher verschlagen haben; weit und breit ist keine Pflanze und keine
Blume. Sie ruhen sich auf den Zuhnen eines Schudels aus. Ebenso sorglos wie
sie sind die Vugel, die sich lungst an den Krieg gewuhnt haben. Jeden Morgen
steigen Lerchen zwischen der Front auf. Vor einem Jahr konnten wir sogar
brutende beobachten, die ihre Jungen auch hochbekamen.
Vor den Ratten haben wir Ruhe im Graben. Sie sind vorn - wir wissen,
wozu. Sie werden fett; wo wir eine sehen, knallen wir sie weg. Nachts huren
wir wieder das Rollen von druben. Tagsuber haben wir nur das normale Feuer,
so daß wir die Gruben ausbessern kunnen. Unterhaltung ist ebenfalls
da, die Flieger sorgen dafur. Tuglich finden zahlreiche Kumpfe ihr Publikum.
Die Kampfflieger lassen wir uns gefallen, aber die
Beobachtungsflugzeuge hassen wir wie die Pest; denn sie holen uns das
Artilleriefeuer heruber. Ein paar Minuten nachdem sie erscheinen, funkt es
von Schrapnells und Granaten. Dadurch verlieren wir elf Leute an einem Tag,
darunter funf Sanituter. Zwei werden so zerschmettert, daß Tjaden
meint, man kunne sie mit dem Luffel von der Grabenwand abkratzen und im
Kochgeschirr beerdigen. Einem andern wird der Unterleib mit den Beinen
abgerissen. Er lehnt tot auf der Brust im Graben, sein Gesicht ist
zitronengelb, zwischen dem Vollbart glimmt noch die Zigarette. Sie glimmt,
bis sie auf den Lippen verzischt.
Wir legen die Toten vorluufig in einen großen Trichter. Es sind
bis jetzt drei Lagen ubereinander.
Plutzlich beginnt das Feuer nochmals zu trommeln. Bald sitzen wir
wieder in der gespannten Starre des untutigen Wartens.
Angriff, Gegenangriff, Stoß, Gegenstoß - das sind Worte,
aber was umschließen sie! Wir verlieren viele Leute, am meisten
Rekruten. Auf unserem Abschnitt wird wieder Ersatz eingeschoben. Es ist
eines der neuen Regimenter, fast lauter junge Leute der letzten ausgehobenen
Jahrgunge. Sie haben kaum eine Ausbildung, nur theoretisch haben sie etwas
uben kunnen, ehe sie ins Feld ruckten. Was eine Handgranate ist, wissen sie
zwar, aber von Deckung haben sie wenig Ahnung, vor allen Dingen haben sie
keinen Blick dafur. Eine Bodenwelle muß schon einen halben Meter hoch
sein, ehe sie von ihnen gesehen wird.
Obschon wir notwendig Versturkung brauchen, haben wir fast mehr Arbeit
mit den Rekruten, als daß sie uns nutzen. Sie sind hilflos in diesem
schweren Angriff s gebiet und fallen wie die Fliegen. Der Stellungskampf von
heute erfordert Kenntnisse und Erfahrungen, man muß Verstundnis fur
das Gelunde haben, man muß die Geschosse, ihre Geruusche und Wirkungen
im Ohr haben, man muß vorausbestimmen kunnen, wo sie einbauen, wie sie
streuen und wie man sich schutzt.
Dieser junge Ersatz weiß naturlich von alledem noch fast gar
nichts. Er wird aufgerieben, weil er kaum ein Schrapnell von einer Granate
unterscheiden kann, die Leute werden weggemuht, weil sie angstvoll auf das
Heulen der ungefuhrlichen großen, weit hinten einbauenden Kohlenkusten
lauschen und das pfeifende, leise Surren der flach zerspritzenden kleinen
Biester uberhuren. Wie die Schafe drungen sie sich zusammen, anstatt
auseinanderzulaufen, und selbst die Verwundeten werden noch wie Hasen von
den Fliegern abgeknallt.
Die blassen Steckrubengesichter, die armselig gekrallten Hunde, die
jammervolle Tapferkeit dieser armen Hunde, die trotzdem vorgehen und
angreifen, dieser braven, armen Hunde, die so verschuchtert sind, daß
sie nicht laut zu schreien wagen und mit zerrissenen Brusten und Buuchen und
Armen und Beinen leise nach ihrer Mutter wimmern und gleich aufhuren, wenn
man sie ansieht!
Ihre toten, flaumigen, spitzen Gesichter haben die entsetzliche
Ausdruckslosigkeit gestorbener Kinder.
Es sitzt einem in der Kehle, wenn man sie ansieht, wie sie aufspringen
und laufen und fallen. Man muchte sie verprugeln, weil sie so
dumm sind, und sie auf die Arme nehmen und wegbringen von hier, wo sie
nichts zu suchen haben. Sie tragen ihre grauen Rucke und Hosen und Stiefel,
aber den meisten ist die Uniform zu weit, sie schlottert um die Glieder, die
Schultern sind zu schmal, die Kurper sind zu gering, es gab keine Uniformen,
die fur dieses Kindermaß eingerichtet waren.
Auf einen alten Mann fallen funf bis zehn Rekruten. Ein uberraschender
Gasangriff rafft viele weg. Sie sind nicht dazu gelangt, zu ahnen, was ihrer
wartete. Einen Unterstand voll finden wir mit blauen Kupfen und schwarzen
Lippen. In einem Trichter haben sie die Masken zu fruh losgemacht; sie
wußten nicht, daß sich das Gas auf dem Grunde am lungsten hult;
als sie andere ohne Maske oben sahen, rissen sie sie auch ab und schluckten
noch genug, um sich die Lungen zu verbrennen. Ihr Zustand ist hoffnungslos,
sie wurgen sich mit Blutsturzen und Erstickungsanfullen zu Tode.
In einem Grabenstuck sehe ich mich plutzlich Himmelstoß
gegenuber. Wir ducken uns in demselben Unterstand. Atemlos liegt alles
beieinander und wartet ab, bis der Vorstoß einsetzt.
Obschon ich sehr erregt bin, schießt mir beim Hinauslaufen doch
noch der Gedanke durch den Kopf: Ich sehe Himmelstoß nicht mehr. Rasch
springe ich in den Unterstand zuruck und finde ihn, wie er in der Ecke liegt
mit einem kleinen Streifschuß und den Verwundeten simuliert. Sein
Gesicht ist wie verprugelt. Er hat einen Angstkoller, er ist ja auch noch
neu hier. Aber es macht mich rasend, daß der junge Ersatz
draußen ist und er hier.
"Raus!" fauche ich.
Er ruhrt sich nicht, die Lippen zittern, der Schnurrbart bebt.
"Raus!" wiederhole ich.
Er zieht die Beine an, druckt sich an die Wand und bleckt die Zuhne wie
ein Kuter.
Ich fasse ihn am Arm und will ihn hochreißen. Er quukt auf. Da
gehen meine Nerven durch. Ich habe ihn am Hals, schuttele ihn wie einen
Sack, daß der Kopf hin und her fliegt, und schreie ihm ins Gesicht:
"Du Lump, willst du 'raus - du Hund, du Schinder, du willst dich drucken?"
Er verglast, ich schleudere seinen Kopf gegen die Wand - "Du Vieh" - ich
trete ihm in die Rippen - "Du Schwein" - ich stoße ihn vorwurts mit
dem Kopf voran hinaus.
Eine neue Welle von uns kommt gerade vorbei. Ein Leutnant ist dabei. Er
sieht uns und ruft: "Vorwurts, vorwurts, anschließen,
anschließen -!" Und was meine Prugel nicht vermocht haben, das wirkte
dieses Wort. Himmelstoß hurt den Vorgesetzten, sieht sich erwachend um
und schließt sich an.
Ich folge und sehe ihn springen. Er ist wieder der schneidige
Himmelstoß des Kasernenhofes, er hat sogar den Leutnant eingeholt und
ist weit voraus. -
Trommelfeuer, Sperrfeuer, Gardinenfeuer, Minen, Gas, Tanks,
Maschinengewehre, Handgranaten - Worte, Worte, aber sie umfassen das Grauen
der Welt.
Unsere Gesichter sind verkrustet, unser Denken ist verwustet, wir sind
todmude; - wenn der Angriff kommt, mussen manche mit den Fuusten geschlagen
werden, damit sie erwachen und mitgehen; - die Augen sind entzundet, die
Hunde zerrissen, die Knie bluten, die Ellbogen sind zerschlagen.
Vergehen Wochen - Monate -Jahre? Es sind nur Tage. - Wir sehen die Zeit
neben uns schwinden in den farblosen Gesichtern der Sterbenden, wir luffeln
Nahrung in uns hinein, wir laufen, wir werfen, wir schießen, wir
tuten, wir liegen herum, wir sind schwach und stumpf, und nur das hult uns,
daß noch Schwuchere, noch Stumpfere, noch Hilflosere da sind, die mit
aufgerissenen Augen uns ansehen als Gutter, die manchmal dem Tode entrinnen
kunnen.
In den wenigen Stunden der Ruhe unterweisen wir sie. "Da, siehst du den
Wackeltopp? Das ist eine Mine, die kommt! Bleib liegen, sie geht druben hin.
Wenn sie aber so geht, dann reiß aus! Man kann vor ihr weglaufen."
Wir machen ihre Ohren scharf auf das heimtuckische Surren der kleinen
Dinger, die man kaum vernimmt, sie sollen sie aus dem Krach herauskennen wie
Muckensummen; - wir bringen ihnen bei, daß sie gefuhrlicher sind als
die großen, die man lange vorher hurt.
Wir zeigen ihnen, wie man sich vor Fliegern verbirgt, wie man den toten
Mann macht, wenn man vom Angriff uberrannt wird, wie man Handgranaten
abziehen muß, damit sie eine halbe Sekunde vor dem Aufschlag
explodieren; - wir lehren sie, vor Granaten mit Aufschlagzundern
blitzschnell in Trichter zu fallen, wir machen vor, wie man mit einem Bundel
Handgranaten einen Graben aufrollt, wir erMuren den Unterschied in der
Zundungsdauer zwischen den gegnerischen Handgranaten und unseren, wir machen
sie auf den Ton der Gasgranaten aufmerksam und zeigen ihnen die Kniffe, die
sie vor dem Tode retten kunnen. Sie huren zu, sie sind folgsam - aber wenn
es wieder losgeht, machen sie es in der Aufregung meistens doch wieder
falsch.
Haie Westhus wird mit abgerissenem Rucken fortgeschleppt; bei jedem
Atemzug pulst die Lunge durch die Wunde. Ich kann ihm noch die Hand drucken;
- "is alle, Paul", stuhnt er und beißt sich vor Schmerz in die Arme.
Wir sehen Menschen leben, denen der Schudel fehlt; wir sehen Soldaten
laufen, denen beide Fuße weggefetzt sind; sie stolpern auf den
splitternden Stumpfen bis zum nuchsten Loch; ein Gefreiter kriecht zwei
Kilometer weit auf den Hunden und schleppt die zerschmetterten Knie hinter
sich her; ein anderer geht zur Verbandsstelle, und uber seine festhaltenden
Hunde quellen die Durme; wir sehen Leute ohne Mund, ohne Unterkiefer, ohne
Gesicht; wir finden jemand, der mit den Zuhnen zwei Stunden die Schlagader
seines Armes klemmt, um nicht zu verbluten, die Sonne geht auf, die Nacht
kommt, die Granaten pfeifen, das Leben ist zu Ende.
Doch das Stuckchen zerwuhlter Erde, in dem wir liegen, ist gehalten
gegen die ubermacht, nur wenige hundert Meter sind preisgegeben worden. Aber
auf jeden Meter kommt ein Toter.
Wir werden abgelust. Die Ruder rollen unter uns weg, wir stehen dumpf,
und wenn der Ruf: "Achtung - Draht!" kommt, gehen wir in die Kniebeuge. Es
war Sommer, als wir hier voruberfuhren, die Buume waren noch grun, jetzt
sehen sie schon herbstlich aus, und die Nacht ist grau und feucht. Die Wagen
halten, wir klettern
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hinunter, ein durcheinandergewurfelter Haufen, ein Rest von vielen
Namen. An den Seiten, dunkel, stehen Leute und rufen die Nummern von
Regimentern, von Kompanien aus. Und bei jedem Ruf sondert sich ein Huuflein
ab, ein karges, geringes Huuflein schmutziger, fahler Soldaten, ein
furchtbar kleines Huuflein und ein furchtbar kleiner Rest.
Nun ruft jemand die Nummer unserer Kompanie, es ist, man hurt es, der
Kompaniefuhrer, er ist also davongekommen, sein Arm liegt in der Binde. Wir
treten zu ihm hin, und ich erkenne Kat und Albert, wir stellen uns zusammen,
lehnen uns aneinander und sehen uns an.
Und noch einmal und noch einmal huren wir unsere Nummer rufen. Er kann
lange rufen, man hurt ihn nicht in den Lazaretten und den Trichtern.
Noch einmal: "Zweite Kompanie hierher!"
Und dann leiser: "Niemand mehr zweite Kompanie?" Er schweigt und ist
etwas heiser, als er fragt: "Das sind alle?" und befiehlt: "Abzuhlen!"
Der Morgen ist grau, es war noch Sommer, als wir hinausgingen, und wir
waren hundertfunfzig Mann. Jetzt friert uns, es ist Herbst, die Blutter
rascheln, die Stimmen flattern mude auf: "Eins - zwei -drei - vier -", und
bei zweiunddreißig schweigen sie. Und es schweigt lange, ehe die
Stimme fragt: "Noch jemand?" - und wartet und dann leise sagt: "In Gruppen
-", und doch abbricht und nur vollenden kann: "Zweite Kompanie -", muhselig:
"Zweite Kompanie - ohne Tritt marsch!"
Eine Reihe, eine kurze Reihe tappt in den Morgen hinaus,
Zweiunddreißig Mann.
Man nimmt uns weiter als sonst zuruck, in ein Feld-Rekrutendepot, damit
wir dort neu zusammengestellt werden kunnen. Unsere Kompanie braucht uber
hundert Mann Ersatz.
Einstweilen bummeln wir umher, wenn wir keinen Dienst machen. Nach zwei
Tagen kommt Himmelstoß zu uns. Seine große Schnauze hat er
verloren, seit er im Graben war. Er schlugt vor, daß wir uns vertragen
wollen. Ich bin bereit, denn ich habe gesehen, daß er Haie Westhus,
dem der Rucken weggerissen wurde, mit fortgebracht hat. Da er außerdem
wirklich vernunftig redet, haben wir nichts dabei, daß er uns in die
Kantine einludt. NurTjaden ist mißtrauisch und reserviert.
Doch auch er wird gewonnen, denn Himmelstoß erzuhlt, daß er
den in Urlaub fahrenden Kuchenbullen vertreten soll. Als Beweis dafur ruckt
er sofort zwei Pfund Zucker fur uns und ein halbes Pfund Butter fur Tjaden
besonders heraus. Er sorgt sogar dafur, daß wir fur die nuchsten drei
Tage in die Kuche zum Kartoffel- und Steckrubenschulen kommandiert werden.
Das Essen, das er uns dort vorsetzt, ist tadellose Offizierskost.
So haben wir im Augenblick wieder die beiden Dinge, die der Soldat zum
Gluck braucht: gutes Essen und Ruhe. Das ist wenig, wenn man es bedenkt. Vor
ein paar Jahren noch hutten wir uns furchtbar verachtet. Jetzt sind wir fast
zufrieden. Alles ist Gewohnheit, auch der Schutzengraben.
Diese Gewohnheit ist der Grund dafur, daß wir scheinbar so rasch
vergessen. Vorgestern waren wir noch im Feuer, heute machen wir Albernheiten
und fechten uns durch die Gegend, morgen gehen wir wieder in den Graben. In
Wirklichkeit vergessen wir nichts. Solange wir hier im Felde sein mussen,
sinken die Fronttage, wenn sie vorbei sind, wie Steine in uns hinunter, weil
sie zu schwer sind, um sofort daruber nachdenken zu kunnen. Tuten wir es,
sie wurden uns hinterher erschlagen; denn soviel habe ich schon gemerkt: Das
Grauen lußt sich ertragen, solange man sich einfach duckt; aber es
tutet, wenn man daruber nachdenkt.
Genau wie wir zu Tieren werden, wenn wir nach vorn gehen, weil es das
einzige ist, was uns durchbringt, so werden wir zu oberfluchlichen
Witzbolden und Schlafmutzen, wenn wir in Ruhe sind. Wir kunnen gar nicht
anders, es ist furmlich ein Zwang. Wir wollen leben um jeden Preis; da
kunnen wir uns nicht mit Gefuhlen belasten, die fur den Frieden dekorativ
sein mugen, hier aber falsch sind. Kemmerich ist tot, Haie Westhus stirbt,
mit dem Kurper Hans Kramers werden sie am Jungsten Tage Last haben, ihn aus
einem Volltreffer zusammenzuklauben, Martens hat keine Beine mehr, Meyer ist
tot, Marx ist tot, Beyer ist tot, Hummerling ist tot, hundertzwanzig Mann
liegen irgendwo mit Schussen, es ist eine verdammte Sache, aber was geht es
uns noch an, wir leben. Kunnten wir sie retten, ja dann sollte man mal
sehen, es wure egal, ob wir selbst draufgingen, so wurden wir loslegen; denn
wir haben einen verfluchten Muck, wenn wir wollen; Furcht kennen wir nicht
viel - Todesangst wohl, doch das ist etwas anderes, das ist kurperlich.
Aber unsere Kameraden sind tot, wir kunnen ihnen nicht helfen, sie
haben Ruhe - wer weiß, was uns noch bevorsteht; wir wollen uns
hinhauen und schlafen oder fressen, soviel wir in den Magen kriegen, und
saufen und rauchen, damit die Stunden nicht ude sind. Das Leben ist kurz.
Das Grauen der Front versinkt, wenn wir ihm den Rucken kehren, wir
gehen ihm mit gemeinen und grimmigen Witzen zuleibe; wenn jemand stirbt,
dann heißt es, daß er den Arsch zugekniffen hat, und so reden
wir uber alles, das rettet uns vor dem Verrucktwerden, solange wir es so
nehmen, leisten wir Widerstand.
Aber wir vergessen nicht! Was in den Kriegszeitungen steht uber den
goldenen Humor der Truppen, die bereits Tunzchen arrangieren, wenn sie kaum
aus dem Trommelfeuer zuruck sind, ist großer Quatsch. Wir tun das
nicht, weil wir Humor haben, sondern wir haben Humor, weil wir sonst kaputt
gehen. Die Kiste wird ohnehin nicht mehr allzulange halten, der Humor ist
jeden Monat bitterer.
Und ich weiß: all das, was jetzt, solange wir im Kriege sind,
versackt in uns wie ein Stein, wird nach dem Kriege wieder aufwachen, und
dann beginnt erst die Auseinandersetzung auf Leben und Tod.
Die Tage, die Wochen, die Jahre hier vorn werden noch einmal
zuruckkommen, und unsere toten Kameraden werden dann aufstehen und mit uns
marschieren, unsere Kupfe werden klar sein, wir werden ein Ziel haben, und
so werden wir marschieren, unsere toten Kameraden neben uns, die Jahre der
Front hinter uns: - gegen wen, gegen wen?
Hier in der Gegend war vor einiger Zeit ein Fronttheater. Auf einer
Bretterwand kleben noch bunte Plakate von den Vorstellungen her. Mit
großen Augen stehen Kropp und ich davor. Wir kunnen nicht begreifen,
daß es so etwas noch gibt. Da ist ein Mudchen in einem hellen
Sommerkleid abgebildet, mit einem roten Lackgurtel um die Huften. Sie stutzt
sich mit der einen Hand auf ein Gelunder, mit der anderen hult sie einen
Strohhut. Sie trugt weiße Strumpfe und weiße Schuhe, zierliche
Spangenschuhe mit hohen Absutzen. Hinter ihr leuchtet die blaue See mit
einigen Wogenkummen, eine Bucht greift seitlich hell hinein. Es ist ein ganz
herrliches Mudchen, mit einer schmalen Nase, mit roten Lippen und langen
Beinen, unvorstellbar sauber und gepflegt, es badet gewiß zweimal am
Tage und hat nie Dreck unter den Nugeln. Huchstens vielleicht mal ein
bißchen Sand vom Strand.
Neben ihm steht ein Mann in weißer Hose, mit blauem Jackett und
Seglermutze, aber der interessiert uns viel weniger.
Das Mudchen auf der Bretterwand ist fur uns ein Wunder. Wir haben ganz
vergessen, daß es so etwas gibt, und auch jetzt noch trauen wir
unseren Augen kaum. Seit Jahren jedenfalls haben wir nichts Derartiges
gesehen, nichts nur entfernt Derartiges an Heiterkeit, Schunheit und Gluck.
Das ist der Frieden, so muß er sein, spuren wir erregt.
"Sieh dir nur diese leichten Schuhe an, darin kunnte sie keinen
Kilometer marschieren", sage ich und komme mir gleich albern vor, denn es
ist bludsinnig, bei einem solchen Bild an Marschieren zu denken.
"Wie alt mag sie sein?" fragt Kropp.
Ich schutze: "AUerhuchstens zweiundzwanzig, Albert."
"Dann wure sie ja ulter als wir. Sie ist nicht mehr als siebzehn, sage
ich dir!"
Eine Gunsehaut uberluuft uns. "Albert, das wure was, meinst du nicht?"
Er nickt. "Zu Hause habe ich auch eine weiße Hose."
"Weiße Hose", sage ich, "aber so ein Mudchen -"
Wir sehen an uns herunter, gegenseitig. Da ist nicht viel zu finden,
eine ausgeblichene, geflickte, schmutzige Uniform bei jedem. Es ist
hoffnungslos, sich zu vergleichen.
Zunuchst einmal kratzen wir deshalb den jungen Mann mit der
weißen Hose von der Bretterwand ab, vorsichtig, damit wir das Mudchen
nicht beschudigen. Dadurch ist schon etwas erreicht. Dann schlugt Kropp vor:
"Wir kunnten uns mal entlausen lassen."
Ich bin nicht ganz einverstanden, denn die Sachen leiden darunter, aber
die Luuse hat man nach zwei Stunden wieder. Doch nachdem wir uns wieder in
das Bild vertieft haben, erklure ich mich bereit. Ich gehe sogar noch
weiter. "Kunnten auch mal sehen, ob wir nicht ein reines Hemd zu fassen
kriegen -"
Albert meint aus irgendeinem Grunde: "Fußlappen wuren noch
besser."
"Vielleicht auch Fußlappen. Wir wollen mal ein bißchen
spekulieren gehen."
Doch da schlendern Leer und Tjaden heran; sie sehen das Plakat, und im
Handumdrehen wird die Unterhaltung ziemlich schweinisch. Leer war in unserer
Klasse der erste, der ein Verhultnis hatte und davon aufregende Einzelheiten
erzuhlte. Er begeistert sich in seiner Weise an dem Bilde, und Tjaden stimmt
muchtig ein.
Es ekelt uns nicht gerade an. Wer nicht schweinigelt, ist kein Soldat;
nur liegt es uns im Moment nicht ganz, deshalb schlagen wir uns seitwurts
und marschieren der Entlausungsanstalt zu mit einem Gefuhl, als sei sie ein
feines Herrenmodengeschuft.
Die Huuser, in denen wir Quartier haben, liegen nahe am Kanal. Jenseits
des Kanals sind Teiche, die von Pappelwuldern umstanden sind; - jenseits des
Kanals sind auch Frauen.
Die Huuser auf unserer Seite sind geruumt worden. Auf der andern jedoch
sieht man ab und zu noch Bewohner.
Abends schwimmen wir. Da kommen drei Frauen am Ufer entlang. Sie gehen
langsam und sehen nicht weg, obschon wir keine Badehosen tragen.
Leer ruft zu ihnen hinuber. Sie lachen und bleiben stehen, um uns
zuzuschauen. Wir werfen ihnen in gebrochenem Franzusisch Sutze zu, die uns
gerade einfallen, alles durcheinander, eilig, damit sie nicht fortgehen. Es
sind nicht gerade feine Sachen, aber wo sollen wir die auch herhaben. Eine
Schmale, Dunkle ist dabei. Man sieht ihre Zuhne schimmern, wenn sie lacht.
Sie hat rasche Bewegungen, der Rock schlugt locker um ihre Beine. Obschon
das Wasser kalt ist, sind wir muchtig aufgeruumt und bestrebt, sie zu
interessieren, damit sie bleiben. Wir versuchen Witze, und sie antworten,
ohne daß wir sie verstehen; wir lachen und winken. Tjaden ist
vernunftiger. Er luuft ins Haus, holt ein Kommißbrot und hult es hoch.
Das erzielt großen Erfolg. Sie nicken und winken, daß wir
hinuberkommen sollen. Aber das durfen wir nicht. Es ist verboten, das
jenseitige Ufer zu betreten. uberall stehen Posten an den Brucken. Ohne
Ausweis ist nichts zu machen. Wir dolmetschen deshalb, sie muchten zu uns
kommen; aber sie schutteln die Kupfe und zeigen auf die Brucken. Man
lußt auch sie nicht durch.
Sie kehren um, langsam gehen sie den Kanal aufwurts, immer am Ufer
entlang. Wir begleiten sie schwimmend. Nach einigen hundert Metern biegen
sie ab und zeigen auf ein Haus, das abseits aus Buumen und Gebusch
herauslugt. Leer fragt, ob sie dort wohnen.
Sie lachen - ja, dort sei ihr Haus.
Wir rufen ihnen zu, daß wir kommen wollen, wenn uns die Posten
nicht sehen kunnen. Nachts. Diese Nacht.
Sie heben die Hunde, legen sie flach zusammen, die Gesichter darauf,
und schließen die Augen. Sie haben verstanden. Die Schmale, Dunkle
macht Tanzschritte. Eine Blonde zwitschert: "Brot - gut -"
Wir bestutigen eifrig, daß wir es mitbringen werden. Auch noch
andere schune Sachen, wir rollen die Augen und zeigen sie mit den Hunden.
Leer ersuuft fast, als er "ein Stuck Wurst" klarmachen will. Wenn es
notwendig wure, wurden wir ihnen ein ganzes Proviantdepot versprechen. Sie
gehen und wenden sich noch oft um. Wir klettern an das Ufer auf unserer
Seite und achten darauf, ob sie auch in das Haus gehen, denn es kann ja
sein, daß sie schwindeln. Dann schwimmen wir zuruck.
Ohne Ausweis darf niemand uber die Brucke, deshalb werden wir einfach
nachts hinuberschwimmen. Die Erregung packt uns und lußt uns nicht
los. Wir kunnen es nicht an einem Fleck aushalten und gehen zur Kantine.
Dort gibt es gerade Bier und eine Art Punsch.
Wir trinken Punsch und lugen uns phantastische Erlebnisse vor. Jeder
glaubt dem andern gern und wartet ungeduldig, um noch dicker aufzutrumpfen.
Unsere Hunde sind unruhig, wir paffen ungezuhlte Zigaretten, bis Kropp sagt:
"Eigentlich kunnten wir ihnen auch ein paar Zigaretten mitbringen." Da legen
wir sie in unsere Mutzen und bewahren sie auf.
Der Himmel wird grun wie ein unreifer Apfel. Wir sind zu viert, aber
drei kunnen nur mit; deshalb mussen wir Tjaden loswerden und geben Rum und
Punsch fur ihn aus, bis er torkelt. Als es dunkel wird, gehen wirunsern
Huusern zu. Tjaden in der Mitte. Wir gluhen und sind von Abenteuerlust
erfullt. Fur mich ist die Schmale, Dunkle, das haben wir verteilt und
ausgemacht.
Tjaden fullt auf seinen Strohsack und schnarcht. Einmal wacht er auf
und grinst uns so listig an, daß wir schon erschrecken und glauben, er
habe gemogelt, und der ausgegebene Punsch sei umsonst gewesen. Dann fullt er
zuruck und schluft weiter.
Jeder von uns dreien legt ein ganzes Kommißbrot bereit und
wickelt es in Zeitungspapier. Die Zigaretten packen wir dazu, außerdem
noch drei gute Portionen Leberwurst, die wir heute abend empfangen haben.
Das ist ein anstundiges Geschenk.
Vorluufig stecken wir die Sachen in unsere Stiefel; denn Stiefel mussen
wir mitnehmen, damit wir druben auf dem andern Ufer nicht in Draht und
Scherben treten. Da wir vorher schwimmen mussen, kunnen wir weiter keine
Kleider brauchen. Es ist ja auch dunkel und nicht weit.
Wir brechen auf, die Stiefel in den Hunden. Rasch gleiten wir ins
Wasser, legen uns auf den Rucken, schwimmen und halten die Stiefel mit dem
Inhalt uber unsere Kupfe.
Am andern Ufer klettern wir vorsichtig hinauf, nehmen die Pakete heraus
und ziehen die Stiefel an. Die Sachen klemmen wir unter die Arme. So setzen
wir uns, naß, nackt, nur mit Stiefeln bekleidet, in Trab. Wir finden
das Haus sofort. Es liegt dunkel in den Buschen. Leer fullt uber eine Wurzel
und schrammt sich die Ellbogen. "Macht nichts", sagt er fruhlich.
Vor den Fenstern sind Luden. Wir umschleichen das Haus und versuchen,
durch die Ritzen zu spuhen. Dann werden wir ungeduldig. Kropp zugert
plutzlich. "Wenn nun ein Major drinnen bei ihnen ist?"
"Dann kneifen wir eben aus", grinst Leer, "er kann unsere
Regimentsnummer ja hier lesen", und klatscht sich auf den Hintern.
Die Haustur ist offen. Unsere Stiefel machen ziemlichen Lurm. Eine Tur
uffnet sich, Licht fullt hindurch, eine Frau stußt erschreckt einen
Schrei aus. Wir machen "Pst, pst - camerade - bon ami -" und heben
beschwurend unsere Pakete hoch.
Die andern beiden sind jetzt auch sichtbar, die Tur uffnet sich ganz,
und das Licht bestrahlt uns. Wir werden erkannt, und alle drei lachen
unbundig uber unsern Aufzug. Sie biegen und beugen sich im Turrahmen, so
mussen sie lachen. Wie geschmeidig sie sich bewegen!
"Un moment -." Sie verschwinden und werfen uns Zeugstucke zu, die wir
uns notdurftig umwickeln. Dann durfen wir eintreten. Eine kleine Lampe
brennt im Zimmer, es ist warm und riecht etwas nach Parfum. Wir packen
unsere Pakete aus und ubergeben sie ihnen. Ihre Augen glunzen, man sieht,
daß sie Hunger haben.
Dann werden wir alle etwas verlegen. Leer macht die Geburde des Essens.
Da kommt wieder Leben hinein, sie holen Teller und Messer und fallen uber
die Sachen her. Bei jedem Scheibchen Leberwurst heben sie, ehe sie es essen,
das Stuck zuerst bewundernd in die Huhe, und wir sitzen stolz dabei.
Sie ubersprudeln uns mit ihrer Sprache - wir verstehen nicht viel, aber
wir huren, daß es freundliche Worte sind. Vielleicht sehen wir auch
sehr jung aus. Die Schmale, Dunkle, streicht mir uber das Haar und sagt, was
alle franzusischen Frauen immer sagen: "La guerre - grand malheur - pauvres
garuons -"
Ich halte ihren Arm fest und lege meinen Mund in ihre Handfluche. Die
Finger umschließen mein Gesicht. Dicht uber mir sind ihre erregenden
Augen, das sanfte Braun der Haut und die roten Lippen. Der Mund spricht
Worte, die ich nicht verstehe. Ich verstehe auch die Augen nicht ganz, sie
sagen mehr, als wir erwarteten, da wir hierher kamen.
Es sind Zimmer nebenan. Im Gehen sehe ich Leer, er ist mit der Blonden
handfest und laut. Er kennt das ja auch. Aber ich - ich bin verloren an ein
Fernes, Leises und Ungestumes und vertraue mich ihm an. Meine Wunsche sind
sonderbar gemischt aus Verlangen und Versinken. Mir wird schwindelig, es ist
nichts hier, woran man sich noch halten kunnte. Unsere Stiefel haben wir vor
der Tur gelassen, man hat uns Pantoffeln dafur gegeben, und nun ist nichts
mehr da, was mir die Sicherheit und Frechheit des Soldaten zuruckruft: kein
Gewehr, kein Koppel, kein Waffenrock, keine Mutze. Ich lasse mich fallen ins
Ungewisse, mag geschehen, was will - denn ich habe etwas Angst, trotz allem.
Die Schmale, Dunkle bewegt die Brauen, wenn sie nachdenkt; aber sie
sind still, wenn sie spricht. Manchmal auch wird der Laut nicht ganz zum
Wort und erstickt oder schwingt halbfertig uber mich weg; ein Bogen, eine
Bahn, ein Komet. Was habe ich davon gewußt - was weiß ich davon
? - Die Worte dieser fremden Sprache, von der ich kaum etwas begreife, sie
schlufern mich ein zu einer Stille, in der das Zimmer braun und halb
beglunzt verschwimmt und nur das Antlitz uber mir lebt und klar ist.
Wie vielfultig ist ein Gesicht, wenn es fremd war noch vor einer Stunde
und jetzt geneigt ist zu einer Zurtlichkeit, die nicht aus ihm kommt,
sondern aus der Nacht, der Welt und dem Blut, die in ihm zusammenzustrahlen
scheinen. Die Dinge des Raumes werden davon angeruhrt und verwandelt, sie
werden besonders, und vor meiner hellen Haut habe ich beinahe Ehrfurcht,
wenn der Schein der Lampe daraufliegt und die kuhle braune Hand
daruberstreicht.
Wie anders ist dies alles als die Dinge in den Mannschaftsbordells, zu
denen wir Erlaubnis haben und wo in langer Reihe angestanden wird. Ich
muchte nicht an sie denken; aber sie gehen mir unwillkurlich durch den Sinn,
und ich erschrecke, denn vielleicht kann man so etwas nie mehr loswerden.
Dann aber fuhle ich die Lippen der Schmalen, Dunklen, und drunge mich
ihnen entgegen, ich schließe die Augen und muchte alles damit
ausluschen, Krieg und Grauen und Gemeinheit, um jung und glucklich zu
erwachen; ich denke an das Bild des Mudchens auf dem Plakat und glaube einen
Augenblick, daß mein Leben davon abhungt, es zu gewinnen. - Und um so
tiefer presse ich mich in die Arme, die mich umfassen, vielleicht geschieht
ein Wunder.
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Irgendwie finden wir uns alle nachher wieder zusammen. Leer ist sehr
forsch. Wir verabschieden uns herzlich und schlupfen in unsere Stiefel. Die
Nachtluft kuhlt unsere heißen Kurper. Groß ragen die Pappeln in
das Dunkel und rauschen. Der Mond steht am Himmel und im Wasser des Kanals.
Wir laufen nicht, wir gehen nebeneinander mit langen Schritten.
Leer sagt: "Das war ein Kommißbrot wert!"
Ich kann mich nicht entschließen zu sprechen, ich bin gar nicht
einmal froh.
Da huren wir Schritte und ducken uns hinter einen Busch.
Die Schritte kommen nuher, dicht an uns vorbei. Wir sehen einen nackten
Soldaten, in Stiefeln, genau wie wir, er hat ein Paket unter dem Arm und
sprengt im Galopp vorwurts. Es ist Tjaden in großer Fahrt. Schon ist
er verschwunden. Wir lachen. Morgen wird er schimpfen. Unbemerkt gelangen
wir zu unseren Strohsucken.
Ich werde zur Schreibstube gerufen. Der Kompaniefuhrer gibt mir
Urlaubsschein und Fahrschein und wunscht mir gute Reise. Ich sehe nach,
wieviel Urlaub ich habe. Siebzehn Tage - vierzehn sind Urlaub, drei
Reisetage. Es ist zuwenig, und ich frage, ob ich nicht funf Reisetage haben
kann. Bertinck zeigt auf meinen Schein. Da sehe ich erst, daß ich
nicht sofort zur Front zuruckkomme. Ich habe mich nach Ablauf des Urlaubs
noch zum Kursus im Heidelager zu melden.
Die anderen beneiden mich. Kat gibt mir gute Ratschluge, wie ich
versuchen soll, Druckpunkt zu nehmen. "Wenn du gerissen bist, bleibst du da
hungen."
Es wure mir eigentlich lieber gewesen, wenn ich erst in acht Tagen
hutte fahren brauchen; denn so lange sind wir noch hier, und hier ist es ja
gut. -
Naturlich muß ich in der Kantine einen ausgeben. Wir sind alle
ein bißchen angetrunken. Ich werde trubselig; es sind sechs Wochen,
die ich fortbleiben werde, das ist naturlich ein muchtiges Gluck, aber wie
wird es sein, wenn ich zuruckkomme? Werde ich sie hier noch alle
wiedertreffen? Haie und Kemmerich sind schon nicht mehr da - wer wird der
nuchste sein ?
Wir trinken, und ich sehe einen nach dem andern an. Albert sitzt neben
mir und raucht, er ist munter, wir sind immer zusammen gewesen; - gegenuber
hockt Kat mit den abfallenden Schultern, dem breiten Daumen und der ruhigen
Stimme, Muller mit den vorstehenden Zuhnen und dem bellenden Lachen; -
Tjaden mit den Mauseaugen; - Leer, der sich einen Vollbart stehen lußt
und ausschaut wie vierzig.
uber unsern Kupfen schwebt dicker Qualm. Was wure der Soldat ohne
Tabak! Die Kantine ist eine Zuflucht, Bier ist mehr als ein Getrunk, es ist
ein Zeichen, daß man gefahrlos die Glieder dehnen und recken darf. Wir
tun es auch ordentlich, die Beine haben wir lang von uns gestreckt, und wir
spucken gemutlich in die Gegend, daß es nur so eine Art hat. Wie einem
das alles vorkommt, wenn man morgen abreist!
Nachts sind wir noch einmal jenseits des Kanals. Ich habe beinahe
Furcht, der Schmalen, Dunklen zu sagen, daß ich fortgehe und
daß, wenn ich zuruckkehre, wir sicher irgendwo weiter sind; daß
wir uns also nicht wiedersehen werden. Aber sie nickt nur und lußt
nicht allzuviel merken. Ich kann das erst gar nicht recht verstehen, dann
aber begreife ich. Leer hat schon recht: wure ich an die Front gegangen,
dann hutte es wieder geheißen: "pauvre garc.on"; aber ein Urlauber -
davon wollen sie nicht viel wissen, das ist nicht so interessant. Mag sie
zum Teufel gehen mit ihrem Gesumm und Gerede. Man glaubt an Wunder, und
nachher sind es Kommißbrote.
Am nuchsten Morgen, nachdem ich entlaust bin, marschiere ich zur
Feldbahn. Albert und Kat begleiten mich. Wir huren an der Haltestelle,
daß es wohl noch ein paar Stunden dauern wird bis zur Abfahrt. Die
beiden mussen zum Dienst zuruck. Wir nehmen Abschied.
"Mach's gut, Kat; mach's gut, Albert."
Sie gehen und winken noch ein paarmal. Ihre Gestalten werden Meiner.
Mir ist jeder Schritt, jede Bewegung an ihnen vertraut, ich wurde sie
weithin schon daran erkennen. Dann sind sie verschwunden.
Ich setze mich auf meinen Tornister und warte.
Plutzlich bin ich von rasender Ungeduld erfullt, fortzukommen.
Ich liege auf manchem Bahnhof; ich stehe vor manchem Suppenkessel; ich
hocke auf mancher Holzplanke; dann aber wird die Landschaft draußen
beklemmend, unheimlich und bekannt. An den abendlichen Fenstern gleitet sie
voruber, mit Durfern, in denen Strohducher wie Mutzen tief uber gekalkte
Fachwerkhuuser gezogen sind, mit Kornfeldern, die wie Perlmutter im schrugen
Licht schimmern, mit Obstgurten und Scheunen und alten Linden.
Die Namen der Stationen werden zu Begriffen, bei denen mein Herz
zittert. Der Zug stampft und stampft, ich stehe am Fenster und halte mich an
den Rahmenhulzern fest. Diese Namen umgrenzen meine Jugend.
Flache Wiesen, Felder, Hufe; ein Gespann zieht einsam vor dem Himmel
uber den Weg, der parallel zum Horizont luuft. Eine Schranke, vor der Bauern
warten, Mudchen, die winken, Kinder, die am Bahndamm spielen, Wege, die ins
Land fuhren, glatte Wege, ohne Artillerie.
Es ist Abend, und wenn der Zug nicht stampfte, mußte ich
schreien. Die Ebene entfaltet sich groß, in schwachem Blau beginnt in
der Ferne die Silhouette der Bergrunder aufzusteigen. Ich erkenne die
charakteristische Linie des Dolbenberges, diesen gezackten Kamm, der juh
abbricht, wo der Scheitel des Waldes aufhurt. Dahinter muß die Stadt
kommen.
Aber nun fließt das goldrote Licht verschwimmend uber die Welt,
der Zug rattert durch eine Kurve und noch eine - und unwirklich, verweht,
dunkel stehen die Pappeln darin, weit weg, hintereinander in langer Reihe,
gebildet aus Schatten, Licht und Sehnsucht.
Das Feld dreht sich mit ihnen langsam vorbei; der Zug umgeht sie, die
Zwischenruume verringern sich, sie werden ein Block, und einen Augenblick
sehe ich nur eine einzige; dann schieben sich die anderen wieder hinter der
vordersten heraus, und sie sind noch lange allein am Himmel, bis sie von den
ersten Huusern verdeckt werden.
Ein Bahnubergang. Ich stehe am Fenster, ich kann mich nicht trennen.
Die andern bereiten ihre Sachen zum Aussteigen vor. Ich spreche den Namen
der Straße, die wir uberqueren, vor mich hin, Bremer Straße -
Bremer Straße - Radfahrer, Wagen, Menschen sind da unten; es ist eine
graue Straße und eine graue Unterfuhrung; - sie ergreift mich, als
wure sie meine Mutter.
Dann hult der Zug, und der Bahnhof ist da mit Lurm, Rufen und
Schildern. Ich packe meinen Tornister auf und mache die Haken fest, ich
nehme mein Gewehr in die Hand und stolpere die Tritte hinunter.
Auf dem Perron sehe ich mich um; ich kenne niemand von den Leuten, die
da hasten. Eine Rote-Kreuz-Schwester bietet mir etwas zu trinken an. Ich
wende mich ab, sie luchelt mich zu albern an, so durchdrungen von ihrer
Wichtigkeit: Seht nur, ich gebe einem Soldaten Kaffee. - Sie sagt zu mir
"Kamerad", das hat mir gerade gefehlt. Draußen vor dem Bahnhof aber
rauscht der Fluß neben der Straße, er zischt weiß aus den
Schleusen der Muhlenbrucke hervor. Der viereckige alte Wartturm steht daran,
und vor ihm die große bunte Linde, und dahinter der Abend.
Hier haben wir gesessen, oft - wie lange ist das her -; uber diese
Brucke sind wir gegangen und haben den kuhlen, fauligen Geruch des gestauten
Wassers eingeatmet; wir haben uns uber die ruhige Flut diesseits der
Schleuse gebeugt, in der grune Schlinggewuchse und Algen an den
Bruckenpfeilern hingen; - und wir haben uns jenseits der Schleuse an
heißen Tagen uber den spritzenden Schaum gefreut und von unseren
Lehrern geschwutzt.
Ich gehe uber die Brucke, ich schaue rechts und links; das Wasser ist
immer noch voll Algen, und es schießt immer noch in hellem Bogen
herab; - im Turmgebuude stehen die Plutterinnen wie damals mit bloßen
Armen vor der weißen Wusche, und die Hitze der Bugeleisen strumt aus
den offenen Fenstern. Hunde trotten durch die schmale Straße, vor den
Hausturen stehen Menschen und sehen mir nach, wie ich schmutzig und bepackt
vorubergehe.
In dieser Konditorei haben wir Eis gegessen und uns im
Zigarettenrauchen geubt. In dieser Straße, die an mir vorubergleitet,
kenne ich jedes Haus, das Kolonialwarengeschuft, die Drogerie, die Buckerei.
Und dann stehe ich vor der braunen Tur mit der abgegriffenen Klinke, und die
Hand wird mir schwer.
Ich uffne sie; die Kuhle kommt mir wunderlich entgegen, sie macht meine
Augen unsicher.
Unter meinen Stiefeln knarrt die Treppe. Oben klappt eine Tur, jemand
blickt uber das Gelunder. Es ist die Kuchentur, die geuffnet wurde, sie
backen dort gerade Kartoffelpuffer, das Haus riecht danach, heute ist ja
auch Sonnabend, und es wird meine Schwester sein, die sich herunterbeugt.
Ich schume mich einen Augenblick und senke den Kopf, dann nehme ich den Helm
ab und sehe hinauf. Ja, es ist meine ulteste Schwester.
in
"Paul!" ruft sie. "Paul -!"
Ich nicke, mein Tornister stußt gegen das Gelunder, mein Gewehr
ist so schwer.
Sie reißt eine Tur auf und ruft: "Mutter, Mutter, Paul ist da."
Ich kann nicht mehr weitergehen. Mutter, Mutter, Paul ist da.
Ich lehne mich an die Wand und umklammere meinen Helm und mein Gewehr.
Ich umklammere sie, so fest es geht, aber ich kann keinen Schritt mehr
machen, die Treppe verschwimmt vor meinen Augen, ich stoße mir den
Kolben auf die Fuße und presse zornig die Zuhne zusammen, aber ich
kann nicht gegen dieses eine Wort an, das meine Schwester gerufen hat,
nichts kann dagegen an, ich quule mich gewaltsam, zu lachen und zu sprechen,
aber ich bringe kein Wort hervor, und so stehe ich auf der Treppe,
unglucklich, hilflos, in einem furchtbaren Krampf, und will nicht, und die
Trunen laufen mir immer nur so uber das Gesicht.
Meine Schwester kommt zuruck und fragt: "Was hast du denn?"
Da raffe ich mich zusammen und stolpere zum Vorplatz hinauf. Mein
Gewehr lehne ich in eine Ecke, den Tornister stelle ich gegen die Wand, und
den Helm packe ich darauf. Auch das Koppel mit den Sachen daran muß
fort. Dann sage ich wutend: "So gib doch endlich ein Taschentuch her!"
Sie gibt mir eins aus dem Schrank, und ich wische mir das Gesicht ab.
uber mir an der Wand hungt der Glaskasten mit bunten Schmetterlingen, die
ich fruher gesammelt habe.
Nun hure ich die Stimme meiner Mutter. Sie kommt aus dem Schlafzimmer.
"Ist sie nicht auf?" frage ich meine Schwester.
"Sie ist krank -", antwortet sie.
Ich gehe hinein zu ihr, gebe ihr die Hand und sage, so ruhig ich kann:
"Da bin ich, Mutter."
Sie liegt im Halbdunkel. Dann fragt sie angstvoll, und ich fuhle, wie
ihr Blick mich abtastet: "Bist du verwundet?"
"Nein, ich habe Urlaub."
Meine Mutter ist sehr blaß. Ich scheue mich, Licht zu machen. "Da
liege ich nun und weine", sagt sie, "anstatt mich zu freuen."
"Bist du krank, Mutter?" frage ich.
"Ich werde heute etwas aufstehen", sagt sie und wendet sich zu meiner
Schwester, die immer auf einen Sprung in die Kuche muß, damit ihr das
Essen nicht anbrennt: "Mach auch das Glas mit den eingemachten Preiselbeeren
auf, - das ißt du doch gern?" fragt sie mich.
"Ja, Mutter, das habe ich lange nicht gehabt."
"Als ob wir es geahnt hutten, daß du kommst", lacht mtine
Schwester, "gerade dein Lieblingsessen, Kartoffelpuffer, und jetzt sogar mit
Preiselbeeren."
"Es ist ja auch Sonnabend", antworte ich.
"Setz dich zu mir", sagt meine Mutter.
Sie sieht mich an. Ihre Hunde sind weiß und krunklich und schmal
gegen meine. Wir sprechen nur einige Worte, und ich bin ihr dankbar dafur,
daß sie nichts fragt. Was soll ich auch sagen: Alles, was muglich war,
ist ja geschehen. Ich bin heil herausgelangt und sitze neben ihr. Und in der
Kuche steht meine Schwester und macht das Abendbrot und singt dazu.
"Mein lieber Junge", sagt meine Mutter leise.
Wir sind nie sehr zurtlich in der Familie gewesen, das ist nicht ublich
bei armen Leuten, die viel arbeiten mussen und Sorgen haben. Sie kunnen das
auch nicht so verstehen, sie beteuern nicht gern etwas ufter, was sie
ohnehin wissen. Wenn meine Mutter zu mir "lieber Junge" sagt, so ist das so
viel, als wenn eine andere wer weiß was anstellt. Ich weiß
bestimmt, daß das Glas mit Preiselbeeren das einzige ist seit Monaten
und daß sie es aufbewahrt hat fur mich, ebenso wie die schon alt
schmeckenden Kekse, die sie mir jetzt gibt. Sie hat sicher bei einer
gunstigen Gelegenheit einige erhalten und sie gleich zuruckgelegt fur mich.
Ich sitze an ihrem Bett, und durch das Fenster funkeln in Braun und
Gold die Kastanien des gegenuberliegenden Wirtsgartens. Ich atme langsam ein
und aus und sage mir: "Du bist zu Hause, du bist zu Hause." Aber eine
Befangenheit will nicht von mir weichen, ich kann mich noch nicht in alles
hineinfinden. Da ist meine Mutter, da ist meine Schwester, da mein
Schmetterlingskasten und da das
Mahagoniklavier - aber ich bin noch nicht ganz da. Es sind ein Schleier
und ein Schritt dazwischen.
Deshalb gehe ich jetzt, hole meinen Tornister ans Bett und packe aus,
was ich mitgebracht habe: einen ganzen Edamer Kuse, den Kat mir besorgt hat,
zwei Kommißbrote, dreiviertel Pfund Butter, zwei Buchsen Leberwurst,
ein Pfund Schmalz und ein Suckchen Reis.
"Das kunnt ihr sicher gebrauchen -"
Sie nicken. "Hierist es wohl schlecht damit?" erkundige ich mich.
"Ja, es gibt nicht viel. Habt ihr denn draußen genug?"
Ich luchele und zeige auf die mitgebrachten Sachen. "So viel ja nun
nicht immer, aber es geht doch einigermaßen."
Erna bringt die Lebensmittel fort. Meine Mutter nimmt plutzlich heftig
meine Hand und fragt stockend: "War es sehr schlimm draußen, Paul?"
Mutter, was soll ich dir darauf antworten! Du wirst es nicht verstehen
und nie begreifen. Du sollst es auch nie begreifen. War es schlimm, fragst
du. - Du, Mutter. - Ich schuttele den Kopf und sage: "Nein, Mutter, nicht so
sehr. Wir sind ja mit vielen zusammen, da ist es nicht so schlimm."
"Ja, aber kurzlich war Heinrich Bredemeyer hier, der erzuhlte, es wure
jetzt furchtbar draußen, mit dem Gas und all dem andern."
Es ist meine Mutter, die das sagt. Sie sagt: mit dem Gas und all dem
andern. Sie weiß nicht, was sie spricht, sie hat nur Angst um mich.
Soll ich ihr erzuhlen, daß wir einmal drei gegnerische Gruben fanden,
die erstarrt waren in ihrer Haltung, wie vom Schlag getroffen? Auf den
Brustwehren, in den Unterstunden, wo sie gerade waren, standen und lagen die
Leute mit blauen Gesichtern, tot.
"Ach, Mutter, was so geredet wird", antworte ich, "der Bredemeyer
erzuhlt nur so etwas dahin. Du siehst ja, ich bin heil und dick -"
An der zitternden Sorge meiner Mutter finde ich meine Ruhe wieder.
Jetzt kann ich schon umhergehen und sprechen und Rede stehen, ohne Furcht,
mich plutzlich an die Wand lehnen zu mussen, weil die Welt weich wird wie
Gummi und die Adern murbe wie Zunder.
Meine Mutter will aufstehen, ich gehe solange in die Kuche zu meiner
Schwester. "Was hat sie?" frage ich. Sie zuckt die Achseln: " Sie liegt
schon ein paar Monate, wir sollten es dir aber nicht schreiben. Es sind
mehrere urzte bei ihr gewesen. Einer sagte, es wure wohl wieder Krebs."
Ich gehe zum Bezirkskommando, um mich anzumelden. Langsam wandere ich
durch die Straßen. Hier und da spricht mich jemand an. Ich halte mich
nicht lange auf, denn ich will nicht so viel reden.
Als ich aus der Kaserne zuruckkomme, ruft mich eine laute Stimme an.
Ich drehe mich um, ganz in Gedanken, und stehe einem Major gegenuber. Er
fuhrt mich an: "Kunnen Sie nicht grußen?"
"Entschuldigen Herr Major", sage ich verwirrt, "ich habe Sie nicht
gesehen."
Er wird noch lauter: "Kunnen Sie sich auch nicht vernunftig
ausdrucken?"
Ich muchte ihm ins Gesicht schlagen, beherrsche mich aber, denn sonst
ist mein Urlaub hin, nehme die Knochen zusammen und sage: "Ich habe Herrn
Major nicht gesehen."
"Dann passen Sie gefulligst auf!" schnauzt er. "Wie heißen Sie?"
Ich rapportiere.
Sein rotes, dickes Gesicht ist immernoch empurt. "Truppenteil?"
Ich melde vorschriftsmußig. Er hat immer noch nicht genug. "Wo
liegen Sie?"
Aber ich habe jetzt genug und sage: "Zwischen Langemark und
Bixschoote."
"Wieso?" fragt er etwas verblufft.
Ich erklure ihm, daß ich vor einer Stunde auf Urlaub gekommen
sei, und denke, daß er jetzt abtrudeln wird. Aber ich irre mich. Er
wird sogar noch wilder: "Das kunnte Ihnen wohl so passen, hier Frontsitten
einzufuhren, was? Das gibt's nicht! Hier herrscht Gott sei Dank Ordnung!" Er
kommandiert: "Zwanzig Schritt zuruck, marsch, marsch!"
In mir sitzt die dumpfe Wut. Aber ich kann nichts gegen ihn machen, er
lußt mich sofort festnehmen, wenn er will. So spritze ich
zuruck, gehe vor und zucke sechs Meter vor ihm zu einem zackigen
Gruß zusammen, den ich erst wegnehme, als ich sechs Meter hinter ihm
bin.
Er ruft mich wieder heran und gibt mir jetzt leutselig bekannt,
daß er noch einmal Gnade vor Recht ergehen lassen will. Ich zeige mich
stramm dankbar. "Wegtreten!" kommandiert er. Ich knalle die Wendung und
ziehe ab.
Der Abend ist mir dadurch verleidet. Ich mache, daß ich nach
Hause komme, und werfe die Uniform in die Ecke, das hatte ich sowieso vor.
Dann hole ich meinen Zivilanzug aus dem Schrank und ziehe ihn an.
Das ist mir ganz ungewohnt. Der Anzug sitzt ziemlich kurz und knapp,
ich bin beim Kommiß gewachsen. Kragen und Krawatte machen mir
Schwierigkeiten. Schließlich bindet mir meine Schwester den Knoten.
Wie leicht so ein Anzug ist, man hat das Gefuhl, als wure man nur in
Unterhosen und Hemd.
Ich betrachte mich im Spiegel. Das ist ein sonderbarer Anblick. Ein
sonnenverbrannter, etwas ausgewachsener Konfirmand sieht mich da verwundert
an.
Meine Mutter ist froh, daß ich Zivilzeug trage; ich bin ihr
dadurch vertrauter. Doch mein Vater hutte lieber, daß ich Uniform
anzuge, er muchte so mit mir zu seinen Bekannten gehen.
Aber ich weigere mich.
Es ist schun, still irgendwo zu sitzen, zum Beispiel in dem Wirtsgarten
gegenuber den Kastanien, nahe der Kegelbahn. Die Blutter fallen auf den
Tisch und auf die Erde, wenige nur, die ersten. Ich habe ein Glas Bier vor
mir stehen, das Trinken hat man beim Militur gelernt. Das Glas ist halb
geleert, ich habe also noch einige gute, kuhle Schlucke vor mir, und
außerdem kann ich ein zweites und ein drittes bestellen, wenn ich
will. Es gibt keinen Appell und kein Trommelfeuer, die Kinder des Wirts
spielen auf der Kegelbahn, und der Hund legt mir seinen Kopf auf die Knie.
Der Himmel ist blau, zwischen dem Laub der Kastanien ragt der grune Turm der
Margaretenkirche auf.
Das ist gut, und ich liebe es. Aber mit den Leuten kann ich nicht
fertig werden. Die einzige, die nicht fragt, ist meine Mutter. Doch schon
mit meinem Vater ist es anders. Er muchte, daß ich etwas erzuhle von
draußen, er hat Wunsche, die ich ruhrend und dumm finde, zu ihm schon
habe ich kein rechtes Verhultnis mehr. Am liebsten muchte er immerfort etwas
huren. Ich begreife, daß er nicht weiß, daß so etwas nicht
erzuhlt werden kann, und ich muchte ihm auch gern den Gefallen tun; aber es
ist eine Gefahr fur mich, wenn ich diese Dinge in Worte bringe, ich habe
Scheu, daß sie dann riesenhaft werden und sich nicht mehr bewultigen
lassen. Wo blieben wir, wenn uns alles ganz klar wurde, was da draußen
vorgeht.
So beschrunke ich mich darauf, ihm einige lustige Sachen zu erzuhlen.
Er aber fragt mich, ob ich auch einen Nahkampf mitgemacht hutte. Ich sage
nein und stehe auf, um auszugehen.
Doch das bessert nichts. Nachdem ich mich auf der Straße ein
paarmal erschreckt habe, weil das Quietschen der Straßenbahnen sich
wie heranheulende Granaten anhurt, klopft mir jemand auf die Schulter. Es
ist mein Deutschlehrer, der mich mit den ublichen Fragen uberfullt. "Na, wie
steht es draußen. Furchtbar, furchtbar, nicht wahr? Ja, es ist
schrecklich, aber wir mussen eben durchhalten. Und schließlich,
draußen habt ihr doch wenigstens gute Verpflegung, wie ich gehurt
habe, Sie sehen gut aus, Paul, kruftig. Hier ist das naturlich schlechter,
ganz naturlich, ist ja auch selbstverstundlich, das Beste immer fur unsere
Soldaten!"
Er schleppt mich zu einem Stammtisch mit. Ich werde großartig
empfangen, ein Direktor gibt mir die Hand und sagt: " So, Sie kommen von der
Front? Wie ist denn der Geist dort? Vorzuglich, vorzuglich, was?"
Ich erklure, daß jeder gern nach Hause muchte.
Er lacht druhnend: "Das glaube ich! Aber erst mußt ihr den
Franzmann verkloppen! Rauchen Sie? Hier, stecken Sie sich mal eine an. Ober,
bringen Sie unserm jungen Krieger auch ein Bier."
Leider habe ich die Zigarre genommen, deshalb muß ich bleiben.
Alle triefen nur so von Wohlwollen, dagegen ist nichts einzuwenden. Trotzdem
bin ich urgerlich und qualme, so schnell ich kann.
Um wenigstens etwas zu tun, sturze ich das Glas Bier in einem Zug
hinunter. Sofort wird mir ein zweites bestellt; die Leute wissen, was sie
einem Soldaten schuldig sind. Sie disputieren daruber, was wir annektieren
sollen. Der Direktor mit der eisernen Uhrkette will am meisten haben: ganz
Belgien, die Kohlengebiete Frankreichs und große Stucke von
Rußland. Er gibt genaue Grunde an, weshalb wir das haben mussen, und
ist unbeugsam, bis die andern schließlich nachgeben. Dann beginnt er
zu erluutern, wo in Frankreich der Durchbruch einsetzen musse, und wendet
sich zwischendurch zu mir: "Nun macht mal ein bißchen vorwurts da
draußen mit eurem ewigen Stellungskrieg. Schmeißt die Kerle
'raus, dann gibt es auch Frieden." -
Ich antworte, daß nach unserer Meinung ein Durchbruch unmuglich
sei. Die druben hutten zuviel Reserven. Außerdem wure der Krieg doch
anders, als man sich das so denke.
Er wehrt uberlegen ab und beweist mir, daß ich davon nichts
verstehe. " Gewiß, der einzelne", sagt er, "aber es kommt doch auf das
Gesamte an. Und das kunnen Sie nicht so beurteilen. Sie sehen nur Ihren
kleinen Abschnitt und haben deshalb keine ubersicht. Sie tun Ihre Pflicht,
Sie setzen Ihr Leben ein, das ist huchster Ehren wert - jeder von euch
mußte das Eiserne Kreuz haben -, aber vor allem muß die
gegnerische Front in Flandern durchbrochen und dann von oben aufgerollt
werden."
Er schnauft und wischt sich den Bart. "Vullig aufgerollt muß sie
werden, von oben herunter. Und dann auf Paris."
Ich muchte wissen, wie er sich das vorstellt, und gieße das
dritte Bier in mich hinein. Sofort lußt er ein neues bringen.
Aber ich breche auf. Er schiebt mir noch einige Zigarren in die Tasche
und entlußt mich mit einem freundschaftlichen Klaps. "Alles Gute!
Hoffentlich huren wir nun bald etwas Ordentliches von euch."
Ich habe mir den Urlaub anders vorgestellt. Vor einem Jahr war er auch
anders. Ich bin es wohl, der sich inzwischen geundert hat. Zwischen heute
und damals liegt eine Kluft. Damals kannte ich den Krieg noch nicht, wir
hatten in ruhigeren Abschnitten gelegen. Heute merke ich, daß ich,
ohne es zu wissen, zermurbter geworden bin. Ich finde mich hier nicht mehr
zurecht, es ist eine fremde Welt. Die einen fragen, die andern fragen nicht,
und man sieht ihnen an, daß sie stolz darauf sind; oft sagen sie es
sogar noch mit dieser Miene des Verstehens, daß man daruber nicht
reden kunne. Sie bilden sich etwas darauf ein.
Am liebsten bin ich allein, da sturt mich keiner. Denn alle kommen
stets auf dasselbe zuruck, wie schlecht es geht und wie gut es geht, der
eine findet es so, der andere so, - immer sind sie auch rasch bei den
Dingen, die ihr Dasein darstellen. Ich habe fruher sicher genauso gelebt,
aber ich finde jetzt keinen Anschluß mehr daran.
Sie reden mir zuviel. Sie haben Sorgen, Ziele, Wunsche, die ich nicht
so auffassen kann wie sie. Manchmal sitze ich mit einem von ihnen in dem
kleinen Wirtsgarten und versuche, ihm klarzumachen, daß dies
eigentlich schon alles ist: so still zu sitzen. Sie verstehen das naturlich,
geben es zu, finden es auch, aber nur mit Worten, nur mit Worten, das ist es
ja - sie empfinden es, aber stets nur halb, ihr anderes Wesen ist bei
anderen Dingen, sie sind so verteilt, keiner empfindet es mit seinem ganzen
Leben; ich kann ja selbst auch nicht recht sagen, was ich meine.
Wenn ich sie so sehe, in ihren Zimmern, in ihren Buros, in ihren
Berufen, dann zieht das mich unwiderstehlich an, ich muchte auch darin sein
und den Krieg vergessen; aber es stußt mich auch gleich wieder ab, es
ist so eng, wie kann das ein Leben ausfullen, man sollte es zerschlagen, wie
kann das alles so sein, wuhrend draußen jetzt die Splitter uber die
Trichter sausen und die Leuchtkugeln hochgehen, die Verwundeten auf
Zeltbahnen zuruckgeschleift werden und die Kameraden sich in die Gruben
drucken! -Es sind andere Menschen hier, Menschen, die ich nicht richtig
begreife, die ich beneide und verachte. Ich muß an Kat und Albert und
Muller und Tjaden denken, was mugen sie tun? Sie sitzen vielleicht in der
Kantine oder sie schwimmen - bald mussen sie wieder nach vorn.
In meinem Zimmer steht hinter dem Tisch ein braunes Ledersofa. Ich
setze mich hinein.
An den Wunden sind viele Bilder mit Reißzwecken festgemacht, die
ich fruher aus Zeitschriften geschnitten habe. Postkarten und Zeichnungen
dazwischen, die mir gefallen haben. In der Ecke steht ein kleiner eiserner
Ofen. An der Wand gegenuber das Regal mit meinen Buchern.
In diesem Zimmer habe ich gelebt, bevor ich Soldat wurde. Die Bucher
habe ich nach und nach gekauft von dem Geld, das ich mit Stundengeben
verdiente. Viele davon antiquarisch, alle Klassiker zum Beispiel, ein Band
kostete eine Mark und zwanzig Pfennig, in steifem, blauem Leinen. Ich habe
sie vollstundig gekauft, denn ich war grundlich, bei ausgewuhlten Werken
traute ich den Herausgebern nicht, ob sie auch das Beste genommen hatten.
Deshalb kaufte ich mir " Sumtliche Werke". Gelesen habe ich sie mit
ehrlichem Eifer, aber die meisten sagten mir nicht recht zu. Um so mehr
hielt ich von den anderen Buchern, den moderneren, die naturlich auch viel
teurer waren. Einige davon habe ich nicht ganz ehrlich erworben, ich habe
sie ausgeliehen und nicht zuruckgegeben, weil ich mich von ihnen nicht
trennen mochte.
Ein Fach des Regals ist mit Schulbuchern gefullt. Sie sind wenig
geschont und stark zerlesen, Seiten sind herausgerissen, man weiß ja
wofur. Und unten sind Hefte, Papier und Briefe hingepackt, Zeichnungen und
Versuche.
Ich will mich hineindenken in die Zeit damals. Sie ist ja noch im
Zimmer, ich fuhle es sofort, die Wunde haben sie bewahrt. Meine Hunde liegen
auf der Sofalehne; jetzt mache ich es mir bequem und ziehe auch die Beine
hoch, so sitze ich gemutlich in der Ecke, in den Armen des Sofas. Das kleine
Fenster ist geuffnet, es zeigt das vertraute Bild der Straße mit dem
ragenden Kirchturm am Ende. Ein paar Blumen stehen auf dem Tisch.
Federhalter, Bleistifte, eine Muschel als Briefbeschwerer, das
Tintenfaß - hier ist nichts verundert.
So wird es auch sein, wenn ich Gluck habe, wenn der Krieg aus ist und
ich wiederkomme fur immer. Ich werde ebenso hier sitzen und mein Zimmer
ansehen und warten.
Ich bin aufgeregt; aber ich muchte es nicht sein, denn das ist nicht
richtig. Ich will wieder diese stille Hingerissenheit, das Gefuhl dieses
heftigen, unbenennbaren Dranges verspuren, wie fruher, wenn ich vor meine
Bucher trat. Der Wind der Wunsche, der aus den bunten Bucherrucken aufstieg,
soll mich wieder erfassen, er soll den schweren, toten Bleiblock, der
irgendwo in mir liegt, schmelzen und mir wieder die Ungeduld der Zukunft,
die beschwingte Freude an der Welt der Gedanken wecken; - er soll mir das
verlorene Bereitsein meiner Jugend zuruckbringen.
Ich sitze und warte.
Mir fullt ein, daß ich zu Kemmerichs Mutter gehen muß; -
Mittelstaedt kunnte ich auch besuchen, er muß in der Kaserne sein. Ich
sehe aus dem Fenster: - hinter dem besonnten Straßenbild taucht
verwaschen und leicht ein Hugelzug auf, verwandelt sich zu einem hellen Tag
im Herbst, wo ich am Feuer sitze und mit Kat und Albert gebratene Kartoffeln
aus der Schale esse.
Doch daran will ich nicht denken, ich wische es fort. Das Zimmer soll
sprechen, es soll mich einfangen und tragen, ich will fuhlen, daß ich
hierhergehure, und horchen, damit ich weiß, wenn ich wieder an die
Front gehe: Der Krieg versinkt und ertrinkt, wenn die Welle der Heimkehr
kommt, er ist voruber, er zerfrißt uns nicht, er hat keine andere
Macht uber uns als nur die uußere!
Die Bucherrucken stehen nebeneinander. Ich kenne sie noch und erinnere
mich, wie ich sie geordnet habe. Ich bitte sie mit meinen Augen: Sprecht zu
mir, - nehmt mich auf - nimm mich auf, du Leben von fruher, - du sorgloses,
schunes - nimm mich wieder auf -
Ich warte, ich warte.
Bilder ziehen voruber, sie haken nicht fest, es sind nur Schatten und
Erinnerungen.
Nichts - nichts.
Meine Unruhe wuchst.
Ein furchterliches Gefuhl der Fremde steigt plutzlich in mir hoch. Ich
kann nicht zuruckfinden, ich bin ausgeschlossen; so sehr ich auch bitte und
mich anstrenge, nichts bewegt sich, teilnahmslos und traurig sitze ich wie
ein Verurteilter da, und die Vergangenheit wendet sich ab. Gleichzeitig
spure ich Furcht, sie zu sehr zu beschwuren, weil ich nicht weiß, was
dann alles geschehen kunnte. Ich bin ein Soldat, daran muß ich mich
halten.
Mude stehe ich auf und schaue aus dem Fenster. Dann nehme ich eines der
Bucher und bluttere darin, um zu lesen. Aber ich stelle es weg und nehme ein
anderes. Es sind Stellen darin, die angestrichen sind. Ich suche, bluttere,
nehme neue Bucher. Schon liegt ein Pack neben mir. Andere kommen dazu,
hastiger - Blutter, Hefte, Briefe.
Stumm stehe ich davor. Wie vor einem Gericht.
Mutlos.
Worte, Worte, Worte - sie erreichen mich nicht.
Langsam stelle ich die Bucher wieder in die Lucken. Vorbei.
Still gehe ich aus dem Zimmer.
Noch gebe ich es nicht auf. Mein Zimmer betrete ich zwar nicht mehr,
aber ich truste mich damit, daß einige Tage noch nicht ein Ende zu
sein brauchen. Ich habe nachher - sputer - Jahre dafur Zeit. Vorluufig gehe
ich zu Mittelstaedt in die Kaserne, und wir sitzen in seiner Stube, da ist
eine Luft, die ich nicht liebe, an die ich aber gewuhnt bin.
Mittelstaedt hat eine Neuigkeit parat, die mich sofort elektrisiert. Er
erzuhlt mir, daß Kantorek eingezogen worden sei als Landsturmmann.
"Stell dir vor", sagt er und holt ein paar gute Zigarren heraus, "ich komme
aus dem Lazarett hierher und falle gleich uber ihn. Er streckt mir seine
Pfote entgegen und quakt: 'Sieh da, Mittelstaedt, wie geht es denn?' - Ich
sehe ihn groß an und antworte: 'Landsturmmann Kantorek, Dienst ist
Dienst und Schnaps ist Schnaps, das sollten Sie selbst am besten wissen.
Nehmen Sie Haltung an, wenn Sie mit einem Vorgesetzten reden.' - Du huttest
sein Gesicht sehen mussen! Eine Kreuzung aus Essiggurke und Blindgunger.
Zugernd versuchte er noch einmal, sich anzubiedern. Da schnauzte ich etwas
schurfer. Nun fuhrte er seine sturkste Batterie ins Gefecht und fragte
vertraulich: 'Soll ich Ihnen vermitteln, daß Sie Notexamen machen?' Er
wollte mich erinnern, verstehst du. Da packte mich die Wut, und ich
erinnerte ihn auch. 'Landsturmmann Kantorek, vor zwei Jahren haben Sie uns
zum Bezirkskommando gepredigt, darunter auch den Joseph Behm, der eigentlich
nicht wollte. Er fiel drei Monate bevor er eingezogen worden wure. Ohne Sie
hutte er solange gewartet. Und jetzt: Wegtreten. Wir sprechen uns noch.' -
Es war mir leicht, seiner Kompanie zugeteilt zu werden. Als erstes nahm ich
ihn zur Kammer und sorgte fur eine hubsche Ausrustung. Du wirst ihn gleich
sehen."
Wir gehen auf den Hof. Die Kompanie ist angetreten. Mittelstaedt
lußt ruhren und besichtigt.
Da erblicke ich Kantorek und muß das Lachen verbeißen. Er
trugt eine Art Schoßrock aus verblichenem Blau. Auf dem Rucken und an
den urmeln sind große dunkle Flicken eingesetzt. Der Rock muß
einem Riesen gehurt haben. Um so kurzer ist die abgewetzte schwarze Hose;
sie reicht bis zur halben Wade. Dafur sind aber die Schuhe sehr geruumig,
eisenharte, uralte Treter, mit hochgebogenen Spitzen, noch an den Seiten zu
schnuren. Als Ausgleich ist die Mutze wieder zu klein, ein furchtbar
dreckiges, elendes Krutzchen. Der Gesamteindruck ist erbarmungswurdig.
Mittelstaedt bleibt stehen vor ihm: "Landsturmmann Kantorek, ist das
Knopfputz ? Sie scheinen es nie zu lernen. Ungenugend, Kantorek, ungenugend
-"
Ich brulle innerlich vor Vergnugen. Genauso hat Kantorek in der Schule
Mittelstaedt getadelt, mit demselben Tonfall "Ungenugend, Mittelstaedt,
ungenugend -"
Mittelstaedt mißbilligt weiter: "Sehen Sie sich mal Boettcher an,
der ist vorbildlich, von dem kunnen Sie lernen."
Ich traue meinen Augen kaum. Boettcher ist ja auch da, unser
Schulportier. Und der ist vorbildlich! Kantorek schießt mir einen
Blick zu, als ob er mich fressen muchte. Ich aber grinse ihm nur harmlos in
die Visage, so als ob ich ihn gar nicht weiter kenne.
Wie bludsinnig er aussieht mit seinem Krutzchen und seiner Uniform! Und
vor so was hat man fruher eine Heidenangst gehabt, wenn es auf dem Katheder
thronte und einen mit dem Bleistift aufspießte bei den
unregelmußigen franzusischen Verben, mit denen man nachher in
Frankreich doch nichts anfangen konnte. Es ist noch kaum zwei Jahre her; -
und jetzt steht hier der Landsturmmann Kantorek, juh entzaubert, mit krummen
Knien und Armen wie Topfhenkel, mit schlechtem Knopfputz und lucherlicher
Haltung, ein unmuglicher Soldat. Ich kann ihn mir nicht mehr zusammenreimen
mit dem drohenden Bilde auf dem Katheder, und ich muchte wirklich gern mal
wissen, was ich machen werde, wenn dieser Jammerpelz mich alten Soldaten
jemals wieder fragen darf: "Buumer, nennen Sie das Imparfait von aller -"
Vorluufig lußt Mittelstaedt etwas Schwurmen uben. Kantorek wird
dabei wohlwollend von ihm zum Gruppenfuhrer bestimmt.
Damit hat es seine besondere Bewandtnis. Der Gruppenfuhrer muß
beim Schwurmen numlich stets zwanzig Schritt vor seiner Gruppe sein; -
kommandiert man nun: Kehrt - marsch!, so macht die Schwarmlinie nur die
Wendung, der Gruppenfuhrer jedoch, der dadurch plutzlich zwanzig Schritt
hinter der Linie ist, muß im Galopp vorsturzen, um wieder seine
zwanzig Schritt vor die Gruppe zu kommen. Das sind zusammen vierzig Schritt:
Marsch, marsch. Kaum ist er aber angelangt, so wird einfach wieder Kehrt -
marsch! befohlen, und er muß eiligst wieder vierzig Schritt nach der
anderen Seite rasen. Auf diese Weise macht die Gruppe nur gemutlich immer
eine Wendung und ein paar Schritte, wuhrend der Gruppenfuhrer hin und her
saust wie ein Furz auf der Gardinenstange. Das Ganze ist eines der vielen
probaten Rezepte von Himmelstoß.
Kantorek kann von Mittelstaedt nichts anderes verlangen, denn er hat
ihm einmal eine Versetzung vermurkst, und Mittelstaedt wure schun dumm,
diese gute Gelegenheit nicht auszunutzen, bevor er wieder ins Feld kommt.
Man stirbt doch vielleicht etwas leichter, wenn der Kommiß einem auch
einmal solch eine Chance geboten hat.
Einstweilen spritzt Kantorek hin und her wie ein aufgescheuchtes
Wildschwein. Nach einiger Zeit lußt Mittelstaedt aufhuren, und nun
beginnt die so wichtige ubung des Kriechens. Auf Knien und Ellenbogen, die
Knarre vorschriftsmußig gefaßt, schiebt Kantorek seine
Prachtfigur durch den Sand, dicht an uns vorbei. Er schnauft kruftig, und
sein Schnaufen ist Musik.
Mittelstaedt ermuntert ihn, indem er den Landsturmmann Kantorek mit
Zitaten des Oberlehrers Kantorek trustet. "Landsturmmann Kantorek, wir haben
das Gluck, in einer großen Zeit zu leben, da mussen wir alle uns
zusammenreißen und das Bittere uberwinden." Kantorek spuckt ein
schmutziges Stuck Holz aus, das ihm zwischen die Zuhne gekommen ist, und
schwitzt. Mittelstaedt beugt sich nieder, beschwurend eindringlich: "Und
uber Kleinigkeiten niemals das große Erlebnis vergessen, Landsturmmann
Kantorek!"
Mich wundert, daß Kantorek nicht mit einem Knall zerplatzt,
besonders, da jetzt die Turnstunde folgt, in der Mittelstaedt ihn
großartig kopiert, indem er ihm in den Hosenboden faßt beim
Klimmzug am Querbaum, damit er das Kinn stramm uber die Stange bringen kann,
und dazu von weisen Reden nur so trieft. Genauso hat Kantorek es fruher mit
ihm gemacht.
Danach wird der weitere Dienst verteilt. "Kantorek und Boettcher zum
Kommißbrotholen! Nehmen Sie den Handwagen mit."
Ein paar Minuten sputer geht das Paar mit dem Handwagen los. Kantorek
hult wutend den Kopf gesenkt. Der Portier ist stolz, weil er leichten Dienst
hat.
Die Brotfabrik ist am andern Ende der Stadt. Beide mussen also hin und
zuruck durch die ganze Stadt.
"Das machen sie schon ein paar Tage", grinst Mittelstaedt. "Es gibt
bereits Leute, die darauf warten, sie zu sehen."
"Großartig", sage ich, "aber hat er sich noch nicht beschwert?"
"Versucht! Unser Kommandeur hat furchtbar gelacht, als er die
Geschichte gehurt hat. Er kann keine Schulmeister leiden. Außerdem
poussiere ich mit seiner Tochter."
"Er wird dir das Examen versauen."
"Darauf pfeife ich", meint Mittelstaedt gelassen. "Seine Beschwerde ist
außerdem zwecklos gewesen, weil ich beweisen konnte, daß er
meistens leichten Dienst hat."
"Kunntest du ihn nicht mal ganz groß schleifen?" frage ich.
"Dazu ist er mir zu dumlich", antwortet Mittelstaedt erhaben und
großzugig.
Was ist Urlaub? - Ein Schwanken, das alles nachher noch viel
schwerermacht. Schon jetzt mischt sich der Abschied hinein. Meine Mutter
sieht mich schweigend an; - sie zuhlt die Tage, ich weiß es; - jeden
Morgen ist sie traurig. Es ist schon wieder ein Tag weniger. Meinen
Tornister hat sie weggepackt, sie will durch ihn nicht erinnert werden.
Die Stunden laufen schnell, wenn man grubelt. Ich raffe mich auf und
begleite meine Schwester. Sie geht zum Schlachthof, um einige Pfund Knochen
zu holen. Das ist eine große Vergunstigung, und morgens schon stellen
sich die Leute hin, um darauf anzustehen. Manche werden ohnmuchtig.
Wir haben kein Gluck. Nachdem wir drei Stunden abwechselnd gewartet
haben, lust sich die Reihe auf. Die Knochen sind zu Ende.
Es ist gut, daß ich meine Verpflegung erhalte. Davon bringe ich
meiner Mutter mit, und wir haben so alle etwas kruftigeres Essen.
Immer schwerer werden die Tage, die Augen meiner Mutter immer
trauriger. Noch vier Tage. Ich muß zu Kemmerichs Mutter gehen.
Man kann das nicht niederschreiben. Diese bebende, schluchzende Frau,
die mich schuttelt und mich anschreit: "Weshalb lebst du denn, wenn er tot
ist!", die mich mit Trunen uberstrumt und ruft: "Weshalb seid ihr uberhaupt
da, Kinder, wie ihr -", die in einen Stuhl sinkt und weint: "Hast du ihn
gesehen? Hast du ihn noch gesehen? Wie starb er?"
Ich sage ihr, daß er einen Schuß ins Herz erhalten hat und
gleich tot war. Sie sieht mich an, sie zweifelt: "Du lugst. Ich weiß
es besser. Ich habe gefuhlt, wie schwer er gestorben ist. Ich habe seine
Stimme gehurt, seine Angst habe ich nachts gespurt, - sag die Wahrheit, ich
will es wissen, ich muß es wissen."
"Nein", sage ich, "ich war neben ihm. Er war sofort tot." Sie bittet
mich leise: "Sag es mir. Du mußt es. Ich weiß, du willst mich
damit trusten, aber siehst du nicht, daß du mich schlimmer quulst, als
wenn du die Wahrheit sagst? Ich kann die Ungewißheit nicht ertragen,
sag mir, wie es war, und wenn es noch so furchtbar ist. Es ist immer noch
besser, als was ich sonst denken muß."
Ich werde es nie sagen, eher kann sie aus mir Hackfleisch machen. Ich
bemitleide sie, aber sie kommt mir auch ein wenig dumm vor. Sie soll sich
doch zufrieden geben, Kemmerich bleibt tot, ob sie es weiß oder nicht.
Wenn man so viele Tote gesehen hat, kann man so viel Schmerz um einen
einzigen nicht mehr recht begreifen. So sage ich etwas ungeduldig: "Er war
sofort tot. Er hat es gar nicht gefuhlt. Sein Gesicht war ganz ruhig."
Sie schweigt. Dann fragt sie langsam: "Kannst du das beschwuren?"
"Ja."
"Bei allem, was dir heilig ist?"
Ach Gott, was ist mir schon heilig; - so was wechselt ja schnell bei
uns.
"Ja, er war sofort tot."
"Willst du selbst nicht wiederkommen, wenn es nicht wahr ist?"
"Ich will nicht wiederkommen, wenn er nicht sofort tot war."
Ich wurde noch wer weiß was auf mich nehmen. Aber sie scheint mir
zu glauben. Sie stuhnt und weint lange. Ich soll erzuhlen, wie es war, und
erfinde eine Geschichte, an die ich jetzt beinahe selbst glaube.
Als ich gehe, kußt sie mich und schenkt mir ein Bild von ihm. Er
lehnt darauf in seiner Rekrutenuniform an einem runden Tisch, dessen Beine
aus ungeschulten Birkenusten bestehen. Dahinter ist ein Wald gemalt als
Kulisse. Auf dem Tisch steht ein Bierseidel.
Es ist der letzte Abend zu Hause. Alle sind schweigsam. Ich gehe fruh
zu Bett, ich fasse die Kissen an, ich drucke sie an mich und lege den Kopf
hinein. Wer weiß, ob ich je wieder so in einem Federbett liegen werde!
Meine Mutter kommt sput noch in mein Zimmer. Sie glaubt, daß ich
schlafe, und ich stelle mich auch so. Zu sprechen, wach miteinander zu sein,
ist zu schwer.
Sie sitzt fast bis zum Morgen, obschon sie Schmerzen hat und sich
manchmal krummt. Endlich kann ich es nicht mehr aushaken, ich tue, als
erwachte ich.
"Geh schlafen, Mutter, du erkultest dich hier."
Sie sagt: "Schlafen kann ich noch genug sputer."
Ich richte mich auf. "Es geht ja nicht sofort ins Feld, Mutter. Ich
muß doch erst vier Wochen ins Barackenlager. Von dort komme ich
vielleicht einen Sonntag noch heruber."
Sie schweigt. Dann fragt sie leise: "Furchtest du dich sehr?"
"Nein, Mutter."
"Ich wollte dir noch sagen: Nimm dich vor den Frauen in acht in
Frankreich. Sie sind schlecht dort."
Ach Mutter, Mutter! Fur dich bin ich ein Kind, - warum kann ich nicht
den Kopf in deinen Schoß legen und weinen? Warum muß ich immer
der Sturkere und der Gefaßtere sein, ich muchte doch auch einmal
weinen und getrustet werden, ich bin doch wirklich nicht viel mehr als ein
Kind, im Schrank hungen noch meine kurzen Knabenhosen, - es ist doch erst so
wenig Zeit her, warum ist es denn vorbei?
So ruhig ich kann, sage ich: "Wo wir liegen, da sind keine Frauen,
Mutter."
"Und sei recht vorsichtig dort im Felde, Paul."
Ach Mutter, Mutter! Warum nehme ich dich nicht in meine Arme, und wir
sterben. Was sind wir doch fur arme Hunde!
"Ja, Mutter, das will ich sein."
"Ich werde jeden Tag fur dich beten, Paul."
Ach Mutter, Mutter! Laß uns aufstehen und fortgehen, zuruck durch
die Jahre, bis all dies Elend nicht mehr auf uns liegt, zuruck zu dir und
mir allein, Mutter!
"Vielleicht kannst du einen Posten bekommen, der nicht so gefuhrlich
ist."
"Ja, Mutter, vielleicht komme ich in die Kuche, das kann wohl
sein."
"Nimm ihn ja an, wenn die andern auch reden -"
"Darum kummere ich mich nicht, Mutter -"
Sie seufzt. Ihr Gesicht ist ein weißer Schein im Dunkel. "Nun
mußt du schlafen gehen, Mutter."
Sie antwortet nicht. Ich stehe auf und lege ihr meine Decke uber die
Schultern. Sie stutzt sich auf meinen Arm, sie hat Schmerzen. So bringe ich
sie hinuber. Eine Weile bleibe ich noch bei ihr. "Du mußt nun auch
gesund werden, Mutter, bis ich wiederkomme."
"Jaja, mein Kind."
"Ihr durft mir nicht eure Sachen schicken, Mutter. Wir haben
draußen genug zu essen. Ihr kunnt es hier besser brauchen."
Wie arm sie in ihrem Bette liegt, sie, die mich liebt, mehr als alles.
Als ich schon gehen will, sagt sie hastig: "Ich habe dir noch zwei
Unterhosen besorgt. Es ist gute Wolle. Sie werden warm halten. Du mußt
nicht vergessen, sie dir einzupacken."
Ach Mutter, ich weiß, was dich diese beiden Unterhosen gekostet
haben an Herumstehen und Laufen und Betteln! Ach Mutter, Mutter, wie kann
man es begreifen, daß ich weg muß von dir, wer hat denn anders
ein Recht auf mich als du. Noch sitze ich hier, und du liegst dort, wir
mussen uns so vieles sagen, aber wir werden es nie kunnen.
"Gute Nacht, Mutter."
"Gute Nacht, mein Kind."
Das Zimmer ist dunkel. Der Atem meiner Mutter geht darin hin und her.
Dazwischen tickt die Uhr. Draußen vor den Fenstern weht es. Die
Kastanien rauschen.
Auf dem Vorplatz stolpere ich uber meinen Tornister, der fertig gepackt
daliegt, weil ich morgen sehr fruh fort muß.
Ich beiße in meine Kissen, ich krampfe die Fuuste um die
Eisenstube mei'ies Bettes. Ich hutte nie hierherkommen durfen. Ich war
gleichgultig und oft hoffnungslos draußen; - ich werde es nie mehr so
sein kunnen. Ich war ein Soldat, und nun bin ich nichts mehr als Schmerz um
mich, um meine Mutter, um alles, was so trostlos und ohne Ende ist. Ich
hutte nie auf Urlaub fahren durfen.
Die Baracken im Heidelager kenne ich noch. Hier hat Himmelstoß
Tjaden erzogen. Sonst aber kenne ich kaum jemand hier; alles hat gewechselt,
wie immer. Nur einige der Leute habe ich fruher fluchtig gesehen.
Den Dienst mache ich mechanisch. Abends bin ich fast stets im
Soldatenheim, da liegen Zeitschriften aus, die ich aber nicht lese; es steht
jedoch ein Klavier da, auf dem ich gern spiele. Zwei Mudchen bedienen, eins
davon ist jung.
Das Lager ist von hohen Drahtzuunen umgeben. Wenn wir sput aus dem
Soldatenheim kommen, mussen wir Passierscheine haben. Wer sich mit dem
Posten versteht, kriecht naturlich auch so durch.
Zwischen Wacholderbuschen und Birkenwuldern uben wir jeden Tag
Kompanieexerzieren in der Heide. Es ist zu ertragen, wenn man nicht mehr
verlangt. Man rennt vorwurts, wirft sich hin, und der Atem biegt die Stengel
und Bluten der Heide hin und her. Der Ware Sand ist, so dicht am Boden
gesehen, rein wie in einem Laboratorium, aus vielen kleinsten Kieseln
gebildet. Es ist seltsam verlockend, die Hand hineinzugraben.
Aber das schunste sind die Wulder mit ihren Birkenrundern. Sie wechseln
jeden Augenblick die Farbe. Jetzt leuchten die Stumme im hellsten
Weiß, und seidig und luftig schwebt zwischen ihnen das pastellhafte
Grun des Laubes; - im nuchsten Moment wechselt alles zu einem opalenen Blau,
das silbrig vom Rande her streicht und das Grun forttupft; - aber sogleich
vertieft es sich an einer Stelle fast zu Schwarz, wenn eine Wolke uber die
Sonne geht. Und dieser Schatten luuft wie ein Gespenst zwischen den nun
fahlen Stummen entlang, weiter uber die Heide zum Horizont, - inzwischen
stehen die Birken schon wie festliche Fahnen mit weißen Stangen vor
dem rotgoldenen Geloder ihres sich furbenden Laubes.
Ich verliere mich oft an dieses Spiel zartester Lichter und
durchsichtiger Schatten, so sehr, daß ich fast die Kommandos uberhure;
- wenn man allein ist, beginnt man die Natur zu beobachten und zu lieben.
Und ich habe hier nicht viel Anschluß, wunsche ihn auch nicht uber das
normale Maß hinaus. Man ist zuwenig miteinander bekannt, um mehr zu
tun, als etwas zu quatschen und abends Siebzehn-und-vier zu spielen oder zu
mauscheln.
Neben unsern Baracken befindet sich das große Russenlager. Es ist
von uns zwar durch Drahtwunde getrennt, trotzdem gelingt es den Gefangenen
doch, zu uns heruberzukommen. Sie geben sich sehr scheu und ungstlich, dabei
haben die meisten Barte und sind groß; dadurch wirken sie wie
verprugelte Bernhardiner.
Sie schleichen um unsere Baracken und revidieren die Abfalltonnen. Man
muß sich vorstellen, was sie da finden. Die Kost ist bei uns schon
knapp und vor allem schlecht, es gibt Steckruben, in sechs Teile geschnitten
und in Wasser gekocht, Mohrrubenstrunke, die noch schmutzig sind; fleckige
Kartoffeln sind große Leckerbissen, und das Huchste ist dunne
Reissuppe, in der kleingeschnittene Rindfleischsehnen schwimmen sollen. Aber
sie sind so klein geschnitten, daß sie nicht mehr zu finden sind.
Trotzdem wird naturlich alles gegessen. Wenn wirklich einer mal so
reich ist, nicht leerfuttern zu brauchen, stehen zehn andere da, die es ihm
gern abnehmen. Nur die Reste, die der Luffel nicht mehr erreicht, werden
ausgespult und in die Abfalltonnen geschuttet. Dazu kommen dann manchmal
einige Steckrubenschalen, verschimmelte Brotrinden und allerlei Dreck.
Dieses dunne, trube, schmutzige Wasser ist das Ziel der Gefangenen. Sie
schupfen es gierig aus den stinkenden Tonnen und tragen es unter ihren
Blusen fort.
Es ist sonderbar, diese unsere Feinde so nahe zu sehen. Sie haben
Gesichter, die nachdenklich machen, gute Bauerngesichter, breite Stirnen,
breite Nasen, breite Lippen, breite Hunde, wolliges Haar. Man mußte
sie zum Pflugen und Muhen und Apfelpflucken verwenden. Sie sehen noch
gutmutiger aus als unsere Bauern in Friesland.
Es ist traurig, ihre Bewegungen, ihr Betteln um etwas Essen zu sehen.
Sie sind alle ziemlich schwach, denn sie erhalten gerade so viel, daß
sie nicht verhungern. Wir selbst bekommen ja lungst nicht satt zu essen. Sie
haben Ruhr, mit ungstlichen Blicken zeigen manche verstohlen blutige
Hemdzipfel heraus. Ihre Rucken, ihre Nacken sind gekrummt, die Knie
geknickt, der Kopf blickt schief von unten herauf, wenn sie die Hand
ausstrecken und mit den wenigen Worten, die sie kennen, betteln, - betteln
mit diesen weichen, leisen Bussen, die wie warme ufen und Heimatstuben sind.
Es gibt Leute, die ihnen einen Tritt geben, daß sie umfallen; -
aber das sind nur wenig. Die meisten tun ihnen nichts, sie gehen an ihnen
vorbei. Mitunter wenn sie sehr elend sind allerdings, gerut man daruber in
Wut und versetzt ihnen dann einen Tritt. Wenn sie einen nur nicht so ansehen
wollten, - was fur ein Jammer in zwei so kleinen Flecken sitzen kann, die
man mit dem Daumen schon zuhalten kann: in den Augen.
Abends kommen sie in die Baracken und handeln. Sie tauschen alles, was
sie haben, gegen Brot ein. Es gelingt ihnen manchmal, denn sie haben gute
Stiefel, unsere aber sind schlecht. Das Leder ihrer hohen Schaftstiefel ist
wunderbar weich, wie Juchten. Die Bauernsuhne bei uns, die von zu Hause
Fettigkeiten geschickt erhalten, kunnen sie sich leisten. Der Preis fur ein
Paar Stiefel ist ungefuhr zwei bis drei Kommißbrote oder ein
Kommißbrot und eine kleinere harte Mettwurst.
Aber fast alle Russen haben lungst ihre Sachen abgegeben, die sie
hatten. Sie tragen nur noch erburmliches Zeug und versuchen kleine
Schnitzereien und Gegenstunde, die sie aus Granatsplittern und Stucken von
kupfernen Fuhrungsringen gemacht haben, zu tauschen. Diese Sachen bringen
naturlich nicht viel ein, wenn sie auch allerhand Muhe gemacht haben - sie
gehen fur ein paar Scheiben Brot bereits weg. Unsere Bauern sind zuh und
schlau, wenn sie handeln. Sie halten dem Russen das Stuck Brot oder Wurst so
lange dicht unter die Nase, bis er vor Gier blaß wird und die Augen
verdreht, dann ist ihm alles egal. Sie aber verpacken ihre Beute mit all der
Umstundlichkeit, deren sie fuhig sind, holen ihr dickes Taschenmesser
heraus, schneiden langsam und beduchtig fur sich selber einen Ranken Brot
von ihrem Vorrat ab und dazu bei jedem Happen ein Stuck von der harten guten
Wurst und futtern, sich zur Belohnung. Es ist aufreizend, sie so vespern zu
sehen, man muchte ihnen auf die dicken Schudel trommeln. Sie geben selten
etwas ab. Man kennt sich ja auch zuwenig.
Ich bin ufter auf Wache bei den Russen. In der Dunkelheit sieht man
ihre Gestalten sich bewegen, wie kranke Sturche, wie große Vugel. Sie
kommen dicht an das Gitter heran und legen ihre Gesichter dagegen, die
Finger sind in die Maschen gekrallt. Oft stehen viele nebeneinander. So
atmen sie den Wind, der von der Heide und den Wuldern herkommt.
Selten sprechen sie, und dann nur wenige Worte. Sie sind menschlicher
und, ich muchte fast glauben, bruderlicher zueinander als wir hier. Aber das
ist vielleicht nur deshalb, weil sie sich unglucklicher fuhlen als wir.
Dabei ist fur sie doch der Krieg zu Ende. Doch auf die Ruhr zu warten, ist
ja auch kein Leben.
Die Landsturmleute, die sie bewachen, erzuhlen, daß sie anfangs
lebhafter waren. Sie hatten, wie das immer ist, Verhultnisse untereinander,
und es soll oft mit Fuusten und Messern dabei zugegangen sein. Jetzt sind
sie schon ganz stumpf und gleichgultig, die meisten onanieren nicht einmal
mehr, so schwach sind sie, obschon es doch damit sonst oft so schlimm ist,
daß sie es sogar barackenweise tun.
Sie stehen am Gitter; manchmal schwankt einer fort, dann ist bald ein
anderer an seiner Stelle in der Reihe. Die meisten sind still; nur einzelne
betteln um das Mundstuck einer ausgerauchten Zigarette.
Ich sehe ihre dunklen Gestalten. Ihre Barte wehen im Winde. Ich
weiß nichts von ihnen, als daß sie Gefangene sind, und gerade
das erschuttert mich. Ihr Leben ist namenlos und ohne Schuld; - wußte
ich mehr von ihnen, wie sie heißen, wie sie leben, was sie erwarten,
was sie bedruckt, so hutte meine Erschutterung ein Ziel und kunnte zu
Mitleid werden. Jetzt aber empfinde ich hinter ihnen nur den Schmerz der
Kreatur, die furchtbare Schwermut des Lebens und die Erbarmungslosigkeit der
Menschen.
Ein Befehl hat diese stillen Gestalten zu unsern Feinden gemacht; ein
Befehl kunnte sie in unsere Freunde verwandeln. An irgendeinem Tisch wird
ein Schriftstuck von einigen Leuten unterzeichnet, die keiner von uns kennt,
und jahrelang ist unser huchstes Ziel das, worauf sonst die Verachtung der
Welt und ihre huchste Strafe ruht. Wer kann da noch unterscheiden, wenn er
diese stillen Leute hier sieht mit den kindlichen Gesichtern und den
Apostelburten! Jeder Unteroffizier ist dem Rekruten, jeder Oberlehrer dem
Schuler ein schlimmerer Feind als sie uns. Und dennoch wurden wir wieder auf
sie schießen und sie auf uns, wenn sie frei wuren.
Ich erschrecke; hier darf ich nicht weiterdenken. Dieser Weg geht in
den Abgrund. Es ist noch nicht die Zeit dazu; aber ich will den Gedanken
nicht verlieren, ich will ihn bewahren, ihn fortschließen, bis der
Krieg zu Ende ist. Mein Herz klopft: ist hier das Ziel, das Große, das
Einmalige, an das ich im Graben gedacht habe, das ich suchte als
Daseinsmuglichkeit nach dieser Katastrophe aller Menschlichkeit, ist es eine
Aufgabe fur das Leben nachher, wurdig der Jahre des Grauens?
Ich nehme meine Zigaretten heraus, breche jede in zwei Teile und gebe
sie den Russen. Sie verneigen sich und zunden sie an. Nun glimmen in einigen
Gesichtern rote Punkte. Sie trusten mich; es sieht aus, als wuren es kleine
Fensterchen in dunklen Dorfhuusern, die verraten, daß dahinter Zimmer
voll Zuflucht sind.
Die Tage gehen hin. An einem nebeligen Morgen wird wieder ein Russe
begraben; es sterben ja jetzt fast tuglich welche. Ich bin gerade aufWache,
als er beerdigt wird. Die Gefangenen singen einen Choral, sie singen
vielstimmig, und es klingt, als wuren es kaum noch Stimmen, als wure es eine
Orgel, die fern in der Heide steht.
Die Beerdigung geht schnell.
Abends stehen sie wieder am Gitter, und der Wind kommt von den
Birkenwuldern zu ihnen. Die Sterne sind kalt. Ich kenne jetzt einige von
ihnen, die ziemlich gut Deutsch sprechen. Ein Musiker ist dabei, er erzuhlt,
daß er Geiger in Berlin gewesen sei. Als er hurt, daß ich etwas
Klavier spielen kann, holt er seine Geige und spielt.
Die andern setzen sich und lehnen die Rucken an das Gitter. Er steht
und spielt, oft hat er den verlorenen Ausdruck, den Geiger haben, wenn sie
die Augen schließen, dann wieder bewegt er das Instrument im Rhythmus
und luchelt mich an.
Er spielt wohl Volkslieder; denn die anderen summen mit. Es sind dunkle
Hugel, die tief unterirdisch summen. Die Geigenstimme steht wie ein
schlankes Mudchen daruber und ist hell und allein. Die Stimmen huren auf,
und die Geige bleibt - sie ist dunn in der Nacht, als friere sie; man
muß dicht danebenstehen, es wure in einem Raum wohl besser; - hier
draußen wird man traurig, wenn sie so allein umherirrt.
Ich bekomme keinen Urlaub uber Sonntag, weil ich ja erst grußeren
Urlaub gehabt habe. Am letzten Sonntag vor der Abfahrt sind deshalb mein
Vater und meine ulteste Schwester zu Besuch bei mir. Wir sitzen den ganzen
Tag im Soldatenheim. Wo sollen wir anders hin, in die Baracke wollen wir
nicht gehen. Mittags machen wir einen Spaziergang in die Heide.
Die Stunden quulen sich hm; wir wissen nicht, woruber wir reden sollen.
So sprechen wir uber die Krankheit meiner Mutter. Es ist nun bestimmt Krebs,
sie liegt schon im Krankenhaus und wird demnuchst operiert. Die urzte
hoffen, daß sie gesund wird, aber wir haben noch nie gehurt, daß
Krebs geheilt worden ist.
"Wo liegt sie denn?" frage ich.
"Im Luisenhospital", sagt mein Vater.
"In welcher Klasse?"
"Dritter. Wir mussen abwarten, was die Operation kostet. Sie wollte
selbst dritter liegen. Sie sagte, dann hutte sie etwas Unterhaltung. Es ist
auch billiger."
"Dann liegt sie doch mit so vielen zusammen. Wenn sie nur nachts
schlafen kann."
Mein Vater nickt. Sein Gesicht ist abgespannt und voll Furchen. Meine
Mutter ist viel krank gewesen; sie ist zwar nur ins Krankenhaus gegangen,
wenn sie gezwungen wurde, trotzdem hat es viel Geld fur uns gekostet, und
das Leben meines Vaters ist eigentlich
daruber hingegangen. "Wenn man bloß wußte, wieviel die
Operation kostet", sagt er.
"Habt ihr nicht gefragt?"
"Nicht direkt; das kann man nicht - wenn der Arzt dann unfreundlich
wird, das geht doch nicht, weil er Mutter doch operieren soll."
Ja, denke ich bitter, so sind wir, so sind sie, die armen Leute. Sie
wagen nicht nach dem Preise zu fragen und sorgen sich eher furchtbar
daruber; aber die andern, die es nicht nutig haben, die finden es
selbstverstundlich, vorher den Preis festzulegen. Bei ihnen wird der Arzt
auch nicht unfreundlich sein.
"Die Verbunde hinterher sind auch so teuer", sagt mein Vater.
"Zahlt denn die Krankenkasse nichts dazu?" frage ich.
"Mutter ist schon zu lange krank."
"Habt ihr denn etwas Geld?"
Er schuttelt den Kopf. "Nein. Aber ich kann jetzt wieder uberstunden
machen."
Ich weiß: er wird bis zwulf Uhr nachts an seinem Tisch stehen und
falzen und kleben und schneiden. Um acht Uhr abends wird er etwas essen von
diesem kraftlosen Zeug, das sie auf Karte beziehen. Hinterher wird er ein
Pulver gegen seine Kopfschmerzen einnehmen und weiterarbeiten.
Um ihn etwas aufzuheitern, erzuhle ich ihm einige Geschichten, die mir
gerade einfallen, Soldatenwitze und so etwas, von Generalen und Feldwebeln,
die irgendwann mal 'reingelegt wurden.
Nachher bringe ich beide zur Bahnstation. Sie geben mir ein Glas
Marmelade und ein Paket Kartoffelpuffer, die meine Mutter noch fur mich
gebacken hat.
Dann fahren sie ab, und ich gehe zuruck.
Abends streiche ich mir von der Marmelade auf die Pufferund esse davon.
Es will mir nicht schmecken. So gehe ich hinaus, um den Russen die Puffer zu
geben. Dann fullt mir ein, daß meine Mutter sie selbst gebacken hat
und daß sie vielleicht Schmerzen gehabt hat, wuhrend sie am
heißen Herd stand. Ich lege das Paket zuruck in meinen Tornister und
nehme nur zwei Stuck davon mit zu den Russen.
Wir fahren einige Tage. Die ersten Flieger erscheinen am Himmel. Wir
rollen an Transportzugen voruber. Geschutze, Geschutze. Die Feldbahn
ubernimmt uns. Ich suche mein Regiment. Niemand weiß, wo es gerade
liegt. Irgendwo ubernachte ich, irgendwo empfange ich morgens Proviant und
einige vage Instruktionen. So mache ich mich mit meinem Tornister und meinem
Gewehr wieder auf den Weg. Als ich ankomme, ist keiner von uns mehr in dem
zerschossenen Ort. Ich hure, daß wir zu einer fliegenden Division
geworden sind, die uberall eingesetzt wird, wo es brenzlig ist. Das stimmt
mich nicht heiter. Man erzuhlt mir von großen Verlusten, die wir
gehabt haben sollen. Ich forsche nach Kat und Albert. Es weiß niemand
etwas von ihnen.
Ich suche weiter und irre umher, das ist ein wunderliches Gefuhl. Noch
eine Nacht und eine zweite kampiere ich wie ein Indianer. Dann habe ich
bestimmte Nachricht und kann mich nachmittags auf der Schreibstube melden.
Der Feldwebel behult mich da. Die Kompanie kommt in zwei Tagen zuruck,
es hat keinen Zweck mehr, mich hinauszuschicken. "Wie war's im Urlaub?"
fragt er. "Schun, was?"
"Teils, teils", sage ich.
"Jaja", seufzt er, "wenn man nicht wieder weg mußte. Die zweite
Hulfte wird dadurch immer schon verpfuscht."
Ich lungere umher, bis die Kompanie morgens einruckt, grau, schmutzig,
verdrossen und trube. Da springe ich auf und drunge mich zwischen sie, meine
Augen suchen, dort ist Tjaden, da schnaubt Muller, und da sind auch Kat und
Kropp. Wir machen uns unsere Strohsucke nebeneinander zurecht. Ich fuhle
mich schuldbewußt, wenn ich sie ansehe, und habe doch keinen Grund
dazu. Bevor wir schlafen, hole ich den Rest der Kartoffelpuffer und der
Marmelade heraus, damit sie auch etwas haben.
Die beiden uußeren Puffer sind angeschimmelt, man kann sie aber
noch essen. Ich nehme sie fur mich und gebe die frischeren Kat und Kropp.
Kat kaut und fragt: "Die sind wohl von Muttern?"
Ich nicke.
"Gut", sagt er, "das schmeckt man heraus."
Fast kunnte ich weinen. Ich kenne mich selbst nicht mehr. Doch es wird
schon wieder besser werden, hier mit Kat und Alben und den ubrigen. Hier
gehure ich hin.
"Du hast Gluck gehabt", flustert Kropp mir noch beim Einschlafen zu,
"es heißt, wir kommen nach Rußland." Nach Rußland. Da ist
ja kein Krieg mehr.
In der Ferne donnert die Front. Die Wunde der Baracken klirren.
Es wird muchtig geputzt. Ein Appell jagt den andern. Von allen Seiten
werden wir revidiert. Was zerrissen ist, wird umgetauscht gegen gute Sachen.
Ich erwische dabei einen tadellosen neuen Rock, Kat naturlich sogar eine
volle Montur. Das Gerucht taucht auf, es gube Frieden, doch die andere
Ansicht ist wahrscheinlicher: daß wir nach Rußland verladen
werden. Aber wozu brauchen wir in Rußland bessere Sachen? Endlich
sickert es durch: der Kaiser kommt zur Besichtigung. Deshalb die vielen
Musterungen.
Acht Tage lang kunnte man glauben, in einer Rekrutenkaserne zu sitzen,
so wird gearbeitet und exerziert. Alles ist verdrossen und nervus, denn
ubermußiges Putzen ist nichts fur uns und Parademarsch noch weniger.
Gerade solche Sachen verurgern den Soldaten mehr als der Schutzengraben.
Endlich ist der Augenblick da. Wir stehen stramm, und der Kaiser erscheint.
Wir sind neugierig, wie er aussehen mag. Er schreitet die Front entlang, und
ich bin eigentlich etwas enttuuscht: nach den Bildern hatte ich ihn mir
grußer und muchtiger vorgestellt, vor allen Dingen mit einer
donnernderen Stimme.
Er verteilt Eiserne Kreuze und spricht diesen und jenen an. Dann ziehen
wir ab.
Nachher unterhalten wir uns. Tjaden sagt staunend: "Das ist nun der
Alleroberste, den es gibt. Davor muß darin doch jeder strammstehen,
jeder uberhaupt!" Er uberlegt: "Davor muß doch auch Hindenburg
strammstehen, was?"
"Jawoll", bestutigt Kat.
Tjaden ist noch nicht fertig. Er denkt eine Zeitlang nach und fragt:
"Muß ein Kunig vor einem Kaiser auch strammstehen?"
Keiner weiß das genau, aber wir glauben es nicht. Die sind beide
schon so hoch, daß es da sicher kein richtiges Strammstehen mehr gibt.
"Was du dir fur einen Quatsch ausbrutest", sagt Kat. "Die Hauptsache
ist, daß du selber strammstehst."
Aber Tjaden ist vullig fasziniert. Seine sonst sehr trockene Phantasie
arbeitet sich Blasen.
"Sieh mal", verkundet er, "ich kann einfach nicht begreifen, daß
ein Kaiser auch genauso zur Latrine muß wie ich."
"Darauf kannst du Gift nehmen", lacht Kropp.
"Verruckt und drei sind sieben", ergunzt Kat, "du hast Luuse im
Schudel, Tjaden, geh du nur selbst rasch los zur Latrine, damit du einen
klaren Kopp kriegst und nicht wie ein Wickelkind redest."
Tjaden verschwindet.
"Eins muchte ich aber doch noch wissen", sagt Albert, "ob es Krieg
gegeben hutte, wenn der Kaiser nein gesagt hutte."
"Das glaube ich sicher", werfe ich ein, - "er soll ja sowieso erst gar
nicht gewollt haben."
"Na, wenn er allein nicht, dann vielleicht doch, wenn so zwanzig,
dreißig Leute in der Welt nein gesagt hutten."
"Das wohl", gebe ich zu, "aber die haben ja gerade gewollt."
"Es ist komisch, wenn man sich das uberlegt", fuhrt Kropp fort, "wir
sind doch hier, um unser Vaterland zu verteidigen. Aber die Franzosen sind
doch auch da, um ihr Vaterland zu verteidigen. Wer hat nun recht?"
"Vielleicht beide", sage ich, ohne es zu glauben.
"Ja, nun", meint Albert, und ich sehe ihm an, daß er mich in die
Enge treiben will, "aber unsere Professoren und Pasture und Zeitungen sagen,
nur wir hutten recht, und das wird ja hoffentlich auch so sein; - aber die
franzusischen Professoren und Pasture und Zeitungen behaupten, nur sie
hutten recht, wie steht es denn damit?"
"Das weiß ich nicht", sage ich, "auf jeden Fall ist Krieg, und
jeden Monat kommen mehr Lunder dazu."
Tjaden erscheint wieder. Er ist noch immer angeregt und greift sofort
wieder in das Gespruch ein, indem er sich erkundigt, wie eigentlich ein
Krieg entstehe.
"Meistens so, daß ein Land ein anderes schwer beleidigt", gibt
Albert mit einer gewissen uberlegenheit zur Antwort.
Doch Tjaden stellt sich dickfellig. "Ein Land? Das verstehe ich nicht.
Ein Berg in Deutschland kann doch einen Berg in Frankreich nicht beleidigen.
Oder ein Fluß oder ein Wald oder ein Weizenfeld."
"Bist du so dumlich oder tust du nur so?" knurrt Kropp. "So meine ich
das doch nicht. Ein Volk beleidigt das andere -"
"Dann habe ich hier nichts zu suchen", erwidert Tjaden, "ich fuhle mich
nicht beleidigt."
"Dir soll man nun was erkluren", sagt Albert urgerlich, "auf dich
Dorfdeubel kommt es doch dabei nicht an."
"Dann kann ich ja erst recht nach Hause gehen", beharrt Tjaden, und
alles lacht.
"Ach, Mensch, es ist doch das Volk als Gesamtheit, also der Staat -",
ruft Muller.
"Staat, Staat" - Tjaden schnippt schlau mit den Fingern -,
"Feldgendarmen, Polizei, Steuer, das ist euer Staat. Wenn du damit zu
tun hast, danke schun."
"Das stimmt", sagt Kat, "da hast du zum ersten Male etwas Richtiges
gesagt, Tjaden, Staat und Heimat, da ist wahrhaftig ein Unterschied."
"Aber sie gehuren doch zusammen", uberlegt Kropp, "eine Heimat ohne
Staat gibt es nicht."
"Richtig, aber bedenk doch mal, daß wir fast alle einfache Leute
sind. Und in Frankreich sind die meisten Menschen doch auch Arbeiter,
Handwerker oder kleine Beamte. Weshalb soll nun wohl ein franzusischer
Schlosser oder Schuhmacher uns angreifen wollen? Nein, das sind nur die
Regierungen. Ich habe nie einen Franzosen gesehen, bevor ich hierherkam, und
den meisten Franzosen wird es uhnlich mit uns gehen. Die sind ebensowenig
gefragt wie
wir."
"Weshalb ist dann uberhaupt Krieg?" fragt Tjaden.
Kat zuckt die Achseln. "Es muß Leute geben, denen der Krieg
nutzt."
"Na, ich gehure nicht dazu", grinst Tjaden.
"Du nicht, und keiner hier."
"Wer denn nur?" beharrte Tjaden. "Dem Kaiser nutzt er doch auch nicht.
Der hat doch alles, was er braucht."
"Das sag nicht", entgegnet Kat, "einen Krieg hat er bis jetzt noch
nicht gehabt. Und jeder grußere Kaiser braucht mindestens einen Krieg,
sonst wird er nicht beruhmt. Sieh mal in deinen Schulbuchern nach."
"Generule werden auch beruhmt durch den Krieg", sagt Detering.
"Noch beruhmter als Kaiser", bestutigt Kat.
"Sicher stecken andere Leute, die am Krieg verdienen wollen, dahinter",
brummt Detering.
"Ich glaube, es ist mehr eine Art Fieber", sagt Albert. "Keiner will es
eigentlich, und mit einem Male ist es da. Wir haben den Krieg nicht gewollt,
die andern behaupten dasselbe - und trotzdem ist die halbe Welt feste
dabei."
"Druben wird aber mehr gelogen als bei uns", erwidere ich, "denkt mal
an die Flugblutter der Gefangenen, in denen stand, daß wir belgische
Kinder frußen. Die Kerle, die so was schreiben, sollten sie aufhungen.
Das sind die wahren Schuldigen."
Muller steht auf. "Besser auf jeden Fall, der Krieg ist hier als in
Deutschland. Seht euch mal die Trichterfelder an!"
"Das stimmt", pflichtet selbst Tjaden bei, "abernoch besser ist gar
kein Krieg."
Er geht stolz davon, denn er hat es uns Einjuhrigen nun mal gegeben.
Und seine Meinung ist tatsuchlich typisch hier, man begegnet ihr immer
wieder und kann auch nichts Rechtes darauf entgegnen, weil mit ihr
gleichzeitig das Verstundnis fur andere Zusammenhunge aufhurt. Das
Nationalgefuhl des Muskoten besteht darin, daß er hier ist. Aber damit
ist es auch zu Ende, alles andere beurteilt er praktisch und aus seiner
Einstellung heraus.
Albert legt sich urgerlich ins Gras. "Besser ist, uber den ganzen Kram
nicht zu reden."
"Wird ja auch nicht anders dadurch", bestutigt Kat.
Zum uberfluß mussen wir die neu empfangenen Sachen fast alle
wieder abgeben und erhalten unsere alten Brocken wieder. Die guten waren nur
zur Parade da.
Statt nach Rußland gehen wir wieder an die Front. Unterwegs
kommen wir durch einen kluglichen Wald mit zerrissenen Stummen und
zerpflugtem Boden. An einigen Stellen sind furchtbare Lucher. "Donnerwetter,
da hat es aber eingehauen", sage ich zu Kat.
"Minenwerfer", antwortet er und zeigt dann nach oben. In den usten
hungen Tote. Ein nackter Soldat hockt in einer Stammgabelung, er hat seinen
Helm noch auf dem Kopf, sonst ist er unbekleidet. Nur eine Hulfte sitzt von
ihm dort oben, ein Oberkurper, dem die Beine fehlen.
"Was ist da los gewesen?" frage ich.
"Den haben sie aus dem Anzug gestoßen", knurrt Tjaden.
Kat sagt: "Es ist komisch, wir haben das nun schon ein paarmal gesehen.
Wenn so eine Mine einwichst, wird man tatsuchlich richtig aus dem Anzug
gestoßen. Das macht der Luftdruck."
Ich suche weiter. Es ist wirklich so. Dort hungen Uniformfetzen allein,
anderswo klebt blutiger Brei, der einmal menschliche Glieder war. Ein Kurper
liegt da, der nur an einem Bein noch ein Stuck Unterhose und um den Hals den
Kragen des Waffenrockes hat. Sonst ist er nackt, der Anzug hungt im Baum
herum. Beide Arme fehlen, als wuren sie herausgedreht. Einen davon entdecke
ich zwanzig Schritt weiter im Gebusch.
Der Tote liegt auf dem Gesicht. Da, wo die Armwunden sind, ist die Erde
schwarz von Blut. Unter den Fußen ist das Laub zerkratzt, als hutte
der Mann noch gestrampelt.
"Kein Spaß, Kat", sage ich.
"Ein Granatsplitter im Bauch auch nicht", antwortet er achselzuckend.
"Nur nicht weich werden", meint Tjaden.
Das Ganze kann nicht lange her sein, das Blut ist noch frisch. Da alle
Leute, die wir sehen, tot sind, lassen wir uns nicht aufhalten, sondern
melden die Sache bei der nuchsten Sanitutsstation. Schließlich ist es
ja auch nicht unsere Angelegenheit, diesen Tragbahrenhengsten die Arbeit
abzunehmen.
Es soll eine Patrouille ausgeschickt werden, um festzustellen, wie weit
die feindliche Stellung noch besetzt ist. Ich habe wegen meines Urlaubs
irgendein sonderbares Gefuhl den andern gegenuber und melde mich deshalb
mit. Wir verabreden den Plan, schleichen durch den Draht und trennen uns
dann, um einzeln vorzukriechen. Nach einer Weile finde ich einen flachen
Trichter, in den ich mich hineingleiten lasse. Von hier luge ich aus.
Das Gelunde hat mittleres Maschinengewehrfeuer. Es wird von allen
Seiten bestrichen, nicht sehr stark, aber immerhin genugend, um die Knochen
nicht allzu hoch zu nehmen.
Ein Leuchtschirm entfaltet sich. Das Terrain liegt erstarrt im fahlen
Lichte da. Um so schwurzer schlugt hinterher die Dunkelheit wieder daruber
zusammen. Im Graben haben sie vorhin erzuhlt, es wuren Schwarze vor uns. Das
ist unangenehm, man kann sie schlecht sehen, außerdem sind sie als
Patrouillen sehr geschickt. Sonderbarerweise sind sie oft ebenso
unvernunftig; - sowohl Kat als auch Kropp haben einmal auf Patrouille eine
schwarze Gegenpatrouille erschossen, weil die Leute in ihrer Gier nach
Zigaretten unterwegs rauchten. Kat und Albert brauchten nur die glimmenden
Zigarettenkupfe als Ziel zu visieren.
Neben mir zischt eine kleine Granate ein. Ich habe sie nicht kommen
gehurt und erschrecke heftig. Im gleichen Augenblick faßt mich eine
sinnlose Angst. Ich bin hier allein und fast hilflos im Dunkeln - vielleicht
beobachten mich lungst aus einem Trichter hervor zwei andere Augen, und eine
Handgranate liegt wurffertig bereit, mich zu zerreißen. Ich versuche
mich aufzuraffen. Es ist nicht meine erste Patrouille und auch keine
besonders gefuhrliche. Aber es ist meine erste nach dem Urlaub, und
außerdem ist das Gelunde mir noch ziemlich fremd.
Ich mache mir klar, daß meine Aufregung Unsinn ist, daß im
Dunkel wahrscheinlich gar nichts lauert, weil sonst nicht so flach
geschossen wurde.
Es ist vergeblich. In wirrem Durcheinander summen mir die Gedanken im
Schudel - ich hure die warnende Stimme meiner Mutter, ich sehe die Russen
mit den wehenden Barten am Gitter lehnen, ich habe die helle, wunderbare
Vorstellung einer Kantine mit Sesseln, eines Kinos in Valenciennes, ich sehe
quulend, scheußlich in meiner Einbildung eine graue gefuhllose
Gewehrmundung, die lauernd lautlos mitgeht, wie ich auch den Kopf zu wenden
versuche: mir bricht der Schweiß aus allen Poren.
Immer noch liege ich in meiner Mulde. Ich sehe auf die Uhr; es sind
erst wenige Minuten vergangen. Meine Stirn ist naß, meine Augenhuhlen
sind feucht, die Hunde zittern, und ich keuche leise. Es ist nichts anderes
als ein furchtbarer Angstanfall, eine einfach gemeine Hundeangst davor, den
Kopf herauszustrecken und weiterzukriechen.
Wie ein Brei zerquillt meine Anspannung zu dem Wunsch, liegenbleiben zu
kunnen. Meine Glieder kleben am Boden, ich mache einen vergeblichen Versuch
- sie wollen sich nicht lusen. Ich presse mich an die Erde, ich kann nicht
vorwurts, ich fasse den Entschluß, liegenzubleiben.
Aber sofort uberspult mich die Welle erneut, eine Welle aus Scham, Reue
und doch auch Geborgenheit. Ich erhebe mich ein wenig, um Ausschau zu
halten. Meine Augen brennen, so starre ich in das Dunkel. Eine Leuchtkugel
geht hoch; - ich ducke mich wieder.
Ich kumpfe einen sinnlosen, wirren Kampf, ich will aus der Mulde heraus
und rutsche doch wieder hinein, ich sage, "du mußt, es sind deine
Kameraden, es ist ja nicht irgendein dummer Befehl", - und gleich darauf:
"Was geht es mich an, ich habe nur ein Leben zu verlieren -"
Das macht alles dieser Urlaub, entschuldige ich mich erbittert. Aber
ich glaube es selbst nicht, mir wird entsetzlich flau, ich erhebe mich
langsam und stemme die Arme vor, ziehe den Rucken nach und liege jetzt halb
auf dem Rande des Trichters.
Da vernehme ich Geruusche und zucke zuruck. Man hurt trotz des
Artillerielurms verduchtige Geruusche. Ich lausche - das Geruusch ist hinter
mir. Es sind Leute von uns, die durch den Graben gehen. Nun hure ich auch
gedumpfte Stimmen. Es kunnte dem Tone nach Kat sein, der da spricht.
Eine ungemeine Wurme durchflutet mich mit einemmal. Diese Stimmen,
diese wenigen, leisen Worte, diese Schritte im Graben hinter mir
reißen mich mit einem Ruck aus der furchterlichen Vereinsamung der
Todesangst, der ich beinahe verfallen wure. Sie sind mehr als mein Leben,
diese Stimmen, sie sind mehr als Mutterlichkeit und Angst, sie sind das
Sturkste und Schutzendste, was es uberhaupt gibt: es sind die Stimmen meiner
Kameraden.
Ich bin nicht mehr ein zitterndes Stuck Dasein allein im Dunkel - ich
gehure zu ihnen und sie zu mir, wir haben alle die gleiche Angst und das
gleiche Leben, wir sind verbunden auf eine einfache und schwere Art. Ich
muchte mein Gesicht in sie hineindrucken, in die Stimmen, diese paar Worte,
die mich gerettet haben und die mir beistehen werden.
Vorsichtig gleite ich uber den Rand und schlungele mich vorwurts. Auf
allen vieren schlurfe ich weiter; es geht gut, ich peile die Richtung an,
schaue mich um und merke mir das Bild des Geschutzfeuers, um zuruckzufinden.
Dann suche ich Anschluß an die andern zu bekommen.
Immer noch habe ich Angst, aber es ist eine vernunftige Angst, eine
außerordentlich gesteigerte Vorsicht. Die Nacht ist windig, und
Schatten gehen hin und her beim Aufflackern des Mundungsfeuers. Man sieht
dadurch zu wenig und zu viel. Oft erstarre ich, aber es ist immer nichts. So
komme ich ziemlich weit vor und kehre dann im Bogen wieder um. Den
Anschluß habe ich nicht gefunden. Jeder Meter nuher zu unserm Graben
erfullt mich mit Zuversicht - allerdings auch mit grußerer Hast. Es
wure nicht schun, jetzt noch eins verpaßt zu kriegen.
Da durchfuhrt mich ein neuer Schreck. Ich kann die Richtung nicht mehr
genau wiedererkennen. Still hocke ich mich in einen Trichter und versuche
mich zu orientieren. Es ist mehr als einmal vorgekommen, daß jemand
vergnugt in einen Graben sprang und dann erst entdeckte, daß es der
falsche war.
Nach einiger Zeit horche ich wieder. Immer noch bin ich nicht richtig.
Das Trichtergewirr erscheint mir jetzt so unubersichtlich, daß ich vor
Aufregung uberhaupt nicht mehr weiß, wohin ich mich wenden soll.
Vielleicht krieche ich parallel zu den Gruben, das kann ja endlos dauern.
Deshalb schlage ich wieder einen Haken.
Diese verfluchten Leuchtschirme! Sie scheinen eine Stunde zu brennen,
man kann keine Bewegung machen, ohne daß es gleich um einen herum
pfeift.
Doch es hilft nichts, ich muß heraus. Stockend arbeite ich mich
weiter, ich krebse uber den Boden weg und reiße mir die Hunde wund an
den zackigen Splittern, die scharf wie Rasiermesser sind. Manchmal habe ich
den Eindruck, als wenn der Himmel etwas heller wurde am Horizont, doch das
kann auch Einbildung sein. Allmuhlich aber merke ich, daß ich um mein
Leben krieche.
Eine Granate knallt. Gleich darauf zwei andere. Und schon geht es los.
Ein Feueruberfall. Maschinengewehre knattern. Jetzt gibt es vorluufig nichts
anderes, als liegenzubleiben. Es scheint ein Angriff zu werden. uberall
steigen Leuchtraketen. Ununterbrochen.
Ich liege gekrummt in einem großen Trichter, die Beine im Wasser
bis zum Bauch. Wenn der Angriff einsetzt, werde ich mich ins Wasser fallen
lassen, so weit es geht, ohne zu ersticken, das Gesicht im Dreck. Ich
muß den toten Mann markieren.
Plutzlich hure ich, wie das Feuer zuruckspringt. Sofort rutsche ich
nach unten ins Grundwasser, den Helm ganz im Genick, den Mund nur so weit
hoch, daß ich knapp Luft habe.
Dann werde ich bewegungslos; - denn irgendwo klirrt etwas, es tappt und
trappst nuher, - in mir ziehen sich alle Nerven eisig zusammen. Es klirrt
uber mich hinweg, der erste Trupp ist vorbei. Ich habe nur den einen
zersprengenden Gedanken gehabt: Was tust du, wenn jemand in deinen Trichter
springt? - Jetzt zerre ich rasch den kleinen Dolch heraus, fasse ihn fest
und verberge ihn mit der Hand wieder im Schlamm. Ich werde sofort
losstechen, wenn jemand hereinspringt, hummert es in meiner Stirn, sofort
die Kehle durchstoßen, damit er nicht schreien kann, es geht nicht
anders, er wird ebenso erschrocken sein wie ich, und schon vor Angst werden
wir ubereinander herfallen, da muß ich der erste sein.
Nun schießen unsere Batterien. In meiner Nuhe schlugt es ein. Das
macht mich irrsinnig wild, es fehlt mir noch, daß mich die eigenen
Geschosse treffen; ich fluche und knirsche in den Dreck hinein; es ist ein
wutender Ausbruch, zuletzt kann ich nur noch stuhnen und bitten.
Das Gekrach der Granaten trifft mein Ohr. Wenn unsere Leute einen
Gegenstoß machen, bin ich befreit. Ich presse den Kopf an die Erde und
hure das dumpfe Donnern wie ferne Bergwerksexplosionen - und hebe ihn
wieder, um auf die Geruusche oben zu lauschen.
Die Maschinengewehre knarren. Ich weiß, daß unsere
Drahtverhaue fest und fast unbeschudigt sind; - ein Teil davon ist mit
Starkstrom geladen. Das Gewehrfeuer schwillt an. Sie kommen nicht durch, sie
mussen zuruck. Ich sinke wieder zusammen, gespannt bis zum uußersten.
Das Klappern und Schleichen, das Klirren wird hurbar. Ein einzelner Schrei
gellend dazwischen. Sie werden beschossen, der Angriff ist abgeschlagen.
Es ist noch etwas heller geworden. An mir voruber hasten Schritte. Die
ersten. Vorbei. Wieder andere. Das Knarren der Maschinengewehre wird eine
ununterbrochene Kette. Gerade will ich mich etwas umdrehen, da poltert es,
und schwer und klatschend fullt ein Kurper zu mir in den Trichter, rutscht
ab, liegt auf mir -
Ich denke nichts, ich fasse keinen Entschluß - ich stoße
rasend zu und fuhle nur, wie der Kurper zuckt und dann weich wird und
zusammensackt. Meine Hand ist klebrig und naß, als ich zu mir komme.
Der andere ruchelt. Es scheint mir, als ob er brullt, jeder Atemzug ist
wie ein Schrei, ein Donnern - aber es sind nur meine Adern, die so klopfen.
Ich muchte ihm den Mund zuhalten, Erde hineinstopfen, noch einmal zustechen,
er soll still sein, er verrut mich; doch ich bin schon so weit zu mir
gekommen und auch so schwach plutzlich, daß ich nicht mehr die Hand
gegen ihn heben kann.
So krieche ich in die entfernteste Ecke und bleibe dort, die Augen
starr auf ihn gerichtet, das Messer umklammert, bereit, wenn er sich ruhrt,
wieder auf ihn loszugehen - aber er wird nichts mehr tun, das hure ich schon
an seinem Rucheln.
Undeutlich kann ich ihn sehen. Nur der eine Wunsch ist in mir,
wegzukommen. Wenn es nicht bald ist, wird es zu hell; schon jetzt ist es
schwer. Doch als ich versuche, den Kopf hochzunehmen, sehe ich bereits die
Unmuglichkeit ein. Das Maschinengewehrfeuer ist derartig gedeckt, daß
ich durchluchert werde, ehe ich einen Sprung tue.
Ich probiere es noch einmal mit meinem Helm, den ich etwas emporschiebe
und anhebe, um die Huhe der Geschosse festzustellen. Einen Augenblick sputer
wird er mir durch eine Kugel aus der Hand geschlagen. Das Feuer streicht
also ganz niedrig uber das Terrain. Ich bin nicht weit genug von der
feindlichen Stellung entfernt, um nicht von den Scharfschutzen gleich
erwischt zu werden, wenn ich versuche, auszureißen.
Das Licht nimmt zu. Ich warte brennend auf einen Angriff von uns. Meine
Hunde sind weiß an den Knucheln, so presse ich sie zusammen, so flehe
ich, das Feuer muge aufhuren und meine Kameraden muchten kommen.
Minute um Minute versickert. Ich wage keinen Blick mehr zu der dunklen
Gestalt im Trichter. Angestrengt sehe ich vorbei und warte, warte. Die
Geschosse zischen, sie sind ein stuhlernes Netz, es hurt nicht auf, es hurt
nicht auf.
Da erblicke ich meine blutige Hand und fuhle juhe ubelkeit. Ich nehme
Erde und reibe damit uber die Haut, jetzt ist die Hand wenigstens schmutzig,
und man sieht das Blut nicht mehr.
Das Feuer lußt nicht nach. Von beiden Seiten ist es jetzt gleich
stark. Man hat mich bei uns wahrscheinlich lungst verlorengegeben.
Es ist heller, grauer, fruher Tag. Das Rucheln tunt fort. Ich hake mir
die Ohren zu, nehme aber die Finger bald wieder heraus, weil ich sonst auch
das andere nicht huren kann. Die Gestalt gegenuber bewegt sich. Ich schrecke
zusammen und sehe unwillkurlich hin. Jetzt bleiben meine Augen wie
festgeklebt hungen. Ein Mann mit einem kleinen Schnurrbart liegt da, der
Kopf ist zur Seite gefallen, ein Arm ist halb gebeugt, der Kopf druckt
kraftlos darauf. Die andere Hand liegt auf der Brust, sie ist blutig.
Er ist tot, sage ich mir, er muß tot sein, er fuhlt nichts mehr -
was da ruchelt, ist nur noch der Kurper. Doch der Kopf versucht sich zu
heben, das Stuhnen wird einen Moment sturker, dann sinkt die Stirn wieder
auf den Arm zuruck. Der Mann ist nicht tot, er stirbt, aber er ist nicht
tot. Ich schiebe mich heran, halte inne, stutze mich auf die Hunde, rutsche
wieder etwas weiter, warte - weiter, einen grußlichen Weg von drei
Metern, einen langen, furchtbaren Weg. Endlich bin ich neben ihm.
Da schlugt er die Augen auf. Er muß mich noch gehurt haben und
sieht mich mit einem Ausdruck furchtbaren Entsetzens an. Der Kurper liegt
still, aber in den Augen ist eine so ungeheure Flucht, daß ich einen
Moment glaube, sie wurden die Kraft haben, den Kurper mit sich zu
reißen. Hunderte von Kilometern weit weg mit einem einzigen Ruck. Der
Kurper ist still, vullig ruhig, ohne Laut jetzt, das Rucheln ist verstummt,
aber die Augen schreien, brullen, in ihnen ist alles Leben versammelt zu
einer unfaßbaren Anstrengung, zu entfliehen, zu einem schrecklichen
Grausen vor dem Tode, vor mir.
Ich knicke in den Gelenken ein und falle auf die Ellbogen. "Nein,
nein", flustere ich.
Die Augen folgen mir. Ich bin unfuhig, eine Bewegung zu machen, solange
sie da sind.
Da fullt seine Hand langsam von der Brust, nur ein geringes Stuck, sie
sinkt um wenige Zentimeter, doch diese Bewegung lust die Gewalt der Augen
auf. Ich beuge mich vor, schuttele den Kopf und flustere: "Nein, nein,
nein", ich hebe eine Hand, ich muß ihm zeigen, daß ich ihm
helfen will, und streiche uber seine Stirn.
Die Augen sind zuruckgezuckt, als die Hand kam, jetzt verlieren sie
ihre Starre, die Wimpern sinken tiefer, die Spannung lußt nach. Ich
uffne ihm den Kragen und schiebe den Kopf bequemer zurecht.
Der Mund steht halb offen, erbemuht sich, Worte zu formen. Die Lippen
sind trocken. Meine Feldflasche ist nicht da, ich habe sie nicht
mitgenommen. Aber es ist Wasser in dem Schlamm unten im Trichter. Ich
klettere hinab, ziehe mein Taschentuch heraus, breite es aus, drucke es
hinunter und schupfe mit der hohlen Hand das gelbe Wasser, das
hindurchquillt.
Er schluckt es. Ich hole neues. Dann knupfe ich seinen Rock auf, um ihn
zu verbinden, wenn es geht. Ich muß es auf jeden Fall tun, damit die
druben, wenn ich gefangen werden sollte, sehen, daß ich ihm helfen
wollte, und mich nicht erschießen. Er versucht sich zu wehren, doch
die Hand ist zu schlaff dazu. Das Hemd ist verklebt und lußt sich
nicht beiseite schieben, es ist hinten geknupft. So bleibt nichts ubrig, als
es aufzuschneiden.
Ich suche das Messer und finde es wieder. Aber als ich anfange, das
Hemd zu zerschneiden, uffnen sich die Augen noch einmal, und wieder ist das
Schreien darin und der wahnsinnige Ausdruck, so daß ich sie zuhalten,
zudrucken muß und flustern: "Ich will dir ja helfen, Kamerad,
camarade, camarade, camarade -", eindringlich das Wort, damit er es
versteht.
Drei Stiche sind es. Meine Verbandspuckchen bedecken sie, das Blut
luuft darunter weg, ich drucke sie fester auf, da stuhnt er.
Es ist alles, was ich tun kann. Wir mussen jetzt warten, warten.
Diese Stunden. - Das Rucheln setzt wieder ein - wie langsam stirbt doch
ein Mensch! Denn das weiß ich: er ist nicht zu retten. Ich habe zwar
versucht, es mir auszureden, aber mittags ist dieser Vorwand vor seinem
Stuhnen zerschmolzen, zerschossen. Wenn ich nur meinen Revolver nicht beim
Kriechen verloren hutte, ich wurde ihn erschießen. Erstechen kann ich
ihn nicht.
Mittags dummere ich an der Grenze des Denkens dahin. Hunger zerwuhlt
mich, ich muß fast weinen daruber, essen zu wollen, aber ich kann
nicht dagegen ankumpfen. Mehrere Male hole ich dem Sterbenden Wasser und
trinke auch selbst davon.
Es ist der erste Mensch, den ich mit meinen Hunden getutet habe, den
ich genau sehen kann, dessen Sterben mein Werk ist. Kat und Kropp und Muller
haben auch schon gesehen, wenn sie jemand getroffen haben, vielen geht es
so, im Nahkampf ja oft -
Aber jeder Atemzug legt mein Herz bloß. Dieser Sterbende hat die
Stunden fur sich, er hat ein unsichtbares Messer, mit dem er mich ersticht:
die Zeit und meine Gedanken.
Ich wurde viel darum geben, wenn er am Leben bliebe. Es ist schwer,
dazuliegen und ihn sehen und huren zu mussen.
Nachmittags um drei Uhr ist er tot.
Ich atme auf. Doch nur fur kurze Zeit. Das Schweigen erscheint mir bald
noch schwerer zu ertragen als das Stuhnen. Ich wollte, das Rucheln wure
wieder da, stoßweise, heiser, einmal pfeifend leise und dann wieder
heiser und laut.
Es ist sinnlos, was ich tue. Aber ich muß Beschuftigung haben. So
lege ich den Toten noch einmal zurecht, damit er bequemer liegt, obschon er
nichts mehr fuhlt. Ich schließe ihm die Augen. Sie sind braun, das
Haar ist schwarz, an den Seiten etwas lockig.
Der Mund ist voll und weich unter dem Schnurrbart, die Nase ist ein
wenig gebogen, die Haut bruunlich, sie sieht jetzt nicht mehr so fahl aus
wie vorhin, als er noch lebte. Einen Augenblick scheint das Gesicht sogar
beinahe gesund zu sein - dann verfullt es rasch zu einem der fremden
Totenantlitze, die ich oft gesehen habe und die sich alle gleichen.
Seine Frau denkt sicher jetzt an ihn; sie weiß nicht, was
geschehen ist. Er sieht aus, als wenn er ihr oft geschrieben hutte; - sie
wird auch noch Post von ihm bekommen - morgen, in einer Woche -, vielleicht
einen verirrten Brief noch in einem Monat. Sie wird ihn lesen, und er wird
darin zu ihr sprechen.
Mein Zustand wird immer schlimmer, ich kann meine Gedanken nicht mehr
halten. Wie mag die Frau aussehen? Wie die Dunkle,
Schmale jenseits des Kanals? Gehurt sie mir nicht? Vielleicht gehurt
sie mir jetzt hierdurch! Suße Kantorek doch hier neben mir! Wenn meine
Mutter mich so suhe -. Der Tote hutte sicher noch dreißig Jahre leben
kunnen, wenn ich mir den Ruckweg schurfer eingeprugt hutte. Wenn er zwei
Meter weiter nach links gelaufen wure, luge er jetzt druben im Graben und
schriebe einen neuen Brief an seine Frau.
Doch so komme ich nicht weiter; denn das ist das Schicksal von uns
allen; hutte Kemmerich sein Bein zehn Zentimeter weiter rechts gehalten,
hutte Haie sich funf Zentimeter weiter vorgebeugt -
Das Schweigen dehnt sich. Ich spreche und muß sprechen. So rede
ich ihn an und sage es ihm. "Kamerad, ich wollte dich nicht tuten. Sprungst
du noch einmal hier hinein, ich tute es nicht, wenn auch du vernunftig
wurest. Aber du warst mir vorher nur ein Gedanke, eine Kombination, die in
meinem Gehirn lebte und einen Entschluß hervorrief - diese Kombination
habe ich erstochen. Jetzt sehe ich erst, daß du ein Mensch bist wie
ich. Ich habe gedacht an deine Handgranaten, an dein Bajonett und deine
Waffen - jetzt sehe ich deine Frau und dein Gesicht und das Gemeinsame.
Vergib mir, Kamerad! Wir sehen es immer zu sput. Warum sagt man uns nicht
immer wieder, daß ihr ebenso arme Hunde seid wie wir, daß eure
Mutter sich ebenso ungstigen wie unsere und daß wir die gleiche Furcht
vor dem Tode haben und das gleiche Sterben und den gleichen Schmerz -.
Vergib mir, Kamerad, wie konntest du mein Feind sein. Wenn wir diese Waffen
und diese Uniform fortwerfen, kunntest du ebenso mein Bruder sein wie Kat
und Albert. Nimm zwanzig Jahre von mir, Kamerad, und stehe auf - nimm mehr,
denn ich weiß nicht, was ich damit beginnen soll."
Es ist still, die Front ist ruhig bis auf das Gewehrgeknatter. Die
Kugeln liegen dicht, es wird nicht planlos geschossen, sondern auf allen
Seiten scharf gezielt. Ich kann nicht hinaus.
"Ich will deiner Frau schreiben", sage ich hastig zu dem Toten, "ich
will ihr schreiben, sie soll es durch mich erfahren, ich will ihr alles
sagen, was ich dir sage, sie soll nicht leiden, ich will ihr helfen und
deinen Eltern auch und deinem Kinde -"
Seine Uniform steht noch halb offen. Die Brieftasche ist leicht zu
finden. Aber ich zugere, sie zu uffnen. In ihr ist das Buch mit seinem
Namen. Solange ich seinen Namen nicht weiß, kann ich ihn vielleicht
noch vergessen, die Zeit wird es tilgen, dieses Bild. Sein Name aber ist ein
Nagel, der in mir eingeschlagen wird und nie mehr herauszubringen ist. Er
hat die Kraft, alles immer wieder zuruckzurufen, er wird stets wiederkommen
und vor mich hintreten kunnen.
Ohne Entschluß halte ich die Brieftasche in der Hand. Sie
entfullt mir und uffnet sich. Einige Bilder und Briefe fallen heraus. Ich
sammle sie auf und will sie wieder hineinpacken, aber der Druck, unter dem
ich stehe, die ganze Ungewisse Lage, der Hunger, die Gefahr, diese Stunden
mit dem Toten haben mich verzweifelt gemacht, ich will die Auflusung
beschleunigen und die Quulerei versturken und enden, wie man eine
unertruglich schmerzende Hand gegen einen Baum schmettert, ganz gleich, was
wird.
Es sind Bilder einer Frau und eines kleinen Mudchens, schmale
Amateurfotografien vor einer Efeuwand. Neben ihnen stecken Briefe. Ich nehme
sie heraus und versuche sie zu lesen. Das meiste verstehe ich nicht, es ist
schlecht zu entziffern, und ich kann nur wenig Franzusisch. Aber jedes Wort,
das ich ubersetze, dringt mir wie ein Schuß in die Brust - wie ein
Stich in die Brust -
Mein Kopf ist vullig uberreizt. Aber so viel begreife ich noch,
daß ich diesen Leuten nie schreiben darf, wie ich es dachte vorhin.
Unmuglich. Ich sehe die Bilder noch einmal an; es sind keine reichen Leute.
Ich kunnte ihnen ohne Namen Geld schicken, wenn ich sputer etwas verdiene.
Daran klammere ich mich, das ist ein kleiner Halt wenigstens. Dieser Tote
ist mit meinem Leben verbunden, deshalb muß ich alles tun und
versprechen, um mich zu retten; ich gelobe blindlings, daß ich nur fur
ihn dasein will und seine Familie, - mit nassen Lippen rede ich auf ihn ein,
und ganz tief in mir sitzt dabei die Hoffnung, daß ich mich dadurch
freikaufe und vielleicht hier doch noch herauskomme, eine kleine Hinterlist,
daß man nachher immer noch erst einmal sehen kunne. Und deshalb
schlage ich das Buch auf und lese langsam: Gerard Duval, Typograph.
Ich schreibe die Adresse mit dem Bleistift des Toten auf einen
Briefumschlag und schiebe dann plutzlich rasch alles in seinen Rock zuruck.
Ich habe den Buchdrucker Gerard Duval getutet. Ich muß
Buchdrucker werden, denke ich ganz verwirrt, Buchdrucker werden, Buchdrucker
-
Nachmittags bin ich ruhiger. Meine Furcht war unbegrundet. Der Name
verwirrt mich nicht mehr. Der Anfall vergeht. "Kamerad", sage ich zu dem
Toten hinuber, aber ich sage es gefaßt. "Heute du, morgen ich. Aber
wenn ich davonkomme, Kamerad, will ich kumpfen gegen dieses, das uns beide
zerschlug: dir das Leben - und mir -? Auch das Leben. Ich verspreche es dir,
Kamerad. Es darf nie wieder geschehen."
Die Sonne steht schrug. Ich bin dumpf vor Erschupfung und Hunger. Das
Gestern ist mir wie ein Nebel, ich hoffe nicht, hier noch hinauszugelangen.
So duse ich dahin und begreife nicht einmal, daß es Abend wird. Die
Dummerung kommt. Es scheint mir rasch jetzt. Noch eine Stunde. Wure es
Sommer, noch drei Stunden. Noch eine Stunde.
Nun beginne ich plutzlich zu zittern, daß etwas dazwischenkume.
Ich denke nicht mehr an den Toten, er ist mir jetzt vullig gleichgultig. Mit
einem Schlage springt die Lebensgier auf, und alles, was ich mir vorgenommen
habe, versinkt davor. Nur um jetzt nicht noch Ungluck zu haben, plappere ich
mechanisch: "Ich werde alles halten, was ich dir versprochen habe -", aber
ich weiß schon jetzt, daß ich es nicht tun werde.
Plutzlich fullt mir ein, daß meine eigenen Kameraden auf mich
schießen kunnen, wenn ich ankrieche; sie wissen es ja nicht. Ich werde
rufen, so fruh es geht, damit sie mich verstehen. So lange will ich vor dem
Graben liegenbleiben, bis sie mir antworten.
Der erste Stern. Die Front bleibt ruhig. Ich atme auf und spreche vor
Aufregung mit mir selbst: "Jetzt keine Dummheit, Paul - Ruhe, Ruhe, Paul -,
dann bist du gerettet, Paul." Es wirkt, wenn ich meinen Vornamen sage, das
ist, als tute es ein anderer, und hat so mehr Gewalt.
Die Dunkelheit wuchst. Meine Aufregung legt sich, ich warte aus
Vorsicht, bis die ersten Raketen steigen. Dann krieche ich aus dem Trichter.
Den Toten habe ich vergessen. Vor mir liegt die beginnende Nacht und das
bleich beleuchtete Feld. Ich fasse ein Loch ins Auge; im Moment, wo das
Licht erlischt, schnelle ich hinuber, taste weiter, erwische das nuchste,
ducke mich, husche weiter.
Ich komme nuher. Da sehe ich bei einer Rakete, wie im Draht sich etwas
eben noch bewegt, ehe es erstarrt, und liege still. Beim nuchstenmal sehe
ich es wieder, es sind bestimmt Kameraden aus unserm Graben. Aber ich bin
vorsichtig, bis ich unsere Helme erkenne. Dann rufe ich.
Gleich darauf erschallt als Antwort mein Name: "Paul - Paul -"
Ich rufe wieder. Es sind Kat und Albert, die mit einer Zeltbahn
losgegangen sind, um mich zu suchen.
"Bist du verwundet?"
"Nein, nein -"
Wir rutschen in den Graben. Ich verlange Essen und schlinge es
hinunter. Muller gibt mir eine Zigarette. Ich sage mit wenigen Worten, was
geschehen ist. Es ist ja nichts Neues; so was ist schon oft passiert. Nur
der Nachtangriff ist das Besondere bei der Sache. Aber Kat hat in
Rußland schon einmal zwei Tage hinter der russischen Front gelegen,
ehe er sich durchschlagen konnte.
Von dem toten Buchdrucker sage ich nichts.
Erst am nuchsten Morgen halte ich es nicht mehr aus. Ich muß es
Kat und Albert erzuhlen. Sie beruhigen mich beide.
"Du kannst gar nichts daran machen. Was wolltest du anders tun. Dazu
bist du doch hier!"
Ich hure ihnen geborgen zu, getrustet durch ihre Nuhe. Was habe ich nur
fur einen Unsinn zusammengefaselt da in dem Trichter.
"Sieh mal dahin", zeigt Kat.
An den Brustwehren stehen einige Scharfschutzen. Sie haben Gewehre mit
Zielfernrohren aufliegen und lauern den Abschnitt druben ab. Hin und wieder
knallt ein Schuß. Jetzt huren wir Ausrufe. "Das hat gesessen?" - "Hast
du gesehen, wie er hochsprang?" Sergeant Oellrich wendet sich stolz um und
notiert seinen Punkt. Er fuhrt in der Schußliste von heute mit
drei'einwandfrei festgestellten Treffern.
"Was sagst du dazu?" fragt Kat.
Ich nicke.
"Wenn er so weitermacht, hat er heute abend ein buntes Vugelchen mehr
im Knopfloch", meint Kropp.
"Oder er wird bald Vizefeldwebel", ergunzt Kat.
Wir sehen uns an. "Ich wurde es nicht machen", sage ich.
"Immerhin", sagt Kat, "es ist ganz gut, daß du es jetzt gerade
siehst."
Sergeant Oellrich tritt wieder an die Brustwehr. Die Mundung seines
Gewehrs geht hin und her.
"Da brauchst du uber deine Sache kein Wort mehr zu verlieren", nickt
Albert.
Ich begreife mich jetzt auch selbst nicht mehr.
"Es war nur, weil ich so lange mit ihm zusammen liegen.mußte",
sage ich. Krieg ist Krieg schließlich.
Oellrichs Gewehr knallt kurz und trocken.
Wir haben einen guten Posten erwischt. Mit acht Mann mussen wir ein
Dorf bewachen, das geruumt worden ist, weil es zu stark beschossen wird.
Hauptsuchlich sollen wir auf das Proviantamt achten, das noch nicht
leer ist. Verpflegung mussen wir uns aus den Bestunden selbst besorgen.
Dafur sind wir die richtigen Leute - Kat, Albert, Muller, Tjaden, Leer,
Detering, unsere ganze Gruppe ist da. Allerdings, Haie ist tot. Aber das ist
noch ein muchtiges Gluck, denn alle anderen Gruppen haben mehr Verluste als
unsere gehabt.
Als Unterstand wuhlen wir einen betonierten Keller, zu dem von
außen eine Treppe hinunterfuhrt. Der Eingang ist noch durch eine
besondere Betonmauer geschutzt.
Jetzt entfalten wir eine große Tutigkeit. Es ist wieder eine
Gelegenheit, nicht nur die Beine, sondern auch die Seele zu strecken. Und
solche Gelegenheiten nehmen wir wahr; denn unsere Lage ist zu verzweifelt,
um lange sentimental sein zu kunnen. Das ist nur muglich, solange es noch
nicht ganz schlimm ist. Uns jedoch bleibt nichts anderes, als sachlich zu
sein. So sachlich, daß mir manchmal graut, wenn einen Augenblick ein
Gedanke aus der fruheren Zeit, vor dem Kriege, sich in meinen Kopf verirrt.
Er bleibt auch nicht lange.
Wir mussen unsere Lage so leicht nehmen wie muglich. Deshalb nutzen wir
jede Gelegenheit dazu, und unmittelbar, hart, ohne ubergang steht neben dem
Grauen der Bludsinn. Wir kunnen gar nicht anders, wir sturzen uns hinein.
Auch jetzt geht es mit Feuereifer daran, ein Idyll zu schaffen, ein Idyll
des Fressens und Schlafens naturlich. Die Bude wird zunuchst einmal mit
Matratzen belegt, die wir aus den Huusern heranschleppen. Ein
Soldatenhintern sitzt gern auch mal weich. Nur in der Mitte des Raumes
bleibt der Boden frei. Dann besorgen wir uns Decken und Federbetten,
prachtvolle weiche Dinger. Von allem ist im Dorf ja genugend vorhanden.
Albert und ich finden ein zerlegbares Mahagonibett mit einem Himmel aus
blauer Seide und Spitzenuberwurf. Wir schwitzen wie die Affen beim
Transport, aber so was kann man sich doch nicht entgehen lassen, zumal es in
ein paar Tagen doch sicher zerschossen wird.
Kat und ich machen einen kleinen Patrouillengang durch die Huuser. Nach
kurzer Zeit haben wir ein Dutzend Eier und zwei Pfund ziemlich frische
Butter gefaßt. Plutzlich kracht es in einem Salon, und ein eiserner
Ofen saust durch die Wand, an uns vorbei, einen Meter neben uns wieder durch
die Wand. Zwei Lucher. Er kommt aus dem Hause gegenuber, in das eine Granate
gehauen ist. "Schwein gehabt", grinst Kat, und wir suchen weiter. Mit einem
Male spitzen wir die Ohren und machen lange Beine. Gleich darauf stehen wir
wie verzaubert: In einem kleinen Stall tummeln sich zwei lebende Ferkel. Wir
reiben uns die Augen und sehen vorsichtig wieder hin: sie sind tatsuchlich
noch immer da. Wir fassen sie an - kein Zweifel, es sind zwei wirkliche
junge Schweine.
Das gibt ein herrliches Essen. Etwa funfzig Schritt von unserm
Unterstand entfernt steht ein kleines Haus, das als Offiziersquartier
gedient hat In der Kuche befindet sich ein riesiger Herd mit zwei
Feuerrosten, Pfannen, Tupfen und Kesseln. Alles ist da, sogar eine Unmenge
kleingehacktes Holz steckt in einem Schuppen - das wahre Schlaraffenhaus.
Zwei Mann sind seit dem Morgen auf den Feldern und suchen Kartoffeln,
Mohrruben und junge Erbsen. Wir sind numlich uppig und pfeifen auf die
Konserven des Proviantamts, wir wollen frische Sachen haben. In der
Speisekammer liegen schon zwei Kupfe Blumenkohl. Die Ferkel sind
geschlachtet. Kat hat das erledigt. Zu dem Braten wollen wir Kartoffelpuffer
machen. Aber wir finden keine Reiben fur die Kartoffeln. Doch auch da ist
bald abgeholfen. In Blechdeckel schlagen wir mit Nugeln eine Menge Lucher,
und schon sind es Reiben. Drei Mann ziehen dicke Handschuhe an, um die
Finger beim Reiben zu schonen, zwei andere schulen Kartoffeln, und es geht
rasch vorwurts.
Kat betreut die Ferkel, die Mohrruben, die Erbsen und den Blumenkohl.
Zu dem Blumenkohl mischt er sogar eine weiße Soße zurecht. Ich
backe Puffer, immer vier zu gleicher Zeit. Nach zehn Minuten habe ich es
heraus, die Pfanne so zu schwenken, daß die auf der einen Seite
fertigen Puffer hochfliegen, sich in der Luft drehen und wieder aufgefangen
werden. Die Ferkel werden unzerschnitten gebraten. Alles steht um sie herum
wie um einen Altar.
Inzwischen ist Besuch gekommen, zwei Funker, die freigebig zum Essen
eingeladen werden. Sie sitzen im Wohnzimmer, wo ein Klavier steht. Einer
spielt, der andere singt: "An der Weser". Er singt es gefuhlvoll, aber
ziemlich suchsisch. Trotzdem ergreift es uns, wuhrend wir so am Herd all die
schunen Sachen vorbereiten.
Allmuhlich merken wir, daß wir Kattun kriegen. Die Fesselballons
haben den Rauch aus unserm Schornstein spitz bekommen, und wir werden mit
Feuer belegt. Es sind die verfluchten kleinen Spritzbiester, die so ein
kleines Loch machen und so weit und niedrig streuen. Immer nuher pfeift es
um uns herum, aber wir kunnen doch das Essen nicht im Stich lassen. Die
Bande schießt sich ein. Ein paar Splitter sausen oben durchs
Kuchenfenster. Wir sind bald mit dem Braten fertig. Doch das Pufferbacken
wird jetzt schwieriger. Die Einschluge kommen so dicht, daß oft und
ufter die Splitter gegen die Hauswand klatschen und durch die Fenster fegen.
Jedesmal, wenn ich ein Ding heranpfeifen hure, gehe ich mit der Pfanne und
den Puffern in die Knie und ducke mich hinter die Fenstermauer. Sofort
danach bin ich wieder hoch und backe weiter.
Die Sachsen huren auf zu spielen, ein Splitter ist ins Klavier
geflogen. Auch wir sind jetzt allmuhlich fertig und organisieren den
Ruckzug. Nach dem nuchsten Einschlag laufen zwei Mann mit den Gemusetupfen
los, die funfzig Meter bis zum Unterstand. Wir sehen sie verschwinden.
Der nuchste Schuß. Alles duckt sich, und dann traben zwei Mann
mit je einer großen Kanne erstklassigem Bohnenkaffee ab und erreichen
vor dem folgenden Einschlag den Unterstand.
Jetzt schnappen sich Kat und Kropp das Glanzstuck: die große
Pfanne mit den braungebratenen Ferkeln. Ein Heulen, eine Kniebeuge, und
schon rasen sie uber die funfzig Meter freies Feld.
Ich backe meine letzten vier Puffer noch fertig; zweimal muß ich
dabei auf den Boden - aber es sind schließlich vier Puffer mehr, und
es ist mein Lieblingsessen.
Dann ergreife ich die Platte mit dem hohen Stapel und presse mich
hinter die Haustur. Es zischt, kracht, und ich galoppiere davon, mit beiden
Hunden die Platte an die Brust gedruckt. Fast bin ich angelangt, da pfeift
es anschwellend, ich turme wie ein Hirsch, fege um die Betonwand, Spritzer
klatschen gegen die Mauer, ich falle die Kellertreppe hinunter, meine
Ellenbogen sind zerschlagen, aber ich habe keinen einzigen Puffer verloren
und die Platte nicht umgekippt.
Um zwei Uhr beginnen wir mit dem Essen. Es dauert bis sechs. Bis halb
sieben trinken wir Kaffee - Offizierskaffee aus dem Proviantamt - und
rauchen Offizierszigarren und Zigaretten - ebenfalls aus dem Proviantamt.
Punkt halb sieben fangen wir mit dem Abendessen an. Um zehn Uhr werfen wir
die Gerippe der Ferkel vor die Tur. Dann gibt es Kognak und Rum, ebenfalls
aus dem gesegneten Proviantamt und wieder lange, dicke Zigarren mit
Bauchbinden. Tjaden behauptet, daß nur eines fehle: Mudchen aus einem
Offizierspuff.
Sputabends huren wir Miauen. Eine kleine graue Katze sitzt am Eingang.
Wir locken sie heran und futtern sie. Daruber kommt auch uns wieder der
Appetit. Kauend legen wir uns schlafen.
Doch die Nacht ist buse. Wir haben zu fett gegessen. Frisches
Spanferkel wirkt angreifend auf die Durme. Es ist ein ewiges Kommen und
Gehen im Unterstand. Zwei, drei Mann sitzen immer mit heruntergezogenen
Hosen draußen herum und fluchen. Ich selbst bin neunmal unterwegs.
Gegen vier Uhr nachts erreichen wir einen Rekord: alle elf Mann, Wache und
Besuch, sitzen draußen.
Brennende Huuser stehen wie Fackeln in der Nacht. Granaten poltern
heran und hauen ein. Munitionskolonnen rasen uber die Straße. An der
einen Seite ist das Proviantamt aufgerissen. Wie ein Schwurm Bienen drungen
sich dort trotz aller Splitter die Kolonnenfahrer und klauen Brot. Wir
lassen sie ruhig gewuhren. Wenn wir was sagen wurden, gube es huchstens eine
Tracht Prugel fur uns. Deshalb machen wir es anders. Wir erkluren, daß
wir die Wache sind, und da wir Bescheid wissen, kommen wir mit den Konserven
an, die wir gegen Sachen tauschen, die uns fehlen.
Was macht es schon - in kurzer Zeit ist ohnehin alles zerschossen. Fur
uns selbst holen wir Schokolade aus dem Depot und essen sie tafelweise. Kat
sagt, sie sei gut fur einen allzu eiligen Bauch. -
Fast vierzehn Tage vergehen so mit Essen, Trinken und Bummeln. Niemand
sturt uns. Das Dorf verschwindet langsam unter den Granaten, und wir fuhren
ein gluckliches Leben. Solange nur noch ein Teil des Proviantamtes steht,
ist uns alles egal, und wir wunschen bloß, hier das Ende des Krieges
zu erleben.
Tjaden ist derartig fein geworden, daß er die Zigarren nur halb
aufraucht. Er erklurt hochnusig, er sei es so gewohnt. Auch Kat ist sehr
aufgemuntert. Sein erster Ruf morgens ist: "Emil, bringen Sie Kaviar und
Kaffee." Es ist uberhaupt erstaunlich vornehm bei uns, jeder hult den andern
fur seinen Burschen, siezt ihn und gibt ihm Auftruge. "Kropp, es juckt mich
unter dem Fuß, fangen Sie doch mal die Laus weg", damit streckt ihm
Leer sein Bein hin wie eine Schauspielerin, und Albert schleift ihn daran
die Treppen hinauf. "Tjaden!" - "Was ?" - " Stehen Sie bequem, Tjaden,
ubrigens heißt es nicht: Was, sondern: Zu Befehl - also: Tjaden!"
Tjaden begibt sich wieder auf ein Gastspiel zu Gutz von Berlichingen, der
ihm nur so im Handgelenk sitzt.
Nach weiteren acht Tagen erhalten wir Befehl, abzurucken. Die
Herrlichkeit ist aus. Zwei große Lastautos nehmen uns auf. Sie sind
hoch bepackt mit Brettern. Aber noch oben darauf bauen Albert und ich unser
Himmelbett mit dem blauseidenen uberwurf auf, mit Matratzen und zwei
Spitzenoberbetten. Hinten drin am Kopfende liegt fur jeden ein Sack mit
besten Lebensmitteln. Wir fuhlen manchmal daruber hin, und die harten
Mettwurste, die Leberwurstbuchsen, die Konserven, die Zigarrenkisten lassen
unsere Herzen jubilieren. Jeder Mann hat so einen Sack voll bei sich.
Kropp und ich haben aber außerdem noch zwei rote Samtfauteuils
gerettet. Sie stehen im Bett, und wir rukeln uns darauf wie in einer
Theaterloge. uber uns bauscht sich die Seide des uberwurfs als Baldachin.
Jeder hat eine lange Zigarre im Mund. So schauen wir hoch von oben in die
Gegend.
Zwischen uns steht ein Papageienkufig, den wir fur die Katze gefunden
haben. Sie wird mitgenommen und liegt drinnen vor ihrem Fleischnapf und
schnurrt.
Langsam rollen die Wagen uber die Straße. Wir singen. Hinter uns
spritzen die Granaten Fontunen aus dem nun ganz verlassenen Dorf.
Einige Tage sputer rucken wir aus, um eine Ortschaft aufzuruumen.
Unterwegs begegnen uns die fliehenden Bewohner, die ausgewiesen sind. Sie
schleppen ihre Habseligkeiten in Karren, in Kinderwagen und auf dem Rucken
mit sich. Ihre Gestalten sind gebeugt, ihre Gesichter voll Kummer,
Verzweiflung, Hast und Ergebenheit. Die Kinder hungen an den Hunden der
Mutter, manchmal fuhrt auch ein ulteres Mudchen die Kleinen, die vorwurts
taumeln und immer wieder zurucksehen. Einige tragen armselige Puppen mit
sich. Alle schweigen, als sie an uns vorubergehen.
Noch sind wir in Marschkolonne, die Franzosen werden ja nicht ein Dorf
beschießen, in dem Landsleute sind. Aber wenige Minuten sputer heult
die Luft, die Erde bebt, Schreie ertunen - eine Granate hat den hintersten
Zug zerschmettert. Wir spritzen auseinander und werfen uns hin, aber im
selben Moment fuhle ich, wie mir die Spannung entgleitet, die mich sonst
immer bei Feuer unbewußt das Richtige tun lußt, der Gedanke "Du
bist verloren" zuckt auf mit einer wurgenden, schrecklichen Angst - und im
nuchsten Augenblick fegt ein Schlag wie von einer Peitsche uber mein linkes
Bein. Ich hure Albert schreien, er ist neben mir.
"Los, auf, Albert!" brulle ich, denn wir liegen ungeschutzt auf freiem
Felde.
Er taumelt hoch und luuft. Ich bleibe neben ihm. Wir mussen uber eine
Hecke; sie ist huher als wir. Kropp faßt in die Zweige, ich packe sein
Bein, er schreit auf, ich gebe ihm Schwung, er fliegt hinuber. Mit einem
Satz bin ich hinter ihm her und falle in einen Teich, der hinter der Hecke
liegt.
Wir haben das Gesicht voll Wasserlinsen und Schlamm, aber die Deckung
ist gut. Deshalb waten wir hinein bis zum Halse. Wenn es heult, gehen wir
mit dem Kopf unter Wasser.
Nachdem wir das ein dutzendmal gemacht haben, wird es mir uber. Auch
Albert stuhnt: "Laß uns weg, ich falle sonst um und ersaufe."
"Wo hast du was gekriegt?" frage ich.
"Am Knie, glaube ich."
"Kannst du laufen?"
"Ich denke -"
"Dann los."
Wir gewinnen den Chausseegraben und rennen ihn gebuckt entlang. Das
Feuer folgt uns. Die Straße hat die Richtung auf das Munitionsdepot.
Wenn das hochgeht, findet nie jemand von uns einen Knopf wieder. Wir andern
deshalb unsern Plan und laufen im Winkel querfeldein.
Albert wird langsamer. "Lauf zu, ich komme nach", sagt er und wirft
sich hin.
Ich reiße ihn am Arm auf und schuttele ihn. "Hoch, Albert, wenn
du dich erst hinlegst, kannst du nie mehr weiter. Los, ich stutze dich."
Endlich erreichen wir einen kleinen Unterstand. Kropp schmeißt
sich hin, und ich verbinde ihn. Der Schuß sitzt kurz uber dem Knie.
Dann sehe ich mich selbst an. Die Hose ist blutig, ebenso der Arm. Albert
bindet mir seine Puckchen um die Lucher. Er kann sein Bein schon nicht mehr
bewegen, und wir wundern uns beide, wie wir es uberhaupt bis hierher
geschafft haben. Das hat nur die Angst gemacht; wir wurden fortgelaufen
sein, selbst wenn uns die Fuße weggeschossen wuren - dann eben auf
Stumpfen.
Ich kann noch etwas kriechen und rufe einen voruberfahrenden
Leiterwagen an, der uns mitnimmt. Er ist voller Verwundeter. Ein
Sanitutsgefreiter ist dabei, der uns eine Tetanusspritze in die Brust jagt -
Im Feldlazarett richten wir es so ein, daß wir nebeneinander zu
liegen kommen. Es gibt eine dunne Suppe, die wir gierig und veruchtlich
ausluffeln, weil wir zwar bessere Zeiten gewuhnt sind, aber doch Hunger
haben.
"Nun geht's in die Heimat, Albert", sage ich.
"Hoffentlich", antwortet er. "Wenn ich bloß wußte, was ich
habe."
Die Schmerzen werden sturker. Wie Feuer brennen die Verbunde. Wir
trinken und trinken, einen Becher Wasser nach dem andern.
"Wieviel uber dem Knie ist mein Schuß?" fragt Kropp.
"Mindestens zehn Zentimeter, Albert", antworte ich. In Wirklichkeit
sind es vielleicht drei.
"Das habe ich mir vorgenommen", sagt er nach einer Weile, "wenn sie mir
einen Knochen abnehmen, mache ich Schluß. Ich will nicht als Kruppel
durch die Welt laufen."
So liegen wir mit unsern Gedanken und warten.
Abends werden wir zur Schlachtbank geholt. Ich erschrecke und uberlege
rasch, was ich tun soll; denn es ist bekannt, daß die urzte in den
Feldlazaretten leicht amputieren. Bei dem großen Andrang ist das
einfacher als komplizierte Flickereien. Kemmerich fullt mir ein. Auf keinen
Fall werde ich mich chloroformieren lassen, selbst wenn ich ein paar Leuten
den Schudel einschlagen muß.
Es geht gut. Der Arzt stochert in der Wunde herum, daß mir
schwarz vor Augen wird. "Stellen Sie sich nicht so an", schimpft er und
subelt weiter. Die Instrumente blitzen in dem hellen Licht wie busartige
Tiere. Die Schmerzen sind unertruglich. Zwei Krankenwurter halten meine Arme
fest, aber ich kriege einen los und will ihn gerade dem Arzt in die Brille
knallen, als er es merkt und wegspringt. "Chloroformiert den Kerl!" schreit
er wutend.
Da werde ich ruhig. "Entschuldigen Herr Doktor, ich werde stillhalten,
aber chloroformieren Sie mich nicht."
"Na ja", kakelt er und nimmt seine Instrumente wiedervor. Er ist ein
blonder Bursche, huchstens dreißig Jahre alt, mit Schmissen und einer
widerlichen goldenen Brille. Ich merke daß er mich jetzt schikaniert,
er wuhlt nur so in der Wunde und schielt ab und zu uber seine Gluser zu mir
hin. Meine Hunde quetschen sich um die Griffe, eher verrecke ich, als
daß er einen Mucks von mir hurt.
Er hat einen Splitter herausgeangelt und wirft ihn mir zu. Scheinbar
ist er befriedigt von meinem Verhalten, denn er schient mich jetzt
sorgfultig und sagt: "Morgen geht's ab nach Hause." Dann werde ich
eingegipst. Als ich wieder mit Kropp zusammen bin, erzuhle ich ihm,
daß also wahrscheinlich morgen schon ein Lazarettzug eintreffen wird.
"Wir mussen mit dem Sanitutsfeldwebel sprechen, damit wir beieinander
bleiben, Albert."
Es gelingt mir, dem Feldwebel mit ein paar passenden Worten zwei meiner
Zigarren mit Bauchbinden zu uberreichen. Er schnuppert daran und fragt:
"Hast du noch mehr davon?"
"Noch eine gute Handvoll", sage ich, "und mein Kamerad", ich zeige auf
Kropp, "ebenfalls. Die muchten wir Ihnen gern morgen zusammen aus dem
Fenster des Lazarettzuges uberreichen."
Er kapiert naturlich, schnuppert noch einmal und sagt: "Gemacht."
Wir kunnen keine Minute nachts schlafen. In unserm Saal sterben sieben
Leute. Einer singt eine Stunde lang in einem hohen Quetschtenor Chorule, ehe
er zu rucheln beginnt. Ein anderer ist vorher aus dem Bett ans Fenster
gekrochen. Er liegt davor, als hutte er zum letztenmal hinaussehen wollen.
Unsere Bahren stehen auf dem Bahnhof. Wir warten auf den Zug. Es
regnet, und der Bahnhof hat kein Dach. Die Decken sind dunn. Wir warten
schon zwei Stunden.
Der Feldwebel betreut uns wie eine Mutter. Obschon mir sehr schlecht
ist, verliere ich unsern Plan nicht aus den Gedanken. So nebenbei lasse ich
die Puckchen sehen und gebe eine Zigarre als Vorschuß ab. Dafur deckt
der Feldwebel uns eine Zeltbahn uber.
"Mensch, Albert", erinnere ich mich, "unser Himmelbett und die Katze -"
"Und die Klubsessel", fugt er hinzu.
Ja, die Klubsessel aus rotem Plusch. Wir hatten wie Fursten abends
darauf gesessen und uns vorgenommen, sie sputer stundenweise abzuvermieten.
Pro Stunde eine Zigarette. Es wure ein sorgenloses Leben und ein Geschuft
geworden.
"Albert", fullt mir ein, "und unsere Freßsucke."
Wir werden schwermutig. Die Sachen hutten wir gebrauchen kunnen. Wenn
der Zug einen Tag sputer fuhre, hutte Kat uns sicher gefunden und uns den
Kram gebracht.
Ein verfluchtes Schicksal. Wir haben Mehlsuppe im Magen, dunnes
Lazarettfutter, und in unseren Sucken ist Schweinebraten als Konserve. Aber
wir sind so schwach, daß wir uns nicht weiter daruber aufregen kunnen.
Die Bahren sind klatschnaß, als der Zug morgens einluuft. Der
Feldwebel sorgt dafur, daß wir in denselben Wagen kommen. Eine Menge
Rote-Kreuz-Schwestern sind da. Kropp wird nach unten gepackt. Ich werde
angehoben und soll in das Bett uber ihm.
"Um Gottes willen", entfuhrt es mir plutzlich.
"Was ist denn?" fragt die Schwester.
Ich werfe noch einen Blick auf das Bett. Es ist mit schneeweißem
Leinen bezogen, unvorstellbar sauberem Leinen, das sogar noch die
Pluttkniffe hat. Mein Hemd dagegen ist sechs Wochen lang nicht gewaschen
worden und sehr dreckig.
"Kunnen Sie nicht allein hineinkriechen?" fragt die Schwester besorgt.
"Das schon", sagte ich schwitzend, "aber tun Sie doch erst das Bettzeug
weg."
"Warum denn?"
Ich komme mir wie ein Schwein vor. Da soll ich mich hineinlegen? - "Es
wird ja -" Ich zugere.
"Ein bißchen schmutzig?" fragt sie ermunternd. "Das schadet
nichts, dann waschen wir es eben nachher wieder."
"Nee, das nicht -", sage ich aufgeregt. Diesem Ansturm der Kultur bin
ich nicht gewachsen.
"Dafur, daß Sie draußen im Graben gelegen haben, werden wir
wohl noch ein Bettlaken waschen kunnen", fuhrt sie fort.
Ich sehe sie an, sie sieht knusprig und jung aus, blank gewaschen und
fein, wie alles hier, man begreift nicht, daß es nicht nur fur
Offiziere ist, und fuhlt sich unheimlich und sogar irgendwie bedroht.
Das Weib ist trotzdem ein Folterknecht, es zwingt mich, alles zu sagen.
"Es ist nur -", ich halte ein, sie muß doch verstehen, was ich meine.
"Was denn noch?"
"Wegen der Luuse", brulle ich schließlich heraus.
Sie lacht. "Die mussen auch mal gute Tage haben."
Nun kann es mir ja gleich sein. Ich krabbele ins Bett und decke mich
zu.
Eine Hand fingert uber die Decke. Der Feldwebel. Er zieht mit den
Zigarren ab.
Nach einer Stunde merken wir, daß wir fahren.
Nachts erwache ich. Auch Kropp ruhrt sich. Der Zug rollt leise uber die
Schienen. Es ist alles noch unbegreiflich: ein Bett, ein Zug, nach Hause.
Ich flustere: "Albert!"
"Ja -"
"Weißt du, wo hier die Latrine ist?"
"Ich glaube, druben rechts die Tur."
"Ich werde mal sehen." Es ist dunkel, ich taste nach dem Bettrand und
will vorsichtig hinuntergleiten. Aber mein Fuß findet keinen Halt, ich
gerate ins Rutschen, das Gipsbein ist keine Hilfe, und mit einem Krach liege
ich auf dem Boden.
"Verflucht", sage ich.
"Hast du dich gestoßen?" fragt Kropp.
"Das kunntest du doch wohl gehurt haben", knurre ich, "mein Schudel -"
Hinten im Wagen uffnet sich die Tur. Die Schwester kommt mit Licht und
sieht mich.
"Er ist aus dem Bett gefallen"
Sie fuhlt mir den Puls und faßt meine Stirn an. "Sie haben aber
kein Fieber."
"Nein -", gebe ich zu.
"Haben Sie denn getruumt?" fragt sie.
"So ungefuhr", weiche ich aus. Jetzt geht die Fragerei wieder los. Sie
sieht mich mit ihren blanken Augen an, sauber und wunderbar ist sie, um so
weniger kann ich ihr sagen, was ich will.
Ich werde wieder nach oben gehoben. Das kann ja gut werden. Wenn sie
fort ist, muß ich sofort wieder versuchen, hinunterzusteigen. Wure sie
eine alte Frau, so ginge es eher, ihr Bescheid zu sagen, aber sie ist ja
ganz jung, huchstens funfundzwanzig Jahre, es ist nichts zu machen, ich kann
es ihr nicht sagen.
Da kommt Albert mir zu Hilfe, er geniert sich nicht, er ist es ja auch
schließlich nicht, den die Sache angeht. Er ruft die Schwester an. Sie
dreht sich um. "Schwester, er wollte -", aber auch Albert weiß nicht
mehr, wie er sich tadellos und anstundig ausdrucken soll. Unter uns
draußen ist das mit einem einzigen Wort gesagt, aber hier, einer
solchen Dame gegenuber - Mit einem Male jedoch fullt ihm die Schulzeit ein,
und er vollendet fließend: "Er muchte mal hinaus, Schwester."
"Ach so", sagt die Schwester. "Dazu braucht er doch nicht mit seinem
Gipsverband aus dem Bett zu klettern. Was wollen Sie denn haben?" wendet sie
sich an mich.
Ich bin tudlich erschrocken uber diese neue Wendung, denn ich habe
keine Ahnung, wie man die Dinge fachmunnisch benennt. Die Schwester kommt
mir zu Hilfe. "Klein oder groß?" Diese Blamage! Ich schwitze wie ein
Affe und sage verlegen: "Na, also nur klein -"
Immerhin, wenigstens noch etwas Gluck.
Ich erhalte eine Flasche. Nach einigen Stunden bin ich nicht mehr der
einzige, und morgens haben wir uns gewuhnt und verlangen ohne Beschumung,
was wir brauchen.
Der Zug fuhrt langsam. Manchmal hult er, und die Toten werden
ausgeladen. Er hult oft.
Albert hat Fieber. Mir geht es leidlich, ich habe Schmerzen, aber
schlimmer ist es, daß wahrscheinlich unter dem Gipsverband noch Luuse
sitzen. Es juckt furchterlich, und ich kann mich nicht kratzen.
Wir schlummern durch die Tage. Die Landschaft geht still durch die
Fenster. In der dritten Nacht sind wir in Herbesthal. Ich hure von der
Schwester, daß Albert an der nuchsten Station ausgeladen werden soll,
wegen seines Fiebers. "Wie weit fuhrt der Zug?" frage ich.
"Bis Kuln."
"Albert, wirbleiben zusammen", sage ich, "paß auf." Beim nuchsten
Rundgang der Schwester halte ich die Luft an und presse den Atem in den
Kopf. Er schwillt und wird rot. Sie bleibt stehen. "Haben Sie Schmerzen?"
"Ja", stuhne ich, "mit einem Male."
Sie gibt mir ein Thermometer und geht weiter. Ich mußte nicht bei
Kat in der Lehre gewesen sein, um nicht Bescheid zu wissen. Diese
Soldatenthermometer sind nicht fur erfahrenes Militur berechnet. Es handelt
sich nur darum, das Quecksilber hochzutreiben, dann bleibt es in der dunnen
Ruhre stehen und sinkt nicht wieder.
Ich stecke das Thermometer unter den Arm, schrug nach unten, und knipse
mit dem Zeigefinger stundig dagegen. Darauf schuttele ich es nach oben.
Damit erreiche ich 37,9 Grad. Das genugt aber nicht. Ein Streichholz
vorsichtig nahe darangehalten ergibt 38,7 Grad.
Als die Schwester zuruckkommt, puste ich mich auf, atme leicht
stoßweise, glotze sie mit etwas stieren Augen an, bewege mich unruhig
und flustere: "Ich kann es nicht mehr aushalten -"
Sie notiert mich auf einem Zettel. Ich weiß genau, daß ohne
Not mein Gipsverband nicht geuffnet wird.
Albert und ich werden zusammen ausgeladen.
Wir liegen in einem katholischen Hospital, im gleichen Zimmer. Das ist
ein großes Gluck, denn die katholischen Krankenhuuser sind bekannt fur
gute Behandlung und gutes Essen. Das Lazarett ist voll belegt worden aus
unserm Zug, es sind viele schwere Fulle dabei. Wir kommen heute noch nicht
zur Untersuchung, da zu wenig Arzte da sind. Auf dem Korridor fahren
unablussig die flachen Wagen mit den Gummirudern vorbei, und immer liegt
jemand lang darauf. Eine verfluchte Lage - so langgestreckt - nur gut, wenn
man schluft.
Die Nacht ist sehr unruhig. Keiner kann schlafen. Gegen Morgen duseln
wir etwas ein. Ich erwache, als es hell wird. Die Tur steht offen, und vom
Korridor hure ich Stimmen. Auch die andern wachen auf. Einer, der schon ein
paar Tage da ist, erklurt uns die Sache: "Hier oben wird jeden Morgen auf
dem Korridor gebetet von den Schwestern. Sie nennen das Morgenandacht. Damit
ihr euren Teil abkriegt, machen sie die Turen auf."
Das ist sicher gut gemeint, aber uns tun die Knochen und die Schudel
weh.
"So ein Unsinn", sage ich, "wenn man gerade eingeschlafen ist."
"Hier oben liegen die leichteren Fulle, da machen sie es so", antwortet
er.
Alben stuhnt. Ich werde wutend und rufe: "Ruhe da draußen."
Nach einer Minute erscheint eine Schwester. Sie sieht in ihrer
weiß und schwarzen Tracht aus wie ein hubscher Kaffeewurmer. "Machen
Sie doch die Tur zu, Schwester", sagt jemand.
"Es wird gebetet, deshalb ist die Tur offen", erwidert sie.
"Wir muchten aber noch schlafen -"
"Beten ist besser als schlafen." Sie steht da und luchelt unschuldig.
"Es ist auch schon sieben Uhr."
Albert stuhnt wieder. "Tur zu!" schnauze ich.
Sie ist ganz verdutzt, so etwas kann sie scheinbar nicht begreifen. "Es
wird doch auf fur Sie mitgebetet."
"Einerlei! Tur zu!"
Sie verschwindet und lußt die Tur offen. Die Litanei ertunt
wieder. Ich bin wild und sage: "Ich zuhle jetzt bis drei. Wenn es bis dahin
nicht aufhurt, fliegt was."
"Von mir auch", erklurt ein anderer.
Ich zuhle bis funf. Dann nehme ich eine Flasche, ziele und werfe sie
durch die Tur auf den Korridor. Sie zerspringt in tausend Splitter. Das
Beten hurt auf. Ein Schwurm Schwestern erscheint und schimpft maßvoll.
"Tur zu!" schreien wir.
Sie verziehen sich. Die Kleine von vorhin ist die letzte. "Heiden",
zwitschert sie, macht aber doch die Tur zu. Wir haben gesiegt.
Mittags kommt der Lazarettinspektor und ranzt uns an. Er verspricht uns
Festung und noch mehr. Nun ist ein Lazarettinspektor, genau wie ein
Proviantamtsinspektor, zwar jemand, der einen langen Degen und Achselstucke
trugt, aber eigentlich ein Beamter, und er wird darum nicht einmal von einem
Rekruten fur voll genommen. Wir lassen ihn deshalb reden. Was kann uns schon
passieren -
"Wer hat die Flasche geworfen?" fragt er.
Bevor ich uberlegen kann, ob ich mich melden soll, sagt jemand: "Ich!"
Ein Mann mit struppigem Bart richtet sich auf. Alles ist gespannt,
weshalb er sich meldet.
"Sie?"
"Jawohl. Ich war erregt daruber, daß wir unnutig geweckt wurden,
und verlor die Besinnung, so daß ich nicht wußte, was ich tat."
Er redet wie ein Buch.
"Wie heißen Sie?"
"Ersatz-Reservist Josef Hamacher."
Der Inspektor geht ab. Alle sind neugierig. "Weshalb hast du dich denn
bloß gemeldet? Du warst es ja gar nicht!"
Er grinst. "Das macht nichts. Ich habe einen Jagdschein."
Das versteht naturlich jeder. Wer einen Jagdschein hat, kann machen,
was er will.
"Ja", erzuhlt er, "ich habe einen Kopfschuß gehabt, und daraufist
mir ein Attest ausgestellt worden, daß ich zeitweise
unzurechnungsfuhig bin. Seitdem bin ich fein heraus. Man darf mich nicht
reizen. Mir passiert also nichts. Der unten wird sich schun urgern. Und
gemeldet habe ich mich, weil mir das Werfen Spaß gemacht hat. Wenn sie
morgen wieder die Tur aufmachen, schmeißen wir wieder."
Wir sind heilfroh. Mit Josef Hamacher in der Mitte jetzt alles
riskieren.
Dann kommen die lautlosen, flachen Wagen, um uns zu holen. Die Verbunde
sind verklebt. Wir brullen wie Stiere.
Es liegen acht Mann auf unserer Stube. Die schwerste Verletzung hat
Peter, ein schwarzer Krauskopf - einen komplizierten Lungenschuß.
Franz Wuchter neben ihm hat einen zerschossenen Arm, der anfangs nicht
schlimm aussieht. Aber in der dritten Nacht ruft er uns an, wir sollten
klingeln, er glaube, er blute durch.
Ich klingele kruftig. Die Nachtschwester kommt nicht. Wir haben sie
abends ziemlich stark in Anspruch genommen, weil wir alle neue Verbunde und
deshalb Schmerzen hatten. Der eine wollte das Bein so gelegt haben, der
andere so, der dritte verlangte Wasser, dem vierten sollte sie das
Kopfkissen aufschutteln; - die dicke Alte hatte buse gebrummt zuletzt und
die Turen geschlagen. Jetzt vermutet sie wohl wieder so etwas, denn sie
kommt nicht.
Wir warten. Dann sagt Franz: "Klingle noch mal."
Ich tue es. Sie lußt sich immer noch nicht sehen. Auf unserem
Flugel ist nachts nur eine einzige Stationsschwester, vielleicht hat sie
gerade in andern Zimmern zu tun. "Bist du sicher, Franz, daß du
blutest?" frage ich. "Sonst kriegen wir wieder was auf den Kopf."
"Es ist naß. Kann keiner Licht machen?"
Auch das geht nicht. Der Schalter ist an der Tur, und niemand kann
aufstehen. Ich halte den Daumen auf der Klingel, bis er gefuhllos wird.
Vielleicht ist die Schwester eingenickt. Sie haben ja sehr viel Arbeit und
sind alle uberanstrengt, schon tagsuber. Dazu das stundige Beten.
"Sollen wir Flaschen schmeißen?" fragt Josef Hamacher mit dem
Jagdschein.
"Das hurt sie noch weniger als das Klingeln."
Endlich geht die Tur auf. Muffelig erscheint die Alte. Als sie die
Geschichte bei Franz bemerkt, wird sie eilig und ruft: "Weshalb hat denn
keiner Bescheid gesagt?"
"Wir haben ja geklingelt. Laufen kann hier keiner."
Er hat stark geblutet und wird verbunden. Morgens sehen wir sein
Gesicht, es ist spitzer und gelber geworden, dabei war es am
Abend noch fast gesund im Aussehen. Jetzt kommt ufter eine Schwester.
Manchmal sind es auch Hilfsschwestern vom Roten Kreuz. Sie sind
gutmutig, aber mitunter etwas ungeschickt. Beim Umbetten tun sie einem oft
weh und sind dann so erschrocken, daß sie einem noch mehr weh tun.
Die Nonnen sind zuverlussiger. Sie wissen, wie sie anfassen mussen,
aber wir muchten gern, daß sie etwas lustiger wuren. Einige allerdings
haben Humor, sie sind großartig. Wer wurde Schwester Libertine nicht
jeden Gefallen tun, dieser wunderbaren Schwester, die im ganzen Flugel
Stimmung verbreitet, wenn sie nur von weitem zu sehen ist? Und solcher sind
noch mehrere da. Wir wurden fur sie durchs Feuer gehen. Man kann sich
wirklich nicht beklagen, man wird direkt wie ein Zivilist hier behandelt von
den Nonnen. Wenn man dagegen an die Garnisonlazarette denkt, in denen man
mit angelegter Hand im Bett liegen muß, kann einem die Angst kommen.
Franz Wuchter kommt nicht wieder zu Kruften. Eines Tages wird er
abgeholt und bleibt fort. Josef Hamacher weiß Bescheid: "Den sehen wir
nicht wieder. Sie haben ihn ins Totenzimmer gebracht."
"Was fur ein Totenzimmer?" fragt Kropp.
"Na, ins Sterbezimmer -"
"Was ist denn das?"
"Das kleine Zimmer an der Ecke des Flugels. Wer kurz vor dem Abkratzen
ist, wird dahin gebracht. Es sind zwei Betten darin. uberall heißt es
nur das Sterbezimmer."
"Aber warum machen sie das?"
"Sie haben dann nicht so viel Arbeit nachher. Es ist auch bequemer,
weil es gleich am Aufzug zur Totenhalle liegt. Vielleicht tun sie es auch,
damit keiner in den Sulen stirbt, wegen der andern. Sie kunnen ja auch
besser bei ihm wachen, wenn er allein liegt."
"Aber er selber?"
Josef zuckt die Achseln. "Gewuhnlich merkt er ja nicht mehr viel
davon."
"Weiß es denn jeder?"
"Wer lunger hier ist, weiß es naturlich."
Nachmittags wird das Bett von Franz Wuchter neu belegt. Nach ein paar
Tagen holen sie auch den neuen wieder ab. Josef macht eine bezeichnende
Handbewegung. Wir sehen noch manchen kommen und gehen.
Manchmal sitzen Angehurige an den Betten und weinen oder sprechen leise
und verlegen. Eine alte Frau will gar nicht fort, aber sie kann die Nacht
uber ja nicht dableiben. Am andern Morgen kommt sie schon ganz fruh, aber
doch nicht fruh genug; denn als sie an das Bett geht, liegt schon jemand
anders drin. Sie muß zur Totenhalle. Die upfel, die sie noch bei sich
hat, gibt sie uns.
Auch dem kleinen Peter geht es schlechter. Seine Fiebertafel sieht buse
aus, und eines Tages steht neben seinem Bett der flache Wagen. "Wohin?"
fragt er.
"Zum Verbandssaal."
Er wird hinauf gehoben. Aber die Schwester macht den Fehler, seinen
Waffenrock vom Haken zu nehmen und ihn ebenfalls auf den Wagen zu legen,
damit sie nicht zweimal zu gehen braucht. Peter weiß sofort Bescheid
und will sich vom Wagen rollen. "Ich bleibe hier!"
Sie drucken ihn nieder. Er schreit leise mit seiner zerschossenen
Lunge: "Ich will nicht ins Sterbezimmer."
"Wir gehen ja zum Verbandssaal."
"Wozu braucht ihr dann meinen Waffenrock?" Er kann nicht mehr sprechen.
Heiser, aufgeregt, flustert er: "Hierbleiben!"
Sie antworten nicht und fahren ihn hinaus. Vor der Tur versucht er sich
aufzurichten. Sein schwarzer Krauskopf bebt, die Augen sind voll Trunen.
"Ich komme wieder! Ich komme wieder!" ruft er.
Die Tur schließt sich. Wir sind alle erregt; aber wir schweigen.
Endlich sagt Josef: "Hat schon mancher gesagt. Wenn man erst drin ist, hult
man doch nicht durch."
Ich werde operiert und kotze zwei Tage lang. Meine Knochen wollen nicht
zusammenwachsen, sagt der Schreiber des Arztes. Bei einem andern sind sie
falsch angewachsen; dem werden sie wieder gebrochen. Es ist schon ein Elend.
Unter unserm Zuwachs sind zwei junge Soldaten mit Plattfußen. Bei
der Visite entdeckt der Chefarzt sie und bleibt freudig stehen. "Das werden
wir wegkriegen", erzuhlt er, "da machen wir eine kleine Operation, und schon
haben Sie gesunde Fuße. Schreiben Sie auf, Schwester."
Als er fort ist, warnt Josef, der alles weiß: "Laßt euch ja
nicht operieren ! Das ist numlich ein wissenschaftlicher Fimmel vom Alten.
Er ist ganz wild auf jeden, den er dafur zu fassen bekommt. Er operiert euch
die Plattfuße, und ihr habt nachher tatsuchlich auch keine mehr; dafur
habt ihr Klumpfuße und mußt euer Leben lang an Stucken laufen."
"Was soll man denn da machen?" fragt der eine.
"Nein sagen! Ihr seid hier, um eure Schusse zu kurieren, nicht eure
Plattfuße! Habt ihr im Felde keine gehabt ? Na, da seht ihr! Jetzt
kunnt ihr noch laufen, aber wenn der Alte euch erst unter dem Messer gehabt
hat, seid ihr Kruppel. Er braucht Versuchskarnickel, fur ihn ist der Krieg
eine großartige Zeit deshalb, wie fur alle urzte. Seht euch unten mal
die Station an; da kriechen ein Dutzend Leute herum, die er operiert hat.
Manche sind seit vierzehn und funfzehn hier, jahrelang. Kein einziger kann
besser laufen als vorher; fast alle aber schlechter, die meisten nur mit
Gipsbeinen. Alle halbe Jahre erwischt er sie wieder und bricht ihnen die
Knochen aufs neue, und jedesmal soll dann der Erfolg kommen. Nehmt euch in
acht, er darf es nicht, wenn ihr nein sagt."
"Ach, Mensch!" sagt der eine von den beiden mude. "Besser die
Fuße als der Schudel. Weißt du, was du kriegst, wenn du wieder
draußen bist? Sollen sie mit mir machen, was sie wollen, wenn ich
bloß wieder nach Hause komme. Besser ein Klumpfuß als tot."
Der andere, ein junger Mensch wie wir, will nicht. Am andern Morgen
lußt der Alte beide herunterholen und redet und schnauzt so lange auf
sie ein, bis sie doch einwilligen. Was sollen sie anders tun. - Sie sind ja
nur Muskoten, und er ist ein hohes Tier. Vergipst und chloroformiert werden
sie wiedergebracht.
Albert geht es schlecht. Er wird geholt und amputiert. Das ganze Bein
bis obenhin wird abgenommen. Nun spricht er fast gar nicht mehr. Einmal sagt
er, er wolle sich erschießen, wenn er erst wieder an seinen Revolver
herankume.
Ein neuer Transport trifft ein. Unsere Stube erhult zwei Blinde. Einer
davon ist ein ganz junger Musiker. Die Schwestern haben nie ein Messer bei
sich, wenn sie ihm Essen geben; er hat einer schon einmal eins entrissen.
Trotz dieser Vorsicht passiert etwas. Abends beim Futtern wird die Schwester
von seinem Bett abgerufen und stellt den Teller mit der Gabel so lange auf
seinen Tisch. Er tastet nach der Gabel, faßt sie und stußt sie
mit aller Kraft gegen sein Herz, dann ergreift er einen Schuh und schlugt
auf den Stiel, so fest er kann. Wir rufen um Hilfe, und drei Mann sind
nutig, ihm die Gabel wegzunehmen. Die stumpfen Zinken waren schon tief
eingedrungen. Er schimpft die ganze Nacht auf uns, so daß niemand
Schlaf findet. Morgens hat er einen Schreikrampf.
Wieder werden Betten frei. Tage um Tage gehen hin in Schmerzen und
Angst, Stuhnen und Rucheln. Auch das Vorhandensein der Totenzimmer nutzt
nichts mehr, es sind zu wenig, die Leute sterben nachts auch auf unserer
Stube. Es geht eben schneller als die uberlegung der Schwestern.
Aber eines Tages fliegt die Tur auf, der flache Wagen rollt herein, und
blaß, schmal, aufrecht, triumphierend, mit gestruubtem, schwarzem
Krauskopf sitzt Peter auf der Bahre. Schwester Libertine schiebt ihn mit
strahlender Miene an sein altes Bett. Er ist zuruck aus dem Sterbezimmer.
Wir haben ihn lungst fur tot gehalten.
Er sieht sich um: "Was sagt ihr nun?"
Und selbst Josef muß zugeben, daß er so was zum ersten Male
erlebt.
Allmuhlich durfen einige von uns aufstehen. Auch ich bekomme Krucken
zum Herumhumpeln. Doch ich mache wenig Gebrauch davon; ich kann Alberts
Blick nicht ertragen, wenn ich durchs Zimmer gehe. Er sieht mir immer mit so
sonderbaren Augen nach. Deshalb entschlupfe ich manchmal auf den Korridor -
dort kann ich mich freier bewegen.
Im Stockwerk tiefer liegen Bauch- und Ruckenmarkschusse, Kopfschusse
und beiderseitig Amputierte. Rechts im Flugel Kieferschusse, Gaskranke,
Nasen-, Ohren- und Halsschusse. Links im Flugel Blinde und Lungenschusse,
Beckenschusse, Gelenkschusse, Nierenschusse, Hodenschusse, Magenschusse. Man
sieht hier erst, wo ein Mensch ubel getroffen werden kann.
Zwei Leute sterben an Wundstarrkrampf. Die Haut wird fahl, die Glieder
erstarren, zuletzt leben - lange - nur noch die Augen. - Bei manchen
Verletzten hungt das zerschossene Glied an einem Galgen frei in der Luft;
unter die Wunde wird ein Becken gestellt, in das der Eiter tropft. Alle zwei
oder drei Stunden wird das Gefuß geleert. Andere Leute liegen im
Streckverband, mit schweren, herabziehenden Gewichten am Bett. Ich sehe
Darmwunden, die stundig voll Kot sind. Der Schreiber des Arztes zeigt mir
Runtgenaufnahmen von vullig zerschmetterten Huftknochen, Knien und
Schultern.
Man kann nicht begreifen, daß uber so zerrissenen Leibern noch
Menschengesichter sind, in denen das Leben seinen alltuglichen Fortgang
nimmt. Und dabei ist dies nur ein einziges Lazarett, nur eine einzige
Station - es gibt Hunderttausende in Deutschland, Hunderttausende in
Frankreich, Hunderttausende in Rußland. Wie sinnlos ist alles, was je
geschrieben, getan, gedacht wurde, wenn so etwas muglich ist! Es muß
alles gelogen und belanglos sein, wenn die Kultur von Jahrtausenden nicht
einmal verhindern konnte, daß diese Strume von Blut vergossen wurden,
daß diese Kerker der Qualen zu Hunderttausenden existieren. Erst das
Lazarett zeigt, was der Krieg ist.
Ich bin jung, ich bin zwanzig Jahre alt; aber ich kenne vom Leben
nichts anderes als die Verzweiflung, den Tod, die Angst und die Verkettung
sinnlosester Oberfluchlichkeit mit einem Abgrund des Leidens. Ich sehe,
daß Vulker gegeneinandergetrieben werden und sich schweigend,
unwissend, turicht, gehorsam, unschuldig tuten. Ich sehe, daß die
klugsten Gehirne der Welt Waffen und Worte erfinden, um das alles noch
raffinierter und lunger dauernd zu machen. Und mit mir sehen das alle
Menschen meines Alters hier und druben, in der ganzen Welt, mit mir erlebt
das meine Generation. Was werden unsere Vuter tun, wenn wir einmal aufstehen
und vor sie hintreten und Rechenschaft fordern? Was erwarten sie von uns,
wenn eine Zeit kommt, wo kein Krieg ist? Jahre hindurch war unsere
Beschuftigung Tuten - es war unser erster Beruf im Dasein. Unser Wissen vom
Leben beschrunkt sich auf den Tod. Was soll danach noch geschehen? Und was
soll aus uns werden?
Der ulteste auf unserer Stube ist Lewandowski. Er ist vierzig Jahre alt
und liegt bereits zehn Monate im Hospital an einem schweren
Bauchschuß. Erst in den letzten Wochen ist er so weit gekommen,
daß er gekrummt etwas hinken kann.
Seit einigen Tagen ist er in großer Aufregung. Seine Frau hat ihm
aus dem kleinen Nest in Polen, wo sie wohnt, geschrieben, daß sie so
viel Geld zusammen hat, um die Fahrt zu bezahlen und ihn besuchen zu kunnen.
Sie ist unterwegs und kann jeden Tag eintreffen. Lewandowski schmeckt
das Essen nicht mehr, sogar Rotkohl mit Bratwurst verschenkt er, nachdem er
ein paar Happen genommen hat. Stundig luuft er mit dem Brief durchs Zimmer,
jeder hat ihn schon ein dutzendmal gelesen, die Poststempel sind wer
weiß wie oft schon gepruft, die Schrift ist vor Fettflecken und
Fingerspuren kaum noch zu erkennen, und was kommen muß, kommt:
Lewandowski kriegt Fieber und muß wieder ins Bett.
Er hat seine Frau seit zwei Jahren nicht gesehen. Sie hat inzwischen
ein Kind geboren, das bringt sie mit. Aber etwas ganz anderes beschuftigt
Lewandowski. Er hatte gehofft, die Erlaubnis zum Ausgehen zu erhalten, wenn
seine Alte kommt, denn es ist doch klar: Sehen ist ganz schun, aber wenn man
seine Frau nach so langer Zeit wiederhat, will man, wenn es eben geht, doch
noch was anderes.
Lewandowski hat das alles stundenlang mit uns besprochen, denn beim
Kommiß gibt es darin keine Geheimnisse. Es findet auch keiner etwas
dabei. Diejenigen von uns, die schon ausgehen kunnen, haben ihm ein paar
tadellose Ecken in der Stadt gesagt, Anlagen und Parks, wo er ungesturt
gewesen wure, einer wußte sogar ein kleines Zimmer.
Doch was nutzt das alles. Lewandowski liegt im Bett und hat seine
Sorgen. Das ganze Leben macht ihm keinen Spaß mehr, wenn er diese
Sache verpassen muß. Wir trusten ihn und versprechen ihm, daß
wir den Kram schon irgendwie schmeißen werden.
Am andern Nachmittag erscheint seine Frau, ein kleines, verhutzeltes
Ding mit ungstlichen und eiligen Vogelaugen, in einer Art von schwarzer
Mantille mit Krausen und Bundern, weiß der Himmel, wo sie das Stuck
mal geerbt hat.
Sie murmelt leise etwas und bleibt scheu an der Tur stehen. Es
erschreckt sie, daß wir sechs Mann hoch sind.
"Na, Marja", sagt Lewandowski und schluckt gefuhrlich mit seinem
Adamsapfel, "kannst ruhig 'reinkommen, die tun dir hier nichts."
Sie geht herum und gibt jedem von uns die Hand. Dann zeigt sie das Kind
vor, das inzwischen in die Windeln gemacht hat. Sie hat eine große,
mit Perlen bestickte Tasche bei sich, aus der sie ein reines Tuch nimmt, um
das Kind flink neu zu wickeln. Damit ist sie uber die erste Verlegenheit
hinweg, und die beiden fangen an zu reden.
Lewandowski ist sehr kribblig, er schielt immer wieder uußerst
unglucklich mit seinen runden Glotzaugen zu uns heruber.
Die Zeit ist gunstig, die Arztvisite ist vorbei, es kunnte huchstens
noch eine Schwester ins Zimmer schauen. Einer geht deshalb noch einmal
hinaus - spekulieren. Er kommt zuruck und nickt. "Kein Aas zu sehen. Nun
sag's ihr schon, Johann, und mach zu."
Die beiden unterhalten sich in ihrer Sprache. Die Frau guckt etwas rot
und verlegen auf. Wir grinsen gutmutig und machen wegwerfende
Handbewegungen, was schon dabei sei! Der Teufel soll alle Vorurteile holen,
die sind fur andere Zeiten gemacht, hier liegt der Tischler Johann
Lewandowski, ein zum Kruppel geschossener Soldat, und da ist seine Frau, wer
weiß, wann er sie wiedersieht, er will sie haben, und er soll sie
haben, fertig.
Zwei Mann stellen sich vor die Tur, um die Schwestern abzufangen und zu
beschuftigen, wenn sie zufullig vorbeikommen sollten. Sie wollen ungefuhr
eine Viertelstunde aufpassen.
Lewandowski kann nur auf der Seite liegen, einer packt ihm deshalb noch
ein paar Kissen in den Rucken, Albert kriegt das Kind zu halten, dann drehen
wir uns ein bißchen um, die schwarze Mantille verschwindet unter der
Bettdecke, und wir kloppen laut und mit allerhand Redensarten Skat.
Es geht alles gut. Ich habe einen wusten Kreuz-Solo mit vieren in den
Fingern, der ungefuhr noch rumgeht. Daruber vergessen wir beinahe
Lewandowski. Nach einiger Zeit beginnt das Kind zu plurren, obschon Albert
es verzweifelt hin und her schwenkt. Es knistert und rauscht dann ein
bißchen, und als wir so beiluufig aufblicken, sehen wir, daß das
Kind schon die Flasche im Mund hat und wieder bei der Mutter ist. Die Sache
hat geklappt.
Wir fuhlen uns jetzt als eine große Familie, die Frau ist
ordentlich munter geworden, und Lewandowski liegt schwitzend und strahlend
da.
Er packt die gestickte Tasche aus, es kommen da ein paar gute Wurste
zum Vorschein, Lewandowski nimmt das Messer wie einen Blumenstrauß und
subelt das Fleisch in Stucke. Mit großer Handbewegung weist er auf uns
- und die kleine, verhutzelte Frau geht von einem zum andern und lacht uns
an und verteilt die Wurst, sie sieht jetzt direkt hubsch aus dabei. Wir
sagen Mutter zu ihr, und sie freut sich und klopft uns die Kopfkissen auf.
Nach einigen Wochen muß ich jeden Morgen ins Zanderinstitut. Dort
wird mein Bein festgeschnallt und bewegt. Der Arm ist lungst geheilt.
Es laufen neue Transporte aus dem Felde ein. Die Verbunde sind nicht
mehr aus Stoff, sie bestehen nur noch aus weißem Krepp-Papier.
Verbandstoff ist zu knapp geworden draußen.
Alberts Stumpf heilt gut. Die Wunde ist fast geschlossen. In einigen
Wochen soll er fort in eine Prothesenstation. Er spricht noch immer wenig
und ist viel ernster als fruher. Oft bricht er mitten im Gespruch ab und
starrt vor sich hin. Wenn er nicht mit uns andern zusammen wure, hutte er
lungst Schluß gemacht. Jetzt aber ist er uber das Schlimmste
hinausgelangt. Er sieht schon manchmal beim Skat zu.
Ich bekomme Erholungsurlaub.
Meine Mutter will mich nicht mehr fortlassen. Sie ist so schwach. Es
ist alles noch schlimmer als das letztemal.
Danach werde ich vom Regiment angefordert und fahre wieder ins Feld.
Der Abschied von meinem Freunde Albert Kropp ist schwer. Aber man lernt
das beim Kommiß mit der Zeit.
Wir zuhlen die Wochen nicht mehr. Es war Winter, als ich ankam, und bei
den Einschlugen der Granaten wurden die gefrorenen Erdklumpen fast ebenso
gefuhrlich wie die Splitter. Jetzt sind die Buume wieder grun. Unser Leben
wechselt zwischen Front und Baracken. Wir sind es teilweise schon gewohnt,
der Krieg ist eine Todesursache wie Krebs und Tuberkulose, wie Grippe und
Ruhr. Die Todesfulle sind nur viel huufiger, verschiedenartiger und
grausamer.
Unsere Gedanken sind Lehm, sie werden geknetet vom Wechsel der Tage -
sie sind gut, wenn wir Ruhe haben, und tot, wenn wir im Feuer liegen.
Trichterfelder draußen und drinnen.
Alle sind so, nicht wir hier allein - was fruher war, gilt nicht, und
man weiß es auch wirklich nicht mehr. Die Unterschiede, die Bildung
und Erziehung schufen, sind fast verwischt und kaum noch zu erkennen. Sie
geben manchmal Vorteile im Ausnutzen einer Situation; aber sie bringen auch
Nachteile mit sich, indem sie Hemmungen wachrufen, die erst uberwunden
werden mussen. Es ist, als ob wir fruher einmal Geldstucke verschiedener
Lunder gewesen wuren; man hat sie eingeschmolzen, und alle haben jetzt
denselben Prugestempel. Will man Unterschiede erkennen, dann muß man
schon genau das Material prufen. Wir sind Soldaten und erst sputer auf eine
sonderbare und verschumte Weise noch Einzelmenschen.
Es ist eine große Bruderschaft, die ein Schimmer von dem
Kameradentum der Volkslieder, dem Solidaritutsgefuhl von Struflingen und dem
verzweifelten Einanderbeistehen von zum Tode Verurteilten seltsam vereinigt
zu einer Stufe von Leben, das mitten in der Gefahr, aus der Anspannung und
Verlassenheit des Todes sich abhebt und zu einem fluchtigen Mitnehmen der
gewonnenen Stunden wird, auf gunzlich unpathetische Weise. Es ist heroisch
und banal, wenn man es werten wollte - doch wer will das?
Es ist darin enthalten, wenn Tjaden bei einem gemeldeten feindlichen
Angriff in rasender Hast seine Erbsensuppe mit Speck ausluffelt, weil er ja
nicht weiß, ob er in einer Smnde noch lebt. Wir haben lange daruber
diskutiert, ob es richtig sei oder nicht. Kat verwirft es, weil er sagt, man
musse mit einem Bauchschuß rechnen, der bei vollem Magen gefuhrlicher
sei als bei leerem.
Solche Dinge sind Probleme fur uns, sie sind uns ernst, und es kann
auch nicht anders sein. Das Leben hier an der Grenze des Todes hat eine
ungeheuer einfache Linie, es beschrunkt sich auf das Notwendigste, alles
andere liegt in dumpfem Schlaf; - das ist unsere Primitivitut und unsere
Rettung. Wuren wir differenzierter, wir wuren lungst irrsinnig, desertiert
oder gefallen. Es ist wie eine Expedition im hohen Eise; - jede
Lebensuußerung darf nur der Daseinserhaltung dienen und ist
zwangsluufig darauf eingestellt. Alles andere ist verbannt, weil es unnutig
Kraft verzehren wurde. Das ist die einzige Art, uns zu retten, und oft sitze
ich vor mir selber wie vor einem Fremden, wenn der rutselhafte Widerschein
des Fruher in stillen Stunden wie ein matter Spiegel die Umrisse meines
jetzigen Daseins außer mich stellt, und ich wundere mich dann daruber,
wie das unnennbare Aktive, das sich Leben nennt, sich angepaßt hat
selbst an diese Form. Alle anderen uußerungen liegen im Winterschlaf,
das Leben ist nur auf einer stundigen Lauer gegen die Bedrohung des Todes, -
es hat uns zu denkenden Tieren gemacht, um uns die Waffe des Instinktes zu
geben, - es hat uns mit Stumpfheit durchsetzt, damit wir nicht zerbrechen
vor dem Grauen, das uns bei klarem, bewußtem Denken uberfallen wurde,
- es hat in uns den Kameradschaftssinn geweckt, damit wir dem Abgrund der
Verlassenheit entgehen, - es hat uns die Gleichgultigkeit von Wilden
verliehen, damit wir trotz allem jeden Moment des Positiven empfinden und
als Reserve aufspeichern gegen den Ansturm des Nichts. So leben wir ein
geschlossenes, hartes Dasein uußerster Oberfluche, und nur manchmal
wirft ein Ereignis Funken. Dann aber schlugt uberraschend eine Flamme
schwerer und furchtbarer Sehnsucht durch.
Das sind die gefuhrlichen Augenblicke, die uns zeigen, daß die
Anpassung doch nur kunstlich ist, daß sie nicht einfach Ruhe ist,
sondern schurfste Anspannung zur Ruhe. Wir unterscheiden uns uußerlich
in der Lebensform kaum von Buschnegern; aber wuhrend diese stets so sein
kunnen, weil sie eben so sind und sich durch Anspannung ihrer Geisteskrufte
huchstens fortentwickeln, ist es bei uns umgekehrt: unsere inneren Krufte
sind nicht auf Weiter-, sondern auf Zuruckentwicklung angespannt. Jene sind
entspannt und selbstverstundlich so, wir sind es uußerst angespannt
und kunstlich. Und mit Schrecken empfindet man nachts, aus einem Traum
aufwachend, uberwultigt und preisgegeben derBezauberung heranflutender
Gesichte, wie dunn der Hak und die Grenze ist, die uns von der Dunkelheit
trennt - wir sind kleine Flammen, notdurftig geschutzt durch schwache Wunde
vor dem Sturm der Auflusung und der Sinnlosigkeit, in dem wir flackern und
manchmal fast ertrinken. Dann wird das gedumpfte Brausen der Schlacht zu
einem Ring, der uns einschließt, wir kriechen in uns zusammen und
starren mit großen Augen in die Nacht. Trustlich fuhlen wir nun den
Schlafatem der Kameraden, und so warten wir auf den Morgen.
Jeder Tag und jede Stunde, jede Granate und jeder Tote wetzen an diesem
dunnen Halt, und die Jahre verschleißen ihn rasch. Ich sehe, wie er
allmuhlich schon um mich herum niederbricht. Da ist die dumme Geschichte mit
Detering.
Er war einer von denen, die sich sehr fur sich hielten. Sein Ungluck
war, daß er in einem Garten einen Kirschbaum sah. Wir kamen gerade von
der Front, und dieser Kirschbaum stand in der Nuhe des neuen Quartiers an
einer Wegbiegung uberraschend in der Morgendummerung vor uns. Er hatte keine
Blutter, aber er war ein einziger weißer Blutenbusch.
Abends war Detering nicht zu sehen. Er kam schließlich an und
hatte ein paar Zweige mit Kirschbluten in der Hand. Wir machten uns lustig
und fragten, ob er auf Brautschau wolle. Er gab keine Antwort, sondern legte
sich auf sein Bett. Nachts hurte ich ihn rumoren, er schien zu packen. Ich
witterte Unheil und ging zu ihm. Er tat, als wure nichts, und ich sagte ihm:
"Mach keinen Unsinn, Detering."
"Ach wo - ich kann nur nicht schlafen.
"Weshalb hast du denn die Kirschzweige geholt?"
"Ich werde doch wohl noch Kirschzweige holen durfen", antwortet er
verstockt - und nach einer Weile: "Zu Hause habe ich einen großen
Obstgarten mit Kirschen. Wenn die bluhen, sieht das vom Heuboden aus wie ein
einziges Bettlaken, so weiß. Es ist jetzt die Zeit."
"Vielleicht gibt's bald Urlaub. Es kann auch sein, daß du, als
Landwirt, abkommandiert wirst."
Er nickt, aber er ist abwesend. Wenn diese Bauern aufgeruhrt sind,
haben sie einen sonderbaren Ausdruck, eine Mischung von Kuh und
sehnsuchtigem Gott, halb blude und halb hinreißend. Um ihn von seinen
Gedanken abzubringen, verlange ich ein Stuck Brot von ihm. Er gibt es mir
ohne Einschrunkung. Das ist verduchtig, denn er ist sonst knauserig. Deshalb
bleibe ich wach. Es passiert nichts, er ist morgens wie sonst.
Wahrscheinlich hat er gemerkt, daß ich ihn beobachtet habe. - Am
ubernuchsten Morgen ist er trotzdem fort. Ich sehe es, sage jedoch nichts,
um ihm Zeit zu lassen, vielleicht kommt er durch. Nach Holland haben es
schon verschiedene Leute geschafft.
Beim Appell aber fullt sein Fehlen auf. Nach einer Woche huren wir,
daß er gefaßt ist von den Feldgendarmen, diesen verachteten
Kommißpolizisten. Er hatte die Richtung nach Deutschland genommen -
das war naturlich aussichtslos -, und ebenso naturlich hatte er alles sehr
dumm angefangen. Jeder hutte daraus wissen kunnen, daß die Flucht nur
Heimweh und momentane Verwirrung war. Doch was begreifen Kriegsgerichtsrute
hundert Kilometer hinter der Linie davon? - Wir haben nichts mehr von
Detering vernommen.
Aber auch auf andere Weise bricht es manchmal heraus, dieses
Gefuhrliche, Gestaute - wie aus uberhitzten Dampfkesseln. Da ist auch noch
das Ende zu berichten, das Berger fand.
Schon lange sind unsere Gruben zerschossen, und wir haben die
elastische Front, so daß wir eigentlich keinen richtigen
Stellungskrieg mehr fuhren. Wenn Angriff und Gegenangriff hin und her
gegangen sind, bleibt eine zerrissene Linie und ein erbitterter Kampf von
Trichter zu Trichter. Die vordere Linie ist durchbrochen, und uberall haben
sich Gruppen festgesetzt, Trichternester, von denen aus gekumpft wird.
Wir sind in einem Trichter, seitlich sitzen Englunder, sie rollen die
Flanke auf und gelangen hinter uns. Wir sind umzingelt. Es ist schwierig,
sich zu ergeben, Nebel und Rauch schwanken uber uns hin, niemand wurde
erkennen, daß wir kapitulieren wollen, vielleicht wollen wir es auch
gar nicht, das weiß man selbst nicht in solchen Momenten. Wir huren
die Explosionen der Handgranaten herankommen. Unser Maschinengewehr
bestreicht den vorderen Halbkreis. Das Kuhlwasser verdampft, wir reichen die
Kusten eilig herum, jeder pißt hinein, so haben wir wieder Wasser und
kunnen weiterfeuern. Aber hinter uns kracht es immer nuher. In einigen
Minuten sind wir verloren.
Da rast ein zweites Maschinengewehr auf kurzeste Entfernung los. Es
steckt im Trichter neben uns, Berger hat es geholt, und nun setzt ein
Gegenangriff von hinten ein, wir kommen frei und finden Verbindung nach
ruckwurts.
Als wir nachher in einigermaßen guter Deckung sind, erzuhlt einer
von den Essenholern, daß ein paar hundert Schritte entfernt ein
verwundeter Meldehund liege.
"Wo?" fragt Berger.
Der andere beschreibt es ihm. Berger geht los, um das Tier zu holen
oder es zu erschießen. Noch vor einem halben Jahr hutte er sich nicht
darum gekummert, sondern wure vernunftig gewesen. Wir versuchen, ihn
zuruckzuhalten. Doch als er ernsthaft geht, kunnen wir nur sagen:
"Verruckt!" und ihn laufenlassen. Denn diese Anfulle von Frontkoller werden
gefuhrlich, wenn man den Mann nicht gleich zu Boden werfen und festhalten
kann. Und Berger ist ein Meter achtzig groß, der kruftigste Mann der
Kompanie.
Er ist tatsuchlich verruckt, denn er muß durch die Feuerwand; -
aber es ist dieser Blitz, der irgendwo uber uns allen lauert, der in ihn
eingeschlagen ist und ihn besessen macht. Bei andern ist es so, daß
sie zu toben anfangen, daß sie wegrennen, ja einer war da, der sich
mit Hunden und Fußen und Mund immerfort in die Erde einzugraben
versuchte.
Es wird naturlich auch viel simuliert mit solchen Sachen, aber das
Simulieren ist ja eigentlich auch schon ein Zeichen. Berger, der den Hund
erledigen will, wird mit einem Beckenschuß weggeholt, und einer der
Leute, die es tun, kriegt sogar dabei noch eine Gewehrkugel in die Wade.
Muller ist tot. Man hat ihm aus nuchster Nuhe eine Leuchtkugel in den
Magen geschossen. Er lebte noch eine halbe Stunde bei vollem Verstande und
furchtbaren Schmerzen. Bevor er starb, ubergab er mir seine Brieftasche und
vermachte mir seine Stiefel - dieselben, die er damals von Kemmerich geerbt
hat. Ich trage sie, denn sie passen mir gut. Nach mir wird Tjaden sie
bekommen, ich habe sie ihm versprochen.
Wir haben Muller zwar begraben kunnen, aber lange wird er wohl nicht
ungesturt bleiben. Unsere Linien werden zuruckgenommen. Es gibt druben zu
viele frische englische und amerikanische Regimenter. Es gibt zuviel Corned
beef und weißes Weizenmehl. Und zuviel neue Geschutze. Zuviel
Flugzeuge.
Wir aber sind mager und ausgehungert. Unser Essen ist so schlecht und
mit so viel Ersatzmitteln gestreckt, daß wir krank davon werden. Die
Fabrikbesitzer in Deutschland sind reiche Leute geworden - uns zerschrinnt
die Ruhr die Durme. Die Latrinenstangen sind stets dicht gehockt voll; - man
sollte den Leuten zu Hause diese grauen, gelben, elenden, ergebenen
Gesichter hier zeigen, diese verkrummten Gestalten, denen die Kolik das Blut
aus dem Leibe quetscht und die huchstens mit verzerrten, noch
schmerzbebenden Lippen sich angrinsen: "Es hat gar keinen Zweck, die Hose
wieder hochzuziehen -"
Unsere Artillerie ist ausgeschossen - sie hat zuwenig Munition -, und
die Rohre sind so ausgeleiert, daß sie unsicher schießen und bis
zu uns heruberstreuen. Wir haben zuwenig Pferde. Unsere frischen Truppen
sind blutarme, erholungsbedurftige Knaben, die keinen Tornister tragen
kunnen, aber zu sterben wissen. Zu Tausenden. Sie verstehen nichts vom
Kriege, sie gehen nur vor und lassen sich abschießen. Ein einziger
Flieger knallte aus Spaß zwei Kompanien von ihnen weg, ehe sie etwas
von Deckung wußten, als sie frisch aus dem Zuge kamen.
"Deutschland muß bald leer sein", sagt Kat.
Wir sind ohne Hoffnung, daß einmal ein Ende sein kunnte. Wir
denken uberhaupt nicht so weit. Man kann einen Schuß bekommen und tot
sein; man kann verletzt werden, dann ist das Lazarett die nuchste Station.
Ist man nicht amputiert, dann fullt man uber kurz oder lang einem dieser
Stabsurzte in die Hunde, die das Kriegsverdienstkreuz im Knopfloch, einem
sagen: "Wie, das bißchen verkurzte Bein? An der Front brauchen Sie
nicht zu laufen, wenn Sie Mut haben. Der Mann ist k.v. Wegtreten!"
Kat erzuhlt eine der Geschichten, die die ganze Front von den Vogesen
bis Flandern entlanglaufen, - von dem Stabsarzt, der Namen vorliest auf der
Musterung und, wenn der Mann vortritt, ohne aufzusehen, sagt: "K.v.
Wirbrauchen Soldaten draußen." Ein Mann mit Holzbein tritt vor, der
Stabsarzt sagt wieder: k.v. - "Und da", Kat hebt die Stimme, "sagt der Mann
zu ihm: >Ein Holzbein habe ich schon; aber wenn ich jetzt hinausgehe und
wenn man mir den Kopf abschießt, dann lasse ich mir einen Holzkopf
machen und werde Stabsarzt!<" - Wir sind alle tief befriedigt uber diese
Antwort.
Es mag gute urzte geben, und viele sind es; doch einmal fullt bei den
hundert Untersuchungen jeder Soldat einem dieser zahlreichen Heldengreifer
in die Finger, die sich bemuhen, auf ihrer Liste muglichst viele a.v. und
g.v. in k.v. zu verwandeln.
Es gibt manche solcher Geschichten, sie sind meistens noch viel
bitterer. Aber sie haben trotzdem nichts mit Meuterei und Miesmachen zu tun;
sie sind ehrlich und nennen die Dinge beim Namen; denn es besteht sehr viel
Betrug, Ungerechtigkeit und Gemeinheit beim Kommiß. Ist es nicht viel,
daß trotzdem Regiment auf Regiment in den immer aussichtsloser
werdenden Kampf geht und daß Angriff auf Angriff erfolgt bei
zuruckweichender, zerbruckelnder Linie?
Die Tanks sind vom Gesputt zu einer schweren Waffe geworden. Sie
kommen, gepanzert, in langer Reihe gerollt und verkurpern uns mehr als
anderes das Grauen des Krieges.
Die Geschutze, die uns das Trommelfeuer heruberschicken, ] sehen wir
nicht, die angreifenden Linien der Gegner sind Menschen wie wir - aber diese
Tanks sind Maschinen, ihre Kettenbunder laufen endlos wie der Krieg, sie
sind die Vernichtung, wenn sie fuhllos in Trichter hineinrollen und wieder
hochklettern, unaufhaltsam, eine Flotte brullender, rauchspeiender Panzer,
unverwundbare, Tote und Verwundete zerquetschende Stahltiere - Wir
schrumpfen zusammen vor ihnen in unserer dunnen Haut, vor ihrer kolossalen
Wucht werden unsere Arme zu Strohhalmen und unsere Handgranaten zu
Streichhulzern.
Granaten, Gasschwaden und Tankflottillen - Zerstampfen, Zerfressen,
Tod.
Ruhr, Grippe, Typhus -Wurgen, Verbrennen,Tod. Graben, Lazarett,
Massengrab - mehr Muglichkeiten gibt es nicht.
Bei einem Angriff fullt unser Kompaniefuhrer Bertinck. Er war einer
dieser prachtvollen Frontoffiziere, die in jeder brenzligen Situation vorne
sind. Seit zwei Jahren war er bei uns, ohne daß er verwundet wurde, da
mußte ja endlich etwas passieren. Wir sitzen in einem Loch und sind
eingekreist. Mit den Pulverschwaden weht der Gestank von ul oder Petroleum
heruber. Zwei Mann mit einem Flammenwerfer werden entdeckt, einer trugt auf
dem Rucken den Kasten, der andere hat in den Hunden den Schlauch, aus dem
das Feuer spritzt. Wenn sie so nahe herankommen, daß sie uns
erreichen, sind wir erledigt, denn zuruck kunnen wir gerade jetzt nicht. Wir
nehmen sie unter Feuer. Doch sie arbeiten sich nuher heran, und es wird
schlimm. Bertinck liegt mit uns im Loch. Als er merkt, daß wir nicht
treffen, weil wir bei dem scharfen Feuer zu sehr auf Deckung bedacht sein
mussen, nimmt er ein Gewehr, kriecht aus dem Loch und zielt, liegend
aufgestutzt. Er schießt - im selben Moment schlugt eine Kugel bei ihm
klatschend auf, er ist getroffen. Doch er bleibt liegen und zielt weiter -
einmal setzt er ab und legt dann aufs neue an; endlich kracht der
Schuß. Bertinck lußt das Gewehr fallen, sagt: "Gut", und rutscht
zuruck. Der hinterste der beiden Flammenwerfer ist verletzt, er fullt, der
Schlauch rutscht dem andern weg, das Feuer spritzt nach allen Seiten, und
der Mann brennt.
Bertinck hat einen Brustschuß. Nach einer Weile schmettert ihm
ein Splitter das Kinn weg. Der gleiche Splitter hat noch die Kraft, Leer die
Hufte aufzureißen. Leer stuhnt und stemmt sich auf die Arme, er
verblutet rasch, niemand kann ihm helfen. Wie ein leerlaufender Schlauch
sackt er nach ein paar Minuten zusammen. Was nutzt es ihm nun, daß er
in der Schule ein so guter Mathematiker war.
Die Monate rucken weiter. Dieser Sommer 1918 ist der blutigste und der
schwerste. Die Tage stehen wie Engel in Gold und Blau unfaßbar uber
dem Ring der Vernichtung. Jeder hier weiß, daß wir den Krieg
verlieren. Es wird nicht viel daruber gesprochen, wir gehen zuruck, wir
werden nicht wieder angreifen kunnen nach dieser großen Offensive, wir
haben keine Leute und keine Munition mehr.
Doch der Feldzug geht weiter - das Sterben geht weiter - Sommer 1918 -
Nie ist uns das Leben in seiner kargen Gestalt so begehrenswert erschienen
wie jetzt; - der rote Klatschmohn auf den Wiesen unserer Quartiere, die
glatten Kufer an den Grashalmen, die warmen Abende in den halb-dunklen,
kuhlen Zimmern, die schwarzen, geheimnisvollen Buume der Dummerung, die
Sterne und das Fließen des Wassers, die Truume und der lange Schlaf -
o Leben, Leben, Leben!
Sommer 1918 - Nie ist schweigend mehr ertragen worden als in dem
Augenblick des Aufbruchs zur Front. Die wilden und aufpeitschenden Geruchte
von Waffenstillstand und Frieden sind aufgetaucht, sie verwirren die Herzen
und machen den Auf bruch schwerer als jemals!
Sommer 1918 - Nie ist das Leben vorne bitterer und grauenvoller als in
den Stunden des Feuers, wenn die bleichen Gesichter im Schmutz liegen und
die Hunde verkrampft sind zu einem einzigen: Nicht! Nicht! Nicht jetzt noch!
Nicht jetzt noch im letzten Augenblick!
Sommer 1918 - Wind der Hoffnung, der uber die verbrannten Felder
streicht, rasendes Fieber der Ungeduld, der Enttuuschung, schmerzlichste
Schauer des Todes, unfaßbare Frage: Warum? Warum macht man kein Ende?
Und warum flattern diese Geruchte vom Ende auf?
Es gibt so viele Flieger hier, und sie sind so sicher, daß sie
auf einzelne Leute Jagd machen wie auf Hasen. Auf ein deutsches Flugzeug
kommen mindestens funf englische und amerikanische. Auf einen hungrigen,
muden deutschen Soldaten im Graben kommen funf kruftige, frische andere im
gegnerischen. Auf ein deutsches Kommißbrot kommen funfzig Buchsen
Fleischkonserven druben. Wir sind nicht geschlagen, denn wir sind als
Soldaten besser und erfahrener; wir sind einfach von der vielfachen
ubermacht zerdruckt und zuruckgeschoben.
Einige Regenwochen liegen hinter uns - grauer Himmel, graue
zerfließende Erde, graues Sterben. Wenn wir hinausfahren, dringt uns
bereits die Nusse durch die Muntel und Kleider, - und so bleibt es die Zeit
vorne auch. Wir werden nicht trocken. Wer noch Stiefel trugt, bindet sie
oben mit Sandsucken zu, damit das Lehmwasser nicht so rasch hineinluuft. Die
Gewehre verkrusten, die Uniformen verkrusten, alles ist fließend und
aufgelust, eine triefende, feuchte, ulige Masse Erde, in der die gelben
Tumpel mit spiralig roten Blutlachen stehen und Tote, Verwundete und
uberlebende langsam versinken.
Der Sturm peitscht uber uns hin, der Splitterhagel reißt aus dem
wirren Grau und Gelb die spitzen Kinderschreie der Getroffenen, und in den
Nuchten stuhnt das zerrissene Leben sich muhsam dem Schweigen zu. Unsere
Hunde sind Erde, unsere Kurper Lehm und unsere Augen Regentumpel. Wir wissen
nicht, ob wir noch leben.
Dann sturzt die Hitze wie eine Qualle feucht und schwul in unsere
Lucher, und an einem dieser Sputsommertage, beim Essenholen, fullt Kat um.
Wir beide sind allein. Ich verbinde seine Wunde; das Schienbein scheint
zerschmettert zu sein. Es ist ein Knochenschuß, und Kat stuhnt
verzweifelt: "Jetzt noch - gerade jetzt noch -"
Ich truste ihn. "Wer weiß, wie lange der Schlamassel noch dauert!
Du bist erst mal gerettet -"
Die Wunde beginnt heftig durchzubluten. Kat kann nicht allein bleiben,
damit ich eine Bahre zu holen versuche. Ich weiß auch nirgendwo eine
Sanitutsstation in der Nuhe.
Kat ist nicht sehr schwer; deshalb nehme ich ihn auf den Rucken und
gehe zuruck mit ihm zum Verbandsplatz.
Zweimal machen wir Rast. Er hat starke Schmerzen durch den Transport.
Wir sprechen nicht viel. Ich habe den Kragen meiner Jacke aufgemacht und
atme heftig, ich schwitze, und mein Gesicht ist gedunsen von der Anstrengung
des Tragens. Trotzdem drunge ich, daß wir weitergehen, denn das
Terrain ist gefuhrlich.
"Geht's wieder, Kat?"
"Muß wohl, Paul."
"Dann los."
Ich richte ihn auf, er steht auf dem unverletzten Bein und hult sich an
einem Baum fest. Dann fasse ich vorsichtig das verwundete Bein, er gibt sich
einen Ruck, und ich nehme auch das Knie des gesunden Beines unter den Arm.
Unser Weg wird schwieriger. Manchmal pfeift eine Granate heran. Ich
gehe, so schnell ich vermag, denn das Blut von Kats Wunde tropft zu Boden.
Wir kunnen uns nur schlecht schutzen vor den Einschlugen, denn ehe wir
Deckung nehmen, sind sie lungst voruber. Um abzuwarten, legen wir uns in
einen kleinen Trichter. Ich gebe Kat Tee aus meiner Feldflasche. Wir rauchen
eine Zigarette. "Ja, Kat", sage ich trubsinnig, "nun kommen wir doch noch
auseinander."
Er schweigt und sieht mich an.
"Weißt du noch, Kat, wie wir die Gans requirierten? Und wie du
mich aus dem Schlamassel holtest, als ich noch ein kleiner Rekrut und zum
erstenmal verwundet war? Damals habe ich noch geweint. Kat, es sind fast
drei Jahre jetzt."
Er nickt.
Die Angst vor dem Alleinsein steigt in mir auf. Wenn Kat
abtransportiert ist, habe ich keinen Freund mehr hier.
"Kat, wir mussen uns auf jeden Fall wiedersehen, wenn wirklich Frieden
ist, ehe du zuruckkommst."
"Glaubst du, daß ich mit dem Knochen da noch mal k.v. werde?"
fragt er bitter.
"Du wirst ihn in Ruhe ausheilen. Das Gelenk ist ja in Ordnung.
Vielleicht klappt es doch damit."
"Gib mir noch eine Zigarette", sagt er.
"Vielleicht kunnen wir irgend etwas sputer zusammen machen, Kat." - Ich
bin sehr traurig, es ist unmuglich, daß Kat - Kat, mein Freund, Kat
mit den Hungeschultern und dem dunnen, weichen Schnurrbart, Kat, den ich
kenne auf eine andere Weise als jeden anderen Menschen, Kat, mit dem ich
diese Jahre geteilt habe -, es ist unmuglich, daß ich Kat vielleicht
nicht wiedersehen soll.
"Gib mir deine Adresse fur zu Hause, Kat, auf jeden Fall. Und hier ist
meine, ich schreibe sie dir auf."
Den Zettel schiebe ich in meine Brusttasche. Wie verlassen ich schon
bin, obschon er noch neben mir sitzt. Soll ich mir rasch in den Fuß
schießen, um bei ihm bleiben zu kunnen? Kat gurgelt plutzlich und wird
grun und gelb. "Wir wollen weiter", stammelt er.
Ich springe auf, gluhend, ihm zu helfen, ich nehme ihn hoch und setze
mich in Lauf, einen gedehnten, langsamen Dauerlauf, damit sein Bein nicht zu
sehr schlenkert.
Mein Hals ist trocken, es tanzt mir rot und schwarz vor den Augen, als
ich verbissen und ohne Gnade weiterstolpernd, endlich die Sanitutsstation
erreiche.
Dort breche ich in die Knie, habe aber noch so viel Kraft, nach der
Seite umzufallen, wo Kats gesundes Bein ist. Langsam richte ich mich nach
einigen Minuten wieder auf. Meine Beine und meine Hunde zittern heftig, ich
habe Muhe, meine Feldflasche zu finden, um einen Schluck zu nehmen. Die
Lippen beben mir dabei. Aber ich luchele - Kat ist geborgen.
Nach einer Weile unterscheide ich den verworrenen Stimmenschwall, der
sich in meinem Ohr fungt.
"Das huttest du dir sparen kunnen", sagt ein Sanituter.
Ich sehe ihn verstundnislos an.
Er zeigt auf Kat. "Er ist ja tot."
Ich begreife nicht. "Er hat einen Schienbeinschuß", sage ich.
Der Sanituter bleibt stehen. "Das auch -"
Ich drehe mich um. Meine Augen sind noch immer trube, der Schweiß
ist mir jetzt von neuem ausgebrochen, er luuft uber die Lider. Ich wische
ihn fort und sehe zu Kat hin. Er liegt still. "Ohnmuchtig", sage ich rasch.
Der Sanituter pfeift leise: "Das kenne ich nun doch besser. Er ist tot.
Darauf halte ich jede Wette."
Ich schuttele den Kopf. "Ausgeschlossen! Vor zehn Minuten noch habe ich
mit ihm gesprochen. Er ist ohnmuchtig." Kats Hunde sind warm, ich fasse ihn
bei den Schultern, um ihn mit Tee abzureiben. Da fuhle ich meine Finger
naß werden. Als ich sie hinter seinem Kopf hervorziehe, sind sie
blutig. Der Sanituter pfeift wieder durch die Zuhne: "Siehst du -"
Kat hat, ohne daß ich es bemerkt habe, unterwegs einen Splitter
in den Kopf bekommen. Nur ein kleines Loch ist da, es muß ein ganz
geringer, verirrter Splitter gewesen sein. Aber er hat ausgereicht. Kat ist
tot.
Ich stehe langsam auf.
"Willst du sein Soldbuch und seine Sachen mitnehmen ?" fragt der
Gefreite mich.
Ich nicke, und er gibt sie mir.
Der Sanituter ist verwundert. "Ihr seid doch nicht verwandt?"
Nein, wir sind nicht verwandt. Nein, wir sind nicht verwandt.
Gehe ich? Habe ich noch Fuße? Ich hebe die Augen, ich lasse sie
herumgehen und drehe mich mit ihnen, einen Kreis, einen Kreis, bis ich
innehalte. Es ist alles wie sonst. Nur der Landwehrmann Stanislaus
Katczinsky ist gestorben.
Dann weiß ich nichts mehr.
Es ist Herbst. Von den alten Leuten sind nicht mehr viele da. Ich bin
der letzte von den sieben Mann aus unserer Klasse hier.
Jeder spricht von Frieden und Waffenstillstand. Alle warten. Wenn es
wieder eine Enttuuschung wird, dann werden sie zusammenbrechen, die
Hoffnungen sind zu stark, sie lassen sich nicht mehr fortschaffen, ohne zu
explodieren. Gibt es keinen Frieden, dann gibt es Revolution.
Ich habe vierzehn Tage Ruhe, weil ich etwas Gas geschluckt habe. In
einem kleinen Garten sitze ich den ganzen Tag in der Sonne. Der
Waffenstillstand kommt bald, ich glaube es jetzt auch. Dann werden wir nach
Hause fahren.
Hier stocken meine Gedanken und sind nicht weiterzubringen. Was mich
mit ubermacht hinzieht und erwartet, sind Gefuhle. Es ist Lebensgier, es ist
Heimatgefuhl, es ist das Blut, es ist der Rausch der Rettung. Aber es sind
keine Ziele.
Wuren wir 1916 heimgekommen, wir hutten aus dem Schmerz und der Sturke
unserer Erlebnisse einen Sturm entfesselt. Wenn wir jetzt zuruckkehren, sind
wir mude, zerfallen, ausgebrannt, wurzellos und ohne Hoffnung. Wir werden
uns nicht mehr zurechtfinden kunnen.
Man wird uns auch nicht verstehen - denn vor uns wuchst ein Geschlecht,
das zwar die Jahre hier gemeinsam mit uns verbrachte, das aber Bett und
Beruf hatte und jetzt zuruckgeht in seine alten Positionen, in denen es den
Krieg vergessen wird, - und hinter uns wuchst ein Geschlecht, uhnlich uns
fruher, das wird uns fremd sein und uns beiseite schieben. Wir sind
uberflussig fur uns selbst, wir werden wachsen, einige werden sich anpassen,
andere sich fugen, und viele werden ratlos sein; - die Jahre werden
zerrinnen, und schließlich werden wir zugrunde gehen.
Aber vielleicht ist auch alles dieses, was ich denke, nur Schwermut und
Besturzung, die fortstuubt, wenn ich wieder unter den Pappeln stehe und dem
Rauschen ihrer Blutter lausche. Es kann nicht sein, daß es fort ist,
das Weiche, das unser Blut unruhig machte, das Ungewisse, Besturzende,
Kommende, die tausend Gesichter der Zukunft, die Melodie aus Truumen und
Buchern, das Rauschen und die Ahnung der Frauen, es kann nicht sein,
daß es untergegangen ist in Trommelfeuer, Verzweiflung und
Mannschaftsbordells.
Die Buume hier leuchten bunt und golden, die Beeren der Ebereschen
stehen rot im Laub, Landstraßen laufen weiß auf den Horizont zu,
und die Kantinen summen wie Bienenstucke von Friedensgeruchten.
Ich stehe auf.
Ich bin sehr ruhig. Mugen die Monate und Jahre kommen, sie nehmen mir
nichts mehr, sie kunnen mir nichts mehr nehmen. Ich bin so allein und so
ohne Erwartung, daß ich ihnen entgegensehen kann ohne Furcht. Das
Leben, das mich durch diese Jahre trug, ist noch in meinen Hunden und Augen.
Ob ich es uberwunden habe, weiß ich nicht. Aber solange es da ist,
wird es sich seinen Weg suchen, mag dieses, das in mir "Ich" sagt, wollen
oder nicht.
Er fiel im Oktober 1918, an einem Tage, der so ruhig und still war an
der ganzen Front, daß der Heeresbericht sich nur auf den Satz
beschrunkte, im Westen sei nichts Neues zu melden.
Er war vornubergesunken und lag wie schlafend an der Erde. Als man ihn
umdrehte, sah man, daß er sich nicht lange gequult haben konnte; -
sein Gesicht hatte einen so gefaßten Ausdruck, als wure er beinahe
zufrieden damit, daß es so gekommen war.
OCR, Spellcheck: Илья Франк, http://franklang.ru (мультиязыковой проект
Ильи Франка)
Мультиязыковой проект Ильи Франка www.franklang.ru
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Популярность: 9, Last-modified: Tue, 08 Jun 2004 04:29:45 GmT